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Was dem einen sein Sarrazin, ist dem anderen sein Palmer. So könnte man in leichter Abwandlung eines bekannten Sprichworts aktuelle Entwicklungen in der Parteienlandschaft der Republik kommentieren. In einer Zeit spätkapitalistischer Zerfallsprozesse und einer unübersehbaren Verrohung des Bürgertums nehmen zwangsläufig auch die Fliehkräfte in den bürgerlichen Parteien zu. Wobei die Linkspartei in diese Kategorie leider einzubeziehen ist, da sie – von lobenswerten Ausnahmen abgesehen – die Spielregeln der parlamentarischen Demokratie weitgehend akzeptiert hat und nicht wirklich daran arbeitet, das System zu überwinden. Folglich hat sie auch Anteil an den systemischen Defiziten und Krankheiten.

Vor dem Hintergrund der geschilderten gesellschaftlichen Prozesse ist es wohl kaum ein Zufall, dass sich fast zeitgleich drei der im Bundestag vertretenen Parteien mit prominenten Abweichlern in den eigenen Reihen herumärgern müssen: Bündnis 90/Die Grünen mit dem Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer, die CDU mit dem früheren Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen und Die Linke mit der früheren Fraktionschef der Partei im Bundestag, Sahra Wagenknecht. So unterschiedlich die drei Fälle im Detail sind, sind sie doch im Kern auf ein- und dieselbe Problematik, ein- und dasselbe Grundmotiv zurückzuführen. Während Emerson, Lake & Palmer in den 1970ern mit ihrem progressiven Rock den Hörer*innen neue musikalische Sphären erschlossen, heißt der Hit des Trios Wagenknecht, Maaßen & Palmer, bei dem all die reaktionären Angstbeißer, vor allem aus der Mittelschicht, lauthals mitsingen: „Das wird man wohl noch sagen dürfen“.


Im Kern geht es bei diesen Dreien und ihrem Vorläufer und Wegbereiter, dem früheren Sozialdemokraten Thilo Sarrazin, letztlich doch nur um Eines: die xenophobische Grundstimmung im Bürgertum zu bedienen und zu nähren. Alle vier sind in ihren jeweiligen Milieus Sprachrohr einer sich in der Regel missverstanden fühlenden Gruppe, die ihre Ressentiments gegen Geflüchtete und andere marginalisierte Menschen pflegen möchte, ohne dafür irgendwie moralisch in Frage gestellt oder gar beschuldigt zu werden, ohne „in die rechte Ecke gestellt zu werden“. Sarrazin, Wagenknecht, Maaßen und Palmer geben den Ressentiments vor allem der Mittelschicht, die sich letztlich aus deren Angst vor dem sozialen Abstieg und von ihr als bedrohlich empfundenen Dynamiken speist, in je eigener Prägung Ausdruck und sprechen sie pauschal von aller Kritik frei.

Sarrazin hat auf sehr plumpe und offen rassistische Art und Weise mit seinem Bestseller „Deutschland schafft sich ab“ schon 2010 den Aufschlag gemacht. Für die SPD hat das den unschätzbaren Vorteil, dass sie ihren Abweichler schon los geworden ist, auch wenn das Ausschlussverfahren etwas gedauert hat. CDU, Grüne und Linke müssen sich dagegen noch mindestens im gesamten Bundestagswahlkampf mit den Sarrazin-Epigonen herumärgern. Bei der Union und der Linken haben es Maaßen resp. Wagenknecht bekanntlich sogar geschafft, sich trotz ihrer Außenseiterpositionen für den Bundestag aufstellen zu lassen. Maaßen wurde im tiefschwarzen Südthüringen nominiert, Wagenknecht gar auf Platz 1 der Landesliste in Nordrhein-Westfalen gewählt. Gegen die beiden wird offenbar auch kein Ausschlussverfahren in den jeweiligen Parteien erwogen, während Palmer seit kurzem bei den Grünen eines am Hals hat, nachdem er es mit dem Provozieren etwas übertrieben hatte.

Wagenknecht, Maaßen & Palmer arbeiten nicht ganz so mit dem Holzhammer wie Sarrazin, am ehesten noch Maaßen. Seine Äußerungen sind kompatibel mit denen von AfD-Vertretern und anderen reaktionären Gestalten. Maaßen verkörpert den hetzerisch-paranoiden Typus, dessen verzerrte Wahrnehmung der gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht anders als pathologisch genannt werden muss. Er glaubt offensichtlich tatsächlich daran, dass die Republik von einer „links-grün-versifften“ Mafia regiert wird, die das Land ins Unglück stürzt und in der „aufrechte Bürger“ wie er, die sich tagtäglich um die Rettung des Abendlandes und seiner Werte bemühen, eine verfolgte Minderheit sind. Seine Bemerkungen sind oft unfreiwillig komisch, etwa als er einst „linksradikale Kräfte in der SPD“ ausgemacht haben wollte. Ob Maaßen wegen seiner verschrobenen politischen Positionen zum Chef des Inlandsgeheimdienst gemacht wurde oder erst durch die Tätigkeit in dem Laden durchgeknallt ist, lässt sich nicht sagen.

