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Philippinische Frauen schließen sich den Reihen der NPA-Guerilla gegen die Duterte-Diktatur an. Ich hatte die Gelegenheit, mit zwei von ihnen zu sprechen. Hören Sie hier ihre Geschichte.

Stellen Sie sich vor, Sie leben in einem Land der Dritten Welt, zum Beispiel auf den Philippinen. Gewalt ist allgegenwärtig, die Regierung ist bis ins Mark verfault und Ihre Identität als Frau wird traditionell unterdrückt. Ihre Situation sieht nicht gut aus. Fragen Sie sich, wie Sie die Armut in einem System überwinden können, das Sie im Stich lässt? Wie bekämpft man einen faschistischen Macho-Diktator, der Aktivistinnen als „Hündinnen“ betrachtet? Die Frauen auf den Philippinen fanden ihre Antwort in einer umfassenden Rebellion gegen ihren alltäglichen Feind.

Der Diktator Rodrigo Duterte ist die Verkörperung eines Machos. In einer Rede sagte er: „Es gibt einen neuen Befehl des Bürgermeisters: ‘Wir werden dich nicht töten. Wir werden dich einfach in die Vagina schießen.’“ Er fuhr fort, dass Frauen ohne ihre Vagina „nutzlos“ wären. Es gibt unzählige Beispiele für diese Art von Verhalten. Aber es gibt auch Tausende und Abertausende Beispiele von Frauen, die sich der Guerilla-Bewegung „New Peoples Army” (NPA) anschließen, um diesen Zustand zu beenden.

Die NPA ist der bewaffnete Flügel der Kommunistischen Partei der Philippinen (CPP). Die Organisation ist auf den Philippinen, in den USA und in der EU verboten. In einer Erklärung behauptet sie: „Die NPA wird von Zehntausenden von Männern und Frauen in der Volksmiliz und Hunderttausenden in Selbstverteidigungseinheiten der Massenorganisationen unterstützt. Sie ist an mehr als 110 Guerilla-Fronten tätig.“

Frauen nehmen in der Guerilla einen ganz besonderen Platz ein. Eine große Anzahl von Kombattant:innen sind weiblich. Ich sprach mit zwei jungen weiblichen NPA-Kadern, Ka Mimi und Jellyn, beide 23 Jahre alt, um ihre Situation in einer Gesellschaft zu verstehen, die Frauen gegenüber so feindlich eingestellt ist, dass sie in einem bewaffneten Aufstand dagegen einen Ausweg suchen.

Hallo! Bitte stellt euch doch zu Beginn ein wenig vor.

Ka Mimi: Als ich 20 Jahre alt war, trat ich der New People’s Army bei. Ich bin bereits seit 3 Jahren Guerillera, seit ich 2017 eingetreten bin. Ich wurde von einer ehemaligen Guerilla-Frau namens Ka Maxin empfohlen, die als Kontaktperson zu der Einheit diente, der ich beigetreten bin.

Bevor ich mich dem bewaffneten Kampf anschloss, war ich bereits mit der revolutionären Bewegung vertraut. Meine Schwiegermutter ist eine ehemalige Guerilla-Kämpferin, die jetzt als lokaler Parteikader in unserer Gemeinde dient. Ich folgte der Einladung von Ka Maxin, mich in die NPAs zu integrieren und ihren Kampf kennenzulernen. Ich stimmte zu, eine Woche in der Einheit zu bleiben, entschied mich aber später, das auf Wochen, Monate und letztlich Jahre auszudehnen. Ich habe kürzlich in der 2. Oktoberwoche einen Kameraden geheiratet, nachdem ich drei Jahre im Kampf geblieben war.

Ich habe die Einladung, der NPA beizutreten, auch wegen meiner Bestürzung gegenüber meinem missbräuchlichen Ex-Partner angenommen. Mein Partner hat mich mit anderen Frauen betrogen. Als ich ihn konfrontierte, würgte er mich und versetzte mit mit einem defekten Stromkabel einen elektrischen Schlag. Ich beendete die Beziehung und zog danach aus dem Haus.

Ich beschloss, in der Einheit zu bleiben und eine Vollzeit-Guerillera zu werden. Meine Entscheidung war kein Heureka-Moment, sondern ein Produkt von Widersprüchen und Spannungen von Erleuchtung und Verwirrung.

Jellyn: Ich bin Jellyn, eine Manobo (Lumad / Mitglied einer nationalen Minderheit, Anm. d. Red), 23 Jahre alt. Ich bin im November 2014 dazugekommen. Mein Mann (Maki, ebenfalls ein Manobo) trat zuerst ein und nach einem Jahr überzeugte er mich, ihn zu besuchen und sein Leben zu erleben.

Als ich noch kein Mitglied war, hatte ich zunächst kein Verständnis für die Revolution. Erst als ich mich anschloss, wurde mir klar, dass uns die Regierung unsere Rechte und Grundversorgung nicht gewährt hat. Erst dann verstand ich, wie Frauen und Lumaden ausgebeutet und unterdrückt wurden. Deshalb habe ich mich nach einem Jahr entschieden, Vollzeit zu arbeiten.

Was habt ihr gemacht, bevor ihr zur Guerilla gekommen seid? Welche Position habt ihr in der NPA?

Ka Mimi: Ich wurde in eine Familie von Bauern geboren, bin aber in einer Stadt aufgewachsen und habe nie Landwirtschaft erlebt. Ich bin das einzige Mädchen unter meinen 5 Geschwistern. Ich wurde im Alter von 14 Jahren schwanger und hatte eine Tochter. Der Vater meiner Tochter verließ mich nach der Schwangerschaft und leistete keine Unterstützung für das Kind.

Im Alter von 18 Jahren arbeitete ich als Vertragsarbeiterin eines multinationalen Agrobusiness-Konzerns, der Palmöl verarbeitet. Ich arbeitete als Wäscherin und wusch Arbeiteruniformen. Nach dem Vertrag arbeitete ich als Packerin für eine Junk-Food-Firma, die einem philippinischen Bourgeois gehörte. Ich arbeitete von sechs Uhr morgens bis sechs Uhr abends und erhielt einen dürftigen Tageslohn von 180 Peso. Unsere männlichen Kollegen erhielten 280 Pesos. Ich habe bei der Arbeit unfaire Arbeitsbedingungen erlebt. Wir durften nicht sitzen, nur eine 30-minütige Mittagspause und begrenzte Toilettenpausen einlegen. Wir hatten unter anderem keine angemessenen Gesundheitsschutz.

Da mein Lohn nicht ausreichte, um über die Runden zu kommen, wurde ich gezwungen, mich an anderen Aktivitäten zu beteiligen, um ein wenig mehr zu verdienen, ohne meine Eltern zu informieren. Ich arbeitete in einer Bar und wurde eine Prostituierte. Ich habe auch kleine Drogengeschäfte gemacht, um Milch für mein Kind kaufen zu können.

Derzeit bin ich als Zugärztin tätig. Wir errichten Massenkliniken und bieten Bauern und Lumaden kostenlose medizinische Dienstleistungen an. Dies umfasst zahnärztliche Leistungen, Beschneidung und einfache chirurgische Operationen. Im Zuge der Pandemie nahm ich an mehreren medizinischen Missionen und Informationsverbreitungskampagnen teil. In der NPA wird uns beigebracht, wie man einheimische Gesundheitspraktiken praktiziert und pflanzliche Arzneimittel als Alternative zu teuren kommerziellen Arzneimitteln einsetzt.

Gleichzeitig bin ich auch als politische Führerin in der Guerilla-Einheit tätig. Ich nehme an der Massenarbeit teil, um die Bevölkerung zu organisieren und zu mobilisieren. Wir helfen den Massen beim Aufbau ihrer Organisationen, bei der Durchführung von Bildungsdiskussionen und bei der Lösung interner Konflikte.

Ich glaube, ich konnte mein Selbstwertgefühl wieder herstellen, als ich Guerilla wurde. Früher hielt ich mich für schmutzig, für eine Sünderin und als Schlampe. Als kommunistische Guerilla zu dienen, gab meinem Leben einen neuen Sinn und eine neue Richtung, ein Leben nicht nur für mich selbst, sondern für das kollektive Wohl.

Jellyn: Bevor ich mich einschrieb, half ich meinen Eltern bei der Hausarbeit und bei der Ernte von Süßkartoffeln. Ich hatte noch keine Menstruation, als meine Eltern meine Ehe mit meinem Mann arrangierten. Ich war minderjährig, als ich schwanger wurde, und unser erstes Baby starb, weil mein Körper nicht bereit war, schwanger zu werden, weil ich zu jung war und es in meiner Gegend keine Gesundheitsdienste gab.

In der Volksarmee war ich Versorgungsoffizierin, dann wurde ich politische Ausbilderin des Alpha-Zuges.

Wie kann man sich das tägliche Leben in der NPA vorstellen?

Ka Mimi: Das tägliche Leben in der NPA beinhaltet eine Menge Arbeit, die von militärischen, politischen, produktiven bis zu technischen Aktivitäten reicht. Die Einheit plant ihre täglichen Aktivitäten gemäß ihren kurzfristigen und langfristigen Plänen.

In Bezug auf die militärische Arbeit gewährleistet das Kommando die Sicherheit der Einheit. Es setzt Teams für Aufklärung und Vermessung ein, überwacht Nachrichtennetze und so weiter. Wenn es die Situation zulässt, führt die Einheit gestaffelte militärische Trainings, Hindernisläufe und körperliche Übungen durch.

Die politische Arbeit ist in zwei interne und externe Felder unterteilt. Interne politische Arbeit beinhaltet ideologisches Training, Bildungsdiskussionen, Bewertungen und Konfliktlösung, Alphabetisierung und Rechnen für Genoss:innen, die nicht in der Lage waren, zur Schule zu gehen. Externe politische Arbeit umfasst die Organisation, Durchführung sozialer Ermittlungen und die Planung von Massenkampagnen.

Guerillas helfen auch den Bauern bei der wirtschaftlichen Produktion. Dazu gehören unter anderem manuelle landwirtschaftliche Arbeiten, die Durchführung von Seminaren und Diskussionen zur Förderung des ökologischen Landbaus und des kollektiven Landbaus.

Die technische Aufgabe umfasst die täglichen Aufgaben im Camp wie Kochen, Wasser holen und Brennholz sammeln. Diese Aufgaben werden von allen Guerillas im Zug sichergestellt. Ich übernehme oft politische und technische Aufgaben im Rahmen meiner täglichen Aktivitäten.

Jellyn: Es gibt Zeiten, in denen es schwierig ist, es gibt Opfer, wie das Marschieren, wenn es heiß ist und nachts regnet. Es gibt aber auch Zeiten, in denen wir Studien über Politik und militärische Arbeit durchführen und unsere ideologische Einheit stärken können. Es gibt auch Zeitangaben für Massenarbeiten. Im Allgemeinen werden tägliche Aufgaben gemeinsam entschieden und wir führen sie aus, indem wir uns gegenseitig helfen.

Was unterscheidet Euren Alltag in der Guerilla von dem der Männer?

Ka Mimi: Es ist anders, aber in vielerlei Hinsicht ähnlich. Zum Beispiel gibt es immer noch Vorurteile gegenüber Frauen in Bezug auf die militärische Tätigkeit, mit denen Guerilleras im Inneren zu kämpfen haben. Die meisten militärischen Aufgaben – Aufklärung, Vermessung und taktische Offensiven – werden hauptsächlich männlichen Kämpfern zugewiesen. Frauen bestehen darauf, dass sie die Arbeit auch erledigen können, wenn sie die Gelegenheit dazu haben. Die Kommunistische Partei der Philippinen kämpft seit langem für die Emanzipation von Frauen, und die Genossen versuchen ihr Bestes, um Vorurteile gegenüber Frauen abzubauen. Während die Partei einen langen Weg für den Kampf der Frauen zurückgelegt hat, müssen sich Frauen in Bezug auf die militärische Arbeit immer noch doppelt so hart beweisen.

Alle anderen technischen Aufgaben (Kochen, Wasser holen, Brennholz sammeln) werden von Männern und Frauen geteilt.

Jellyn: Meiner Meinung nach haben Männer und Frauen die gleichen Aufgaben. Draußen werden Männer und Frauen unterschiedlich betrachtet, aber hier werden sie als gleichberechtigt angesehen.

Eine der größten Guerilla-Organisationen ist die kurdische YPJ mit 26.000 weiblichen Kadern. Sie stellt reine Fraueneinheiten auf. Warum sind bei euch die Einheiten gemischt?

Ka Mimi: Weil wir als Kollektiv agieren und weil Männer und Frauen gleichermaßen unterdrückt werden. Männer, Frauen und LGTB sind in einer Einheit integriert, genauso wie Genoss:innen aus verschiedenen Klassen, darunter Bauern und Bäuerinnen, Arbeiter:innen und Kleinbürger:innen, vereint sind. Wenn wir die Frauen von den Männern trennen, wie können die Männer dann etwas über die Probleme und den Kampf der Frauen lernen?

Letzten Monat haben wir eine Frauenkonferenz durchgeführt, auf der alle Guerilla-Frauen ihre Erfahrungen und Kämpfe austauschten. Wir haben etwas über die Befreiungsbewegung der Frauen und unsere Rolle in der Revolution gelernt. Wir haben das Wissen, das wir auf dem Kongress gelernt haben, an unsere männlichen Kameraden weitergegeben. Wir erkennen die verschiedenen Ebenen der Unterdrückung und insbesondere die Unterdrückung von Frauen. Aber wir in der NPA sind als Einheit in einen Kampf gegen einen gemeinsamen Unterdrücker integriert.

Jellyn: Vielleicht können wir so Erfahrungen von allen sammeln. Damit wir die Eigenschaften des anderen kennen und verschiedene Klassen und Schichten sich kennen.

Wie war Eure erste Kampferfahrung? Hattet ihr Angst vor dem Tod?

Ka Mimi: Ich habe noch keine tatsächliche bewaffnete Auseinandersetzung miterlebt. Die dem am nächsten kommende Erfahrung, die ich gemacht habe, war, als feindliche Truppen uns so nahe kamen, dass wir sie auf einem angrenzenden Hügel sahen. Unsere Einheit konnte den Feind ausmanövrieren, aber ich war damals so nervös. Ich sagte mir, ich sollte nur dem Befehl vertrauen. Ich habe gelernt, die Angst vor dem Tod in der Revolution zu verinnerlichen und zu überwinden und sie als Realität im Krieg zu betrachten. Wir sind nicht ohne Angst, aber wir fühlen uns mutiger, weil wir nicht allein sind. Wir haben Kameraden:innen bei uns.

