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Philippinische Frauen schließen sich den Reihen der NPA-Guerilla gegen die Duterte-Diktatur an. Ich hatte die Gelegenheit, mit zwei von ihnen zu sprechen. Hören Sie hier ihre Geschichte.

Stellen Sie sich vor, Sie leben in einem Land der Dritten Welt, zum Beispiel auf den Philippinen. Gewalt ist allgegenwärtig, die Regierung ist bis ins Mark verfault und Ihre Identität als Frau wird traditionell unterdrückt. Ihre Situation sieht nicht gut aus. Fragen Sie sich, wie Sie die Armut in einem System überwinden können, das Sie im Stich lässt? Wie bekämpft man einen faschistischen Macho-Diktator, der Aktivistinnen als „Hündinnen“ betrachtet? Die Frauen auf den Philippinen fanden ihre Antwort in einer umfassenden Rebellion gegen ihren alltäglichen Feind.

Der Diktator Rodrigo Duterte ist die Verkörperung eines Machos. In einer Rede sagte er: „Es gibt einen neuen Befehl des Bürgermeisters: ‚Wir werden dich nicht töten. Wir werden dich einfach in die Vagina schießen.’“ Er fuhr fort, dass Frauen ohne ihre Vagina „nutzlos“ wären. Es gibt unzählige Beispiele für diese Art von Verhalten. Aber es gibt auch Tausende und Abertausende Beispiele von Frauen, die sich der Guerilla-Bewegung „New Peoples Army” (NPA) anschließen, um diesen Zustand zu beenden.

Die NPA ist der bewaffnete Flügel der Kommunistischen Partei der Philippinen (CPP). Die Organisation ist auf den Philippinen, in den USA und in der EU verboten. In einer Erklärung behauptet sie: „Die NPA wird von Zehntausenden von Männern und Frauen in der Volksmiliz und Hunderttausenden in Selbstverteidigungseinheiten der Massenorganisationen unterstützt. Sie ist an mehr als 110 Guerilla-Fronten tätig.“

Frauen nehmen in der Guerilla einen ganz besonderen Platz ein. Eine große Anzahl von Kombattant:innen sind weiblich. Ich sprach mit zwei jungen weiblichen NPA-Kadern, Ka Mimi und Jellyn, beide 23 Jahre alt, um ihre Situation in einer Gesellschaft zu verstehen, die Frauen gegenüber so feindlich eingestellt ist, dass sie in einem bewaffneten Aufstand dagegen einen Ausweg suchen.

Hallo! Bitte stellt euch doch zu Beginn ein wenig vor.

Ka Mimi: Als ich 20 Jahre alt war, trat ich der New People’s Army bei. Ich bin bereits seit 3 Jahren Guerillera, seit ich 2017 eingetreten bin. Ich wurde von einer ehemaligen Guerilla-Frau namens Ka Maxin empfohlen, die als Kontaktperson zu der Einheit diente, der ich beigetreten bin.

Bevor ich mich dem bewaffneten Kampf anschloss, war ich bereits mit der revolutionären Bewegung vertraut. Meine Schwiegermutter ist eine ehemalige Guerilla-Kämpferin, die jetzt als lokaler Parteikader in unserer Gemeinde dient. Ich folgte der Einladung von Ka Maxin, mich in die NPAs zu integrieren und ihren Kampf kennenzulernen. Ich stimmte zu, eine Woche in der Einheit zu bleiben, entschied mich aber später, das auf Wochen, Monate und letztlich Jahre auszudehnen. Ich habe kürzlich in der 2. Oktoberwoche einen Kameraden geheiratet, nachdem ich drei Jahre im Kampf geblieben war.

Ich habe die Einladung, der NPA beizutreten, auch wegen meiner Bestürzung gegenüber meinem missbräuchlichen Ex-Partner angenommen. Mein Partner hat mich mit anderen Frauen betrogen. Als ich ihn konfrontierte, würgte er mich und versetzte mit mit einem defekten Stromkabel einen elektrischen Schlag. Ich beendete die Beziehung und zog danach aus dem Haus.

Ich beschloss, in der Einheit zu bleiben und eine Vollzeit-Guerillera zu werden. Meine Entscheidung war kein Heureka-Moment, sondern ein Produkt von Widersprüchen und Spannungen von Erleuchtung und Verwirrung.

Jellyn: Ich bin Jellyn, eine Manobo (Lumad / Mitglied einer nationalen Minderheit, Anm. d. Red), 23 Jahre alt. Ich bin im November 2014 dazugekommen. Mein Mann (Maki, ebenfalls ein Manobo) trat zuerst ein und nach einem Jahr überzeugte er mich, ihn zu besuchen und sein Leben zu erleben.

Als ich noch kein Mitglied war, hatte ich zunächst kein Verständnis für die Revolution. Erst als ich mich anschloss, wurde mir klar, dass uns die Regierung unsere Rechte und Grundversorgung nicht gewährt hat. Erst dann verstand ich, wie Frauen und Lumaden ausgebeutet und unterdrückt wurden. Deshalb habe ich mich nach einem Jahr entschieden, Vollzeit zu arbeiten.

Was habt ihr gemacht, bevor ihr zur Guerilla gekommen seid? Welche Position habt ihr in der NPA?

Ka Mimi: Ich wurde in eine Familie von Bauern geboren, bin aber in einer Stadt aufgewachsen und habe nie Landwirtschaft erlebt. Ich bin das einzige Mädchen unter meinen 5 Geschwistern. Ich wurde im Alter von 14 Jahren schwanger und hatte eine Tochter. Der Vater meiner Tochter verließ mich nach der Schwangerschaft und leistete keine Unterstützung für das Kind.

Im Alter von 18 Jahren arbeitete ich als Vertragsarbeiterin eines multinationalen Agrobusiness-Konzerns, der Palmöl verarbeitet. Ich arbeitete als Wäscherin und wusch Arbeiteruniformen. Nach dem Vertrag arbeitete ich als Packerin für eine Junk-Food-Firma, die einem philippinischen Bourgeois gehörte. Ich arbeitete von sechs Uhr morgens bis sechs Uhr abends und erhielt einen dürftigen Tageslohn von 180 Peso. Unsere männlichen Kollegen erhielten 280 Pesos. Ich habe bei der Arbeit unfaire Arbeitsbedingungen erlebt. Wir durften nicht sitzen, nur eine 30-minütige Mittagspause und begrenzte Toilettenpausen einlegen. Wir hatten unter anderem keine angemessenen Gesundheitsschutz.

Da mein Lohn nicht ausreichte, um über die Runden zu kommen, wurde ich gezwungen, mich an anderen Aktivitäten zu beteiligen, um ein wenig mehr zu verdienen, ohne meine Eltern zu informieren. Ich arbeitete in einer Bar und wurde eine Prostituierte. Ich habe auch kleine Drogengeschäfte gemacht, um Milch für mein Kind kaufen zu können.

Derzeit bin ich als Zugärztin tätig. Wir errichten Massenkliniken und bieten Bauern und Lumaden kostenlose medizinische Dienstleistungen an. Dies umfasst zahnärztliche Leistungen, Beschneidung und einfache chirurgische Operationen. Im Zuge der Pandemie nahm ich an mehreren medizinischen Missionen und Informationsverbreitungskampagnen teil. In der NPA wird uns beigebracht, wie man einheimische Gesundheitspraktiken praktiziert und pflanzliche Arzneimittel als Alternative zu teuren kommerziellen Arzneimitteln einsetzt.

Gleichzeitig bin ich auch als politische Führerin in der Guerilla-Einheit tätig. Ich nehme an der Massenarbeit teil, um die Bevölkerung zu organisieren und zu mobilisieren. Wir helfen den Massen beim Aufbau ihrer Organisationen, bei der Durchführung von Bildungsdiskussionen und bei der Lösung interner Konflikte.

Ich glaube, ich konnte mein Selbstwertgefühl wieder herstellen, als ich Guerilla wurde. Früher hielt ich mich für schmutzig, für eine Sünderin und als Schlampe. Als kommunistische Guerilla zu dienen, gab meinem Leben einen neuen Sinn und eine neue Richtung, ein Leben nicht nur für mich selbst, sondern für das kollektive Wohl.

Jellyn: Bevor ich mich einschrieb, half ich meinen Eltern bei der Hausarbeit und bei der Ernte von Süßkartoffeln. Ich hatte noch keine Menstruation, als meine Eltern meine Ehe mit meinem Mann arrangierten. Ich war minderjährig, als ich schwanger wurde, und unser erstes Baby starb, weil mein Körper nicht bereit war, schwanger zu werden, weil ich zu jung war und es in meiner Gegend keine Gesundheitsdienste gab.

In der Volksarmee war ich Versorgungsoffizierin, dann wurde ich politische Ausbilderin des Alpha-Zuges.

Wie kann man sich das tägliche Leben in der NPA vorstellen?

Ka Mimi: Das tägliche Leben in der NPA beinhaltet eine Menge Arbeit, die von militärischen, politischen, produktiven bis zu technischen Aktivitäten reicht. Die Einheit plant ihre täglichen Aktivitäten gemäß ihren kurzfristigen und langfristigen Plänen.

In Bezug auf die militärische Arbeit gewährleistet das Kommando die Sicherheit der Einheit. Es setzt Teams für Aufklärung und Vermessung ein, überwacht Nachrichtennetze und so weiter. Wenn es die Situation zulässt, führt die Einheit gestaffelte militärische Trainings, Hindernisläufe und körperliche Übungen durch.

Die politische Arbeit ist in zwei interne und externe Felder unterteilt. Interne politische Arbeit beinhaltet ideologisches Training, Bildungsdiskussionen, Bewertungen und Konfliktlösung, Alphabetisierung und Rechnen für Genoss:innen, die nicht in der Lage waren, zur Schule zu gehen. Externe politische Arbeit umfasst die Organisation, Durchführung sozialer Ermittlungen und die Planung von Massenkampagnen.

Guerillas helfen auch den Bauern bei der wirtschaftlichen Produktion. Dazu gehören unter anderem manuelle landwirtschaftliche Arbeiten, die Durchführung von Seminaren und Diskussionen zur Förderung des ökologischen Landbaus und des kollektiven Landbaus.

Die technische Aufgabe umfasst die täglichen Aufgaben im Camp wie Kochen, Wasser holen und Brennholz sammeln. Diese Aufgaben werden von allen Guerillas im Zug sichergestellt. Ich übernehme oft politische und technische Aufgaben im Rahmen meiner täglichen Aktivitäten.

Jellyn: Es gibt Zeiten, in denen es schwierig ist, es gibt Opfer, wie das Marschieren, wenn es heiß ist und nachts regnet. Es gibt aber auch Zeiten, in denen wir Studien über Politik und militärische Arbeit durchführen und unsere ideologische Einheit stärken können. Es gibt auch Zeitangaben für Massenarbeiten. Im Allgemeinen werden tägliche Aufgaben gemeinsam entschieden und wir führen sie aus, indem wir uns gegenseitig helfen.