Der Tübinger Lockdown-Lockerer Boris Palmer, dem in dieser Kolumne bereits ein eigener Beitrag gewidmet war, würde wohl nie so holzschnittartig wie Maaßen argumentieren. Er steht eher für den grün lackierten Wohlstandsbürger, der es versteht, wortreich zu begründen, warum seine Ressentiments keine sind. Als typischen Anhänger Palmers kann man sich vielleicht, um ein Klischee zu zitieren, einen Oberstudienrat vorstellen, der gern als linksliberaler Intellektueller gesehen werden will, tatsächlich in vielem aber ein Reaktionär ist. Ein ähnliches Klientel dürfte Sahra Wagenknecht bespielen, wenn man sich dieses vielleicht auch insgesamt noch jünger und sich noch eher als links verstehend vorstellen muss.

Die rote Diva verbindet mit Maaßen, dass sie sich auch als verfolgte Unschuld sieht. Da es bei einer Linken natürlich noch viel weniger akzeptiert wird, gegen Geflüchtete oder andere Marginalisierte Stellung zu beziehen, ist der rhetorische Aufwand und das Maß an Verdrehtheit in der Argumentation von Wagenknecht noch mal erheblich größer als bei Sarrazin, Palmer und Maaßen. Sie hat bekanntlich kürzlich ein ganzes Buch geschrieben, um klar zu stellen, dass sie keine Rassistin ist, sondern tatsächlich ganz vorn an der Barrikade steht, Arm in Arm mit den revoltierenden Massen. Ihr Machwerk „Die Selbstgerechten“ ist selbstredend genauso ein Bestseller, wie es Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“ oder Palmers „Wir können nicht allen helfen“ waren. Von Maaßen gibt es übrigens bisher nur trockene juristische Fachliteratur, etwa über die „Stellung des Asylbewerbers im Völkerrecht“ – da kommt der Bestseller wohl noch.

Bedenklich ist an all dem vor allem, dass vier so defizitäre Charaktere mit politisch mehr als bedenklichen Positionen von den bürgerlichen Medien, voran den Talkshows im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, dermaßen gehypet werden. Das hat natürlich etwas mit den Funktionsweisen und Imperativen von Medien im Kapitalismus zu tun. Radau sorgt für Quote. Die öffentliche Präsenz der Drei hat aber auch damit zu tun, dass sie ein Thema repräsentieren, das trotz der seit 2015 zurückgehenden Zahlen bei den Asylbewerbern keineswegs verschwunden ist und unterschwellig auch den Bundestagswahlkampf mitbestimmt: die Angst vor den anderen, den Fremden. Das Thema an die AfD zu delegieren und aus den bürgerlichen Parteien herauszuhalten, funktioniert ganz offenbar nicht.

Wagenknecht, Maaßen & Palmer bleiben weiter in den Charts und wir werden sicher noch manchen „Hit“ von ihnen hören.

# Titelbild: Emerson, Lake & Palmer, Gorupdebesanez CC BY-SA 3.0, Boris Palmer © Superbass / CC-BY-SA-4.0 (via Wikimedia Commons)“, Maaßen, Bundesministerium des Innern/Sandy Thieme CC BY-SA 3.0, Wagenknecht © Superbass / CC-BY-SA-4.0 (via Wikimedia Commons), Collage: LCM

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Den Mythos von der vierten Gewalt, sich selbst betreffend,prägt die liberale Pressewelt gerne. Wenn es drauf ankommt, ist aber nicht viel von den sich kritisch gebenden Blättern zu hören, gerade wenn es um die medial weniger ausgeleuchteten Bereiche der BRD geht. URA Dresden mit zwei Beispielen, in denen die Presse, wie so oft, Hofberichterstatter war.

Dresden hat es kurzzeitig in die Schlagzeilen geschafft: Am 20. September 2020 veranstaltete ein Bündnis verschiedener Gruppen eine Demo, gegen die menschenverachtenden Zustände in den Elendslagern an den europäischen Außengrenzen. Abschluss dieser Demo war eine kurzzeitige Straßenblockade mit einem Transparent. Der überforderte Einsatzleiter der Cops eskalierte die Situation komplett: Nachdem er in das Transparent lief, rief er: „Schubs mich und du fängst dir ’ne Kugel!“ und griff nach seiner Schusswaffe.

Während so eine Drohung, Waffengewalt gegen eine Straßenblockade (!) einzusetzen, sonst gerne als Märchen abgetan würde, gibt es in diesem Fall ein Video, das kurze Zeit nach der Demo online verfügbar war. Auch die lokale Presse bekam Wind von der Sache. Ihre Vertreter:innen stürzten sich aber zunächst fast gänzlich auf die Pressemitteilungen und Verlautbarungen der Polizei selbst, in denen u.a. der Griff an die Waffe zu einem vermeintlich korrekten Akt der Waffensicherung fabuliert wurde. Auch sonst fand die Polizeileitung nur positive Worte für den schießwütigen Kollegen, der trotz einer angeblich gefährlichen Situation besonnen gehandelt habe. Diesen Lügen schloss sich auch Sachsens Ministerpräsident Kretschmer an. Weder der Videobeweis, der ja erst Auslöser für die Berichterstattung war, noch Richtigstellungen von Seiten der Demo-Orga veranlassten die mediale Mehrheit, die offizielle Darstellung auch nur anzuzweifeln. Pressemitteilung gut, alles gut.