Jellyn: Bei mir war es ein Hinterhalt im November 2018. Dies war eine Reaktion auf die Forderung der Region nach koordinierten taktischen Offensiven. Etwa eine Stunde dauerte der Schusswechsel, dann zogen wir uns zurück. 17 Elemente des 66. Infanteriebataillons der philippinischen Streitkräfte wurden getötet. Wir hatten aber auch einen Gefallenen. Aber ich hatte keine Angst, meine Haltung blieb fest. Ich verstehe, dass dies Teil unserer Opfer ist, um den Sieg zu erringen.

Wie sehen Euch Frauen außerhalb der NPA?

Ka Mimi: Sie fragen mich immer, ob ich das Guerilla-Leben mit schweren Lasten und langen Strecken ertragen kann. Sie fragen mich immer, ob mein Gewehr zu schwer für mich ist und ob ich mit meinem riesigen Körper wirklich richtig laufen kann. Ich denke, sie sind erstaunt, Frauen zu sehen, die die Nöte und Opfer ertragen und ihre Söhne und Töchter für eine größere Sache zurücklassen.

Jellyn: Es gibt Respekt, Vertrauen und Zuversicht. Sie ermutigen mich, sagen mir, ich solle in Sicherheit sein, mich nicht erwischen lassen usw.

Habt ihr noch eine Botschaft für unsere Leser:innen?

Ka Mimi: Ich denke, Frauen müssen an der Revolution teilnehmen. Wir können die Unterdrückung von Frauen nicht beenden, wenn wir nicht alle Formen der Unterdrückung in Klasse, ethnischer Zugehörigkeit und Rasse beenden können. Deshalb müssen wir uns Hand in Hand mit anderen Sektoren der Gesellschaft wie den indigenen Völkern, Arbeitern, Fischern, Bauern und anderen zusammenschließen.

Jellyn: Als Frau draußen wurde ich von der Regierung vernachlässigt. Aber in der Guerilla werde ich respektiert. Und ich danke der Partei und der Armee, dass sie mich geweckt haben.

# Titelbild: Photo from Communist Party of the Philippines

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In Argentinien hat die erste Kammer einem Gesetzesentwurf zugestimmt, welches Schwangerschaftsabbrüche in dem südamerikanischen Land legal ermöglichen kann. Unsere Autorin Eleonora Roldán Mendívil hat mit Doris Quispe aus Buenos Aires gesprochen. Quispe ist 47 Jahre alt, arbeitet in einer öffentlichen Einrichtung, ist Aktivistin für die Menschenrechte von Migrant_innen in Argentinien und nimmt an den Plattformen “Ni Una Migrante Menos” (Keine Migrantin weniger), “Peruanas y Peruanos en Argentina” (Peruanerinnen und Peruaner in Argentinien) und “Agrupación de Trabajadores Peruanos en Argentina” (Gruppierung von peruanischen Arbeitern in Argentinien) teil. Sie beteiligte sich auch mit anderen Organisationen an der landesweiten Kampagne “Migrar no es Delito” (Migrieren ist kein Verbrechen), und ist Mitglied des Partido Obrero (Arbeiterpartei) in Argentinien.

Doris, du bist ja in Buenos Aires in verschiedenen sozialistischen und migrantischen Zusammenhängen aktiv. Erklär uns bitte was am 10. Dezember in Argentinien passiert ist?

Am 10. Dezember versammelten sich in Argentinien Tausende von Frauen und Dissident_innen auf der Plaza Congreso in Buenos Aires. Nach einer 20-stündigen Debatte feierten wir am Freitag, den 11. Dezember, gegen 7:30 Uhr morgens die Zustimmung der Abgeordnetenkammer mit 131 Ja-Stimmen, 117 Nein-Stimmen und sechs Enthaltungen bezogen auf die Legalisierung der Abtreibung. Dieser Gesetzesentwurf ist nicht die ursprüngliche Version der Nationalen Kampagne für eine sichere, freie und legale Abtreibung. Der Entwurf ist vom derzeitigen Präsidenten Alberto Fernández. Er hat einen Artikel über die Verweigerung aus Gewissensgründen für Fachleute eingeführt, die diese medizinische Praxis nicht durchführen wollen. Wenn nun in einer privaten Einrichtung nur Verweigerer aus Gewissensgründen arbeiten, dürfen sie die Patient_innen an ein anderes Krankenhaus verweisen. Der Termin für die Debatte in der Senatskammer, die zweite Hürde, steht noch aus.

Kannst du uns einen Einblick in den Prozess geben, der zu diesem Ergebnis letzten Freitag geführt hat?

In den 1960er Jahren war die Abtreibung eines der Banner der feministischen Bewegung auf der ganzen Welt, besonders in Europa. Während England zum Vorreiter bei der Entkriminalisierung und Legalisierung der Abtreibung wurde, machten die Niederlande, Deutschland und Italien ihre eigenen Erfahrungen mit feministischen Gruppen. Aber es war das Gesetz zur legalen Abtreibung in Frankreich, das die Bewegung in Argentinien definitiv beeinflusst hat. Eine der Pionierinnen, Dora Coledesky (1928-2009), war eine trotzkistische Anwältin, die ins französische Exil ging. Sie war geprägt von den europäischen Ideen zur Abtreibung und rief nach ihrer Rückkehr nach Argentinien eine kleine Gruppe von Frauen zusammen, die sich organisierten, um die Agenda während der Regierung von Raúl Alfonsín voranzutreiben. Sie schufen eine Kommission und prägten den Slogan “Verhütungsmittel, um nicht abzutreiben, legale Abtreibung, um nicht zu sterben!”. Dieser Slogan ist das Erbe der italienischen Militanz für die Entkriminalisierung der Abtreibung, und so entstand die heutige Nationale Kampagne für das Recht auf legalen, sicheren und kostenlosen Schwangerschaftsabbruch.

Das erste Nationale Frauentreffen in Argentinien fand im Mai 1986 in der Stadt Buenos Aires statt. 1988 begannen die Frauen mit den Workshops zum Thema Abtreibung. 1995 beschloss die Kommission des Nationalen Frauentreffens, einen eigenen Workshop zu eröffnen. Die Diskussion hörte auf, sich auf einige Wenige zu beschränken, und wurde auf Student_innen und politische, feministische und lesbische Organisationen ausgeweitet. so wurde das Koordinationskomitee für das Recht auf Abtreibung ins Leben gerufen. Jedes Jahr danach wurde es zu einem Ort der Debatte über dieses Thema.

Der erste Gesetzentwurf für einen sicheren und kostenlosen legalen Schwangerschaftsabbruch wurde 1992 vorgelegt. Dieser Gesetzentwurf war der Anstoß für den im Jahr 2003 vorgelegten Gesetzesentwurf. Im Jahr 2018 wurde das Gesetz zum siebten Mal in Folge vorgelegt und brachte die Debatte über Abtreibung auf die Straße, ins Fernsehen und in den Kongress.

Am Internationalen Aktionstag für Frauengesundheit, dem 28. Mai 2020, hat die Nationale Kampagne für das Recht auf legalen, sicheren und kostenlosen Schwangerschaftsabbruch in Argentinien zum achten Mal den Gesetzentwurf zur freiwilligen Schwangerschaftsunterbrechung in der Abgeordnetenkammer eingebracht. Am 17. November dieses Jahres präsentierte Alberto Fernández seinen eigenen Gesetzentwurf, der an diesem Donnerstag und Freitag, 10. und 11. Dezember, debattiert wurde.

Was muss jetzt passieren, damit Abtreibungen in Argentinien wirklich legalisiert werden?

Derzeit ist die Zustimmung des Senats, also der zweiten Kammer, erforderlich. Wir wollen, dass diese Debatte noch in diesem Jahr stattfindet.

Wie wird sich die Politik der Legalisierung der Abtreibung auf Migrant_innen in Argentinien auswirken?

Mit der Verabschiedung des legalen Abtreibungsgesetzes wird die Sterblichkeit vieler Frauen mit niedrigem Einkommen, die auf illegale Abtreibungen zurückgreifen, vermieden. Migrantinnen sind keine Ausnahme, wir haben die prekärsten Jobs, und als Migrant_innen müssen wir die Anti-Migrationspolitik ertragen, die die Irregularität der Migration provoziert hat In vielen Aspekten ist der Zugang zur Gesundheit für uns als Migrant_innen nicht ausreichend für komplexe (Nach-)Behandlungen, die aus einer schlecht durchgeführten Abtreibung herrühren. Deshalb bestehen wir darauf, dass die Entscheidung einer Frau, eine Schwangerschaft legal zu unterbrechen, eine Angelegenheit der öffentlichen Gesundheit ist.

# Titelbild: privat, das grüne Halstuch ist zum Symbol der feministischen Bewegung in Argentinien geworden

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Corona hat vielen Projekten einen Strich durch die Rechnung gemacht. Auch der Kiezzeitung Kiezecho aus Friedrichshain, die eigentlich hätte in den Druck gehen sollen. Wir veröffentlichen in den nächsten Wochen die Artikel, die dort erscheinen sollten von der Redaktion unverändert. Los geht’s mit einem Interview mit einer Notübernachung für Frauen*.

Für unseren Schwerpunkt besuchen wir die Notübernachtung für Frauen* »Mitten im Kiez«. Wir sprachen mit Katha, Britta und Caro über die Schwierigkeiten, mit denen viele Frauen* im täglichen Leben konfrontiert sind und den häufigen Fällen von Gewalt.

Die Probleme, mit denen sich Frauen* an Kata, Britta Caro und ihre Kolleginnen* wenden, betreffen häufig Themen wie physische und psychische Gewalt, Unterdrückung oder Probleme innerhalb von Partnerschaften sowie mit Vermietern und Behörden.

In ihren Beratungen fangen sie Frauen* auf und eröffnen dabei Perspektiven auf ein solidarisches Miteinander.

Könnt Ihr Euch unseren Leser*innen bitte vorstellen?

Ich heisse Katha und arbeite seit fast drei Jahren hier und wohne in Kreuzberg.

Ich bin Britta und wohne auch in Kreuzberg und arbeite in der Notunterkunft für Frauen* seit Sommer 2019. An der Alice-Salomon-Hochschule habe ich »Soziale Arbeit« studiert.

Ich bin Caro und mache zurzeit hier mein Praktikum. Ich studiere auch »Soziale Arbeit« und wohne in Lichtenberg.

Wie ist die Notübernachtung für Frauen* entstanden? Was ist Euer Leitbild und was wollt Ihr erreichen?

Seit vier Jahren gibt es die Notübernachtung für Frauen* in der Petersburger Straße 92 am Bersarinplatz. Im gleichen Haus befindet sich im zweiten Stock außerdem eine Tagesstätte für obdachlose und einkommensschwache Menschen. Vom Senat gibt es Ausschreibungen, damit es mehr Notübernachtungen gibt auf die sich die Träger bewerben können. Die AWO ist der Träger an den wir angebunden sind. Die AWO hat ein Leitbild und wir haben uns auch ein eigenes geschaffen. Im Zentrum des AWO Leitbildes stehen Solidarität und Toleranz. Auf Grundlage dieser Gedanken ist auch unsere Notübernachtung entstanden, um Menschen aufzufangen.

Könnt Ihr unseren Leser*innen die einzelnen Bereiche Eurer Notübernachtung bitte vorstellen und einen tieferen Einblick in Eure Arbeit geben?

Unsere Arbeit ist hauptsächlich zweigeteilt. Es ist gibt die Notübernachtung und die Beratung. Und natürlich die Organisation von all dem im Hintergrund. Sowie Vernetzung mit anderen Einrichtungen aus dem Bereich und Gremienarbeit.

Dadurch dass wir finanziert sind, können die Frauen anonym hier schlafen, weil es nicht davon abhängig ist, dass die Frauen in irgendeinem Leistungsbezug sind. Insgesamt haben wir 11 Plätze.

Die Übernachtung ist ein ganz niedrigschwelliges Angebot, das bedeutet es werden keine Ausweise kontrolliert und es kostet nichts. Die Frauen müssen auch nicht ihren Namen sagen. Sie können in der Regel bis zu 14 Nächten hierbleiben. Am Morgen gibt es Frühstück und abends ebenfalls ein Essen. Es gibt die Möglichkeit sich zu duschen und Wäsche zu reinigen. Tagsüber findet viermal in der Woche Sozialberatung statt. Diese Beratung ist auch freiwillig. Das sind alles die Kernbereiche, die unsere Arbeit ausmachen. Dafür haben wir auch noch ein ganz großes Team von Frauen* die Nachtdienste machen.

Wenn Ihr Beratungen macht und die Frauen zu Euch kommen dann kommt Ihr vermutlich in sehr engen Kontakt. Über was berichten die Frauen*? Warum kommen sie zu Euch?

Das ist sehr sehr unterschiedlich. Wir haben Nutzerinnen* der Notübernachtung, die teilweise noch Wohnungen theoretisch hätten aber die Wohnverhältnisse unzumutbar sind. Das kann sein weil da Menschen sind von denen sie Gewalt erfahren haben. Häufig sind das Partner oder Ex-Partner. Das kann sein, dass die Hausverwaltung sich nicht mehr um die Wohnung kümmert, diese komplett verschimmelt ist und die Frauen* dadurch schon körperliche Schäden haben. Oft dauert eine gerichtliche Auseinandersetzung darüber sehr lange und/oder ist ausweglos und die Frauen* müssen darum in unsere Notübernachtung.

Wir haben auch Nutzerinnen* die schon auf der Straße geschlafen haben. Teilweise sind sie in einem ALGII Leistungsbezug oder haben einen Job teilweise aber auch nicht. Darum ist es sehr vielfältig was in der Beratung Thema ist. Es geht viel um Krankenversicherung, um Schulden oder darum überhaupt irgendwie einen Leistungsbezug herzustellen. Und es geht auch oft darum die Wohnsituation zu verändern, das ist auf dem Wohnungsmarkt aber eine Katastrophe.

Ich habe auch eine Kollegin, die zurzeit eine Wohnung sucht. Sie wohnt in Westberlin arbeitet aber hier im Friedrichshain als Reinigungskraft. Sie hat richtig Stress mit der Vermieterin*. Diese Vermieterin kommt immer zu ihr persönlich, will das Geld abkassieren und setzt sie dabei unter Druck. Jetzt hat sie einen WBS Schein bekommen und ist damit auf Wohnungssuche. Das ist aber total schwierig. Nach den Besichtigungen gibt es dann immer Losverfahren, welche aber total undurchsichtig sind. Sie kommt einfach an keine Wohnung heran.

Genau. Es gibt überall eine krasse Konkurrenz. Du gehst zu einer Wohnungsbesichtigung und da sind so viele andere Menschen gegen die man sich beweisen und durchsetzen muss. Auf dem Wohnungsmarkt ist eine Situation entstanden in der sich die Menschen beweisen müssen warum sie diese Wohnung gerade »verdient« hätten.