Was unterscheidet Euren Alltag in der Guerilla von dem der Männer?

Ka Mimi: Es ist anders, aber in vielerlei Hinsicht ähnlich. Zum Beispiel gibt es immer noch Vorurteile gegenüber Frauen in Bezug auf die militärische Tätigkeit, mit denen Guerilleras im Inneren zu kämpfen haben. Die meisten militärischen Aufgaben – Aufklärung, Vermessung und taktische Offensiven – werden hauptsächlich männlichen Kämpfern zugewiesen. Frauen bestehen darauf, dass sie die Arbeit auch erledigen können, wenn sie die Gelegenheit dazu haben. Die Kommunistische Partei der Philippinen kämpft seit langem für die Emanzipation von Frauen, und die Genossen versuchen ihr Bestes, um Vorurteile gegenüber Frauen abzubauen. Während die Partei einen langen Weg für den Kampf der Frauen zurückgelegt hat, müssen sich Frauen in Bezug auf die militärische Arbeit immer noch doppelt so hart beweisen.

Alle anderen technischen Aufgaben (Kochen, Wasser holen, Brennholz sammeln) werden von Männern und Frauen geteilt.

Jellyn: Meiner Meinung nach haben Männer und Frauen die gleichen Aufgaben. Draußen werden Männer und Frauen unterschiedlich betrachtet, aber hier werden sie als gleichberechtigt angesehen.

Eine der größten Guerilla-Organisationen ist die kurdische YPJ mit 26.000 weiblichen Kadern. Sie stellt reine Fraueneinheiten auf. Warum sind bei euch die Einheiten gemischt?

Ka Mimi: Weil wir als Kollektiv agieren und weil Männer und Frauen gleichermaßen unterdrückt werden. Männer, Frauen und LGTB sind in einer Einheit integriert, genauso wie Genoss:innen aus verschiedenen Klassen, darunter Bauern und Bäuerinnen, Arbeiter:innen und Kleinbürger:innen, vereint sind. Wenn wir die Frauen von den Männern trennen, wie können die Männer dann etwas über die Probleme und den Kampf der Frauen lernen?

Letzten Monat haben wir eine Frauenkonferenz durchgeführt, auf der alle Guerilla-Frauen ihre Erfahrungen und Kämpfe austauschten. Wir haben etwas über die Befreiungsbewegung der Frauen und unsere Rolle in der Revolution gelernt. Wir haben das Wissen, das wir auf dem Kongress gelernt haben, an unsere männlichen Kameraden weitergegeben. Wir erkennen die verschiedenen Ebenen der Unterdrückung und insbesondere die Unterdrückung von Frauen. Aber wir in der NPA sind als Einheit in einen Kampf gegen einen gemeinsamen Unterdrücker integriert.

Jellyn: Vielleicht können wir so Erfahrungen von allen sammeln. Damit wir die Eigenschaften des anderen kennen und verschiedene Klassen und Schichten sich kennen.

Wie war Eure erste Kampferfahrung? Hattet ihr Angst vor dem Tod?

Ka Mimi: Ich habe noch keine tatsächliche bewaffnete Auseinandersetzung miterlebt. Die dem am nächsten kommende Erfahrung, die ich gemacht habe, war, als feindliche Truppen uns so nahe kamen, dass wir sie auf einem angrenzenden Hügel sahen. Unsere Einheit konnte den Feind ausmanövrieren, aber ich war damals so nervös. Ich sagte mir, ich sollte nur dem Befehl vertrauen. Ich habe gelernt, die Angst vor dem Tod in der Revolution zu verinnerlichen und zu überwinden und sie als Realität im Krieg zu betrachten. Wir sind nicht ohne Angst, aber wir fühlen uns mutiger, weil wir nicht allein sind. Wir haben Kameraden:innen bei uns.

Jellyn: Bei mir war es ein Hinterhalt im November 2018. Dies war eine Reaktion auf die Forderung der Region nach koordinierten taktischen Offensiven. Etwa eine Stunde dauerte der Schusswechsel, dann zogen wir uns zurück. 17 Elemente des 66. Infanteriebataillons der philippinischen Streitkräfte wurden getötet. Wir hatten aber auch einen Gefallenen. Aber ich hatte keine Angst, meine Haltung blieb fest. Ich verstehe, dass dies Teil unserer Opfer ist, um den Sieg zu erringen.

Wie sehen Euch Frauen außerhalb der NPA?

Ka Mimi: Sie fragen mich immer, ob ich das Guerilla-Leben mit schweren Lasten und langen Strecken ertragen kann. Sie fragen mich immer, ob mein Gewehr zu schwer für mich ist und ob ich mit meinem riesigen Körper wirklich richtig laufen kann. Ich denke, sie sind erstaunt, Frauen zu sehen, die die Nöte und Opfer ertragen und ihre Söhne und Töchter für eine größere Sache zurücklassen.

Jellyn: Es gibt Respekt, Vertrauen und Zuversicht. Sie ermutigen mich, sagen mir, ich solle in Sicherheit sein, mich nicht erwischen lassen usw.

Habt ihr noch eine Botschaft für unsere Leser:innen?

Ka Mimi: Ich denke, Frauen müssen an der Revolution teilnehmen. Wir können die Unterdrückung von Frauen nicht beenden, wenn wir nicht alle Formen der Unterdrückung in Klasse, ethnischer Zugehörigkeit und Rasse beenden können. Deshalb müssen wir uns Hand in Hand mit anderen Sektoren der Gesellschaft wie den indigenen Völkern, Arbeitern, Fischern, Bauern und anderen zusammenschließen.

Jellyn: Als Frau draußen wurde ich von der Regierung vernachlässigt. Aber in der Guerilla werde ich respektiert. Und ich danke der Partei und der Armee, dass sie mich geweckt haben.

# Titelbild: Photo from Communist Party of the Philippines

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In Argentinien hat die erste Kammer einem Gesetzesentwurf zugestimmt, welches Schwangerschaftsabbrüche in dem südamerikanischen Land legal ermöglichen kann. Unsere Autorin Eleonora Roldán Mendívil hat mit Doris Quispe aus Buenos Aires gesprochen. Quispe ist 47 Jahre alt, arbeitet in einer öffentlichen Einrichtung, ist Aktivistin für die Menschenrechte von Migrant_innen in Argentinien und nimmt an den Plattformen „Ni Una Migrante Menos“ (Keine Migrantin weniger), „Peruanas y Peruanos en Argentina“ (Peruanerinnen und Peruaner in Argentinien) und „Agrupación de Trabajadores Peruanos en Argentina“ (Gruppierung von peruanischen Arbeitern in Argentinien) teil. Sie beteiligte sich auch mit anderen Organisationen an der landesweiten Kampagne „Migrar no es Delito“ (Migrieren ist kein Verbrechen), und ist Mitglied des Partido Obrero (Arbeiterpartei) in Argentinien.

Doris, du bist ja in Buenos Aires in verschiedenen sozialistischen und migrantischen Zusammenhängen aktiv. Erklär uns bitte was am 10. Dezember in Argentinien passiert ist?

Am 10. Dezember versammelten sich in Argentinien Tausende von Frauen und Dissident_innen auf der Plaza Congreso in Buenos Aires. Nach einer 20-stündigen Debatte feierten wir am Freitag, den 11. Dezember, gegen 7:30 Uhr morgens die Zustimmung der Abgeordnetenkammer mit 131 Ja-Stimmen, 117 Nein-Stimmen und sechs Enthaltungen bezogen auf die Legalisierung der Abtreibung. Dieser Gesetzesentwurf ist nicht die ursprüngliche Version der Nationalen Kampagne für eine sichere, freie und legale Abtreibung. Der Entwurf ist vom derzeitigen Präsidenten Alberto Fernández. Er hat einen Artikel über die Verweigerung aus Gewissensgründen für Fachleute eingeführt, die diese medizinische Praxis nicht durchführen wollen. Wenn nun in einer privaten Einrichtung nur Verweigerer aus Gewissensgründen arbeiten, dürfen sie die Patient_innen an ein anderes Krankenhaus verweisen. Der Termin für die Debatte in der Senatskammer, die zweite Hürde, steht noch aus.

Kannst du uns einen Einblick in den Prozess geben, der zu diesem Ergebnis letzten Freitag geführt hat?

In den 1960er Jahren war die Abtreibung eines der Banner der feministischen Bewegung auf der ganzen Welt, besonders in Europa. Während England zum Vorreiter bei der Entkriminalisierung und Legalisierung der Abtreibung wurde, machten die Niederlande, Deutschland und Italien ihre eigenen Erfahrungen mit feministischen Gruppen. Aber es war das Gesetz zur legalen Abtreibung in Frankreich, das die Bewegung in Argentinien definitiv beeinflusst hat. Eine der Pionierinnen, Dora Coledesky (1928-2009), war eine trotzkistische Anwältin, die ins französische Exil ging. Sie war geprägt von den europäischen Ideen zur Abtreibung und rief nach ihrer Rückkehr nach Argentinien eine kleine Gruppe von Frauen zusammen, die sich organisierten, um die Agenda während der Regierung von Raúl Alfonsín voranzutreiben. Sie schufen eine Kommission und prägten den Slogan „Verhütungsmittel, um nicht abzutreiben, legale Abtreibung, um nicht zu sterben!“. Dieser Slogan ist das Erbe der italienischen Militanz für die Entkriminalisierung der Abtreibung, und so entstand die heutige Nationale Kampagne für das Recht auf legalen, sicheren und kostenlosen Schwangerschaftsabbruch.

Das erste Nationale Frauentreffen in Argentinien fand im Mai 1986 in der Stadt Buenos Aires statt. 1988 begannen die Frauen mit den Workshops zum Thema Abtreibung. 1995 beschloss die Kommission des Nationalen Frauentreffens, einen eigenen Workshop zu eröffnen. Die Diskussion hörte auf, sich auf einige Wenige zu beschränken, und wurde auf Student_innen und politische, feministische und lesbische Organisationen ausgeweitet. so wurde das Koordinationskomitee für das Recht auf Abtreibung ins Leben gerufen. Jedes Jahr danach wurde es zu einem Ort der Debatte über dieses Thema.

Der erste Gesetzentwurf für einen sicheren und kostenlosen legalen Schwangerschaftsabbruch wurde 1992 vorgelegt. Dieser Gesetzentwurf war der Anstoß für den im Jahr 2003 vorgelegten Gesetzesentwurf. Im Jahr 2018 wurde das Gesetz zum siebten Mal in Folge vorgelegt und brachte die Debatte über Abtreibung auf die Straße, ins Fernsehen und in den Kongress.