Aber nicht nur bei der Einordnung von staatlich verübter Gewalt vertraut die Presse blind den offiziellen Verlautbarungen. In der Nacht zum 30. August 2020 stach ein 16-jähriger Neonazi auf einer Outdoor-Party in der Dresdner Heide auf zwei Menschen ein und verletzte eine Person lebensgefährlich. Dem Angriff voraus gingen rassistische Äußerungen und ein Hitlergruß durch den Täter. Trotz dieser Umstände, die durch Zeug:innen-Aussagen sofort bekannt wurden, ermittelten die Cops zunächst lediglich wegen schwerer Körperverletzung. Erst jetzt, einen Monat später, ermitteln sie wegen versuchten Totschlags, in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen. Die Staatsanwaltschaft leugnet zudem konsequent ein politisches Motiv des rechten Tötungsversuchs.

Was in anderen Regionen dieser Republik zumindest für kurzzeitige Empörung und Lippenbekenntnisse von Politiker:innen sorgen würde, läuft in Dresden unter Randnotizen. Der rechte Tötungsversuch wurde von einigen Zeitungen zwar aufgegriffen und die rassistischen Äußerungen sowie der Hitlergruß blieben teilweise auch nicht unerwähnt, doch es schien wichtiger zu sein, dass die Messerattacke auf einer „illegalen Party“ geschah. Zu erwähnen ist auch, dass sich die Cops erst auf Nachfrage des Pressekollektivs Straßengezwitscher genötigt sahen, die Vorgeschichte der Tat zu benennen. Sprich: Die rassistischen Äußerungen und den Hitlergruß. Das führte weder dazu, dass die Polizei die Tat als versuchtes Tötungsdelikt einstufte, noch dazu, dass die Staatsanwaltschaft ein politisches Tatmotiv erkannte. Auf unsere Versuche hin, dem Fall die nötige Beachtung und die richtige politische Einordnung zu verschaffen, reagierte die hiesige Presse so gut wie nicht. Eine von uns spontan organisierte, wütende und lautstarke Demonstration nebst Pressearbeit fand ihre Beachtung lediglich in einem Stadtteilblog der Dresdner Neustadt.*

Diese Fälle zeigen, vor welchen Problemen wir im Hinblick auf Pressearbeit, vor allem in Ostdeutschland, aber auch darüber hinaus, stehen: Wenn die sächsische Presse rechte Übergriffe nicht gerade verharmlost, dann werden Polizeimeldungen, Statements der Staatsanwaltschaft und konservativer bis extrem rechter Politiker:innen abgepinselt, ohne auch nur irgendetwas davon wirklich zu hinterfragen. Den Lippenbekenntnissen, der tödlichen Gefahr von Rechts nach Hanau, Halle und den unzähligen, täglichen Übergriffen etwas entgegenzusetzen, wird damit keinerlei Rechnung getragen. Die selbst auferlegte Aufgabe als vierte Gewalt im Staat wird einfach nicht erfüllt. Kein einziges bürgerliches Medium fungiert als Kontrollinstanz, welche den herrschenden Verhältnissen auf die Finger schaut, sei es aufgrund von politischem Unwillen, einer Vermutung des fehlenden öffentlichen Interesses, oder – wenn man guten Willen sehen will – aufgrund prekärer Arbeitsbedingungen.

Öffentlicher Druck ist jedoch eine Grundlage, um die von anti-emanzipatorischen und faschistischen Einstellungen durchzogenen Behörden zum Handeln zu zwingen und das Wirken der Politik kritisch zu begleiten.

Versteht uns nicht falsch, wir sehen in den repressiven Handlungen des Staates keine alleinige Lösungsoption für den Kampf gegen den Faschismus. Im Gegenteil: Ein hierarchisch organisierter, autoritärer Berufszweig, in einer dementsprechend organisierten Gesellschaftsordnung, welcher zur Aufgabe hat, diese Ordnung zu schützen, zieht notwendigerweise die autoritären Charaktere an, die nicht nur die Waffen schwingen, sondern auch ermitteln und die Pressearbeit machen. Und ihnen liegt nichts ferner, als diese Formierung – und damit ihr eigenes Handeln und das ihrer Kolleg:innen – ernsthaft infrage zustellen. Es ist aber trotzdem wichtig für das Selbstvertrauen und die Handlungsfähigkeit einer kritischen Gesellschaft, staatliche Stellen für ihr Handeln verantwortlich zu machen und ihre Willkür zu brechen, damit wir uns unserer eigenen Kraft und Verantwortung wieder bewusst werden. Dafür bräuchte es auch eine kritische und zugängliche Presse.

Einmischen kann sich aber trotzdem lohnen: Dass den Aussagen des lügenden Bullen mit seiner locker sitzenden Knarre und all seinen Verteidiger:innen offen widersprochen wurde, führte schlussendlich nicht nur dazu, dass jetzt gegen den Büttel ermittelt wird, sondern auch zu Stress innerhalb der Behörden. Der erfolgreiche Widerspruch unterminiert das Vertrauen in die Unfehlbarkeit staatlicher Aussagen. Nicht alles, was staatlicherseits verbockt wird, kann unter den Teppich gekehrt werden. Zudem wurde auch belegt, dass sich Sachsens Ministerpräsident Kretschmer nicht entblödet, öffentlich und offensichtlich zu lügen, um besagtes Vertrauen in die Unfehlbarkeit nicht zu gefährden.