Oft ist es auch so, dass der Vermieter durch Schulden die Wohnung überhaupt nicht hergibt. Alleine schon durch die BVG können schnell so viele Schulden entstehen, diese sind zum Beispiel auch ein sehr großer Gegenstand in der Beratung. Oft kann das bis zur Ersatzfreiheitsstrafe gehen. Repression, Schulden durch die BVG und Mietschulden sind immer wieder Thema, sowie Kriminalisierung und Verdrängung aus dem öffentlichen Raum.

Zum Beispiel gibt es in dem neuen Wohnquartier »Box Seven« an der Boxhagener Straße den Siegfried-Hirschmann-Park. Dieser Park ist vermeintlich öffentlich gestaltet er ist aber ein Privatgelände mit Wachdienst. Eine Frau* hat uns berichtet, dass sie sich dort mit ihrem Hund auf eine Bank gelegt hat und sofort rücksichtslos weggeschickt wurde. Das ist ein typisches Beispiel für viele ähnliche Fälle von denen Frauen* in unserer Beratung berichten.

Ein weiterer wichtiger Punkt sind Gewalterfahrungen in Partnerschaften.

Was bedeutet strukturelle Gewalt gegen und Frauen* konkret in unserer Gesellschaft, in unserem Kiez und wie kann sie überwunden werden?

Die Frauen* berichten von gewaltvollen Partnerschaften und Erfahrungen auf der Straße, sowie über Belästigungen.

In unseren Nachbar*innenbefragungen haben wir auch einen Punkt zu Patriarchat und Rassismus. Einige haben geantwortet, dass sie auch belästigt wurden.

Es gibt so viele Räume die davon geprägt sind. Es gibt viele Frauen* die tatsächlich nur frauen*spezifische Orte aufsuchen, weil sie in anderen Räumen sexualisierte Gewalterlebnisse oder generell Gewalterlebnisse gemacht haben. Und aus diesem Grund sagen sie, dass sie diese Orte nicht mehr nutzen.

Oft treten auch Abhängigkeitsverhältnisse in Partnerschaften auf. Es gibt ganz viele Frauen* die auf der Straße leben, die bei Bekannten oder vermeintlichen Freunden unterkommen. Daraus entstehen dann Abhängigkeitsverhältnisse gegen Gefälligkeiten. Frauen* die öffentlich auf der Straße schlafen werden von Männern angesprochen: »Hey, Du kannst doch bei mir pennen!« Am Anfang ist das alles noch nett aber sobald sie dann da sind merken sie, dass es nicht nur um einen Schlafplatz geht. Deshalb ist auch unsere Notübernachtung wichtig, weil sie leicht zugänglich ist, anonym ist und keine Unterlagen vorzuweisen sind.

Aus welchen Orten kommen die Frauen zu Euch?

Die Frauen kommen von überall zu uns. Aus anderen Städten, weil sie dort vor Situationen geflüchtet sind, aus anderen Ländern, aus Berlin und dem EU-Ausland.

Die Frauen* aus dem EU-Ausland haben oft das Problem, dass sie keinerlei Leistungsansprüche haben, weil sie hier in ausbeuterischen Verhältnissen ohne jede Verträge gearbeitet haben. Das ist auf jeden Fall ein riesen Problem. Sie haben dann keine Möglichkeit Gelder zu beantragen oder überhaupt irgendetwas. Ohne festen Wohnsitz findest Du aber auch keinen Job. Das ist ein typischer Kreislauf.

Gibt es weitere Bereiche Eurer Arbeit auf die Ihr aufmerksam machen wollt?

Jeden Donnerstag gibt es ein öffentliches Frühstück. Zu diesem kommen auch Frauen* von außerhalb. Heute haben wir dabei zum Beispiel Transparente für die revolutionäre 8. März Demonstration gemalt, die werden wir aufhängen.

Die Menschen, die hier arbeiten sind das ausschließlich Hauptamtliche? Gibt es auch einen ehrenamtlichen Bereich? Wie kann man bei Euch mitmachen und Euch unterstützen?

Diesen Bereich gibt es. Vor allem abends ist das ganz gut, wenn es keine Hauswirtschaftskräfte gibt. Hauptamtlich sind nur zwei Stellen finanziert. Alle anderen sind auf Ehrenamtsbasis. Wir freuen uns über jede* die vorbeikommt um zu helfen oder um mit den Frauen* in Kontakt zu kommen. Aber was vor allem gut ist, wofür wir leider nicht genug Kapazitäten haben, ist Begleitung zu Terminen, Ämtern und Arzt*innen. Viele Frauen schaffen das einfach nicht alleine, weil es ihnen nicht gut geht. Sie können sich dann nicht gut ausdrücken und kommen nicht zur Ruhe. Oft sagen sie: »Eigentlich müsste ich mal zum Arzt um mich untersuchen zu lassen.« Aber sie schaffen alleine nicht den Weg. Wir suchen hauptsächlich Frauen* als Ehrenamtliche*, denn wenn Männer hier mitmachen wollen geht das nur wenn die Nutzer*innen nicht da sind.

Das kann ich mir gut vorstellen, dass für Behördengänge Unterstützung gesucht wird.

Wir nehmen auch sehr gerne Einzelfahrscheine der BVG als Spenden an. Das entlastet die Frauen wirklich sehr. Sie können sich dann in den ÖPNV setzen und wissen, dass sie sich keinen Stress machen müssen, dass keine Kontrolle ihre Schulden bei der BVG vergrößert.

Ihr habt ja schon angedeutet, dass Ihr auch politische Menschen seid. Ihr macht Transparente und geht zur revolutionären 8. März Demonstration. Zurzeit gehen weltweit Millionen auf die Straßen, von Lateinamerika bis Indien ist die Welt im Aufruhr, die Menschen haben dieses Leben und die kapitalistische Ordnung satt. Besonders Frauen* nehmen in diesen Widerständen eine führende Rolle ein und das ist kein Zufall. Auch in Deutschland organisieren sich immer mehr Frauen* gegen ihre Unterdrückung. Was ist Eure Perspektive in diesem Zusammenhang?

Auf jeden Fall sehen wir uns als Teil dieser Bewegung. Unsere Arbeit ist auch gar nicht davon zu trennen. Dieser Ansatz ist uns auch in der Beratung ziemlich wichtig. Auf der einen Seite sind die Ursachen sehr unterschiedlich. Auf der anderen Seite ähneln sie sich aber auch sehr häufig. Wir versuchen wollen nicht individualisieren oder alles vereinzelt zu sehen, sondern in unserer Beratung strukturelle Ursachen zu benennen.

Ich denke, dass dieser Punkt für viele Frauen in der Beratung etwas Neues darstellt. Wir versuchen zum Beispiel keine Einzelschuld zu erheben, sondern wollen die strukturellen Ursachen hinterfragen. Wir wollen uns dann auch mit den Frauen* gemeinsam richtig aufregen. Wir können auch gut gemeinsam wütend sein in der Beratung über die ganze Scheiße die uns tagtäglich passiert.

Eine generelle Infragestellung des Patriarchates ist nicht nur für uns in der Einrichtung Thema, sondern auf allen Ebenen unseres Lebens.

Gibt es weitere Themen, die Euch wichtig sind und die Ihr unseren Leser*innen mitteilen wollt? Wie seht Ihr die Lage auf dem Wohnungsmarkt und in unserem Kiez?

Es ist wichtig das Thema der Wohnungslosigkeit gesamter zu betrachten. Wohnungslosigkeit entsteht durch Verdrängung. Der Liebig34 droht die Räumung und den Bewohner*innen droht die Wohnungslosigkeit. Es gibt 27 Zwangsräumungen pro Tag. Das heißt Verdrängung findet tagtäglich statt.

Ich habe den Eindruck, dass Obdachlosigkeit stadtpolitisch gar kein so großes Thema ist. Es wird ehr unsichtbar gemacht und verdrängt. Obwohl es jeden treffen kann. Das Thema kann nämlich auch ein Nährboden für Sozialchauvinismus und Rassismus sein.

Es reicht nicht immer nur zu sagen wir machen jetzt immer mehr Notübernachtungen. Eigentlich muss es eine politische Folge sein zu sagen wir brauchen mehr Wohnraum. Und wir brauchen keinen teuren Wohnraum, sondern Wohnraum den wir uns leisten können. Wir brauchen Wohnraum wo die Voraussetzung nicht ein riesen Ordner voller Unterlagen ist. Sondern es geht darum, dass die Menschen ein Recht auf Wohnen haben. Im Anschluss an die »Nacht der Solidarität« war Obdachlosigkeit kurz ein Thema in der Öffentlichkeit aber es wurde dann schnell wieder gesagt wir brauchen mehr Notübernachtungsplätze. Wir müssen aber danach fragen wieso passiert Obdachlosigkeit überhaupt? Was passiert mit den EU-Bürger*innen, warum haben sie hier keine Chance auf Wohnraum generell? Diese Gedanken sind wichtiger als zu sagen jetzt haben wir mehr Notübernachtungen und das war’s. Es wird jetzt so viel Geld mehr in die Notübernachtungshilfe gepumpt aber damit werden nur die Symptome bekämpft. Die Zwangsräumungen finden weiterhin statt.

An der Rummelsburger Bucht gab es ja auch mal ein selbstorganisiertes Obdachlosencamp. Die BVV hat gesagt o.k. ihr könnt hier noch bis zum Frühjahr bleiben aber danach müsst ihr weg. Und währenddessen wurde versucht die Obdachlosen in Deutsche und Andere zu spalten. Wir denken auch, dass sich an der Liebig34 viele Punkte von Verdrängung bis feministische Selbstorganisierung kristallisieren. Es ist ein Haus, das Padovicz haben will, um weiter Profite zu machen, dass auch stellvertretend für alle anderen, die von Verdrängung in unserem Kiez Betroffene*, dagegen kämpft.

Ja. Ein solidarisches Miteinander ist auch wieder wichtig. Es reicht nicht aus nur wütend zu sein über Kämpfe die mich betreffen, sondern auch darüber hinaus zu gucken. Was betrifft mich persönlich vielleicht gerade nicht aber was sollte uns alle im Moment durchgehend super wütend machen. Warum wir durchgehend nur auf Demos und auf der Straße sein sollten. Wir müssen wieder mehr auf einander achten und nicht nur auf die eigene Blase.

Das beobachten wir auch. Auf der einen Seite gibt es diese Isolierung aber auf der anderen Seite gibt es den starken Wunsch sich wieder zusammenzuschließen und zu solidarisieren. Manche Nachbar*innen wollen aktiv werden und wenn wir das schaffen, können sich daraus viele gute Sachen entwickeln.

Ich glaube, dass die Kiezkommunen etwas sehr Gutes sind um zusammenzukommen und zu besprechen was bei uns gerade im Kiez passiert. Und wir sind nicht alle in unseren Wohnungen und haben das Gefühl, das passiert gerade nur mir, sondern dass ist gerade eine Entwicklung, die im kompletten Kiez stattfindet.

So ist ja auch das Solikomitee für die Liebig34 entstanden. Es gab auf der Nachbar*innenversammlung im November 2018 eine Diskussion darüber: Was machen wir? Und so ist diese spontane Idee entstanden. Und jetzt entwickeln sich selbstorganisiert ganz viele Sachen: Unterschriften sammeln, Videos drehen, Nachbar*innen interviewen und eine Nachbar*innendemo organisieren.

Sehr gut.

Ein weiteres wichtiges Thema, welches wir beobachten ist die Psychiatrisierung von Menschen. Das nicht gesehen wird wieso geht es dem Menschen gerade so schlecht. Wenn ich aus meiner Wohnung verdrängt werde, dann geht’s mir auch erstmal ziemlich Scheiße. Dann findet aber oft eine Psychiatrisierung statt anstelle, dass es gerade drum geht, dass die Person gerade verdrängt wurde. Selbstverständlich muss man Menschen in psychischen Krisen auf jeden Fall auch Auffangen. Aber es darf nicht damit enden, dass alle eine Diagnose haben, aber nie geguckt wird warum haben wir denn gerade alle eine Diagnose. Wieso entstehen überhaupt so viele psychische Krisen bei Menschen? Das finde ich einen sehr wichtigen Aspekt, weil häufig auch eine Abgrenzung zu psychisch erkrankten Menschen stattfindet. Wir alle können in psychische Krisen kommen. Genau dann ist es wichtig aufgefangen zu werden, von Menschen Drumherum, im Umfeld und auch im Kiez eine Struktur zu schaffen die so etwas auffangen kann, damit sich so etwas nicht verfestigt und wiederholt.

# Text und Titelbild: Kiezecho

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Einmal applaudieren für die Ladys, denn der Durst nach vorzeigbaren Superheldinnen ist noch nicht gestillt. Das Forbes-Magazin verteilt in einem Artikel vom 13. April Lob und Bienchen für den Führungsstil der Politikerinnen Dänemarks, Deutschlands, Finnlands, Islands, Neuseelands, Norwegens und Taiwans. Denn im Gegensatz zu den polternden männlichen Machtgeprotze-Kollegen, begeistern diese Frauen laut Forbes durch ihr besonnenes Krisenmanagement, ihr „Einfühlsvermögen“ und ihre „Fürsorge“ im Umgang mit Corona. „Es ist, als kämen ihre Arme aus den Videos, um uns in einer herzlichen und liebevollen Umarmung festzuhalten,“ schwärmt die Autorin und verteilt pinke Good-Vibes in düsteren Corona-Zeiten. Dass Forbes auf Anspielungen zu gekonnten Hochsteckfrisuren oder tiefblickenden Dekolletés der Politikerinnen verzichtet, ist fast ein Wunder.

Dieser „feministische“ Artikel offenbart eine Haltung, die uns seitens eines der erfolgreichsten Managermagazine mit Hauptsitz in der New Yorker Fifth Avenue nicht überrascht. Umso verwunderlicher aber, wie unkritisch die These des erfolgreichen weiblichen Führungsstils in so manchen links-feministischen Online-Kanälen bejubelt wird. Dabei ist diese angeblich feministische Haltung nichts anderes als eine Karikatur dessen, was Populismus und Aneignung radikaler sozialer Kritiken für bürgerliche Interessen bedeutet.

Verschiebung der Klischees?

Wahrscheinlich fasziniert es, dass Frauen nun endlich nicht mehr nur als Sexobjekt oder demütige Hausfrau im Scheinwerferlicht stehen, sondern auch zunehmend ein Bild gezeichnet wird, in denen besonders „weibliche“ Führungsqualitäten hervorgehoben werden. Auf den ersten Blick mag es fortschrittlich erscheinen, denn die Klischees der gegenübergestellten Geschlechterbilder erleben eine Verschiebung. Diese Verschiebung führt aber nicht dazu, dass Stereotype abgebaut werden, sondern im Gegenteil wird die Annahme verfestigt, weibliche und männliche Personen hätten von Natur aus „angeborene,“ sich binär gegenübergestellte Charaktereigenschaften, also jeweils eine grundverschiedene “Essenz”. Frauen sind demnach von Natur aus „friedliche“ und „besonnene“ Wesen, die grundsätzlich für Harmonie sorgen wollen und deshalb die bessere Politik bzw. hier das bessere, empathischere Krisenmanagement betreiben würden.

