Lockdown-Lockerung: Boris will shoppen und schlemmen

9. März 2021

Otto Normalverbraucher steht im Sprachgebrauch und besonders in der Marktforschung für eine fiktive Person, die exakt die durchschnittlichen Bedürfnisse und Eigenschaften der Verbraucher aufweist. Im politischen Raum gibt es ein Pendant zu dieser Figur – allerdings handelt es sich um keine fiktive, sondern eine leider real existierende Person: Boris Palmer. Der Tübinger Oberbürgermeister vereint alle durchschnittlichen Ansichten und Eigenschaften des sich liberal gebenden Reaktionärs auf sich. Er steht stellvertretend für einen Typus, der die Gesellschaft zunehmend prägt: der grün lackierte Bourgeois, der den Müll trennt und sich um den Klimawandel sorgt, aber auf Recht und Ordnung pocht, auf marginalisierte Gruppen, etwa Flüchtlinge, herabsieht und sein Häuschen im Grünen mit Zähnen und Klauen verteidigt.

Die Medien haben Palmers Potential als eine Art Thilo Sarrazin der Grünen zeitig erkannt und ihn zum Agent provocateur vom Dienst aufgebaut. Der Tübinger OB ist ein gern gesehener Gast in TV-Talks, weil man immer damit rechnen kann, dass er irgendeine steile rechte These raushaut, was für erhöhte Einschaltquoten sorgt. Keine Frage, dass Palmer auch zur Coronapandemie seine Klappe im Fernsehen aufreißt. In der ZDF-Talkshow „Maybrit Illner“ durfte der Unsympath sich kürzlich zur aktuellen Lage auskotzen – und zeigte dabei, dass er auch beim Thema Corona die Befindlichkeiten des durchschnittlichen Spießers repräsentiert wie kein anderer.

„Wir können nicht mehr”, barmte der Pseudogrüne und sprach damit offensichtlich stellvertretend für all die vom Lockdown geschundenen Mittelschichtler des Landes. Konkret meinte er wohl erst einmal die Geschäftsleute, die ihre Läden nach wie vor nicht öffnen dürfen. Viele Innenstädte würden einen längeren Lockdown nicht überleben, erklärte Palmer, und plädierte für Öffnungen „mit guten Konzepten“, basierend auf Schnelltests. Und dann sagte er den entscheidenden und entlarvenden Satz: Wenn sein Konzept aufgehe, dann dürfe man in Tübingen wieder „shoppen und schlemmen“.

Unfreiwillig hat Palmer damit das Problem auf den Punkt gebracht. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Es gibt eine Menge Leute, die allen Grund haben, sich über die Folgen des Lockdowns zu beklagen. Die ganzen kleinen selbstständigen Künstler zum Beispiel, die keine Auftrittsmöglichkeiten mehr haben. Oder die Obdachlosen in den Städten. Die leiden wirklich in der Coronakrise, was aber eher pflichtgemäß zur Kenntnis genommen wird. Denn Palmer und der breiten Mittelschicht geht es um etwas ganz anderes – ihr Gejammer ist einfach nur ekelhaft.

Lockdownmüde seien „die Deutschen“ ist in den Medien allenthalben zu erfahren. Und es wird auch immer wieder gern erklärt, warum das so ist. Weil „die Menschen“ sich fragen, wann sie „endlich wieder ins Restaurant, ins Kino, ins Theater gehen können“, ob sie „Ostern in den Urlaub fahren können“ und so weiter und so fort. Die Pandemie hat es erneut gezeigt: Diese Gesellschaft wird bis in die letzten Winkel von einem hohlen Hedonismus und Konsumismus beherrscht. Shoppen und Schlemmen, Fressen und Saufen, Party machen und durch die Gegend reisen – darum geht es und das wird als Grundrecht verstanden, dessen Einschränkung man nur zähneknirschend in Kauf nimmt. Und genau das meint der Stoßseufzer von Boris Palmer „Wir können nicht mehr“. Wir wollen endlich wieder einen drauf machen. Zum Kotzen!

# Titelbild: Attribution 2.0 Generic (CC BY 2.0)

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