Die meisten sächsischen Medien spielen jedoch eine extrem unkritische, staatstragende Rolle. Doch selbst bei den Karrierelinken von der taz bis zum Neuen Deutschland blieb unser Ruf meist ungehört. Der Ruf nach einer solidarischen Berichterstattung, in der auf lokale Probleme eingegangen wird, denen sich die radikale Linke in Sachsen gegenübersieht und auf ihre Antworten in Form von emanzipatorischen Forderungen und Kämpfen. Auch die radikale Linke bundesweit sollte mal genau überlegen, inwieweit sie es geschafft hat, politische Aufmerksamkeit auf die Gegenden abseits der großen Szeneblasen zu legen. Hierbei geht es uns auch nicht um einen Wettbewerb in Sachen „wo ist es beschissener?“ Wir wollen nicht warten, bis die Verhältnisse noch schlimmer werden. Wir wollen genau dies verhindern. Und dafür braucht es solidarische Medienarbeit von Unten. Sei es, um eigene politische Themen zu setzen und voranzubringen, oder um bereits jetzt der medialen und behördlichen Entpolitisierung faschistischer und staatlicher Übergriffe entsprechend zu begegnen.

Vielleicht muss sich eine radikale Linke aber auch davon verabschieden, dem Phantom einer kritischen Presse hinterherzujagen. Extremistheoretischer Blödsinn zieht sich wie ein roter Faden durch Print, Funk und Fernsehen: Vom unkritischen Abschreiben einer Polizei-Pressemitteilung, über die Erwähnung rechter Netzwerke bei der Polizei als anscheinende Normalität des Zeitgeistes, ist es dann nicht mehr weit zur brennenden Mülltonne in Connewitz. À la: Aber die Linken! Äquidistanz und so. Mit dieser Basis wirkt es dann auch glaubhaft, dass eine handvoll Menschen hinter einem Transparent einen angeblich erfahrenen Bullen in eine so missliche Lage brachte, aus der sich dieser nur noch durch das Androhen des Schusswaffeneinsatzes befreien konnte. Ganz egal, wie sehr die audiovisuelle Faktenlage dem widersprechen mag.

In den kommenden Jahren werden wir eine weitere Verschärfung des Rechtssogs und der autoritären Maßnahmen erleben. Wir sehen eine kritische Medienarbeit als essentielle Grundlage einer jeden widerständigen Bewegung an, die sich dem entgegenstellen will. Die momentane Lage der hiesigen Presse- und Medienlandschaft gibt aber leider wenig Hoffnung dafür, dass diese Presse auch nur ansatzweise eine solche Rolle einnehmen könnte. Deswegen liegt es an uns, Eigeninitiative zu zeigen, den Kopf aus der Lifestyle-Blase zu ziehen und den Staat und seine Schergen auch da anzugreifen, wo sie öffentlich und offensichtlich lügen. Hier können wir den Menschen zeigen, dass das Vertrauen, welches durch die Skandale der letzten Jahre ein paar Kratzer bekommen hat, endgültig in die Schublade der schlechten Entscheidungen verbannt gehört.

* Am Tag der Publikation dieses Textes veröffentlichte die DNN einen Artikel, der mit Bezug auf antifaschistische Recherche, das Tatmotiv hinterfragt. Polizei und Staatsanwaltschaft bleiben auf Nachfrage der DNN bei ihrem Standpunkt.

# Titelbild: twitter screenshot @antifa_dresden, Demo evacuate them all

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Eigentlich ist zu den Ereignissen im Leipziger Stadtteil Connewitz in der Silvesternacht schon alles gesagt worden. Die bürgerlichen Medien haben ausufernd berichtet, in den „sozialen Netzwerken“ wurde das Thema rauf und runter diskutiert. Erst lief die Empörungsmaschinerie auf Hochtouren, zuletzt rückte immer mehr – zumindest in den Medien, die ihren journalistischen Anspruch noch nicht ganz aufgegeben haben – die Rolle der polizeilichen Öffentlichkeitsarbeit in den Fokus. Immerhin.

Die Geschehnisse in der Silvesternacht an sich sind nicht groß von Belang, ein paar Scharmützel zwischen Polizei und Feiernden, nichts wirklich Besonderes. Spannend ist an dem Vorgang eigentlich nur, was daraus geworden oder besser gemacht worden ist. Gleich zu Jahresbeginn wurde exemplarisch vorgeführt, wie einfach es ist, mit Fake-News einen reaktionären Hype zu erzeugen. Dies war eine Eskalation mit Ansage – es war die Stunde der Scharfmacher.

„Einen Einsatz zur Aufrechterhaltung der Öffentlichen Sicherheit und Ordnung“ nannte die Staatsmacht selbst, was sie zum Jahreswechsel in Leipzig veranstaltete. So wie sie auftrat, erzeugte sie das Gegenteil. Ab mittags kreiste ein Hubschrauber über dem Viertel, Wannen rasten hin und her. Abends griffen die Cops aggressiv ins Geschehen ein, schubsten etwa unbeteiligte Feiernde. Die Polizei wollte offenbar zeigen, wer in Connewitz das Sagen hat.