Am Internationalen Aktionstag für Frauengesundheit, dem 28. Mai 2020, hat die Nationale Kampagne für das Recht auf legalen, sicheren und kostenlosen Schwangerschaftsabbruch in Argentinien zum achten Mal den Gesetzentwurf zur freiwilligen Schwangerschaftsunterbrechung in der Abgeordnetenkammer eingebracht. Am 17. November dieses Jahres präsentierte Alberto Fernández seinen eigenen Gesetzentwurf, der an diesem Donnerstag und Freitag, 10. und 11. Dezember, debattiert wurde.

Was muss jetzt passieren, damit Abtreibungen in Argentinien wirklich legalisiert werden?

Derzeit ist die Zustimmung des Senats, also der zweiten Kammer, erforderlich. Wir wollen, dass diese Debatte noch in diesem Jahr stattfindet.

Wie wird sich die Politik der Legalisierung der Abtreibung auf Migrant_innen in Argentinien auswirken?

Mit der Verabschiedung des legalen Abtreibungsgesetzes wird die Sterblichkeit vieler Frauen mit niedrigem Einkommen, die auf illegale Abtreibungen zurückgreifen, vermieden. Migrantinnen sind keine Ausnahme, wir haben die prekärsten Jobs, und als Migrant_innen müssen wir die Anti-Migrationspolitik ertragen, die die Irregularität der Migration provoziert hat In vielen Aspekten ist der Zugang zur Gesundheit für uns als Migrant_innen nicht ausreichend für komplexe (Nach-)Behandlungen, die aus einer schlecht durchgeführten Abtreibung herrühren. Deshalb bestehen wir darauf, dass die Entscheidung einer Frau, eine Schwangerschaft legal zu unterbrechen, eine Angelegenheit der öffentlichen Gesundheit ist.

# Titelbild: privat, das grüne Halstuch ist zum Symbol der feministischen Bewegung in Argentinien geworden

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Corona hat vielen Projekten einen Strich durch die Rechnung gemacht. Auch der Kiezzeitung Kiezecho aus Friedrichshain, die eigentlich hätte in den Druck gehen sollen. Wir veröffentlichen in den nächsten Wochen die Artikel, die dort erscheinen sollten von der Redaktion unverändert. Los geht’s mit einem Interview mit einer Notübernachung für Frauen*.

Für unseren Schwerpunkt besuchen wir die Notübernachtung für Frauen* »Mitten im Kiez«. Wir sprachen mit Katha, Britta und Caro über die Schwierigkeiten, mit denen viele Frauen* im täglichen Leben konfrontiert sind und den häufigen Fällen von Gewalt.

Die Probleme, mit denen sich Frauen* an Kata, Britta Caro und ihre Kolleginnen* wenden, betreffen häufig Themen wie physische und psychische Gewalt, Unterdrückung oder Probleme innerhalb von Partnerschaften sowie mit Vermietern und Behörden.

In ihren Beratungen fangen sie Frauen* auf und eröffnen dabei Perspektiven auf ein solidarisches Miteinander.

Könnt Ihr Euch unseren Leser*innen bitte vorstellen?

Ich heisse Katha und arbeite seit fast drei Jahren hier und wohne in Kreuzberg.

Ich bin Britta und wohne auch in Kreuzberg und arbeite in der Notunterkunft für Frauen* seit Sommer 2019. An der Alice-Salomon-Hochschule habe ich »Soziale Arbeit« studiert.

Ich bin Caro und mache zurzeit hier mein Praktikum. Ich studiere auch »Soziale Arbeit« und wohne in Lichtenberg.

Wie ist die Notübernachtung für Frauen* entstanden? Was ist Euer Leitbild und was wollt Ihr erreichen?

Seit vier Jahren gibt es die Notübernachtung für Frauen* in der Petersburger Straße 92 am Bersarinplatz. Im gleichen Haus befindet sich im zweiten Stock außerdem eine Tagesstätte für obdachlose und einkommensschwache Menschen. Vom Senat gibt es Ausschreibungen, damit es mehr Notübernachtungen gibt auf die sich die Träger bewerben können. Die AWO ist der Träger an den wir angebunden sind. Die AWO hat ein Leitbild und wir haben uns auch ein eigenes geschaffen. Im Zentrum des AWO Leitbildes stehen Solidarität und Toleranz. Auf Grundlage dieser Gedanken ist auch unsere Notübernachtung entstanden, um Menschen aufzufangen.

Könnt Ihr unseren Leser*innen die einzelnen Bereiche Eurer Notübernachtung bitte vorstellen und einen tieferen Einblick in Eure Arbeit geben?

Unsere Arbeit ist hauptsächlich zweigeteilt. Es ist gibt die Notübernachtung und die Beratung. Und natürlich die Organisation von all dem im Hintergrund. Sowie Vernetzung mit anderen Einrichtungen aus dem Bereich und Gremienarbeit.

Dadurch dass wir finanziert sind, können die Frauen anonym hier schlafen, weil es nicht davon abhängig ist, dass die Frauen in irgendeinem Leistungsbezug sind. Insgesamt haben wir 11 Plätze.

Die Übernachtung ist ein ganz niedrigschwelliges Angebot, das bedeutet es werden keine Ausweise kontrolliert und es kostet nichts. Die Frauen müssen auch nicht ihren Namen sagen. Sie können in der Regel bis zu 14 Nächten hierbleiben. Am Morgen gibt es Frühstück und abends ebenfalls ein Essen. Es gibt die Möglichkeit sich zu duschen und Wäsche zu reinigen. Tagsüber findet viermal in der Woche Sozialberatung statt. Diese Beratung ist auch freiwillig. Das sind alles die Kernbereiche, die unsere Arbeit ausmachen. Dafür haben wir auch noch ein ganz großes Team von Frauen* die Nachtdienste machen.

Wenn Ihr Beratungen macht und die Frauen zu Euch kommen dann kommt Ihr vermutlich in sehr engen Kontakt. Über was berichten die Frauen*? Warum kommen sie zu Euch?

Das ist sehr sehr unterschiedlich. Wir haben Nutzerinnen* der Notübernachtung, die teilweise noch Wohnungen theoretisch hätten aber die Wohnverhältnisse unzumutbar sind. Das kann sein weil da Menschen sind von denen sie Gewalt erfahren haben. Häufig sind das Partner oder Ex-Partner. Das kann sein, dass die Hausverwaltung sich nicht mehr um die Wohnung kümmert, diese komplett verschimmelt ist und die Frauen* dadurch schon körperliche Schäden haben. Oft dauert eine gerichtliche Auseinandersetzung darüber sehr lange und/oder ist ausweglos und die Frauen* müssen darum in unsere Notübernachtung.

Wir haben auch Nutzerinnen* die schon auf der Straße geschlafen haben. Teilweise sind sie in einem ALGII Leistungsbezug oder haben einen Job teilweise aber auch nicht. Darum ist es sehr vielfältig was in der Beratung Thema ist. Es geht viel um Krankenversicherung, um Schulden oder darum überhaupt irgendwie einen Leistungsbezug herzustellen. Und es geht auch oft darum die Wohnsituation zu verändern, das ist auf dem Wohnungsmarkt aber eine Katastrophe.

Ich habe auch eine Kollegin, die zurzeit eine Wohnung sucht. Sie wohnt in Westberlin arbeitet aber hier im Friedrichshain als Reinigungskraft. Sie hat richtig Stress mit der Vermieterin*. Diese Vermieterin kommt immer zu ihr persönlich, will das Geld abkassieren und setzt sie dabei unter Druck. Jetzt hat sie einen WBS Schein bekommen und ist damit auf Wohnungssuche. Das ist aber total schwierig. Nach den Besichtigungen gibt es dann immer Losverfahren, welche aber total undurchsichtig sind. Sie kommt einfach an keine Wohnung heran.

Genau. Es gibt überall eine krasse Konkurrenz. Du gehst zu einer Wohnungsbesichtigung und da sind so viele andere Menschen gegen die man sich beweisen und durchsetzen muss. Auf dem Wohnungsmarkt ist eine Situation entstanden in der sich die Menschen beweisen müssen warum sie diese Wohnung gerade »verdient« hätten.

Oft ist es auch so, dass der Vermieter durch Schulden die Wohnung überhaupt nicht hergibt. Alleine schon durch die BVG können schnell so viele Schulden entstehen, diese sind zum Beispiel auch ein sehr großer Gegenstand in der Beratung. Oft kann das bis zur Ersatzfreiheitsstrafe gehen. Repression, Schulden durch die BVG und Mietschulden sind immer wieder Thema, sowie Kriminalisierung und Verdrängung aus dem öffentlichen Raum.

Zum Beispiel gibt es in dem neuen Wohnquartier »Box Seven« an der Boxhagener Straße den Siegfried-Hirschmann-Park. Dieser Park ist vermeintlich öffentlich gestaltet er ist aber ein Privatgelände mit Wachdienst. Eine Frau* hat uns berichtet, dass sie sich dort mit ihrem Hund auf eine Bank gelegt hat und sofort rücksichtslos weggeschickt wurde. Das ist ein typisches Beispiel für viele ähnliche Fälle von denen Frauen* in unserer Beratung berichten.

Ein weiterer wichtiger Punkt sind Gewalterfahrungen in Partnerschaften.

Was bedeutet strukturelle Gewalt gegen und Frauen* konkret in unserer Gesellschaft, in unserem Kiez und wie kann sie überwunden werden?

Die Frauen* berichten von gewaltvollen Partnerschaften und Erfahrungen auf der Straße, sowie über Belästigungen.

In unseren Nachbar*innenbefragungen haben wir auch einen Punkt zu Patriarchat und Rassismus. Einige haben geantwortet, dass sie auch belästigt wurden.

Es gibt so viele Räume die davon geprägt sind. Es gibt viele Frauen* die tatsächlich nur frauen*spezifische Orte aufsuchen, weil sie in anderen Räumen sexualisierte Gewalterlebnisse oder generell Gewalterlebnisse gemacht haben. Und aus diesem Grund sagen sie, dass sie diese Orte nicht mehr nutzen.

Oft treten auch Abhängigkeitsverhältnisse in Partnerschaften auf. Es gibt ganz viele Frauen* die auf der Straße leben, die bei Bekannten oder vermeintlichen Freunden unterkommen. Daraus entstehen dann Abhängigkeitsverhältnisse gegen Gefälligkeiten. Frauen* die öffentlich auf der Straße schlafen werden von Männern angesprochen: »Hey, Du kannst doch bei mir pennen!« Am Anfang ist das alles noch nett aber sobald sie dann da sind merken sie, dass es nicht nur um einen Schlafplatz geht. Deshalb ist auch unsere Notübernachtung wichtig, weil sie leicht zugänglich ist, anonym ist und keine Unterlagen vorzuweisen sind.

Aus welchen Orten kommen die Frauen zu Euch?