Ein derartiger „feministischer“ Personenkult, wie er im Forbes-Artikel betrieben wird, verschleiert vollkommen, welche politischen Interessen eigentlich hinter diesen Repräsentantinnen stehen: die Interessen der herrschenden Klasse der Länder, die sie repräsentieren.

Beispiellos ignorant ist auch, wie geschichtliche und wirtschaftliche Hintergründe der herangezogenen Nationalstaaten ausklammert. Die Frage hier ist: Welche ökonomischen Bedingungen liegen einem Land und/oder einer bestimmten Klasse zugrunde, damit ihre Frauen es sich leisten können, sich aus ihren unterdrückenden Verhältnissen zu emanzipieren und Seite an Seite mit den Männern in der Führungsetage mitzumischen?Wenn man sich sich die herangezogenen, von Frauen regierten Länder betrachtet, sellt man fest, dass diese mit die stärksten Volkswirtschaften der Welt sind. Es überrascht nicht, dass ausgerechnet diese Länder im weltweiten Vergleich über stärkere Gesundheitssysteme verfügen und bessere Präventionsmaßnahmen gegen die Ausbreitung von Epidemien oder Pandemien treffen können – auf dem Rücken der Peripherien des Imperialismus. Es würde den Rahmen sprengen, darzulegen, auf welchem Reichtum die Volkswirtschaften dieser Länder aufbauen – aber sicher nicht auf den „Fleiß“ ihrer Bevölkerung. Jahrhundertelange Plünderug von Ressourcen und Arbeitskraft aus dem Globalen Süden zahlt sich nun aus für den imperialistischen Feminismus.

Es ist richtig, dass viele Frauen eine Schnittmenge an Erfahrungen teilen, die sie durch biologische und/oder vorherrschende gesellschaftliche Bedingungen machen. Das heißt aber nicht, dass sie deswegen etwa gleiche Eigenschaften („Umsorge,“ „Mutterinstinkt“ etc.) teilen. Diese Auffassung führt dazu, die ungleichen Verhältnisse, die sich aus den realen materiellen Zugängen von Männern und Frauen speisen, zu akzeptieren, als natürlich hinzunehmen und somit weiter als “naturgegeben” in Stein zu meißeln.

Frausein schützt vor Ausbeutung, Sexismus und Rassismus nicht

Nicht nur, dass dieser „weibliche Führungsstil“ also konstruiert und völlig nebulös ist, was das eigentlich sein soll. Auch stellt sich die Frage, wie es eine feministische Errungenschaft sein soll, dass statt Männer nun Frauen an der Spitze einer Politik stehen, die die allergrößte Mehrheit der Menschen auf der Erde ausbeutet, die Umwelt zerstört, Kriege führt, Menschen hungern lässt, sie foltert und Schutzsuchende vor den Außengrenzen Europas ertrinken und sterben lässt?

Die Politik, für die diese Frauen stehen, ist nicht weniger frauenfeindlich, rassistisch oder imperialistisch als die ihrer männlichen Kollegen. Schlimmer noch: Statt den Tatsachen ins Gesicht zu sehen und sich gegen diese imperialistische Politik – gerade als Frauen, als Queers und als Feminist*innen – zu wehren, lässt sich die Mehrheit, bis in linken Dunstkreise hinein, vom Teufel im Schafsgewand allzu gern in den Schlaf wiegen. Anders gesagt: Frausein schützt vor Ausbeutung, Sexismus und Rassismus nicht.

In den Bereich des sogenannten „Privaten“ fallen Hausarbeit, Kindererziehung, Pflege der Alten und Kranken in der eigenen Familie, Beziehungsarbeit, Auffangen zwischenmenschlicher Konflikte und therapeutische Angelegenheiten typischerweise auf Frauen zurück. Im Lohnarbeitsbereich bleibt diese Art feminisierter Arbeit, die – oh Wunder – im Kontext von Corona plötzlich systemrelevant genannt wird, weil sie eben lebenserhaltend ist, besonders prekär. Denn etwas, das als natürlich und angeboren angesehen wird, wie dass Frauen sich selbstverständlich um Angehörige sorgen und die Böden sauber halten, muss nicht entlohnt oder gesellschaftlich besonders gewertschätzt werden. Für’s Atmen wird man ja schließlich auch nicht bezahlt.

Frauen der Arbeiterklasse

Als Feminist*innen sollten wir wütender denn je sein, denn es sind nun schon wieder vor allem die Frauen der Arbeiterklasse, die die Auswirkungen der Corona-Krise durch eine brutal vorangetriebene neoliberale Politik – ein auf Profit ausgerichtetes, zunehmend privatisiertes und zusammengespartes Gesundheitswesen – ausbaden müssen. Laut Weltgesundheitsorganisation sind 70 Prozent der weltweit Beschäftigten im Bereich Gesundheitswesen Frauen. Es sind die Berufe, die meist schlecht bezahlt sind und prekäre Arbeitsbedingungen mit sich bringen; die von Überstunden bis zu hoffnungsloser, körperlicher Überlastung gezeichnet sind; und wo es obendrein, trotz besonders hohem Ansteckungsrisiko, an sicherer Schutzkleidung an allen Ecken und Enden fehlt. Neben dieser Lohnarbeit, werden Frauen auch meist zu einem Mehr an Sorgearbeit in der Kinderbetreuung, Alten- und Krankenpflege und im Haushalt gezwungen. Das liegt an der, wir erinnern uns, patriarchalen Erzählung der „Natur“ der fürsorglichen Frau (denn Frauen passen sich diese patriarchalen Norm auch an), aber auch daran, weil Männer häufiger Hauptverdiener und in ihrer Karriereplanung weniger flexibel sind. Prominentes Beispiel hierfür ist der Virologe Alexander Kekulé, der seine Frau „nah an der Verzweiflung“ sieht, sie aber leider nicht unterstützen kann, weil er dafür zu wichtig ist. Nicht nur, dass damit bestehende patriarchal-kapitalistische Strukturen verfestigt werden, auch sind diese Frauen in erzwungener Isolierung zu Hause, geschlechterbezogener Gewalt um ein vielfaches stärker ausgesetzt sind. Und auch in Post-Corona Zeiten ist davon auszugehen, dass Frauen der Arbeiterklasse – und darin die prekärsten Sektoren von migrantischen, asylsuchenden und illegalisierten Frauen – am meisten leiden: da Frauen häufiger in Teilzeit, Mini-Jobs oder im informellen Sektor beschäftigt sind, verlieren sie in Krisenzeiten schneller den Job und brauchen länger, um zu ihrem ursprünglichen Einkommen zurückzukommen.

Die Erkenntnis, dass diese Art des Feminismus auf dem Vormarsch ist, bestätigt nur, wie ungefährlich er für die etablierte Norm, den weltweiten, patriarchalen Kapitalismus in seiner imperialistischen Phase, ist. Dieser bürgerliche, liberale Feminismus eignet sich die Kämpfe der nicht mehr zu ignorierenden, weltweit erstarkenden Welle radikaler feministischer Bewegungen an, die unermüdlich Freiheit, Emanzipation und Selbstbestimmung aller Menschen und Lebewesen verfechten, jenseits von Kapitalismus und patriarchaler Unterdrückung. Ein liberaler Feminismus suggeriert, dass es keine strukturellen Missstände und Ungleichheiten gäbe, und jede Frau alles erreichen könne, wenn sie sich nur stark genug anstrengt. Gerechtigkeit ist aber nicht, wenn ein paar Frauen in Spitzenpositionen lächelnd in die Kamera winken. Die Klassenherrschaft samt aller patriarchaler Privilegien bleibt unangetastet. Der Feind bekommt nur ein weibliches Gesicht.

# Text: Meret Ava, Hannah Simón und Eleonora Roldán Mendívil

#Titelbild: Marie Antoinette, Margaret Thatcher und Angela Merkel
Marie Antoinette & Margaret Thatcher: gemeinfrei; Angela Merkel: Armin Linnartz CC BY-SA 3.0
Collage: LCM

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„Bleiben Sie zu Hause.“ Das sei doch eine „ganz einfache Losung“, um gemeinsam die Coronakrise zu überstehen, freiwillige Isolation dieser Tage ein sozialer Akt, die Ausgangssperre das Mittel gegen die Ignoranz derer, die sich weiter draußen aufhielten. So oder ähnlich konnte man viele Politiker*innen und einige Journalist*innen in den letzten Wochen sprechen hören. Zuhause bleiben in Zeiten von Corona bedeutet allerdings nicht für alle, sich im gemütliches Eigenheim in der harmonischen Kleinfamilie zurückzuziehen, wo es Lohnfortzahlung und genug Raum oder einen Garten gibt, um sich auch mal aus dem Weg zu gehen. Dass diese „einfache Losung“ fernab vieler Lebensrealitäten liegt, ist offensichtlich. Viele Menschen wohnen auf engstem Raum in kleinen Wohnungen zusammen. Ausgangsbegrenzungen können zu unaushaltbaren Situationen führen. „Das ist wie Urlaub im Container“, meint Barbara Korsmeier von der Frauenberatungs- und Kontaktstelle Gelsenkirchen.

Dass das eigene Zuhause statistisch für Frauen der gefährlichste Ort ist, ist keine überraschende Pointe mehr – der zu erwartende Anstieg häuslicher Gewalt in Zeiten der Coronakrise hat es sogar bis in die Tagesschau geschafft. Freiheitsbeschränkende Maßnahmen, wie sie derzeit verhängt werden, erhöhen das Potential für partnerschaftliche Gewaltausübung. Denn Ausgangssperren oder -begrenzungen, Schulschließungen, die Betreuung von Kindern zuhause oder soziale Isolation führen dazu, dass viele Menschen 24/7 in ihren Wohnungen aufeinanderhocken. Sorgen und Ängste werden größer, das Gefühl des Kontrollverlusts stärker. Existenzielle und finanzielle Unsicherheit lassen nicht nur bestehende gewaltvolle Dynamiken in Familien eskalieren, sondern bringen auch neue Konflikte auf.

Medienberichten zufolge sind in vielen Ländern mit Ausgangssperren aufgrund von Corona die Fälle von häuslicher Gewalt stark angestiegen, z.B. in China meldeten Frauenrechtsorganisationen drei Mal mehr Beschwerden, der Bundesstaat Rio de Janeiro in Brasilien einen 50-prozentigen Anstieg in den letzten zwei Wochen, die Notfallhotline in Argentinien 30 Prozent mehr Anrufe. Dort wurden als Reaktion auf die neuen Umstände Whatsapp-Notrufchats eingerichtet und mehr Beratungspersonal bereitgestellt, um einen möglichst niedrigschwellige Kontaktaufnahme auch in Quarantäne zu ermöglichen.

Wie wichtig es ist solche Angebote zu schaffen, sieht man in Frankreich und Italien. Dort gingen die Notrufe wegen gewalttätigen Übergriffen stark zurück – in Italien sogar um die Hälfte. Das heißt allerdings nicht, dass weniger Gewalt ausgeübt wird, sondern, dass es in häuslicher Isolation immer schwieriger für betroffene Frauen wird, Hilfe zu holen oder auch nur zum Telefon zu greifen. Giulia, Aktivistin von Noborder Feminism, kommt aus Italien und beobachtet die Situation dort seit Längerem. Jeden Tag werde dort mindestens eine Frau von nahestehenden Personen umgebracht. „Der Virus bringt nochmal in einer sehr viel aggressiveren und klareren Weise hervor, was auch schon vorher die Situation war“, erklärt sie. „Die Gewalt gegen Frauen ist massiv.“

Auch in Deutschland warnen Expert*innen vor einer Zunahme häuslicher Gewalt, erste Trends verzeichnen einen Anstieg von etwa zehn Prozent seit Beginn der Maßnahmen.

„Im Moment befinden wir uns in der Ruhe vor dem Sturm“ erklärt Barbara Korsmeier, die seit Jahren in NRW Interventionsarbeit bei häuslicher Gewalt leistet. Aber auch sie rechnet fest mit einem Anstieg: „Noch ist das Wetter gut, noch kann man auch mal spazieren gehen, aber wenn das Wetter wieder schlechter wird, reduzieren sich die ohnehin geringen Ausweichmöglichkeiten“. Ein generelles Muster: Auch in den Schulferien häufen sich bei schlechtem Wetter die Übergriffe und Hilferufe. Jetzt allerdings kommen auch andere Problematiken hinzu: „Viele der Täter sind suchtabhängig, spielsüchtig oder drogensüchtig“, erklärt Korsmeier. „Spielhallen sind geschlossen, es gibt Probleme, sich zu versorgen, Drogenberatungen haben zu. Das führt zu weiterem Steuerungsverlust“. Es ist normal und in Ordnung, Angst zu haben, sich verunsichert zu fühlen, gestresst zu sein. Aber all dies ist kein Grund und keine Entschuldigung dafür, diesen Frust an anderen auszulassen. „Du stehst selbst in der Verantwortung, wie du mit Überforderung, Unsicherheit oder Wut umgehst“, mahnen Organisationen, die Täterarbeit machen.

Während die Probleme für Betroffene größer werden, schwinden gleichzeitig Kapazitäten von Hilfsangeboten. Für Frauenhäuser, die sowieso chronisch unterfinanziert sind, bedeuten auch die hygienischen Maßnahmen zum Infektionsschutz besondere Herausforderungen. Nutzung von Küchen und Bad müssen nun einem strengen Nutzungsplan folgen. Da Familien nun einzeln untergebracht werden, haben sich die Plätze in Frauenhäusern, wie dem in Gelsenkirchen um die Hälfte reduziert. Das heißt, Frauen müssen nun weiter fahren, um Zuflucht zu finden, aber die Mobilität ist eingeschränkt: Zugfahren ist nicht mehr so einfach und auch das eigene Auto der Mitarbeiterinnen ist nun keine Möglichkeit mehr.

Dass Krisen wie die jetzige Frauen anders und härter treffen, ist eigentlich schon lange bekannt. Es gibt genügend Beispiele, wie Hurricane Katrina in den USA 2005, das Erdbeben in Canterbury Neuseeland 2011, oder die Ebola Epidemie in Westafrika in 2014 und -15, die unmissverständliche Nachweise für die besonderen Auswirkungen von Krisensituationen auf Frauen liefern: die immer starke Zunahme von häuslicher Gewalt auch durch Reisebeschränkungen und fehlende Fluchtmöglichkeiten, Einschränkungen in reproduktiver Gesundheit durch Umwidmung von Ressourcen in die Katastrophenhilfe oder der erschwerte Zugang zu sicheren Abtreibungen. Dabei zeigen sich oft auch sehr langfristige Auswirkungen, z.B. durch das Ausscheiden aus dem Schulsystem oder der langsameren Wiederherstellung der Lohnverhältnisse im Geschlechtervergleich. Würde man dieses Wissen ernst nehmen, wäre klar, dass politische Maßnahmen zur Kriseneindämmung die zusätzlichen geschlechtsspezifischen Risiken mit in den Blick nehmen und bereits präventiv Maßnahmen ergreifen und Ressourcen bereitstellen müssten, um die Auswirkungen abzufedern.