Kurz nach dem Jahreswechsel kam es dann am Connewitzer Kreuz zu dem Vorfall, der hinterher im Zentrum des Hypes stand. Die Polizeidirektion Leipzig haute noch in der Nacht eine Pressemitteilung raus, die innerhalb weniger Tage von vorn bis hinten als Fake-News entlarvt wurde. Eine „Gruppe von Gewalttätern“ habe einen brennenden Einkaufwagen „mitten in eine Einheit der Bereitschaftspolizei zu schieben“ versucht, fabulierte die Polizei, und diese „massiv mit Pyrotechnik beschossen“. Ein Beamter sei dabei so schwer verletzt worden, dass er „das Bewusstsein verlor und im Krankenhaus notoperiert werden musste“. Leipzigs Polizeipräsident Torsten Schultze delirierte: „Es ist erschreckend, wie skrupellos Personen in der Silvesternacht am Connewitzer Kreuz durch offensichtlich organisierte Angriffe schwerste Verletzungen von Menschen verursachen.“

Linke Krawalle, schwer verletzter Polizist, Not-OP – das kam den bürgerlichen Leitmedien am traditionell nachrichtenarmen Neujahrstag wie gerufen. Das klang nach brutalen Autonomen, nach Lebensgefahr und Koma. Von Spiegel über Focus bis Handelsblatt und Zeit stiegen alle auf die Geschichte ein, übernahmen die Mitteilung der Polizei kritiklos und ungeprüft. Dabei war zu diesem Zeitpunkt schon verdächtig, warum über die Verletzung des Polizisten nicht Konkreteres verlautbart wurde. Recht schnell stellte sich heraus, dass es keine Not-OP gegeben hatte und von einer schweren Verletzung nicht wirklich die Rede sein konnte. Der Beamte war wegen eines Risses am Ohr im Krankenhaus behandelt und nach zwei, drei Tagen bereits wieder entlassen worden. Auch die Behauptung, ein brennender Einkaufswagen sei „mitten in eine Einheit“ geschoben worden, brach in sich zusammen.

Politiker aller Couleur hatten da aber ihre Statements schon längst abgesondert. Mit Abscheu und Entsetzen reagierten sie allesamt auf den bösen „linksextremistischen“ Überfall, von Innenminister Hotte Seehofer (CSU) über FDP-Chef Christian Lindner bis zu Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch, dessen Gedanken bei dem verletzten Beamten waren. Den Vogel schoss mal wieder Rainer Wendt ab, Chef der reaktionären Deutschen Polizeigewerkschaft, der in der Bild von einer neuen RAF faselte.

Da wollte der Chef des Hamburger Verfassungsschutzes, Torsten Voß, nicht nachstehen und warnte wenig später vor einem sich abzeichnenden neuen „Linksterrorismus“. „Taten der linksextremen Szene zeichnet eine neue Eskalationsstufe aus, weil sie sich nicht mehr nur gegen Sachen wie Wohnungen, Parteibüros oder Fahrzeuge richten, sondern mittlerweile auch direkt gegen das Leben und die Gesundheit von Menschen“, behauptete er dreist in der Welt am Sonntag und verwies auf die Vorfälle in Connewitz. Das Hamburger Abendblatt untermauerte den Vorstoß von Voss mit Angaben des Landeskriminalamtes Hamburg, das von 36 „herausragenden Farb-, Stein- oder Brandanschläge“ wusste, die der „linksextremen Szene“ zuzuordnen seien. Anschläge gegen Gebäude, Fahrzeuge et cetera wohlgemerkt, nicht gegen das Leben und die Gesundheit von Menschen.

In den „sozialen Netzwerken“ wurde zu recht vielfach darauf hingewiesen, wie grotesk es ist, von linkem Terrorismus zu schwafeln, während in den vergangenen Monaten und Jahren die Taten rechter Terroristen für Angst und Schrecken gesorgt haben – da gab es bekanntlich tatsächlich Tote. Radikale Linke sollten sich aber fragen, ob es wirklich Sinn macht, sich mit obskuren Vorstößen von Leuten wie Wendt oder Voß überhaupt sachlich zu befassen. Die Ereignisse von Connewitz und die Debatte danach, sollten eher Anlass sein, sich das Vorgehen der bürgerlichen Hetzer in Politik und Medien, Polizei und Diensten mit gesunder Distanz anzusehen und daraus zu lernen.

Hier ist offensichtlich die Gelegenheit genutzt worden, gleich zum Jahresbeginn ein Thema zu setzen und eine bestimmte Lesart durchzusetzen – und es ist erschütternd wie leicht das war. Natürlich lässt sich die Verletzung eines Polizisten nicht planen, aber dass bei Krawallen mal ein Bulle was abbekommt, liegt auf der Hand. Jedenfalls kam die Verletzung des Beamten in der Silvesternacht der Polizeidirektion Leipzig sehr gelegen. In der Pressemitteilung der Silvesternacht spricht die heimliche Genugtuung, mal wieder ordentlich gegen die Linken vom Leder ziehen zu können, aus jeder Zeile. Und natürlich hat der Pressesprecher der Direktion genau die Reizwörter verwendet, von denen er weiß, dass die Journaille auf sie anspringt.

Von schlampiger Pressearbeit zu sprechen, ist hier also komplett verfehlt, ebenso verfehlt wie die Appelle an die Redaktionen, doch gegenüber Pressemitteilungen der Polizei misstrauischer zu sein. Die Mitteilung der Polizei sollte so sein, wie sie war, und in den meisten Redaktionen ist man nur allzu bereit, solche Köder zu schlucken. Ich denke, man kann angesichts des Vorgangs davon sprechen, dass hier ein Stein ins Wasser geworfen wurde, um sich anzuschauen, welche Kreise er zieht. Wir werden in diesem Jahr sicher noch mehr derartige Inszenierungen erleben.