Die Frauen kommen von überall zu uns. Aus anderen Städten, weil sie dort vor Situationen geflüchtet sind, aus anderen Ländern, aus Berlin und dem EU-Ausland.

Die Frauen* aus dem EU-Ausland haben oft das Problem, dass sie keinerlei Leistungsansprüche haben, weil sie hier in ausbeuterischen Verhältnissen ohne jede Verträge gearbeitet haben. Das ist auf jeden Fall ein riesen Problem. Sie haben dann keine Möglichkeit Gelder zu beantragen oder überhaupt irgendetwas. Ohne festen Wohnsitz findest Du aber auch keinen Job. Das ist ein typischer Kreislauf.

Gibt es weitere Bereiche Eurer Arbeit auf die Ihr aufmerksam machen wollt?

Jeden Donnerstag gibt es ein öffentliches Frühstück. Zu diesem kommen auch Frauen* von außerhalb. Heute haben wir dabei zum Beispiel Transparente für die revolutionäre 8. März Demonstration gemalt, die werden wir aufhängen.

Die Menschen, die hier arbeiten sind das ausschließlich Hauptamtliche? Gibt es auch einen ehrenamtlichen Bereich? Wie kann man bei Euch mitmachen und Euch unterstützen?

Diesen Bereich gibt es. Vor allem abends ist das ganz gut, wenn es keine Hauswirtschaftskräfte gibt. Hauptamtlich sind nur zwei Stellen finanziert. Alle anderen sind auf Ehrenamtsbasis. Wir freuen uns über jede* die vorbeikommt um zu helfen oder um mit den Frauen* in Kontakt zu kommen. Aber was vor allem gut ist, wofür wir leider nicht genug Kapazitäten haben, ist Begleitung zu Terminen, Ämtern und Arzt*innen. Viele Frauen schaffen das einfach nicht alleine, weil es ihnen nicht gut geht. Sie können sich dann nicht gut ausdrücken und kommen nicht zur Ruhe. Oft sagen sie: »Eigentlich müsste ich mal zum Arzt um mich untersuchen zu lassen.« Aber sie schaffen alleine nicht den Weg. Wir suchen hauptsächlich Frauen* als Ehrenamtliche*, denn wenn Männer hier mitmachen wollen geht das nur wenn die Nutzer*innen nicht da sind.

Das kann ich mir gut vorstellen, dass für Behördengänge Unterstützung gesucht wird.

Wir nehmen auch sehr gerne Einzelfahrscheine der BVG als Spenden an. Das entlastet die Frauen wirklich sehr. Sie können sich dann in den ÖPNV setzen und wissen, dass sie sich keinen Stress machen müssen, dass keine Kontrolle ihre Schulden bei der BVG vergrößert.

Ihr habt ja schon angedeutet, dass Ihr auch politische Menschen seid. Ihr macht Transparente und geht zur revolutionären 8. März Demonstration. Zurzeit gehen weltweit Millionen auf die Straßen, von Lateinamerika bis Indien ist die Welt im Aufruhr, die Menschen haben dieses Leben und die kapitalistische Ordnung satt. Besonders Frauen* nehmen in diesen Widerständen eine führende Rolle ein und das ist kein Zufall. Auch in Deutschland organisieren sich immer mehr Frauen* gegen ihre Unterdrückung. Was ist Eure Perspektive in diesem Zusammenhang?

Auf jeden Fall sehen wir uns als Teil dieser Bewegung. Unsere Arbeit ist auch gar nicht davon zu trennen. Dieser Ansatz ist uns auch in der Beratung ziemlich wichtig. Auf der einen Seite sind die Ursachen sehr unterschiedlich. Auf der anderen Seite ähneln sie sich aber auch sehr häufig. Wir versuchen wollen nicht individualisieren oder alles vereinzelt zu sehen, sondern in unserer Beratung strukturelle Ursachen zu benennen.

Ich denke, dass dieser Punkt für viele Frauen in der Beratung etwas Neues darstellt. Wir versuchen zum Beispiel keine Einzelschuld zu erheben, sondern wollen die strukturellen Ursachen hinterfragen. Wir wollen uns dann auch mit den Frauen* gemeinsam richtig aufregen. Wir können auch gut gemeinsam wütend sein in der Beratung über die ganze Scheiße die uns tagtäglich passiert.

Eine generelle Infragestellung des Patriarchates ist nicht nur für uns in der Einrichtung Thema, sondern auf allen Ebenen unseres Lebens.

Gibt es weitere Themen, die Euch wichtig sind und die Ihr unseren Leser*innen mitteilen wollt? Wie seht Ihr die Lage auf dem Wohnungsmarkt und in unserem Kiez?

Es ist wichtig das Thema der Wohnungslosigkeit gesamter zu betrachten. Wohnungslosigkeit entsteht durch Verdrängung. Der Liebig34 droht die Räumung und den Bewohner*innen droht die Wohnungslosigkeit. Es gibt 27 Zwangsräumungen pro Tag. Das heißt Verdrängung findet tagtäglich statt.

Ich habe den Eindruck, dass Obdachlosigkeit stadtpolitisch gar kein so großes Thema ist. Es wird ehr unsichtbar gemacht und verdrängt. Obwohl es jeden treffen kann. Das Thema kann nämlich auch ein Nährboden für Sozialchauvinismus und Rassismus sein.

Es reicht nicht immer nur zu sagen wir machen jetzt immer mehr Notübernachtungen. Eigentlich muss es eine politische Folge sein zu sagen wir brauchen mehr Wohnraum. Und wir brauchen keinen teuren Wohnraum, sondern Wohnraum den wir uns leisten können. Wir brauchen Wohnraum wo die Voraussetzung nicht ein riesen Ordner voller Unterlagen ist. Sondern es geht darum, dass die Menschen ein Recht auf Wohnen haben. Im Anschluss an die »Nacht der Solidarität« war Obdachlosigkeit kurz ein Thema in der Öffentlichkeit aber es wurde dann schnell wieder gesagt wir brauchen mehr Notübernachtungsplätze. Wir müssen aber danach fragen wieso passiert Obdachlosigkeit überhaupt? Was passiert mit den EU-Bürger*innen, warum haben sie hier keine Chance auf Wohnraum generell? Diese Gedanken sind wichtiger als zu sagen jetzt haben wir mehr Notübernachtungen und das war’s. Es wird jetzt so viel Geld mehr in die Notübernachtungshilfe gepumpt aber damit werden nur die Symptome bekämpft. Die Zwangsräumungen finden weiterhin statt.

An der Rummelsburger Bucht gab es ja auch mal ein selbstorganisiertes Obdachlosencamp. Die BVV hat gesagt o.k. ihr könnt hier noch bis zum Frühjahr bleiben aber danach müsst ihr weg. Und währenddessen wurde versucht die Obdachlosen in Deutsche und Andere zu spalten. Wir denken auch, dass sich an der Liebig34 viele Punkte von Verdrängung bis feministische Selbstorganisierung kristallisieren. Es ist ein Haus, das Padovicz haben will, um weiter Profite zu machen, dass auch stellvertretend für alle anderen, die von Verdrängung in unserem Kiez Betroffene*, dagegen kämpft.

Ja. Ein solidarisches Miteinander ist auch wieder wichtig. Es reicht nicht aus nur wütend zu sein über Kämpfe die mich betreffen, sondern auch darüber hinaus zu gucken. Was betrifft mich persönlich vielleicht gerade nicht aber was sollte uns alle im Moment durchgehend super wütend machen. Warum wir durchgehend nur auf Demos und auf der Straße sein sollten. Wir müssen wieder mehr auf einander achten und nicht nur auf die eigene Blase.

Das beobachten wir auch. Auf der einen Seite gibt es diese Isolierung aber auf der anderen Seite gibt es den starken Wunsch sich wieder zusammenzuschließen und zu solidarisieren. Manche Nachbar*innen wollen aktiv werden und wenn wir das schaffen, können sich daraus viele gute Sachen entwickeln.

Ich glaube, dass die Kiezkommunen etwas sehr Gutes sind um zusammenzukommen und zu besprechen was bei uns gerade im Kiez passiert. Und wir sind nicht alle in unseren Wohnungen und haben das Gefühl, das passiert gerade nur mir, sondern dass ist gerade eine Entwicklung, die im kompletten Kiez stattfindet.

So ist ja auch das Solikomitee für die Liebig34 entstanden. Es gab auf der Nachbar*innenversammlung im November 2018 eine Diskussion darüber: Was machen wir? Und so ist diese spontane Idee entstanden. Und jetzt entwickeln sich selbstorganisiert ganz viele Sachen: Unterschriften sammeln, Videos drehen, Nachbar*innen interviewen und eine Nachbar*innendemo organisieren.

Sehr gut.

Ein weiteres wichtiges Thema, welches wir beobachten ist die Psychiatrisierung von Menschen. Das nicht gesehen wird wieso geht es dem Menschen gerade so schlecht. Wenn ich aus meiner Wohnung verdrängt werde, dann geht’s mir auch erstmal ziemlich Scheiße. Dann findet aber oft eine Psychiatrisierung statt anstelle, dass es gerade drum geht, dass die Person gerade verdrängt wurde. Selbstverständlich muss man Menschen in psychischen Krisen auf jeden Fall auch Auffangen. Aber es darf nicht damit enden, dass alle eine Diagnose haben, aber nie geguckt wird warum haben wir denn gerade alle eine Diagnose. Wieso entstehen überhaupt so viele psychische Krisen bei Menschen? Das finde ich einen sehr wichtigen Aspekt, weil häufig auch eine Abgrenzung zu psychisch erkrankten Menschen stattfindet. Wir alle können in psychische Krisen kommen. Genau dann ist es wichtig aufgefangen zu werden, von Menschen Drumherum, im Umfeld und auch im Kiez eine Struktur zu schaffen die so etwas auffangen kann, damit sich so etwas nicht verfestigt und wiederholt.

# Text und Titelbild: Kiezecho

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Einmal applaudieren für die Ladys, denn der Durst nach vorzeigbaren Superheldinnen ist noch nicht gestillt. Das Forbes-Magazin verteilt in einem Artikel vom 13. April Lob und Bienchen für den Führungsstil der Politikerinnen Dänemarks, Deutschlands, Finnlands, Islands, Neuseelands, Norwegens und Taiwans. Denn im Gegensatz zu den polternden männlichen Machtgeprotze-Kollegen, begeistern diese Frauen laut Forbes durch ihr besonnenes Krisenmanagement, ihr „Einfühlsvermögen“ und ihre „Fürsorge“ im Umgang mit Corona. „Es ist, als kämen ihre Arme aus den Videos, um uns in einer herzlichen und liebevollen Umarmung festzuhalten,“ schwärmt die Autorin und verteilt pinke Good-Vibes in düsteren Corona-Zeiten. Dass Forbes auf Anspielungen zu gekonnten Hochsteckfrisuren oder tiefblickenden Dekolletés der Politikerinnen verzichtet, ist fast ein Wunder.