Auch Barbara Korsmeier wünscht sich, dass man aus Krisen lernt, anstatt nur „just in time“ zu denken und erst zu reagieren, wenn es schon zu spät ist. Wichtiger wäre ihr, sich mit Konzepten von flexiblen Schutzunterkünften langfristig vertraut zu machen, ein flexibles Denken anzueignen. Dass die derzeitige Aufmerksamkeit dazu führen könnte, dass eine generelle Debatte entsteht, in der Politik, Verwaltung und Gesamtgesellschaft das Thema Gewalt gegen Frauen mehr in den Fokus rücken und es vehementer bekämpfen, glaubt Korsmeier nicht. Sie ist es bereits gewohnt, dass häusliche Gewalt und sexueller Missbrauch Modethemen sind. „Das ist Schall und Rauch und wird bald wieder weg sein.“ Durch das Hin- und Her haben sich die Beratungsstellen eine eigene Flexibilität angewöhnt, um in allen Lagen angemessen darauf zu reagieren. „Die Sicherstellung für Gewaltopfer als erste Unterstützung ist fundamental“.

Durch die allgemeine Aufmerksamkeit wird auch von offizieller Seite reagiert. Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend hat in der vergangenen Woche mit den Bundesländern einen Schutzschirm für Frauenhäuser und verschiedene Maßnahmen vereinbart, um Hilfesysteme für Frauen in Notsituationen während der Coronakrise am Laufen zu halten. Auf kommunaler Ebene werden Ausweichquartiere in leerstehenden Hotels und Ferienwohnungen organisiert.

Beratungsstellen aber werden nicht vom staatlichen Schutzschirm zusätzlich gestützt, da sie anders als stationäre Einrichtungen nicht als „systemrelevant“ gelten. Frauenberatungsstellen, aber auch Flüchtlings- oder Drogenberatungsstellen sind als psychosoziale Systeme freiwillige Leistungen. „Wir befinden uns in einer Krise und wir sind doch eine Krisenhilfe. Und dann wird gesagt, Beratung ist nicht systemrelevant!“ Korsmeier ist sich sicher, dass es sich rächt, wenn wichtige soziale Angebote zum sozialen Frieden und Gewaltschutz nicht finanziell abgesichert sind und in der Planung mit aufgenommen werden.

Denn wenn Beratung wegbricht, wird die Lage für alle Beteiligten verschärft. „Selbsthilfe funktioniert darüber, dass es Menschen gibt, die einem in einer häuslich isolierten Situation zuhören, die Hilfe anbieten können, dass man sich nicht allein gelassen fühlt. Für dieses ganze System braucht es Wertschätzung im Sinne von finanzieller Absicherung“. Der Kontakt nach draußen ist extrem wichtig, um Selbsthilfe zu aktivieren, die Beratung stellt erst den entscheidenden Zugang zu jedem Hilfesystem dar. „Das muss sein, das kann nicht anders sein!“, weiß Korsmeier aus Erfahrung. „Auch die Frauen möchten Sicherheit.“ Mittlerweile, anders als noch in den 80er Jahren, gibt es eine Einsicht und einen gesellschaftlichen Konsens über die Notwendigkeit der Beratungsstellen, aber das Problem ist immer die Kostenfrage. „Von dieser Einsicht müssen wir zu einem anderen Handlungsstrang kommen. Es muss sich der Wille bilden, sich das auch etwas kosten zu lassen“.

Während staatliche Stellen die Beratungsstellen fallen lassen, funktionieren auch in Krisenzeiten selbstorganisierte Strukturen; unter den ehrenamtlichen Helferinnen, aber auch unter den Frauen in den Unterkünften. „Es haben sich schnell Whatsapp -Gruppen gegründet, wo die Versorgung abgesprochen wird, Medikamente abgeholt werden und Unterrichtsgruppen gebildet werden, wie selbstverständlich“.

# Text: Nora Gärtner

#Titelbild: Computer-Simulation des Corona-Virus, Felipe Esquivel Reed, wikimedia commons, CC-BY-SA 4.0, Lila Schleife, weltweites Symbol gegen häusliche Gewalt Niki K., CC BY-SA 3.0, Collage LCM

Nummern für telefonische Hilfe in Notsituationen:

Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen (BIG) 030 611 03 00 von 8-23 Uhr Beratung@big-hotline.de
Bundesweites Hilfetelefon 08000 116 016
Telefonseelsorge 0800 11 10 111 oder 0800 11 10 222
Kinder- und Jugendtelefon 0800 11 10 333


nummergegenkummer.de/kinder-und-jugendtelefon.html 0800 116111
Sucht- und Drogenhotline 01805 31 30 31
Hilfetelfon Sexueller Missbrauch 08002255530 Mo, Mi und Fr von 9 bis 14 Uhr & Di und Do von 15 bis 20 Uhr.

Beratungsstellen für Jungen und Männer, die gewalttätig geworden sind oder Angst haben, gewalttätig zu werden:

www.maennerberatungsnetz.de

SKM Gewaltberatung

BAG Täterarbeit

Survival-Kit für Männer unter Druck

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Die feministische Bewegung in Italien ist seit mehreren Jahren einer der stärksten Stützpfeiler linker Mobilisierungen im Land. Unter dem gemeinsamen Dach der Bewegung „non una di meno“ („Nicht eine weniger“) fanden sich unterschiedlichste Initiativen zunächst gegen Frauenmorde, Feminizide, zusammen, dehnten ihr Politikfeld aber rasch aus, um einen feministischen Blick auf die Gesamtheit sozialer und politischer Problemfelder zu popularisieren.

Wir haben mit Chiara vom Esc Atelier in Rom und Vanessa, aktiv bei dem autonomen Informationsportal Dinamopress, und beide von “non una di meno” über die Entwicklung der feministischen Bewegung in Italien und den Frauenstreik in Zeiten des Corona-Virus gesprochen.

Aktuell sind einige Gebiete Italiens wegen des Corona-Virus komplett abgeriegelt, landesweit gibt es zahlreiche Einschränkungen. Welche Auswirkungen hat das auf den diesjährigen Frauenkampftag?

Vanessa: Klar, dieses Jahr gehört das Coronavirus zu den Umständen, über die wir sprechen müssen. Schon davor gab es eine lange Diskussion über den Streik dieses Jahr, denn der 8. März fällt ja bekanntlich auf einen Sonntag. Im Rahmen einer nationalen Versammlung von „non una di meno“ entschied eine Mehrheit anwesender lokaler Strukturen sowie der radikalen Gewerkschaften, dass wir deshalb den Streik am 9. März durchführen.

Dann aber änderte sich alles. Schon eine Woche vor dem Streik teilte uns die staatliche Nationale Kommission für die Streiks mit, dass wir den Streik stoppen sollen. Sie haben es nicht direkt verboten, aber angedroht, jede streikende Arbeiterin mit einem Bußgeld zu bestrafen. Zu diesem Zeitpunkt war die Situation durch das Virus erst in zwei Regionen kritisch, in der Lobardei und in Veneto. Aber wir entschieden, den Streik ausfallen zu lassen, denn es existiert auch ein Dekret, das alle öffentlichen Aktivitäten einschränkt.

Chiara: Und wir hatten ja eine Demonstration zum 9. März geplant. Aber uns kamen Zweifel, ob sich überhaupt genug Leute zusammenfinden, nachdem die Kommission den Streik für unzulässig erklärt hatte. Und nach dem Dekret entschieden wir, die Demo sein zu lassen. Zum einen, weil wir die Auflagen dieses Dekrets – etwa den Mindestabstand zwischen Personen – nicht einhalten könnten, zum anderen aber auch, weil wir uns in einer Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft sehen.

Vanessa: Deswegen gibt es, je nach Region, ein verkleinertes Programm. Im stark vom Virus betroffenen Norden wird es keine öffentlichen Veranstaltungen geben; im Süden kleinere, wie öffentliche Performance.

Chiara: Wichtig ist es aber auch, darüber zu sprechen, welche drastischen Auswirkungen die aktuelle Situation auf Frauen hat. Die Schulen sind geschlossen. Das heißt, dass sich jetzt eine Menge Frauen den ganzen Tag um ihre Kinder kümmern müssen. Sie können nicht zur Arbeit, was wiederum große Auswirkungen auf die ökonomische Situation all dieser Familien hat.

Tut der Staat etwas, um diese Probleme abzumildern?

Vanessa: Im Moment nicht, nein. Alles ist durcheinander, die Situation ist neu. Sie haben erst kürzlich die Dekrete zur Einschränkung der öffentlichen Veranstaltungen und zur Schließung der Schulen verabschiedet und fangen jetzt langsam an, die ökonomischen Auswirkungen zu diskutieren. Unterstützung könnte für größere Betriebe und Familien kommen, aber was wir schon jetzt sagen können ist, dass der Staat sicher nichts für die Gelegenheitsarbeiterinnen, Arbeiterinnen ohne Verträge, die Prekarisierten und so weiter tun wird – denn das hat er noch nie.

„Non una di meno“ hat auf drei Ebenen reagiert: Zuerst, indem wir unsere Verantwortung wahrgenommen haben und gesagt haben, okay, das ist kein Witz, sondern ein soziales und Gesundheitsproblem. Zum anderen haben wir eine öffentliche Debatte über die Doppelbelastung von Frauen und prekarisierten Arbeiterinnen in dieser Situation begonnen. Und zum Dritten überlegen wir, wie wir Frauen und andere Identitäten unterstützen können, die Unterstützung brauchen.

Eine letzte Idee, die wir noch nicht besprochen haben, die aber zirkuliert, ist die einer Kampagne für eine Verbesserung des öffentlichen Gesundheitssystems. Denn das System ist mangelfinanziert, es wird seit Jahren zusammengestrichen und gekürzt. Und das macht sich jetzt bemerkbar.

Ich würde aber sagen, dass das wichtigste ist, was wir insgesamt sagen können: Durch „non una di meno“ und die feministische Bewegung haben wir einen neuen Blick auf soziale und politische Krisen wie diese geöffnet. Diese transfeministische Perspektive ist in den vergangenen vier Jahren herausgebildet worden – und das ist eine wirkliche Errungenschaft.

Lasst uns hier gleich anknüpfen: Könnt ihr die wichtigsten Stationen dieser letzten vier Jahre kurz zusammenfassen? Wie seid ihr dahin gekommen, wo ihr heute steht?

Chiara: Schon vor „non una di meno“ gab es eine große Anzahl feministischer Kollektive im ganzen Land. Aber sie waren nicht miteinander verbunden. Vor vier Jahren dann begannen wir eine Debatte über männliche Gewalt gegen Frauen wegen der Morde und Feminizide. Im Mai 2016 wurde Sara Di Pietrantonio in Rom von ihrem Exfreund ermordet und angezündet. Da haben alle verschiedenen Teile des römischen Feminismus angefangen, sich gemeinsam zu treffen. Wir haben gesagt, okay, das ist eine Situation von großer Dringlichkeit und angefangen zu überlegen, auch andere landesweite Organisationen einzubeziehen. Zur selben Zeit haben wir natürlich auf Lateinamerika und all die Mobilisierungen von Frauen dort geschaut, bei denen es um das Recht auf Abtreibung und die Notlage durch Vergewaltigungen und Gewalt an Frauen ging.

Wir haben also für Oktober zu einer nationalen Versammlung aufgerufen, mit dem Plan, zum 25. November, dem Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen, zu einer Demonstration aufzurufen. Zu der Vollversammlung kam eine Menge an Frauen – eine Menge an Erfahrungen, Organisationen. Die meisten kamen aus nicht-parlamentarischen Kollektiven und Initiativen; aber es beteiligten sich auch das Netzwerk der Frauenschutzhäuser.

Vanessa: Letzteres stammt aus den feministischen Kämpfen der 1970er-Jahre. Genauso wie die Frauengesundheitskliniken, auch sie waren zunächst selbstorganisiert und wurden später institutionalisiert. Wir setzen uns also im Oktober 2016 aus diesen eher institutionalisierten Netzwerken und einer Masse an selbstorganisierten Initiativen zusammen.

Chiara: Und das bedeutete eine Stärke, denn wir haben Mitstreiterinnen aller Altersgruppen, von Schülerinnen bis Frauen, die schon in den 70ern gekämpft haben. Das ist manchmal schwierig, weil wir aus ganz unterschiedlichen politischen Traditionen kommen, aber es ist sehr interessant und wir bringen das alles auf einen Nenner. Und das Beste, was wir tun, ist, dass wir dabei ein neues Denken über Gewalt entwickeln. Da geht es nicht allein um dich und mich und einen Kampf gegeneinander, weil wir vielleicht zusammen sind und du Gewalt gegen mich ausübst, weil du ein Mann bist und ich eine Frau. Gewalt ist ein strukturelles Problem in unserer Gesellschaft und wir stehen ihr auf jeder Ebene unseres Lebens gegenüber. In den Beziehungen, im Gesundheitssystem, etwa wenn es um Abtreibungen geht, am Arbeitsplatz, bei der Bezahlung. Oder die Medien, die jedes Mal, wenn eine Frau ermordet wird, zum Problem machen, wie sie sich angezogen hat. Und diese Schuldumkehr setzt sich dann vom den Mainstreammedien bis in die Gerichtssäle und das Justizsystem fort.

Vanessa: Im Oktober 2016 hatte Italien die Renzi-Regierung und die führte ein Referendum zur Verfassungsreform durch. Italien sprach nur über das. Es gab kein anderes Thema. Es gab für unsere landesweite Demo keine Artikel, keine Fernsehzeit, nichts. Und dennoch war die Demonstration riesig. 80 000 Menschen kamen. Dann war klar, die nächste Station war der 8. März.

Und auch der erste Frauenstreik wurde ein Erfolg. 20 Städte nahmen Teil, aber leider verweigerte die größte Gewerkschaft, CGIL, jegliche Unterstützung.

Auch nicht die „linkeren“ Teile wie die Metallgewerkschaft FIOM?

Vanessa: Nein. Wir haben Gespräche mit ihnen geführt, aber ohne Ergebnis.

Chiara: Ich meine, wir wussten es ja schon zuvor, aber offenkundig stehen sie nicht im Dienst der Arbeiterinnen.