Auf diese Weise lässt sich nämlich prima von den Faschisierungstendenzen in den Apparaten ablenken. Und dazu sind solche Debatten auch eine Art „Beschäftigungstherapie“ für viele Linke, die sich immer wieder aufs Neue in Abwehrschlachten um die Deutungshoheit verstricken lassen, ihre Energie mit endlosen Diskussionen bei Twitter und Co oder anderswo vergeuden. Natürlich müssen bestimmte Diskurse geführt werden, auch wenn ihr Sinn nicht immer zu erkennen ist. Entscheidend ist aber, sich dabei immer wieder klar zu machen, dass von dieser Polizei, diesen Geheimdiensten und diesen Medien gar nichts anderes zu erwarten ist als Lüge, Repression und der Abbau von demokratischen Rechten und Räumen. Motto auch für 2020 sollte also sein: Erwarte nichts, analysiere alles und kämpfe weiter ums Ganze!

# Titelbild: Streetballplatz in Connewitz, Quelle: wikimedia.commons

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Sachsen. Allein das Wort löst bei vielen spätestens seit Chemnitz im August 2018 durch rechte Massendemonstrationen und Angriffe von Nazis ein Schaudern aus. Das Bundesland ist als rechte Hochburg bekannt, rechte Angriffe und Naziansammlungen auf der Straße gibt es nahezu alltäglich. Diese sächsischen Verhältnisse spiegeln sich auch in den Wahlprognosen für die kommende Landtagswahl am 1. September wieder. Mittlerweile gehen zwar einige Prognosen davon aus, dass die CDU mit etwa 30% mehr Stimmen als die AfD (24 %) gewinnen wird, wer allerdings glaubt, eine regierende CDU schützt vor dem Einfluss der Rechtspopulisten, liegt grundlegend falsch.

Das Vorhandensein rechter Einstellungen, Strukturen und demenstprechender Übergriffe ist natürlich kein auf Sachsen zu begrenzendes Phänomen. Deutschlandweit erstarken die Faschisten, wobei die Bundestagswahl 2017 zeigte, dass im Osten sehr viel mehr AfD gewählt wird als im Westen. Aber selbst für Ost-Verhältnisse stach die AfD mit 27% in Sachsen deutlich heraus. In keinem anderen Bundesland konnte die rassistische, neoliberale Partei so viele Stimmen erzielen.

Über die Gründe, warum der Osten generell eher rechts wählt, gibt es unterschiedliche Theorien. Übersehen werden kann aber nicht, dass dieses Gefälle etwas mit Vergangenheit und Gegenwart der Ost-West-Beziehungen zu tun hat. Vierzig Jahre unterschiedliche politische Systeme, eine Mauer und damit unterschiedlicher Zugang zu Ressourcen trennten die Bevölkerung beider Seiten voneinander. Nach Mauerfall und Wiedervereinigung gibt es zwar keine Mauer mehr aus Stein und Beton. Durch eine viel höhere Prekarisierung im Osten, welche sich zum Beispiel in niedrigeren Löhnen ausdrückt, und den deutlichen Unterschieden in Bundeswahlergebnissen zwischen Ost und West, scheint auch heute noch eine unsichtbare Mauer geblieben zu sein. Ob die Ossis sich abgehängt und alleine gelassen fühlen?

Wenn dem so wäre, könnte man hoffen, dass aufgrund der erhöhten Prekarisierung in Ostdeutschland ein verstärktes Klassenbewusstsein entsteht und gemeinsam versucht wird, nach oben zu treten. Dem scheint aber nicht so. Eher wird Flüchtlingen, als aus Ausländer gelesenen Menschen und Migrant*innen die Schuld an allem Übel gegeben. Die Frustration und die Wut der sächsischen Bevölkerung scheint sich wie in Chemnitz 2018 auf der Straße oder bei den Bundestagswahlen mit einer Stimme für die AfD zu entladen.

In Zeiten, in denen die Unterschiede zwischen arm und reich gravierender werden, es aber gleichzeitig an Klassenbewusstsein fehlt, kassiert die AfD die Wahlstimmen. Verantwortlich ist dafür eben jene Regierungspartei, welche man nun wiederwählen soll, um angeblich die AfD zu schwächen: die CDU.

Diese regiert seit 30 Jahren in Sachsen. Die Folgen ihrer Herrschaft: im Vergleich zu anderen Bundesländern (Bayern mal ausgenommen) ist Sachsen Vorläufer für rechte autoritäre Entwicklungen. Das zeigen jüngste Ereignisse wie das verschärfte Polizeigesetz, die Schaffung eines eigenen Abschiebeknastes, Rechtsbeschneidungen für Geflüchtete, Repression gegen Linke oder auch ganz konkret die von krasser Bullengewalt begleitete Abschiebung am 09.07.2019 in Leipzig.

Obwohl die sächsische Polizei schon vor der neuen Gesetzeslage massive Befugnisse hatte, werden ihr mit den aktiuellen Verschärfung noch mehr Mittel in die Hand gegeben, Menschen zu kriminalisieren und gegen sie vorzugehen. Sondereinheiten der Polizei werden aufgerüstet, Videoüberwachung mit Gesichtserkennung ausgeweitet, massive Eingriffe in das Leben polizeilich ernannter Gefährder*innen werden möglich. Sachsen hat unter der CDU/SPD-Legislatur einen eigenen Abschiebeknast errichtet, womit sie dem Ruf der Straße von Pegida und AfD, welche mehr Abschiebungen und die Abschaffung des Grundrechts auf Asyl fordern, gefolgt sind.