Dieser „feministische“ Artikel offenbart eine Haltung, die uns seitens eines der erfolgreichsten Managermagazine mit Hauptsitz in der New Yorker Fifth Avenue nicht überrascht. Umso verwunderlicher aber, wie unkritisch die These des erfolgreichen weiblichen Führungsstils in so manchen links-feministischen Online-Kanälen bejubelt wird. Dabei ist diese angeblich feministische Haltung nichts anderes als eine Karikatur dessen, was Populismus und Aneignung radikaler sozialer Kritiken für bürgerliche Interessen bedeutet.

Verschiebung der Klischees?

Wahrscheinlich fasziniert es, dass Frauen nun endlich nicht mehr nur als Sexobjekt oder demütige Hausfrau im Scheinwerferlicht stehen, sondern auch zunehmend ein Bild gezeichnet wird, in denen besonders „weibliche“ Führungsqualitäten hervorgehoben werden. Auf den ersten Blick mag es fortschrittlich erscheinen, denn die Klischees der gegenübergestellten Geschlechterbilder erleben eine Verschiebung. Diese Verschiebung führt aber nicht dazu, dass Stereotype abgebaut werden, sondern im Gegenteil wird die Annahme verfestigt, weibliche und männliche Personen hätten von Natur aus „angeborene,“ sich binär gegenübergestellte Charaktereigenschaften, also jeweils eine grundverschiedene „Essenz“. Frauen sind demnach von Natur aus „friedliche“ und „besonnene“ Wesen, die grundsätzlich für Harmonie sorgen wollen und deshalb die bessere Politik bzw. hier das bessere, empathischere Krisenmanagement betreiben würden.

Ein derartiger „feministischer“ Personenkult, wie er im Forbes-Artikel betrieben wird, verschleiert vollkommen, welche politischen Interessen eigentlich hinter diesen Repräsentantinnen stehen: die Interessen der herrschenden Klasse der Länder, die sie repräsentieren.

Beispiellos ignorant ist auch, wie geschichtliche und wirtschaftliche Hintergründe der herangezogenen Nationalstaaten ausklammert. Die Frage hier ist: Welche ökonomischen Bedingungen liegen einem Land und/oder einer bestimmten Klasse zugrunde, damit ihre Frauen es sich leisten können, sich aus ihren unterdrückenden Verhältnissen zu emanzipieren und Seite an Seite mit den Männern in der Führungsetage mitzumischen?Wenn man sich sich die herangezogenen, von Frauen regierten Länder betrachtet, sellt man fest, dass diese mit die stärksten Volkswirtschaften der Welt sind. Es überrascht nicht, dass ausgerechnet diese Länder im weltweiten Vergleich über stärkere Gesundheitssysteme verfügen und bessere Präventionsmaßnahmen gegen die Ausbreitung von Epidemien oder Pandemien treffen können – auf dem Rücken der Peripherien des Imperialismus. Es würde den Rahmen sprengen, darzulegen, auf welchem Reichtum die Volkswirtschaften dieser Länder aufbauen – aber sicher nicht auf den „Fleiß“ ihrer Bevölkerung. Jahrhundertelange Plünderug von Ressourcen und Arbeitskraft aus dem Globalen Süden zahlt sich nun aus für den imperialistischen Feminismus.

Es ist richtig, dass viele Frauen eine Schnittmenge an Erfahrungen teilen, die sie durch biologische und/oder vorherrschende gesellschaftliche Bedingungen machen. Das heißt aber nicht, dass sie deswegen etwa gleiche Eigenschaften („Umsorge,“ „Mutterinstinkt“ etc.) teilen. Diese Auffassung führt dazu, die ungleichen Verhältnisse, die sich aus den realen materiellen Zugängen von Männern und Frauen speisen, zu akzeptieren, als natürlich hinzunehmen und somit weiter als „naturgegeben“ in Stein zu meißeln.

Frausein schützt vor Ausbeutung, Sexismus und Rassismus nicht

Nicht nur, dass dieser „weibliche Führungsstil“ also konstruiert und völlig nebulös ist, was das eigentlich sein soll. Auch stellt sich die Frage, wie es eine feministische Errungenschaft sein soll, dass statt Männer nun Frauen an der Spitze einer Politik stehen, die die allergrößte Mehrheit der Menschen auf der Erde ausbeutet, die Umwelt zerstört, Kriege führt, Menschen hungern lässt, sie foltert und Schutzsuchende vor den Außengrenzen Europas ertrinken und sterben lässt?

Die Politik, für die diese Frauen stehen, ist nicht weniger frauenfeindlich, rassistisch oder imperialistisch als die ihrer männlichen Kollegen. Schlimmer noch: Statt den Tatsachen ins Gesicht zu sehen und sich gegen diese imperialistische Politik – gerade als Frauen, als Queers und als Feminist*innen – zu wehren, lässt sich die Mehrheit, bis in linken Dunstkreise hinein, vom Teufel im Schafsgewand allzu gern in den Schlaf wiegen. Anders gesagt: Frausein schützt vor Ausbeutung, Sexismus und Rassismus nicht.

In den Bereich des sogenannten „Privaten“ fallen Hausarbeit, Kindererziehung, Pflege der Alten und Kranken in der eigenen Familie, Beziehungsarbeit, Auffangen zwischenmenschlicher Konflikte und therapeutische Angelegenheiten typischerweise auf Frauen zurück. Im Lohnarbeitsbereich bleibt diese Art feminisierter Arbeit, die – oh Wunder – im Kontext von Corona plötzlich systemrelevant genannt wird, weil sie eben lebenserhaltend ist, besonders prekär. Denn etwas, das als natürlich und angeboren angesehen wird, wie dass Frauen sich selbstverständlich um Angehörige sorgen und die Böden sauber halten, muss nicht entlohnt oder gesellschaftlich besonders gewertschätzt werden. Für’s Atmen wird man ja schließlich auch nicht bezahlt.

Frauen der Arbeiterklasse

Als Feminist*innen sollten wir wütender denn je sein, denn es sind nun schon wieder vor allem die Frauen der Arbeiterklasse, die die Auswirkungen der Corona-Krise durch eine brutal vorangetriebene neoliberale Politik – ein auf Profit ausgerichtetes, zunehmend privatisiertes und zusammengespartes Gesundheitswesen – ausbaden müssen. Laut Weltgesundheitsorganisation sind 70 Prozent der weltweit Beschäftigten im Bereich Gesundheitswesen Frauen. Es sind die Berufe, die meist schlecht bezahlt sind und prekäre Arbeitsbedingungen mit sich bringen; die von Überstunden bis zu hoffnungsloser, körperlicher Überlastung gezeichnet sind; und wo es obendrein, trotz besonders hohem Ansteckungsrisiko, an sicherer Schutzkleidung an allen Ecken und Enden fehlt. Neben dieser Lohnarbeit, werden Frauen auch meist zu einem Mehr an Sorgearbeit in der Kinderbetreuung, Alten- und Krankenpflege und im Haushalt gezwungen. Das liegt an der, wir erinnern uns, patriarchalen Erzählung der „Natur“ der fürsorglichen Frau (denn Frauen passen sich diese patriarchalen Norm auch an), aber auch daran, weil Männer häufiger Hauptverdiener und in ihrer Karriereplanung weniger flexibel sind. Prominentes Beispiel hierfür ist der Virologe Alexander Kekulé, der seine Frau „nah an der Verzweiflung“ sieht, sie aber leider nicht unterstützen kann, weil er dafür zu wichtig ist. Nicht nur, dass damit bestehende patriarchal-kapitalistische Strukturen verfestigt werden, auch sind diese Frauen in erzwungener Isolierung zu Hause, geschlechterbezogener Gewalt um ein vielfaches stärker ausgesetzt sind. Und auch in Post-Corona Zeiten ist davon auszugehen, dass Frauen der Arbeiterklasse – und darin die prekärsten Sektoren von migrantischen, asylsuchenden und illegalisierten Frauen – am meisten leiden: da Frauen häufiger in Teilzeit, Mini-Jobs oder im informellen Sektor beschäftigt sind, verlieren sie in Krisenzeiten schneller den Job und brauchen länger, um zu ihrem ursprünglichen Einkommen zurückzukommen.

Die Erkenntnis, dass diese Art des Feminismus auf dem Vormarsch ist, bestätigt nur, wie ungefährlich er für die etablierte Norm, den weltweiten, patriarchalen Kapitalismus in seiner imperialistischen Phase, ist. Dieser bürgerliche, liberale Feminismus eignet sich die Kämpfe der nicht mehr zu ignorierenden, weltweit erstarkenden Welle radikaler feministischer Bewegungen an, die unermüdlich Freiheit, Emanzipation und Selbstbestimmung aller Menschen und Lebewesen verfechten, jenseits von Kapitalismus und patriarchaler Unterdrückung. Ein liberaler Feminismus suggeriert, dass es keine strukturellen Missstände und Ungleichheiten gäbe, und jede Frau alles erreichen könne, wenn sie sich nur stark genug anstrengt. Gerechtigkeit ist aber nicht, wenn ein paar Frauen in Spitzenpositionen lächelnd in die Kamera winken. Die Klassenherrschaft samt aller patriarchaler Privilegien bleibt unangetastet. Der Feind bekommt nur ein weibliches Gesicht.

# Text: Meret Ava, Hannah Simón und Eleonora Roldán Mendívil

#Titelbild: Marie Antoinette, Margaret Thatcher und Angela Merkel
Marie Antoinette & Margaret Thatcher: gemeinfrei; Angela Merkel: Armin Linnartz CC BY-SA 3.0
Collage: LCM

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„Bleiben Sie zu Hause.“ Das sei doch eine „ganz einfache Losung“, um gemeinsam die Coronakrise zu überstehen, freiwillige Isolation dieser Tage ein sozialer Akt, die Ausgangssperre das Mittel gegen die Ignoranz derer, die sich weiter draußen aufhielten. So oder ähnlich konnte man viele Politiker*innen und einige Journalist*innen in den letzten Wochen sprechen hören. Zuhause bleiben in Zeiten von Corona bedeutet allerdings nicht für alle, sich im gemütliches Eigenheim in der harmonischen Kleinfamilie zurückzuziehen, wo es Lohnfortzahlung und genug Raum oder einen Garten gibt, um sich auch mal aus dem Weg zu gehen. Dass diese „einfache Losung“ fernab vieler Lebensrealitäten liegt, ist offensichtlich. Viele Menschen wohnen auf engstem Raum in kleinen Wohnungen zusammen. Ausgangsbegrenzungen können zu unaushaltbaren Situationen führen. „Das ist wie Urlaub im Container“, meint Barbara Korsmeier von der Frauenberatungs- und Kontaktstelle Gelsenkirchen.