Vanessa: Also im ersten Jahr haben wir nicht erwartet, dass sie teilnehmen. Dann haben wir über die Jahre versucht, eine bessere Verbindung herzustellen. Die letzten beiden Jahre waren wir hoffnungsvoll, auch weil in Spanien eine solche Verbindung besteht, weshalb der Streik dort so stark ist. Oder in Argentinien, wo alle Gewerkschaften mitmachen. Aber leider hat es hier nicht geklappt. Und das obwohl wir ja jetzt z.B. letztes Jahr eine rechtsradikale Regierung hatten, gegen die es ihnen vielleicht hätte leichter fallen müssen zu streiken. Und auch, obwohl jetzt Landini von der FIOM Gesamtsekretär von CGIL ist. Mit dem haben wir an der Uni noch gemeinsam zusammengearbeitet. Also der linke Teil, aber dennoch …

Chiara: Und dennoch wuchs der Streik Jahr für Jahr. Was wir also sagen können ist: wir haben sicher keine glückliche Situation für Frauen oder Transgender-Menschen in Italien. Italien ist eine machistische Gesellschaft, katholisch, nur jede dritte Frau im Süden arbeitet. Frauen sind unterbezahlt, haben die Doppelbelastung, im Haus und im Betrieb. Und das Level von Belästigung ist immens. Ich meine, schon im Kleinen, in der Alltagsprache ist das immens, das kann ich dir gar nicht ins Englische übersetzen. Das Level an Machismus in unserer Gesellschaft können vielleicht nur Spanische und Lateinamerikanische Freundinnen nachvollziehen.

Aber dennoch sind wir in den vergangenen Jahren näher zusammengerückt. Und das ändert viel. Wenn ich jetzt im Bus bin und mich irgendein Typ anfasst, weiß ich, dass ich mich auf andere Frauen verlassen kann. Und das ist eine wirkliche Errungenschaft. Wir haben eine gemeinsame Identität geschaffen.

Vanessa: Ebenfalls noch hervorzuheben ist, dass wir ein Jahr lang alle zusammen das „Manifest gegen männliche Gewalt an Frauen“ erarbeitet haben, in dem wir die Idee struktureller Gewalt entwickeln: Gewalt in der Bildung und Ausbildung, Gewalt in der Sprache, Gewalt gegen den Körper, Gewalt im Rechtssystem und so weiter. Das war ein großer Schritt, um gemeinsame Gedanken zu entwickeln.

War es einfach, diesen Konsens zwischen so vielen Gruppen herzustellen?

Vanessa: Nein. Das war super schwierig.

Aber habt ihr es geschafft, ohne dass sich Teile der Bewegung rausgezogen haben, oder sind welche gegangen?

Vanessa: Naja, vielleicht ein paar Kollektive. Aber die überwiegende Mehrheit blieb. Klar, es gab einige sehr problematische Punkte, aber am Ende beteiligte sich die Mehrheit der Versammlung und jetzt hat jede das Gefühl, das ist unser Manifest.

Sprechen wir noch einmal kurz über den Streik. Welche Segmente der Klasse sind besonders aktiv, welche erreicht ihr weniger?

Vanessa: Die kleinen, radikalen Gewerkschaften haben sehr gut gearbeitet.

Chiara: Cobas und USB.

Vanessa: Schulen, also der Bildungssektor ist stark im Streik. Und Arbeiterinnen aus dem Gesundheits- und Pflegebereich. Interessant ist aber auch, dass wir jedes Jahr Hunderte Mails bekommen, in denen Frauen uns schreiben: Ich will am Streik teilnehmen, was kann ich tun? Die Gewerkschaft in meinem Betrieb sagt mir, ich kann nicht, weil sie nicht streiken. Und das ist einfach falsch. Wir haben da einen Ratgeber zusammengestellt, in Zusammenarbeit mit Anwältinnen.

Aber insgesamt müssen wir sagen, dass wir die Zahlen wie in Spanien nicht erreichen, aus dem vorher genannten Grund, dass die größten Gewerkschaften dieses Landes den Streik nicht unterstützen. Dennoch werden die Demonstrationen jedes Jahr am 8. März und zum 25. November größer und größer.

Zum Abschluss vielleicht: Wie war die Reaktion der männlichen Genossen? Und welche Rolle können sie spielen, um zu unterstützen?

Chiara: Vielleicht solltest du lieber unsere Genossen fragen. Weil manchmal reden wir an ihrer Stelle und ich weiß nicht, ob es das bringt. Aber wir können dir unsere Perspektive darstellen. In den Kollektiven, in denen wir beide aktiv sind, haben wir einen guten Austausch von Ideen miteinander. Und auch, wenn wir uns manchmal nicht alles erlauben, gibt es einen Prozess. Aber dasselbe kann ich nicht für andere Orte in Italien behaupten.

Vanessa: Zudem können wir sagen, dass die Demonstrationen von „Non una di meno“ generell offen sind für die Teilnahme von Männern. Sie müssen nicht ganz vorne sein oder im Mittelpunkt stehen, aber sie können teilnehmen. „Non una di meno“ ist keine reine Frauenangelegenheit, sondern offen für alle Identitäten.

Wenn wir über unsere Genossen reden, dann können wir schon sehen, dass sie über die Jahre anfangen, in Frage zu stellen, was männliche Privilegien sind. Aber es ist eine Debatte, die erst beginnt.

Chiara: Was wir vermitteln wollen ist: Da ist dieses riesige Problem von Gewalt gegen Frauen. Und wir sind die einzigen, die sich die Frage stellen, warum das so ist. Wir wollen, dass Männer auch mal anfangen, von ihrer Seite aus die Frage zu stellen.

#Titelbild: Dinamopress

# Interview: Peter Schaber

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Es ist 6 Uhr morgens am Montag, dem 2. März, dem Super-Montag. Wir stehen vor einem der vielen kolonialen und patriarchalen Denkmäler Santiagos. Am ersten Montag im März, dem Monat, in dem wir Chilenen hoffen, dass der soziale Protest reaktiviert und neu artikuliert wird, ist die Morgendämmerung feministisch.

Zu zweit helfen wir einer Genossin aufzusteigen, um am Hals des weißen Mannes, den die Statue darstellt, das feministische lila Halstuch zu befestigen. Eine andere klebt den neuen Namen und die neue Biographie an die Statue. Die Genossin klettert runter, wir machen ein Foto und gehen schnell zur nächsten Statue.

Mit der Aktion benannten wir Denkmälern um, ersetzten die alten Namen durch die von Frauen und Dissidentinnen. Frauen, die ein wichtiger Teil der chilenischen Geschichte sind und von ihr nicht gebührend anerkannt wurden. Frauen, die Opfer von Missbrauch und Femizid wurden, deren Geschichten unsichtbar gemacht wurden und die nie Gerechtigkeit erfahren haben.

Über 60 Denkmäler wurden von kleinen Gruppen von Frauen, die über die Stadt verstreut waren, in Angriff genommen. Auch die Statue von General Baquedano, auf dem berühmten Platz der Würde, die auf Bildern vom Aufstand immer wieder zu sehen ist, wurde angegangen.

Die Dynamik der Aktionen setzte sich die ganze Woch fort: Am Mittwoch erschienen mehrere Gebäude und Institutionen, wie unter anderen Universitäten, die Börse und die Kathedrale von Santiago, mit Etiketten, die denjenigen entsprechen, die laut Gesetz auf ungesunde chilenische Lebensmittel aufgeklebt werden müssen. In diesem Fall stand dort „Vorsicht: hoher Anteil an Patriarchat“. Am Donnerstag fand eine Installation statt, bei der an einem belebten Ort in Santiago Kittel mit Geschichten von Frauen aufgehängt wurden, die im öffentlichen Gesundheitssystem Chiles Gewalt bei der Geburt erlitten haben. Am Freitag fand vor den Demos am Wochenende eine offene Druckwerkstatt statt. Auch eine Aufführung von las tésis gegen Gewalt an Studenten gab es. Und das sind nur einige der vielen anderen Aktionen der vergangenen Woche.

Tatsache ist, dass wir chilenischen Feministinnen organisiert sind, und unser Ziel ist klar: Wir werden nie wieder zum Schweigen gebracht werden. Weil wir Geschichte geschrieben haben, werden wir jetzt gesehen.

Diese Geschichte der chilenische feministischen Bewegung ist zweifellos lang, dennoch leben wir einen historischen Moment. Im Mai 2018 fand in Chile die so genannte feministische Revolution statt. Es begann an den Universitäten mit der Forderung, die sexuelle Gewalt in den Universitäten zu beenden. Dies fand auch in anderen Bereichen der Gesellschaft Widerhall und machte deutlich, wie allgegenwärtig Gewalt gegen Frauen ist.

In einem Kontext der sozialen Revolte, die aus der Prekarisierung des Lebens als Folge des neoliberalen Systems resultiert, wird die strukturelle Gewalt gegen Frauen noch deutlicher sichtbar.

Am 8. und 9. März wird zu einem antirassistischen, transfeministischen, lesbisch-feministischen, dissidentischen, multinationalen, antikapitalistischen, antifaschistischen, gefängnisfeindlichen, generationenübergreifenden, migrantischen und internationalistischen Streik aufgerufen. Denn unsere Formen der Rebellion sind so vielfältig wie unsere Realitäten und Territorien.

Dieses Jahr ist wegen des historischen Augenblicks in Chile etwas Besonderes. Es ist eine Kontinuität der sozialen Revolte, und wir sind in allen Linien des Kampfes und des Widerstandes gegen den Staatsterrorismus präsent. Wir fordern, dass Piñera und die Politiker, die für die Kriegserklärung an das Volk und die systematische Verletzung der Menschenrechte verantwortlich sind, gehen.

Zu Beginn dieses Jahres fand am 10., 11. und 12. Januar in Santiago das zweite plurinationale Treffen derjenigen die kämpfen statt. Mehr als 20 Organisationen und mehr als 3000 Frauen und Dissidenten nahmen daran teil. Es war ein offenes Treffen, bei dem mehr als 50 Versammlungen abgehalten wurden, um verschiedene Themen im Zusammenhang mit dem feministischen Kampf zu diskutieren, die in 16 Achsen unterteilt waren:

1. patriarchale Gewalt
2. Nicht-sexistische / feministische Bildung
3. Arbeit und soziale Sicherheit
4. Recht auf die Stadt und Wohnung
5. Wasser, Territorien und Ernährungssouveränität
6. Kampf für Abtreibung, sexuelle und reproduktive Rechte
7. Feministische Erinnerung und Menschenrechte
8. Migration und Flucht
9. Antirassismus
10. Indigene Frauen im Widerstand
11. Dissens
12. Internet und feministische digitale Technologien
13. Kunst, Kultur und Erbe
14. Prekarisierung und strukturelle Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen
15. Gesundheit und buen vivir
16. Antiknastkämpfe

In diesen Versammlungen wurden Vorschläge gemacht und Forderungen aufgestellt, die auf die in jeder Achse diskutierten Bedürfnisse einzugehen versuchen. Dann wurde gemeinsam ein Programm des feministischen Kampfes für das Jahr 2020 ausgearbeitet und eine Diskussion über die Durchführung des Streiks am 8. und 9. März geführt, bei der dieses Programm vorgestellt wird.

Und so haben wir eine gemeinsame Stimme gefunden. Denn wir Frauen und auch der Rest des Landes haben uns gefunden und wir wollen uns nicht loslassen. Situationen wie diese, in denen wir eine solche Gemeinschaft, einen solchen Dialog und eine solche Organisation sehen, zeigen uns, dass Chile über die Instrumente verfügt, um seine Gesellschaft auf faire und integrative Weise zu organisieren.

Die Regierung versuchte, sich an die Bewegung dranzuhängen und ein Treffen mit feministischen Vertreterinnen abzuhalten, um die Sicherheitsmaßnahmen für die Demonstrationen vom 8. und 9. März zu besprechen. Die Feministinnen nahmen nicht teil. Weil sie nicht in einen Dialog mit einer Regierung eintreten, die die Menschenrechte systematisch verletzt.

Weil wir Geschichte geschrieben haben, werden wir jetzt gesehen.

# Titelbild: Daniela Zárate, @dezetag

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Zum internationalen Frauenkampftag am 8. März, besuchen wir einen für den Befreiungskampf der Frauen in Syrien zentralen Ort: das Frauenzentrum „Mala Jin“, wörtlich das Haus der Frauen, in Qamişlo. Dies ist das erste Frauenzentrum, von denen es heute 72 in ganz Syrien gibt. Wir sprachen mit der Gründerin des Projektes, Ilham Umer, die auch die Leiterin aller Frauenzentren im nordsyrischen Kanton Cizîrê ist, und ihrer Kollegin Hanifa Muhammad, die im Dada Jinê, der Frauenkommission an den Gerichten, arbeitet.

Angesichts der Schwierigkeiten, mit denen viele Frauen im täglichen Leben konfrontiert sind, und den vielen Fälle von häuslicher Gewalt gründete Umer 2011 das Projekt der „Malên Jinê“, der Häuser der Frauen mit dem Ziel, einen Ort zu schaffen, an denen Frauen sich von Frauen beraten lassen und rechtlichen Beistand bekommen können. Die Probleme, mit denen sich Frauen an Ilham Umer und ihre Kolleginnen wenden, betreffen häufig Themen wie physische und psychische Gewalt, Unterdrückung, Verweigerung des Zugangs zu Bildung oder Gesundheit, oder Probleme innerhalb der Ehe oder mit Familienangehörigen. Zunächst wird versucht, durch Mediation eine Lösung zu finden. Wenn dies nicht möglich ist oder es sich um schwere Rechtsverletzungen handelt, wird der Fall an vor ein Gericht gebracht. Bei Androhung von Gewalt oder Mord werden Asayişa Jin (weibliche Sicherheitskräfte) hinzugezogen.

Ilham Umer, erzählen Sie uns wie alles angefangen hat!

Ilham Umer: Das erste Mala Jin haben wir 2011 in Qamislo eröffnet. Es folgten weitere Mala Jin in den Regionen Jazira, Efrîn und Kobanê. Heute gibt es 72 Frauenzenten in ganz Syrien. Unser Ziel ist es, allen Frauen zu helfen, unabhängig davon, ob sie kurdischer, arabischer, assyrischer oder jezidischer Abstammung sind. Auf dieser Grundlage eröffneten wir die Häuser nach und nach in den vom IS befreiten Regionen: Raqqa, Tabqa, Deir ez-Zor, Manbiç. Diese Arbeit begann noch bevor 2014 die „Frauengesetze“ (Gesetze, die die Rechte der Frau festhalten, Anm. d. Aut.) herauskamen und unserer Arbeit eine rechtliche Grundlage boten.

Wie läuft eine Beratung im Mala Jin ab?