Indem z.B. die Aufenthaltsdauer in Erstaufnahmeeinrichtungen auf bis zu 2 Jahren erhöht wurde, wurden die Rechte von Geflüchteten massiv beschnitten. Es gab auch immer wieder Beispiele rechter Beamt*innen (sowohl Cops als auch Staatsbeamt*innen, z.B. im Justizvollzug), wobei sich die CDU immer wieder vor den Apparat stellte und ihn vor Kritik schützte. Linke werden mit Repression überzogen oder, wie in der Nacht vom 09.07-10.07.19, von den Cops zuerst bewusstlos geschlagen und dann einfach liegen gelassen. Um den Verfassungsschutz (VS) im Nacken zu haben reicht es in Sachsen schon, Lieder zu singen, die dem Freistaat nicht in den Sinn passen. So sind linke Bands mit zunehmender Repression konfrontiert, welche u.a. auf dem Bericht des VS-Sachsen fußt.

Sachsen unter schwarz-rot steuert jetzt schon einen autoritären rechten Kurs an, indem die Bevölkerung seit Jahren gegen Geflüchtete, Migrant*innen, Schwarze, als Ausländer gelesene Personen und Linke aufgehetzt und gleichzeitig der Polizeistaat ausgebaut wird. Wenn die AfD bei der Landtagswahl Erfolge erzielt, liegt das deswegen vor allem an der CDU. Unter ihrer Herrschaft wird das Land jetzt schon rechtskonservativ regiert, womit der Weg für die AfD geebnet wurde.

Eine Mehrheit für die Rechtspopulisten würde bedeuten, dass die AfD den Anspruch auf die Regierungsbildung und auf den Ministerpräsidenten reklamieren kann. Das ist aber derzeitig nicht abzusehen. Dahingegen steigen die Chancen für schwarz-blau, wenn die CDU stärkste Kraft wird.

Auch, wenn hochrangige CDU-Politiker*innen derzeit immer wieder betonen, dass eine Koalition mit der AfD für sie nicht in Frage käme, spricht ihre Politik in der Vergangenheit andere Worte. Aber auch unabhängig davon, ob die AfD Koalitionschancen hat, wäre eine hohe Anzahl an Sitzen der Partei im Landtag gefährlich.

Das zeigten schon die Ergebnisse der Kommunalwahlen im Mai 2019. Die AfD war neben der CDU meist zweitstärkste Partei, wenn nicht sogar, wie im Landkreis Bautzen und Görlitz, die stärkste. In den Stadt/Gemeinderäten und Kreistagen gibt es dementsprechend starke rechte Blöcke, welche u.a. über Jugend- und Kulturförderung, über Unterstützung von Geflüchteten oder Gleichstellung entscheiden. Das rechte Klima wird sich beim Erstarken der AfD weiter verhärten. Mit 25 % der Stimmen im Landtag kann die AfD außerdem Untersuchungsausschüsse einsetzen und Organklagen anstrengen. Wie jetzt schon würde die CDU die Stichworte der AfD weiter aufnehmen und politisch umsetzen. Mit einfachen Worten: das Klima in Sachsen ist jetzt schon düster, die Zeiten nach der Wahl werden vermutlich noch bitterer werden. Wenn Sachsen eines zeigt, dann, dass rechte Verhältnisse nicht durch Parlamentarismus bekämpft werden können, im Gegenteil. Diese Regierung hat den Weg für die extreme Rechte frei gemacht.

#Titelbild: nach der #unteilbar Demonstration in Dresden

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Kommentar

Ein Sommertag im Juni 2019. Die Uhr am Gebäude der Scientology Kirche im Hamburger Zentrum zeigt fünf nach eins. Dieselbe Zeit wie die Turmuhr der Hauptkirche St. Petri vis-à-vis. Auf der kurzen Straße dazwischen haben sich Demonstrant*innen versammelt, an die 250 vielleicht. Vor den Reden läuft Musik, schön laut, aber selbst das geht fast unter im Trubel eines ganz normalen Einkaufssonnabends.

Einen Steinwurf entfernt bevölkern Tourist*innen und Einheimische die Mönckebergstraße, das nächste Schaufenster im Blick, Fastfood oder den Coffee to go in der Hand. Sie mustern die Demonstrant*innen eher wie Tiere im Zoo, sofern sie sie überhaupt zur Kenntnis nehmen. Wer der Mann auf dem Foto ist, das auf ein Plakat am Lautsprecherwagen geheftet worden ist? Auf diese Frage würden die meisten Passanten wohl antworten: Das ist doch dieser Politiker, der erschossen wurde.

Das Bild zeigt in der Tat den Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke, der am 2. Juni auf der Terrasse seines Hauses im hessischen Wolfhagen mit einem Kopfschuss ermordet wurde. Vermutlich von dem Neonazi Stephan Ernst. Die Kundgebung an diesem Sonnabend richtet sich gegen die „geistigen Brandstifter“, die für solche Taten den Boden bereiten – darum findet sie vor dem Bürogebäude statt, in dem sich die Geschäftsstelle des Hamburger Landesverbands der protofaschistischen AfD befindet.