Dass das eigene Zuhause statistisch für Frauen der gefährlichste Ort ist, ist keine überraschende Pointe mehr – der zu erwartende Anstieg häuslicher Gewalt in Zeiten der Coronakrise hat es sogar bis in die Tagesschau geschafft. Freiheitsbeschränkende Maßnahmen, wie sie derzeit verhängt werden, erhöhen das Potential für partnerschaftliche Gewaltausübung. Denn Ausgangssperren oder -begrenzungen, Schulschließungen, die Betreuung von Kindern zuhause oder soziale Isolation führen dazu, dass viele Menschen 24/7 in ihren Wohnungen aufeinanderhocken. Sorgen und Ängste werden größer, das Gefühl des Kontrollverlusts stärker. Existenzielle und finanzielle Unsicherheit lassen nicht nur bestehende gewaltvolle Dynamiken in Familien eskalieren, sondern bringen auch neue Konflikte auf.

Medienberichten zufolge sind in vielen Ländern mit Ausgangssperren aufgrund von Corona die Fälle von häuslicher Gewalt stark angestiegen, z.B. in China meldeten Frauenrechtsorganisationen drei Mal mehr Beschwerden, der Bundesstaat Rio de Janeiro in Brasilien einen 50-prozentigen Anstieg in den letzten zwei Wochen, die Notfallhotline in Argentinien 30 Prozent mehr Anrufe. Dort wurden als Reaktion auf die neuen Umstände Whatsapp-Notrufchats eingerichtet und mehr Beratungspersonal bereitgestellt, um einen möglichst niedrigschwellige Kontaktaufnahme auch in Quarantäne zu ermöglichen.

Wie wichtig es ist solche Angebote zu schaffen, sieht man in Frankreich und Italien. Dort gingen die Notrufe wegen gewalttätigen Übergriffen stark zurück – in Italien sogar um die Hälfte. Das heißt allerdings nicht, dass weniger Gewalt ausgeübt wird, sondern, dass es in häuslicher Isolation immer schwieriger für betroffene Frauen wird, Hilfe zu holen oder auch nur zum Telefon zu greifen. Giulia, Aktivistin von Noborder Feminism, kommt aus Italien und beobachtet die Situation dort seit Längerem. Jeden Tag werde dort mindestens eine Frau von nahestehenden Personen umgebracht. „Der Virus bringt nochmal in einer sehr viel aggressiveren und klareren Weise hervor, was auch schon vorher die Situation war“, erklärt sie. „Die Gewalt gegen Frauen ist massiv.“

Auch in Deutschland warnen Expert*innen vor einer Zunahme häuslicher Gewalt, erste Trends verzeichnen einen Anstieg von etwa zehn Prozent seit Beginn der Maßnahmen.

„Im Moment befinden wir uns in der Ruhe vor dem Sturm“ erklärt Barbara Korsmeier, die seit Jahren in NRW Interventionsarbeit bei häuslicher Gewalt leistet. Aber auch sie rechnet fest mit einem Anstieg: „Noch ist das Wetter gut, noch kann man auch mal spazieren gehen, aber wenn das Wetter wieder schlechter wird, reduzieren sich die ohnehin geringen Ausweichmöglichkeiten“. Ein generelles Muster: Auch in den Schulferien häufen sich bei schlechtem Wetter die Übergriffe und Hilferufe. Jetzt allerdings kommen auch andere Problematiken hinzu: „Viele der Täter sind suchtabhängig, spielsüchtig oder drogensüchtig“, erklärt Korsmeier. „Spielhallen sind geschlossen, es gibt Probleme, sich zu versorgen, Drogenberatungen haben zu. Das führt zu weiterem Steuerungsverlust“. Es ist normal und in Ordnung, Angst zu haben, sich verunsichert zu fühlen, gestresst zu sein. Aber all dies ist kein Grund und keine Entschuldigung dafür, diesen Frust an anderen auszulassen. „Du stehst selbst in der Verantwortung, wie du mit Überforderung, Unsicherheit oder Wut umgehst“, mahnen Organisationen, die Täterarbeit machen.

Während die Probleme für Betroffene größer werden, schwinden gleichzeitig Kapazitäten von Hilfsangeboten. Für Frauenhäuser, die sowieso chronisch unterfinanziert sind, bedeuten auch die hygienischen Maßnahmen zum Infektionsschutz besondere Herausforderungen. Nutzung von Küchen und Bad müssen nun einem strengen Nutzungsplan folgen. Da Familien nun einzeln untergebracht werden, haben sich die Plätze in Frauenhäusern, wie dem in Gelsenkirchen um die Hälfte reduziert. Das heißt, Frauen müssen nun weiter fahren, um Zuflucht zu finden, aber die Mobilität ist eingeschränkt: Zugfahren ist nicht mehr so einfach und auch das eigene Auto der Mitarbeiterinnen ist nun keine Möglichkeit mehr.

Dass Krisen wie die jetzige Frauen anders und härter treffen, ist eigentlich schon lange bekannt. Es gibt genügend Beispiele, wie Hurricane Katrina in den USA 2005, das Erdbeben in Canterbury Neuseeland 2011, oder die Ebola Epidemie in Westafrika in 2014 und -15, die unmissverständliche Nachweise für die besonderen Auswirkungen von Krisensituationen auf Frauen liefern: die immer starke Zunahme von häuslicher Gewalt auch durch Reisebeschränkungen und fehlende Fluchtmöglichkeiten, Einschränkungen in reproduktiver Gesundheit durch Umwidmung von Ressourcen in die Katastrophenhilfe oder der erschwerte Zugang zu sicheren Abtreibungen. Dabei zeigen sich oft auch sehr langfristige Auswirkungen, z.B. durch das Ausscheiden aus dem Schulsystem oder der langsameren Wiederherstellung der Lohnverhältnisse im Geschlechtervergleich. Würde man dieses Wissen ernst nehmen, wäre klar, dass politische Maßnahmen zur Kriseneindämmung die zusätzlichen geschlechtsspezifischen Risiken mit in den Blick nehmen und bereits präventiv Maßnahmen ergreifen und Ressourcen bereitstellen müssten, um die Auswirkungen abzufedern.

Auch Barbara Korsmeier wünscht sich, dass man aus Krisen lernt, anstatt nur „just in time“ zu denken und erst zu reagieren, wenn es schon zu spät ist. Wichtiger wäre ihr, sich mit Konzepten von flexiblen Schutzunterkünften langfristig vertraut zu machen, ein flexibles Denken anzueignen. Dass die derzeitige Aufmerksamkeit dazu führen könnte, dass eine generelle Debatte entsteht, in der Politik, Verwaltung und Gesamtgesellschaft das Thema Gewalt gegen Frauen mehr in den Fokus rücken und es vehementer bekämpfen, glaubt Korsmeier nicht. Sie ist es bereits gewohnt, dass häusliche Gewalt und sexueller Missbrauch Modethemen sind. „Das ist Schall und Rauch und wird bald wieder weg sein.“ Durch das Hin- und Her haben sich die Beratungsstellen eine eigene Flexibilität angewöhnt, um in allen Lagen angemessen darauf zu reagieren. „Die Sicherstellung für Gewaltopfer als erste Unterstützung ist fundamental“.

Durch die allgemeine Aufmerksamkeit wird auch von offizieller Seite reagiert. Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend hat in der vergangenen Woche mit den Bundesländern einen Schutzschirm für Frauenhäuser und verschiedene Maßnahmen vereinbart, um Hilfesysteme für Frauen in Notsituationen während der Coronakrise am Laufen zu halten. Auf kommunaler Ebene werden Ausweichquartiere in leerstehenden Hotels und Ferienwohnungen organisiert.

Beratungsstellen aber werden nicht vom staatlichen Schutzschirm zusätzlich gestützt, da sie anders als stationäre Einrichtungen nicht als „systemrelevant“ gelten. Frauenberatungsstellen, aber auch Flüchtlings- oder Drogenberatungsstellen sind als psychosoziale Systeme freiwillige Leistungen. „Wir befinden uns in einer Krise und wir sind doch eine Krisenhilfe. Und dann wird gesagt, Beratung ist nicht systemrelevant!“ Korsmeier ist sich sicher, dass es sich rächt, wenn wichtige soziale Angebote zum sozialen Frieden und Gewaltschutz nicht finanziell abgesichert sind und in der Planung mit aufgenommen werden.

Denn wenn Beratung wegbricht, wird die Lage für alle Beteiligten verschärft. „Selbsthilfe funktioniert darüber, dass es Menschen gibt, die einem in einer häuslich isolierten Situation zuhören, die Hilfe anbieten können, dass man sich nicht allein gelassen fühlt. Für dieses ganze System braucht es Wertschätzung im Sinne von finanzieller Absicherung“. Der Kontakt nach draußen ist extrem wichtig, um Selbsthilfe zu aktivieren, die Beratung stellt erst den entscheidenden Zugang zu jedem Hilfesystem dar. „Das muss sein, das kann nicht anders sein!“, weiß Korsmeier aus Erfahrung. „Auch die Frauen möchten Sicherheit.“ Mittlerweile, anders als noch in den 80er Jahren, gibt es eine Einsicht und einen gesellschaftlichen Konsens über die Notwendigkeit der Beratungsstellen, aber das Problem ist immer die Kostenfrage. „Von dieser Einsicht müssen wir zu einem anderen Handlungsstrang kommen. Es muss sich der Wille bilden, sich das auch etwas kosten zu lassen“.

Während staatliche Stellen die Beratungsstellen fallen lassen, funktionieren auch in Krisenzeiten selbstorganisierte Strukturen; unter den ehrenamtlichen Helferinnen, aber auch unter den Frauen in den Unterkünften. „Es haben sich schnell Whatsapp -Gruppen gegründet, wo die Versorgung abgesprochen wird, Medikamente abgeholt werden und Unterrichtsgruppen gebildet werden, wie selbstverständlich“.

# Text: Nora Gärtner

#Titelbild: Computer-Simulation des Corona-Virus, Felipe Esquivel Reed, wikimedia commons, CC-BY-SA 4.0, Lila Schleife, weltweites Symbol gegen häusliche Gewalt Niki K., CC BY-SA 3.0, Collage LCM

Nummern für telefonische Hilfe in Notsituationen:

Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen (BIG) 030 611 03 00 von 8-23 Uhr Beratung@big-hotline.de
Bundesweites Hilfetelefon 08000 116 016
Telefonseelsorge 0800 11 10 111 oder 0800 11 10 222
Kinder- und Jugendtelefon 0800 11 10 333


nummergegenkummer.de/kinder-und-jugendtelefon.html 0800 116111
Sucht- und Drogenhotline 01805 31 30 31
Hilfetelfon Sexueller Missbrauch 08002255530 Mo, Mi und Fr von 9 bis 14 Uhr & Di und Do von 15 bis 20 Uhr.