Ilham Umer: Wir hören uns als erstes die Geschichte der Frauen an und welche Art von Unterstützung sie sich von uns wünschen. Oft handelt es sich um Probleme innerhalb der Ehe, dann sprechen wir mit ihren Ehemännern oder weiteren Familienangehörigen. Wir versuchen gemeinsam eine Lösung für das Problem zu finden. Oft gelingt uns das mit Gesprächen. Wenn wir auf diesem Weg keine Lösung finden können oder wenn es sich um einen Gesetzesverstoß handelt, müssen wir den Fall vor das Gericht bringen. Unter diesen Umständen wird Dada Jinê, die Frauenkommission an den Gerichten, hinzugezogen.

Hanifa Muhammad, Sie arbeiten in der Frauenkommission an den Gerichten. Wie sieht Ihre Arbeit dort aus?

Hanifa Muhammad: Wenn ein Fall vor Gericht behandelt wird, der in Zusammenhang mit den Frauengesetzen steht, wird die Frauenkommission hinzugezogen. Wir haben verschiedene Aufgaben: einerseits die Koordination der Prozesse am Gericht und die Mediation zwischen den verschiedenen Einrichtungen wie den Malên Jinê, den Asais und dem Gericht. Andererseits beobachten und dokumentieren wir den Gerichtsprozess, um die Einhaltung der Frauengesetze sicherzustellen. Einmal im Monat kommen wir zusammen und schreiben einen Report. Dieser wird dann dem Ministerium für Frauenjustiz und Kongra Star (Vereinigung von Frauenorganisationen in Rojava, Anm. d. Aut.) vorgelegt.

Wie reagieren Männer auf Ihre Arbeit?

Ilham Umer: Anfangs gab es Mißtrauen und sogar Anfeindungen von Männern, die sich durch unsere Arbeit bedroht gefühlt haben. Mittlerweile kommen sogar viele Männer zu uns, um sich beraten zu lassen. Viele Männer ziehen es vor, ihre Probleme in den Malên Jinê zu lösen, anstatt vor Gericht zu gehen.

Gibt es Unterschiede in den Problemen, mit denen Frauen aus unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen zu Ihnen kommen?

Hanifa Muhammad: Häufig spielt es keine Rolle, zu welcher Bevölkerungsgruppe die Frauen gehören, ihre Probleme sind sich sehr ähnlich. Generell haben arabische Frauen mehr mit dem Druck von Familien- und Stammestraditionen zu kämpfen. Ein anderes Beispiel ist die Scheidung. Scheidung ist legal in Syrien und wir sezten uns für Scheidungen ein, wenn sie von beiden Parteien gewünscht wird. Anders als bei Muslimen muss bei Christen das Kirchenoberhaupt die Einwilligung zur Scheidung geben, was selten der Fall ist, auch wenn sie von beiden gewünscht wird.

Wie hat sich die Situation für Frauen seit Beginn der Revolution verändert?

Ilham Umer: Es gab viele positive Entwicklungen. Dabei muss bedacht werden, dass sich das Land permament im Krieg befindet, erst gegen das syrische Regime, dann gegen den IS, nun gegen das türkische Militär und seine dschihadistischen Milizen. Dabei wurden das ganze Land und die gesamte Gesellschaft zerstört. Wir haben alles selbst wieder aufgebaut: unsere ökonomische, militärische, politische Existenz und ganz besonders die Situation der Frauen. Frauen können nun frei leben, sie kennen ihre Rechte, haben Zugang zu Bildung und organisieren sich. Freie Frauen, die gemeinsam kämpfen und für ihre Rechte einstehen sind starke Frauen. Und die Gesellschaft braucht starke Frauen, um Widerstand gegen die türkische Invasion und gegen das syrische Regime zu leisten. Mit den Malên Jinê und den Frauenkommissionen an den Gerichten haben wir es geschafft, gegen Unterdrückung und Gewalt an Frauen vorzugehen und die Schuldigen dafür zur Rechenschaft zu ziehen. Es gab viele positive Entwicklungen, aber es ist auch noch viel zu tun, besonders an Orten wie Serekanye und Afrin.

Was ist Ihre Botschaft an Frauen in Europa und Deutschland?

Ilham Umer: Wir Frauen in Rojava haben viel durch unsere Kämpfe erreicht. Wir haben uns organisiert, stehen für unsere Rechte ein und treten in der Öffentlichkeit auf. Aber wir möchten, dass die Frauen in Europa und überall auf der Welt wissen, dass der Krieg hier weitergeht und unsere Kämpfe andauern. Wir sind erschöpft, wir wollen Frieden, aber wir kämpfen weiter. Und wir brauchen eure Unterstützung. Wir hoffen, dass alle Frauen, nicht nur in Syrien, sondern auf der ganzen Welt, sich gegenseitig unterstützen und Mut machen!

Und noch eine Botschaft zum 8. März. An diesem Tag feiern wir die Frauen auf der ganzen Welt. Aber meiner Meinung nach sollten Frauen an jedem Tag wie am 8. März gefeiert werden. Denn jeden Tag kämpfen wir für unsere Rechte und Gerechtigkeit. An allen Fronten kämpfen wir diesen Kampf. Und der Kampf, den wir in den Malên Jinê und in den Gerichten kämpfen ist genauso wichtig, wie die Kämpfe unserer Hevals (Kameradinnen, Anm. d. Aut.) an der Front.

Haben Sie einen Vorschlag, was konkret Frauen in Deutschland tun können?

Ilham Umer: Nutzt die Medien, zeigt der Bevölkerung und der Regierung, was hier in Rojava passiert und was die Türkei und dschidadistische Milizen uns antun! Geht zu euren Parlamenten und Regierungen und fordert Sanktionen gegen die Türkei!

Hanifa Muhammad: Wir Frauen aus Rojava können nicht in eure Länder kommen, aber ihr könnt zu uns kommen und ihr könnt die unsere Realität miterleben und weitererzählen. Die meisten Menschen wissen nur das, was die Massenmedien über den Krieg in Syrien berichten. Aber wir möchten, dass die Menschen in aller Welt auch über unsere Gesellschaft erfahren, über unsere Familien mit ihrem Schmerz und den Toten durch türkische Luftangriffe, die wir jeden Tag begraben. Ihr Frauen aus aller Welt könnt unsere Stimme sein.

Was ist ihr Wunsch für die Frauen in Rojava?

Ilham Umer: Mein Wunsch für die Frauen in Rojava und in ganz Syrien, ist dass wir unseren gemeinsamen Kampf für Gleichberechtigung fortführen und uns von Unterdrückung und Schwierigkeiten befreien können. Ich wünsche uns, dass wir nicht mehr kämpfen müssen. Ich wünsche uns Frieden.

#Titelbild: Das Haus der Frau in Qamislo

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Am 14.02. fand in Berlin eine Demo unter dem Aufruf „My Body is not your Porn – Rache am Patriarchat“ statt. Bis zu 2.000 Menschen gingen dafür auf die Straße.

Die Idee war es, auf die Straße zu gehen, „um gegen die patriarchalen Zustände zu demonstrieren, die sexualisierte Gewalt möglich machen.“ Das war zumindest der Aufruf dem wir als Frauen unserer Gruppe folgten. Was wir damit verbunden haben, war an die traditionellen feministischen Aktionen im Sinne von „take back the night“ anzuknüpfen. Diese Aktionen dienten in den letzten Jahrzehnten immer wieder dazu, sich die Straße/ die Nacht symbolisch zurück zu nehmen. Kern dieser Aktionsformen ist, das Thema (sexualisierte) Gewalt an Frauen zu enttabuisieren und sich selbst zu ermächtigen, in dem kollektiv gehandelt wird.

Der konkrete Anlass der Demo ist, dass – wie Anfang des Jahres öffentlich wurde – auf den Festivals Fusion und MonisRache Frauen mittels versteckter Kameras in Toiletten/Duschen gefilmt wurden. Die Videos wurden anschließend auf Porno-Plattformen hochgeladen, getauscht und zum Verkauf angeboten. Betroffen scheinen potentiell alle Besucherinnen dieser Festivals zu sein. Während das Fusion Festival direkt nach bekannt werden an die Öffentlichkeit ging, war die Aufarbeitung vom Organisationsteam von MonisRache eine Katastrophe. Es selbst sagt, sie seien zunächst überfordert gewesen einen Umgang mit der Situation zu finden. Sie wollten das Problem mit dem Ansatz der „transformative justice“ aufarbeiten, um nicht mit Polizei oder Strafbehörden zusammen zu arbeiten. Der Ansatz dient nicht nur zu Täterarbeit, sondern orientiert sich vor allem an der Betroffenenperspektive. Blöd nur, dass mit den Betroffenen niemand auch nur ein Wort gewechselt hat, während man sich mit dem Täter auseinandersetzte. Daher vernetzten sich die Betroffenen selbst über eine Chatgruppe, die in kürzester Zeit mehr als 1.000 Mitglieder zählte. Ziel war die Erfahrung kollektiv aufzuarbeiten und sich gegenseitig zu supporten. Dem folgten Treffen in Berlin und Leipzig, die u.a. diese Demo zum Ergebnis hatten.

Im Vorfeld der Demo waren nur einzelne Stimmen in der Presse zu lesen, die vor allem an den Staat appellierten und mehr Repression forderten. Kaum sichtbar wurde dabei, dass im Betroffenenkreis selbst formuliert wurde, dass es wichtig ist „das Thema sexualisierte Gewalt zum Politikum zu machen.“ Daher wollen wir in diesem Beitrag dazu Position ergreifen. Diese Vorfälle haben vor allem sichtbar gemacht, dass Gewalt an Frauen verschiedene Dimensionen hat und allgegenwärtig ist.

Allem voran wollen wir klar stellen, dass jede Betroffene selbst darüber entscheidet, ob sie Strafanzeige stellt oder nicht. Es ist ein erster Schritt des Umgangs, über individuelle Erfahrungen und Handlungsmöglichkeiten zu sprechen. Ein zweiter Schritt eine Sichtbarkeit zu schaffen. Es bleibt aber notwendig – um das Thema ernsthaft anzugehen – den eigenen Mikrokosmos zu verlassen und zu schauen, wie das was erlebt wurde mit der Gesellschaft zu tun hat, in der wir leben. Nur so können wir Strategien entwickeln, die über Forderungen an den Staat hinaus gehen.

Jeden Tag erleben Frauen1 Gewalt. Jede dritte Frau in Deutschland hat mindestens einmal in ihrem Leben körperliche oder sexuelle Gewalt erlebt. Laut Bundeskriminalamt wird in Deutschland jeden Tag eine Frau Opfer eines Mordes oder Mordversuchs durch ihren Partner oder Expartner. Im letzten Jahr waren 114.393 Frauen von Gewalt durch einen Partner betroffen und 122 Frauen wurden von diesen getötet. Und das sind nur die offiziellen Zahlen; wie viele Fälle im Verborgenen bleiben, bleibt offen. Erst letzte Woche Montag wurde abends eine wohnungslose Frau tot in ihrem Schlafsack in Mitte gefunden. Ein Feminizid, ein Frauenmord, ein Ausdruck patriarchaler Gewalt. Und obwohl dieser Fall in der Lokalpresse war, gab es bis auf eine Ausnahme keine Bezugnahme in den Redebeiträgen der Demo vom 14.02. dazu. Gewalt gegen Frauen scheint nur dann ein Thema zu sein, wenn sie in der eigenen sozio-kulturellen Blase stattfindet.

Das Problem liegt aber tiefer. Denn ein Politikum wird Gewalt gegen Frauen aber auch sonst kaum. Gewalt gegen Frauen ist ein Familien- oder Beziehungsdrama, Ehrenmord und so weiter. Unterm Strich also als privates Problem oder, noch schlimmer, selber schuld weil den Falschen ausgesucht. Diese Einordnung ist die Kontinuität patriarchaler, kapitalistischer Strukturen in Form von Kontrolle und Dominanz von Männern über Frauen. Wie häufig rechtfertigen Täter ihre Handlungen mit plötzlichen Kontrollverlust – über sich selbst oder die Situation? Jedes Mal, wenn eine Frau vergewaltigt, geschlagen oder getötet wird, zeigt, dass Millionen von überlebenden Frauen: Es könnte dich treffen. So erfolgt Disziplinierung des Körpers, des Begehrens und des Verhaltens dieser.

Das sind die Zustände hier und heute – während sich allenthalben „Geschlechtergerechtigkeit“ auf die Fahnen geschrieben wird. Wie häufig ist zu hören, es sei übertrieben von Feminiziden zu sprechen? Es sei fernab der Realität zu glauben, in Deutschland würde ein Mensch auf Grund seines Geschlechtes Angriffe erleben oder ermordet werden. Und wenn es dann doch zum Thema wird, dann ist es ein Phänomen das entweder mit der fremden rückständigen Kultur der Migranten oder durchgeknallten Einzeltätern in Verbindung gebracht wird. Wie man beim frauenfeindlichen Attentäter von Halle 2019 sehen konnte, der willkürlich eine Frau ermorderte – weil sie eine Frau war.

Kein Angriff steht für sich allein. Wenn wir das verstehen, können wir kollektiv gegen die Verhältnisse vorgehen und uns von den patriarchalen Strukturen befreien. Generationen von Frauen haben gegen die Unterdrückung der Frau gekämpft. Viele Rechte, die heute selbstverständlich scheinen, sind das Ergebnis revolutionärer Kämpfe in Zeiten der sozialen und politischen Radikalisierung. Wenn jetzt Forderungen an einen patriarchalen Staat formuliert werden, der uns unterdrückt, ist das einzige was wir damit erreichen den Schein von Demokratie und Geschlechtergerechtigkeit aufrecht zu erhalten. Gesellschaftliche Veränderungen werden dadurch nicht erreicht.

Das zeigt sich auch im Umgang mit dem Thema Gewalt an Frauen in den öffentlichen Diskussionen. Nach der berühmten Silvesternacht in Köln wurde das Thema Gewalt an Frauen vor allem dazu benutzt den Sicherheitsdiskurs und eine Verschärfung der Migrationskontrolle zu befeuern. Die rassistische Hetze trug maßgeblich zur Verunmöglichungeiner Auseinandersetzung mit der Erfahrung der Betroffenen bei. Die himmelschreiende Untätigkeit der Polizei nach Ritas Verschwinden und ihrer Ermordung hat noch ein Mal deutlich gemacht, was es für einen Unterschied macht, wer du bist und welche Hautfarbe du hast. Marias Ermordung hat gezeigt, dass die Polizei ihren Finger am Trigger hat und nicht unser Freund und Helfer ist. Warum beziehen wir uns in den Parolen auf Kapitalismus und Patriarchat, beschränken uns dann aber in der konkreten Auseinandersetzung auf ein Rufen an den Staat?