Die Interventionistische Linke (IL) Hamburg hat zur Demo aufgerufen, für einen Politiker der CDU. Ungewohnt genug, aber in diesen Tagen gerät vieles durcheinander. Die politische Öffentlichkeit beruhigt sich mit den üblichen Ritualen. Auf allen Kanälen sondern „Extremismusexperten“ Statements ab, die TV-Talks verhackstücken den Lübcke-Mord und Politiker*innen üben sich in Abgrenzerei. Gebot der Stunde: nach ganz rechts zeigen, auf die „bösen Nazis“, die offenbar aufgetaucht sind wie Kai aus der Kiste und mit denen man nichts zu tun hat.

Da kam der Evangelische Kirchentag in Dortmund gerade recht. Kirchentage sind bekanntlich ein willkommener Ort für Politiker*innen, hochmoralische, aber folgenlose Ansprachen zu halten und sich Absolution für ihr Tun und Reden abzuholen. So auch diesmal. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) äußerte Abscheu und Entsetzen über den „braunen Terror“ und salbaderte über „verrohte Sprache“ im Netz und anderswo. Der Zukunft vertrauen, das falle „vielen Deutschen heute nicht leicht“. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) schwadronierte, „Rechtsextremismus“ müsse „in den Anfängen“ und „ohne Tabu“ bekämpft werden.

Sie begreifen nichts, und sie wissen nicht, was sie reden, könnte man in leichter Abwandlung eines Bibelwortes diese Äußerungen kommentieren. Es soll hier gar nicht um die Verstrickungen staatlicher Stellen, voran des Verfassungsschutzes, in Nazistrukturen gehen, wie sie sich beim NSU-Komplex zur Genüge gezeigt haben. Vielleicht wird sich noch herausstellen, wie viel „tiefer Staat“, wie viel „Strategie der Spannung“ in Taten wie dem Mord an Lübcke stecken.

Es geht um etwas Grundsätzlicheres: Rechte Gewalt, faschistischer Terror sind Ausfluss spätkapitalistischer Zerfallsprozesse, einer allgemeinen Verrohung. Dass sich mit Steinmeier ausgerechnet einer der Architekten des Verarmungsprojekts Agenda 2010 über „verrohte Sprache“ beklagt, ist zum einen grotesk und zeigt zum anderen die ganze Ignoranz der politischen Klasse. Wenn man täglich ums materielle Überleben kämpft, kann man schon mal das Vertrauen in die Zukunft verlieren.

Mit ihrem Klassenkampf von oben haben die Herrschenden, vor allem nach dem Wegfall der Systemkonkurrenz 1990, die Verrohung dieser Gesellschaft angefacht. Die AfD und die Neonazis sind nur ein Symptom dieser Entwicklung. Dass Geflüchtete und alle, die sich auf ihre Seite stellen, zunehmend zum Ziel rechter Gewalt werden, daran haben SPD, CDU, FDP und Grüne ihren Anteil. Indem sie das Asylrecht komplett demontiert haben, indem sie es zulassen, dass Tausende auf der Flucht im Mittelmeer ertrinken, indem sie dafür sorgen, dass Menschen in das Kriegsland Afghanistan abgeschoben werden. Indem sie, wie SPD und CDU gerade im Bundestag, das Asylrecht immer weiter verschärfen und damit indirekt all denen Recht geben, die in den Asylsuchenden ein Problem sehen.

Sozialismus oder Barbarei – das ist mehr als eine Parole, die man so hinsagt. Wir sind doch längst auf dem Weg in die Barbarei oder sogar schon mittendrin. Die Szenerie bei der Kundgebung vor der Hamburger AfD-Zentrale, passte da ins Bild. Für die fröhlich konsumierende Masse ist doch der Mord an Walter Lübcke so weit weg und so irreal wie ein Fall in irgendeinem „Tatort“ am Sonntagabend oder ein der US-amerikanischen CSI-Serien. Sie haben sich vor den Zumutungen der Gegenwart längst in eine Art Autismus geflüchtet.

Titelbild: Andreas Arnold/dpa

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Was dem einen sein Sarrazin, ist dem anderen sein Palmer. So könnte man in leichter Abwandlung eines bekannten Sprichworts aktuelle […]

Den Mythos von der vierten Gewalt, sich selbst betreffend,prägt die liberale Pressewelt gerne. Wenn es drauf ankommt, ist aber nicht […]

Eigentlich ist zu den Ereignissen im Leipziger Stadtteil Connewitz in der Silvesternacht schon alles gesagt worden. Die bürgerlichen Medien haben […]

Sachsen. Allein das Wort löst bei vielen spätestens seit Chemnitz im August 2018 durch rechte Massendemonstrationen und Angriffe von Nazis […]

Kommentar Ein Sommertag im Juni 2019. Die Uhr am Gebäude der Scientology Kirche im Hamburger Zentrum zeigt fünf nach eins. […]

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Den Mythos von der vierten Gewalt, sich selbst betreffend,prägt die liberale Pressewelt gerne. Wenn es drauf ankommt, ist aber nicht […]

Eigentlich ist zu den Ereignissen im Leipziger Stadtteil Connewitz in der Silvesternacht schon alles gesagt worden. Die bürgerlichen Medien haben […]

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