Beratungsstellen für Jungen und Männer, die gewalttätig geworden sind oder Angst haben, gewalttätig zu werden:

www.maennerberatungsnetz.de

SKM Gewaltberatung

BAG Täterarbeit

Survival-Kit für Männer unter Druck

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Die feministische Bewegung in Italien ist seit mehreren Jahren einer der stärksten Stützpfeiler linker Mobilisierungen im Land. Unter dem gemeinsamen Dach der Bewegung „non una di meno“ („Nicht eine weniger“) fanden sich unterschiedlichste Initiativen zunächst gegen Frauenmorde, Feminizide, zusammen, dehnten ihr Politikfeld aber rasch aus, um einen feministischen Blick auf die Gesamtheit sozialer und politischer Problemfelder zu popularisieren.

Wir haben mit Chiara vom Esc Atelier in Rom und Vanessa, aktiv bei dem autonomen Informationsportal Dinamopress, und beide von „non una di meno“ über die Entwicklung der feministischen Bewegung in Italien und den Frauenstreik in Zeiten des Corona-Virus gesprochen.

Aktuell sind einige Gebiete Italiens wegen des Corona-Virus komplett abgeriegelt, landesweit gibt es zahlreiche Einschränkungen. Welche Auswirkungen hat das auf den diesjährigen Frauenkampftag?

Vanessa: Klar, dieses Jahr gehört das Coronavirus zu den Umständen, über die wir sprechen müssen. Schon davor gab es eine lange Diskussion über den Streik dieses Jahr, denn der 8. März fällt ja bekanntlich auf einen Sonntag. Im Rahmen einer nationalen Versammlung von „non una di meno“ entschied eine Mehrheit anwesender lokaler Strukturen sowie der radikalen Gewerkschaften, dass wir deshalb den Streik am 9. März durchführen.

Dann aber änderte sich alles. Schon eine Woche vor dem Streik teilte uns die staatliche Nationale Kommission für die Streiks mit, dass wir den Streik stoppen sollen. Sie haben es nicht direkt verboten, aber angedroht, jede streikende Arbeiterin mit einem Bußgeld zu bestrafen. Zu diesem Zeitpunkt war die Situation durch das Virus erst in zwei Regionen kritisch, in der Lobardei und in Veneto. Aber wir entschieden, den Streik ausfallen zu lassen, denn es existiert auch ein Dekret, das alle öffentlichen Aktivitäten einschränkt.

Chiara: Und wir hatten ja eine Demonstration zum 9. März geplant. Aber uns kamen Zweifel, ob sich überhaupt genug Leute zusammenfinden, nachdem die Kommission den Streik für unzulässig erklärt hatte. Und nach dem Dekret entschieden wir, die Demo sein zu lassen. Zum einen, weil wir die Auflagen dieses Dekrets – etwa den Mindestabstand zwischen Personen – nicht einhalten könnten, zum anderen aber auch, weil wir uns in einer Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft sehen.

Vanessa: Deswegen gibt es, je nach Region, ein verkleinertes Programm. Im stark vom Virus betroffenen Norden wird es keine öffentlichen Veranstaltungen geben; im Süden kleinere, wie öffentliche Performance.

Chiara: Wichtig ist es aber auch, darüber zu sprechen, welche drastischen Auswirkungen die aktuelle Situation auf Frauen hat. Die Schulen sind geschlossen. Das heißt, dass sich jetzt eine Menge Frauen den ganzen Tag um ihre Kinder kümmern müssen. Sie können nicht zur Arbeit, was wiederum große Auswirkungen auf die ökonomische Situation all dieser Familien hat.

Tut der Staat etwas, um diese Probleme abzumildern?

Vanessa: Im Moment nicht, nein. Alles ist durcheinander, die Situation ist neu. Sie haben erst kürzlich die Dekrete zur Einschränkung der öffentlichen Veranstaltungen und zur Schließung der Schulen verabschiedet und fangen jetzt langsam an, die ökonomischen Auswirkungen zu diskutieren. Unterstützung könnte für größere Betriebe und Familien kommen, aber was wir schon jetzt sagen können ist, dass der Staat sicher nichts für die Gelegenheitsarbeiterinnen, Arbeiterinnen ohne Verträge, die Prekarisierten und so weiter tun wird – denn das hat er noch nie.

„Non una di meno“ hat auf drei Ebenen reagiert: Zuerst, indem wir unsere Verantwortung wahrgenommen haben und gesagt haben, okay, das ist kein Witz, sondern ein soziales und Gesundheitsproblem. Zum anderen haben wir eine öffentliche Debatte über die Doppelbelastung von Frauen und prekarisierten Arbeiterinnen in dieser Situation begonnen. Und zum Dritten überlegen wir, wie wir Frauen und andere Identitäten unterstützen können, die Unterstützung brauchen.

Eine letzte Idee, die wir noch nicht besprochen haben, die aber zirkuliert, ist die einer Kampagne für eine Verbesserung des öffentlichen Gesundheitssystems. Denn das System ist mangelfinanziert, es wird seit Jahren zusammengestrichen und gekürzt. Und das macht sich jetzt bemerkbar.

Ich würde aber sagen, dass das wichtigste ist, was wir insgesamt sagen können: Durch „non una di meno“ und die feministische Bewegung haben wir einen neuen Blick auf soziale und politische Krisen wie diese geöffnet. Diese transfeministische Perspektive ist in den vergangenen vier Jahren herausgebildet worden – und das ist eine wirkliche Errungenschaft.

Lasst uns hier gleich anknüpfen: Könnt ihr die wichtigsten Stationen dieser letzten vier Jahre kurz zusammenfassen? Wie seid ihr dahin gekommen, wo ihr heute steht?

Chiara: Schon vor „non una di meno“ gab es eine große Anzahl feministischer Kollektive im ganzen Land. Aber sie waren nicht miteinander verbunden. Vor vier Jahren dann begannen wir eine Debatte über männliche Gewalt gegen Frauen wegen der Morde und Feminizide. Im Mai 2016 wurde Sara Di Pietrantonio in Rom von ihrem Exfreund ermordet und angezündet. Da haben alle verschiedenen Teile des römischen Feminismus angefangen, sich gemeinsam zu treffen. Wir haben gesagt, okay, das ist eine Situation von großer Dringlichkeit und angefangen zu überlegen, auch andere landesweite Organisationen einzubeziehen. Zur selben Zeit haben wir natürlich auf Lateinamerika und all die Mobilisierungen von Frauen dort geschaut, bei denen es um das Recht auf Abtreibung und die Notlage durch Vergewaltigungen und Gewalt an Frauen ging.

Wir haben also für Oktober zu einer nationalen Versammlung aufgerufen, mit dem Plan, zum 25. November, dem Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen, zu einer Demonstration aufzurufen. Zu der Vollversammlung kam eine Menge an Frauen – eine Menge an Erfahrungen, Organisationen. Die meisten kamen aus nicht-parlamentarischen Kollektiven und Initiativen; aber es beteiligten sich auch das Netzwerk der Frauenschutzhäuser.

Vanessa: Letzteres stammt aus den feministischen Kämpfen der 1970er-Jahre. Genauso wie die Frauengesundheitskliniken, auch sie waren zunächst selbstorganisiert und wurden später institutionalisiert. Wir setzen uns also im Oktober 2016 aus diesen eher institutionalisierten Netzwerken und einer Masse an selbstorganisierten Initiativen zusammen.

Chiara: Und das bedeutete eine Stärke, denn wir haben Mitstreiterinnen aller Altersgruppen, von Schülerinnen bis Frauen, die schon in den 70ern gekämpft haben. Das ist manchmal schwierig, weil wir aus ganz unterschiedlichen politischen Traditionen kommen, aber es ist sehr interessant und wir bringen das alles auf einen Nenner. Und das Beste, was wir tun, ist, dass wir dabei ein neues Denken über Gewalt entwickeln. Da geht es nicht allein um dich und mich und einen Kampf gegeneinander, weil wir vielleicht zusammen sind und du Gewalt gegen mich ausübst, weil du ein Mann bist und ich eine Frau. Gewalt ist ein strukturelles Problem in unserer Gesellschaft und wir stehen ihr auf jeder Ebene unseres Lebens gegenüber. In den Beziehungen, im Gesundheitssystem, etwa wenn es um Abtreibungen geht, am Arbeitsplatz, bei der Bezahlung. Oder die Medien, die jedes Mal, wenn eine Frau ermordet wird, zum Problem machen, wie sie sich angezogen hat. Und diese Schuldumkehr setzt sich dann vom den Mainstreammedien bis in die Gerichtssäle und das Justizsystem fort.

Vanessa: Im Oktober 2016 hatte Italien die Renzi-Regierung und die führte ein Referendum zur Verfassungsreform durch. Italien sprach nur über das. Es gab kein anderes Thema. Es gab für unsere landesweite Demo keine Artikel, keine Fernsehzeit, nichts. Und dennoch war die Demonstration riesig. 80 000 Menschen kamen. Dann war klar, die nächste Station war der 8. März.

Und auch der erste Frauenstreik wurde ein Erfolg. 20 Städte nahmen Teil, aber leider verweigerte die größte Gewerkschaft, CGIL, jegliche Unterstützung.

Auch nicht die „linkeren“ Teile wie die Metallgewerkschaft FIOM?

Vanessa: Nein. Wir haben Gespräche mit ihnen geführt, aber ohne Ergebnis.

Chiara: Ich meine, wir wussten es ja schon zuvor, aber offenkundig stehen sie nicht im Dienst der Arbeiterinnen.

Vanessa: Also im ersten Jahr haben wir nicht erwartet, dass sie teilnehmen. Dann haben wir über die Jahre versucht, eine bessere Verbindung herzustellen. Die letzten beiden Jahre waren wir hoffnungsvoll, auch weil in Spanien eine solche Verbindung besteht, weshalb der Streik dort so stark ist. Oder in Argentinien, wo alle Gewerkschaften mitmachen. Aber leider hat es hier nicht geklappt. Und das obwohl wir ja jetzt z.B. letztes Jahr eine rechtsradikale Regierung hatten, gegen die es ihnen vielleicht hätte leichter fallen müssen zu streiken. Und auch, obwohl jetzt Landini von der FIOM Gesamtsekretär von CGIL ist. Mit dem haben wir an der Uni noch gemeinsam zusammengearbeitet. Also der linke Teil, aber dennoch …

Chiara: Und dennoch wuchs der Streik Jahr für Jahr. Was wir also sagen können ist: wir haben sicher keine glückliche Situation für Frauen oder Transgender-Menschen in Italien. Italien ist eine machistische Gesellschaft, katholisch, nur jede dritte Frau im Süden arbeitet. Frauen sind unterbezahlt, haben die Doppelbelastung, im Haus und im Betrieb. Und das Level von Belästigung ist immens. Ich meine, schon im Kleinen, in der Alltagsprache ist das immens, das kann ich dir gar nicht ins Englische übersetzen. Das Level an Machismus in unserer Gesellschaft können vielleicht nur Spanische und Lateinamerikanische Freundinnen nachvollziehen.