Dass es anders geht, zeigt sich beim Blick in andere Länder. Wir möchten kurz vor dem 8.März an den militanten feministischer Streik in Spanien erinnern, der viele von uns 2018 bewegte. Mehr als fünf Millionen Demonstrantinnen folgten dem Aufruf zum feministischen 24h Streik für „eine Gesellschaft ohne sexistische Unterdrückung, Ausbeutung und Gewalt […], für Rebellion und den Kampf gegen jenes Bündnis von Patriarchat und Kapitalismus, das uns gehorsam, fügsam und still sehen will“.Und auch die während des Kontexts der Aufstände in Chile vom Kollektiv „Las Tesis“ entwickelte Performance „Ein Vergewaltiger auf deinem Weg“, die auch während der Demo gemacht wurde, macht klar, dass Feminizide, Gewalt gegen Frauen, staatliche Gewalt und kapitalistische Ausbeutung nicht getrennt betrachtet werden können.

Um gegen dieses System zu kämpfen, brauchen wir Solidarität und die Gewissheit, dass keine mit ihrer Unterdrückung allein ist. International zeigen uns Frauen wie das aussehen kann. Die Demo vom Freitag war ein erster Schritt, es muss aber noch viel mehr passieren, damit wirklich klar ist, dass jede Form von Gewalt gegen Frauen uns alle betrifft. Dann können wir anfangen uns am Patriarchat zu rächen und eine andere Gesellschaft aufbauen.

#Titelbild: Transpi auf der Demo am 14.02., privat
#Text: Selma von Sabot 44

1 Wir haben uns in diesem Artikel dafür entschieden von Frauen und nicht von Lesben/Inter/Non-binary/Trans zu schreiben. Wir wollen die Menschen nicht unsichtbar machen, glauben aber, dass es nicht förderlich ist die Identitäten mit zu benennen ohne eine wirkliche Auseinandersetzung mit den realen Erfahrungen zu haben. Das bloße Mitnennen erweckt den Eindruck, dies sei anders. Das wollen wir nicht mittragen, denn so würden wir unsichtbar machen, dass es eine Auseinandersetzung damit braucht.

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Das deutsche Kleinbürgertum ist über Kritik an Menschenverachtung genervt und unwillig, die eigene Verantwortung kritisch zu reflektieren. So auch Patricia Hecht, Autorin der taz. Dem moralischen Appell “Sexkauf nicht in die Illegalität drängen” betitelt sie ihren Artikel vom 1. Januar 2020 und kaut in lähmender Schwere durch, was die Prostitutionslobby rund um den „Berufsverband sexueller und erotischer Dienstleistungen e.V.“ (BesD) der Öffentlichkeit seit Jahren zum Fressen vorwirft. In ihrem Artikel werden Vertreterinnen der politischen Forderung des Sexkaufverbots zititiert, in die gegenüberliegende Ecke des Rings stellt Hecht “die anderen”, darunter “Verbände von Sexarbeiter*innen, die Prostitution als eine selbstgewählte Arbeit wie andere auch werten”. Damit sind die Torpfosten der Debatte gesetzt und während sie selbst bedauert, dass Zwischentöne in der aufgeregten Debatte fehlen würden, sind diese auch nicht in ihrem Artikel zu finden. So wird der BesD unkritisch als “Verband von Sexarbeiter*innen” beschrieben. Unerwähnt bleibt, dass auch Betreiberinnen von Prostitutionsstätten stimmberechtigtes Mitglied und Freier und Zuhälter Fördermitglieder werden. Für Hecht scheint es auch nicht nennenswert, dass der BesD in Freierforen beworben wird, dort auch selbst zur Unterstützung aufruft, der Verein eng mit den Profiteur*innen der Branche kooperiert und dass die Pressesprecherin des BesD auch bei einem großen Onlinesexportal angestellt ist. Erst kürzlich bezeichnete Salome Balthus den BesD als “Hurengewerkschaft”.

Das alles nicht zu hinterfragen, nicht einmal kritisch zu prüfen, sorgt für eine eingeschränkte Sicht auf Prostitution in Deutschland. Und so wirkt auch der Text, als sei er aus Fragmenten der Publikationen der Prostitutionslobby zusammengesetzt und um bereits genehmigte Zitate von Vertreterinnen des Sexkaufsverbots ergänzt. Der Clou aber: Hecht verschiebt die Verantwortung für die patriarchal tradierte Stigmatisierung weiblichen Begehrens in die Prostitutionskritik. Denn nach Hechts Gedankenmodell, löse nicht der Sexkauf das Stigma aus, sondern die Kritik daran. Ergo: Wer Ausbeutung kritisiert, besorgt den Opfern das Stigma und hinter dem Stigma verschwindet die Tat.

Linksliberale wie Hecht fühlen sich dabei denen näher, die jauchzend-fröhlich in die eigene Ausbeutung laufen, als jenen, die sich ausbeuten lassen müssen, um überleben zu können. Ihr soziales Engagement heißt in diesem Fall, ohne Gewissensbisse armen Frauen zu raten, sich doch freiwillig gegen Geld ficken zu lassen, um nicht verhungern zu müssen. Mit dieser Lösung sind alle froh: Der Mann hat Spaß, der Staat spart Sozialausgaben und kassiert Steuern, die Frau hat Sex und was zu essen. Was will eine Frau denn mehr? Prostitution als “Sexarbeit” verharmlost, besorgt dann die Idee der Nützlichkeit, denn nur wer “arbeitet” schafft was und darf auch essen. So wird aus der Prostitution ein “Beruf wie jeder andere” und die politische Linke bekommt noch ihre Ohnmacht im Diskurs vorgeworfen, denn gegen die Lohnarbeit rebelliert ja auch niemand (mehr).

Für Hecht selbst kommt Prostitution nicht in Frage, denn sie verdient mit Prostitutionslobbyismus für die taz Geld. Das Thema Prostitution erarbeitet sie sich theoretisch. Der “Sex” in der Prostitution gilt Hecht dabei als “einvernehmlich” und für andere Argumente fehlen ihr leider, leider die Zahlen. Die notwendige Entrichtung einer materiellen Entschädigung für einen Teil der Abmachung gilt dabei nicht als Sachzwang, sondern als ein Akt besonderer Großzügigkeit der Freier. In einem Staat, in dem Menschen ohne deutschen Pass mindestens einen Ausbeutungsplatz brauchen, um überleben zu können, wird das Zahlen von Entschädigungen für das Aushalten sexueller Gewalt zur milden Geste erklärt. Als wären ein brutales Abschieberegime, Rassismus, Sexismus und die Härten des Arbeitsmarkts noch nicht Elend genug, mündet das alles als Geschlechterverhältnis veranschaulicht in der Prostitution. Kapitalismus besorgt weißen Männern das Geld und nichtweißen Frauen die Not, um am freien Markt ihr letztes Hemd samt Slip anzubieten und sogar Käufer für die Nutzbarmachung des Körpers darunter zu finden. Weiße Frauen erteilen dazu auch noch in linksliberalen Medien Absolution zum Handel mit dem Sex, Ablass wird an den Fiskus gezahlt und alle fühlen sich wohl dabei, denn diese armen Geschöpfe brauchen doch was zu beißen.

Frauen, die sich prostituieren wollen, gelten im Lobbyslang als “selbstbestimmte Sexarbeiterinnen”. Sie organisieren sich in “Hurengewerkschaften”, werden in Talkshows eingeladen und predigen, dass Prostitution ein “Beruf wie jeder andere sei”, das “älteste Gewerbe der Welt” und das ihnen nach Uhr getakteter Sex richtig viel Spaß macht. Diese selbstbestimmten Sexarbeiterinnen sind meist weiß, sprechen deutsch, drücken sich gebildet aus und sie vertreten angeblich die Interessen aller Prostituierten.

Dass es da noch andere Wirklichkeiten gibt, das wissen wir alle. Aber diese Frauen, die nicht so glücklich als Prostituierte sind, sprechen nicht selbst. Zwangs- und Armutsprostituierte werden zwar erwähnt und bedauert, aber Gewalt sei ja sowieso schon strafbar. Man spricht nicht mit ihnen, sondern über sie. Was diese verstummten Frauen bewegt, wie sie leben, warum sie was machen und was sie eigentlich wollen, findet in den Talkshows nicht statt. Das Bild, das sie vermitteln könnten, schillert nicht. Ein Sexkaufverbot schade dann aber wieder allen und muss darum abgelehnt werden, spricht die Highclass-Escort-Lady aus den Medien, denn es schaffe demnach nur weitere, viel dramatischere Probleme als eben jene, die andere jetzt schon haben. Dann aber für alle Prostituierten. Von noch mehr Gewalt ist die Rede, die Prostituierte in der Illegalität zu ertragen hätten und sich nun nicht mehr wehren können. Mit dem Sexkaufverbot verblieben im Pool der ansonsten supernetten Freier plötzlich lediglich schwer Kriminelle und brutale Triebtäter, weil sich die zahlbereiten Womanizer nun weigern, eine Ordnungswidrigkeit zu begehen. So lauten die aufrüttelnden Appelle der Lobbyvereine.

Mir bleibt nur das Kopfschütteln: Ein Blick in Freierforen genügt, um zu erfahren, wie brutal und massenhaft Prostitution täglich ohne Sexkaufverbot stattfindet: Es werden Vergewaltigungen geschildert, brutale Übergriffe, ekelhafte Beleidigungen. Das alles ist nicht legal. Nur ganz wenige Prostituierte sind krankenversichert, zahlen Sozialabgaben. Offen wird Verkehr ohne Kondom praktiziert und offen kommuniziert, trotz geltender Kondompflicht. Der Großteil der Prostitution findet bereits jetzt in der Illegalität statt. Gewalt ist Alltag, Prostituierte wehren sich höchstselten. Das alles, Elend und Gewalt, verschwindet hinter der Hochglanzprostitution, die crossmedial als Recht aus Selbstbestimmung verkauft wird.

Auch in Hechts Text wird deutlich, dass ihr jedes Wissen um die Wirklichkeit in der Prostitution fehlt. Aber auch, aus welch elitärer Position sie selbst auf die Prostituierten herabblickt. Sie vergleicht das Elend in der erzwungenen Prostitution mit der siebten Nachtschicht einer Putzfrau. Warum vergleicht sie nicht das Elend einer Armutsprostituierten mit den “Belastungen” eines schwerreichen Puffbesitzers? Warum vergleicht sie das Leben und Arbeiten einer Prostituierten nicht mit ihrem Alltag? Jede Frau ist in einer Gesellschaft, in der Prostitution als “eine Option besser als keine” gilt, eine potenzielle Prostituierte. Jede Frau ist von Armut und Gewalt bedroht. Warum vergleicht und identifiziert sich also eine Journalistin nicht mit den Betroffenen von Armut und Gewalt und dem System Prostitution sondern nimmt sogar Partei ein für die Profiteure der Branche?

Die Vergleiche wählt sie, um sich von den Ausgebeuteten besser distanzieren zu können. Denn weder die Prostituierte, noch die Putzfrau, noch die Pflegekraft oder der Bauarbeiter haben etwas mit Hechts Lebenswirklichkeit zu tun. Prostitution bleibt für jene als Option im täglichen Überlebenskampf vorbehalten, denen “andere Möglichkeiten zum Beispiel aus sprachlichen Gründen oder wegen fehlender Bildungsabschlüsse nicht zur Verfügung stehen”. Patricia Hecht gehört nicht zu den Ausgegrenzten. Patricia ist weiß und deutsch und sie schreibt seit 2012 für die taz. Patricia kann einvernehmlich, ohne Entschädigungen eintreiben zu müssen, und mit wem sie will ficken. Patricia reflektiert ihre Privilegiertheit nicht. Dafür legt sie in ihrem Artikel dar, wie Linksliberale über Armut und Elend denken.

Menschen in die Prostitution zu zwingen, ist strafbar. Frauen zu ermutigen, freiwillig “Sexarbeit” zu leisten, gilt Linksliberalen als “feministisch” und “empowernd” und als ein (vor allem Frauen) zumutbarer Weg aus der Armut. Die Möglichkeit, mit dem zeitweisen Verzicht auf Grundrechte, den selbstbestimmte Prostituierte notwendigerweise vollziehen müssen, Geld zu verdienen, rechtfertigt die Entwürdigung aller Frauen nicht. Es rechtfertigt auch nicht, von Prostitution als “Sexarbeit” zu sprechen. Prostitution ist auch keine “Dienstleistung”, sondern der personalisierte Handel mit Sexualität. Jedem Versuch der Normalisierung des Handelns mit sexueller Ausbeutung muss vehement widersprochen werden. Dem Wesen der Prostitution entspricht, dass der eine Part den anderen für das Aushalten entschädigen muss. Der Profit, der aus der Kommerzialisierung des Aushaltens zu erzielen ist, rechtfertigt auch nicht, diejenigen Frauen im Stich zu lassen, die keine anderen Optionen als ihre Verprostituierung haben, um in Deutschland zu überleben. Der Profit, der aus dem freiwilligen, überlebensnotwendigen oder mit Gewalt erzwungenem Verzicht auf Menschenrechte zu erzielen ist, rechtfertigt überhaupt nichts!
(Auch keine Gefälligkeitsartikel in der taz.)

Ich habe massenhaft Bücher gelesen, Diskurse durchgeackert, aktiven Prostituierten, Lobbyvertreterinnen, Freiern, Dominas und Bordelbetreibern zugehört. So wie es in jeder Debatte zur Prostitution von prostitutionskritischen Stimmen erwartet wird. Und ich habe Überlebenden zugehört, Aussteigerinnen, die täglich um ihren Lebensunterhalt kämpfen, weil sie sich nicht mehr prostituieren werden und aus allem eine Meinung gebildet. Ich streite, schreibe und kämpfe als Linke, als Feministin, als Frau, für ein Sexkaufverbot. Mir ist bewußt, was das bedeutet. Auch die linken Gegenargumente sind mir bekannt. Meine Forderung ist ein politischer Appell an einen Staat, dessen Verfasstheit von Ausgrenzung, Ausbeutung und Gewalt bestimmt ist, sich für die Rechte von Frauen einzusetzen und diese gegen männliche Kontrolle und Verfügungsgewalt zu schützen. Ein solcher Appell ist Anklage und Ausdruck meiner Hilflosigkeit, denn selbst die politische Linke scheint sich nicht im Klaren darüber zu sein, wie sie sich zum System Prostitution äußern soll und sich zu verhalten hat. In diesem Sinne ist meine Forderung nach einem Sexkaufverbot auch eine Aufforderung an euch, entgegen der ideologischen Zumutungen der Lobbyvereine, Prostitution wieder als Ausdruck der sozialen Not von Frauen zu betrachten. Wer eine solche Notlage ausnutzt, um sich Triebbefriedigung zu kaufen, ist weder Wohltäter noch Gönner, sondern ein Dreckschwein.

Emily Williams

# Titelbild: Bordellszene aus dem 15. Jahrhundert, wikimedia.commons

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