Aber dennoch sind wir in den vergangenen Jahren näher zusammengerückt. Und das ändert viel. Wenn ich jetzt im Bus bin und mich irgendein Typ anfasst, weiß ich, dass ich mich auf andere Frauen verlassen kann. Und das ist eine wirkliche Errungenschaft. Wir haben eine gemeinsame Identität geschaffen.

Vanessa: Ebenfalls noch hervorzuheben ist, dass wir ein Jahr lang alle zusammen das „Manifest gegen männliche Gewalt an Frauen“ erarbeitet haben, in dem wir die Idee struktureller Gewalt entwickeln: Gewalt in der Bildung und Ausbildung, Gewalt in der Sprache, Gewalt gegen den Körper, Gewalt im Rechtssystem und so weiter. Das war ein großer Schritt, um gemeinsame Gedanken zu entwickeln.

War es einfach, diesen Konsens zwischen so vielen Gruppen herzustellen?

Vanessa: Nein. Das war super schwierig.

Aber habt ihr es geschafft, ohne dass sich Teile der Bewegung rausgezogen haben, oder sind welche gegangen?

Vanessa: Naja, vielleicht ein paar Kollektive. Aber die überwiegende Mehrheit blieb. Klar, es gab einige sehr problematische Punkte, aber am Ende beteiligte sich die Mehrheit der Versammlung und jetzt hat jede das Gefühl, das ist unser Manifest.

Sprechen wir noch einmal kurz über den Streik. Welche Segmente der Klasse sind besonders aktiv, welche erreicht ihr weniger?

Vanessa: Die kleinen, radikalen Gewerkschaften haben sehr gut gearbeitet.

Chiara: Cobas und USB.

Vanessa: Schulen, also der Bildungssektor ist stark im Streik. Und Arbeiterinnen aus dem Gesundheits- und Pflegebereich. Interessant ist aber auch, dass wir jedes Jahr Hunderte Mails bekommen, in denen Frauen uns schreiben: Ich will am Streik teilnehmen, was kann ich tun? Die Gewerkschaft in meinem Betrieb sagt mir, ich kann nicht, weil sie nicht streiken. Und das ist einfach falsch. Wir haben da einen Ratgeber zusammengestellt, in Zusammenarbeit mit Anwältinnen.

Aber insgesamt müssen wir sagen, dass wir die Zahlen wie in Spanien nicht erreichen, aus dem vorher genannten Grund, dass die größten Gewerkschaften dieses Landes den Streik nicht unterstützen. Dennoch werden die Demonstrationen jedes Jahr am 8. März und zum 25. November größer und größer.

Zum Abschluss vielleicht: Wie war die Reaktion der männlichen Genossen? Und welche Rolle können sie spielen, um zu unterstützen?

Chiara: Vielleicht solltest du lieber unsere Genossen fragen. Weil manchmal reden wir an ihrer Stelle und ich weiß nicht, ob es das bringt. Aber wir können dir unsere Perspektive darstellen. In den Kollektiven, in denen wir beide aktiv sind, haben wir einen guten Austausch von Ideen miteinander. Und auch, wenn wir uns manchmal nicht alles erlauben, gibt es einen Prozess. Aber dasselbe kann ich nicht für andere Orte in Italien behaupten.

Vanessa: Zudem können wir sagen, dass die Demonstrationen von „Non una di meno“ generell offen sind für die Teilnahme von Männern. Sie müssen nicht ganz vorne sein oder im Mittelpunkt stehen, aber sie können teilnehmen. „Non una di meno“ ist keine reine Frauenangelegenheit, sondern offen für alle Identitäten.

Wenn wir über unsere Genossen reden, dann können wir schon sehen, dass sie über die Jahre anfangen, in Frage zu stellen, was männliche Privilegien sind. Aber es ist eine Debatte, die erst beginnt.

Chiara: Was wir vermitteln wollen ist: Da ist dieses riesige Problem von Gewalt gegen Frauen. Und wir sind die einzigen, die sich die Frage stellen, warum das so ist. Wir wollen, dass Männer auch mal anfangen, von ihrer Seite aus die Frage zu stellen.

#Titelbild: Dinamopress

# Interview: Peter Schaber

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Es ist 6 Uhr morgens am Montag, dem 2. März, dem Super-Montag. Wir stehen vor einem der vielen kolonialen und patriarchalen Denkmäler Santiagos. Am ersten Montag im März, dem Monat, in dem wir Chilenen hoffen, dass der soziale Protest reaktiviert und neu artikuliert wird, ist die Morgendämmerung feministisch.

Zu zweit helfen wir einer Genossin aufzusteigen, um am Hals des weißen Mannes, den die Statue darstellt, das feministische lila Halstuch zu befestigen. Eine andere klebt den neuen Namen und die neue Biographie an die Statue. Die Genossin klettert runter, wir machen ein Foto und gehen schnell zur nächsten Statue.

Mit der Aktion benannten wir Denkmälern um, ersetzten die alten Namen durch die von Frauen und Dissidentinnen. Frauen, die ein wichtiger Teil der chilenischen Geschichte sind und von ihr nicht gebührend anerkannt wurden. Frauen, die Opfer von Missbrauch und Femizid wurden, deren Geschichten unsichtbar gemacht wurden und die nie Gerechtigkeit erfahren haben.

Über 60 Denkmäler wurden von kleinen Gruppen von Frauen, die über die Stadt verstreut waren, in Angriff genommen. Auch die Statue von General Baquedano, auf dem berühmten Platz der Würde, die auf Bildern vom Aufstand immer wieder zu sehen ist, wurde angegangen.

Die Dynamik der Aktionen setzte sich die ganze Woch fort: Am Mittwoch erschienen mehrere Gebäude und Institutionen, wie unter anderen Universitäten, die Börse und die Kathedrale von Santiago, mit Etiketten, die denjenigen entsprechen, die laut Gesetz auf ungesunde chilenische Lebensmittel aufgeklebt werden müssen. In diesem Fall stand dort „Vorsicht: hoher Anteil an Patriarchat“. Am Donnerstag fand eine Installation statt, bei der an einem belebten Ort in Santiago Kittel mit Geschichten von Frauen aufgehängt wurden, die im öffentlichen Gesundheitssystem Chiles Gewalt bei der Geburt erlitten haben. Am Freitag fand vor den Demos am Wochenende eine offene Druckwerkstatt statt. Auch eine Aufführung von las tésis gegen Gewalt an Studenten gab es. Und das sind nur einige der vielen anderen Aktionen der vergangenen Woche.

Tatsache ist, dass wir chilenischen Feministinnen organisiert sind, und unser Ziel ist klar: Wir werden nie wieder zum Schweigen gebracht werden. Weil wir Geschichte geschrieben haben, werden wir jetzt gesehen.

Diese Geschichte der chilenische feministischen Bewegung ist zweifellos lang, dennoch leben wir einen historischen Moment. Im Mai 2018 fand in Chile die so genannte feministische Revolution statt. Es begann an den Universitäten mit der Forderung, die sexuelle Gewalt in den Universitäten zu beenden. Dies fand auch in anderen Bereichen der Gesellschaft Widerhall und machte deutlich, wie allgegenwärtig Gewalt gegen Frauen ist.

In einem Kontext der sozialen Revolte, die aus der Prekarisierung des Lebens als Folge des neoliberalen Systems resultiert, wird die strukturelle Gewalt gegen Frauen noch deutlicher sichtbar.

Am 8. und 9. März wird zu einem antirassistischen, transfeministischen, lesbisch-feministischen, dissidentischen, multinationalen, antikapitalistischen, antifaschistischen, gefängnisfeindlichen, generationenübergreifenden, migrantischen und internationalistischen Streik aufgerufen. Denn unsere Formen der Rebellion sind so vielfältig wie unsere Realitäten und Territorien.

Dieses Jahr ist wegen des historischen Augenblicks in Chile etwas Besonderes. Es ist eine Kontinuität der sozialen Revolte, und wir sind in allen Linien des Kampfes und des Widerstandes gegen den Staatsterrorismus präsent. Wir fordern, dass Piñera und die Politiker, die für die Kriegserklärung an das Volk und die systematische Verletzung der Menschenrechte verantwortlich sind, gehen.

Zu Beginn dieses Jahres fand am 10., 11. und 12. Januar in Santiago das zweite plurinationale Treffen derjenigen die kämpfen statt. Mehr als 20 Organisationen und mehr als 3000 Frauen und Dissidenten nahmen daran teil. Es war ein offenes Treffen, bei dem mehr als 50 Versammlungen abgehalten wurden, um verschiedene Themen im Zusammenhang mit dem feministischen Kampf zu diskutieren, die in 16 Achsen unterteilt waren:

1. patriarchale Gewalt
2. Nicht-sexistische / feministische Bildung
3. Arbeit und soziale Sicherheit
4. Recht auf die Stadt und Wohnung
5. Wasser, Territorien und Ernährungssouveränität
6. Kampf für Abtreibung, sexuelle und reproduktive Rechte
7. Feministische Erinnerung und Menschenrechte
8. Migration und Flucht
9. Antirassismus
10. Indigene Frauen im Widerstand
11. Dissens
12. Internet und feministische digitale Technologien
13. Kunst, Kultur und Erbe
14. Prekarisierung und strukturelle Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen
15. Gesundheit und buen vivir
16. Antiknastkämpfe

In diesen Versammlungen wurden Vorschläge gemacht und Forderungen aufgestellt, die auf die in jeder Achse diskutierten Bedürfnisse einzugehen versuchen. Dann wurde gemeinsam ein Programm des feministischen Kampfes für das Jahr 2020 ausgearbeitet und eine Diskussion über die Durchführung des Streiks am 8. und 9. März geführt, bei der dieses Programm vorgestellt wird.

Und so haben wir eine gemeinsame Stimme gefunden. Denn wir Frauen und auch der Rest des Landes haben uns gefunden und wir wollen uns nicht loslassen. Situationen wie diese, in denen wir eine solche Gemeinschaft, einen solchen Dialog und eine solche Organisation sehen, zeigen uns, dass Chile über die Instrumente verfügt, um seine Gesellschaft auf faire und integrative Weise zu organisieren.

Die Regierung versuchte, sich an die Bewegung dranzuhängen und ein Treffen mit feministischen Vertreterinnen abzuhalten, um die Sicherheitsmaßnahmen für die Demonstrationen vom 8. und 9. März zu besprechen. Die Feministinnen nahmen nicht teil. Weil sie nicht in einen Dialog mit einer Regierung eintreten, die die Menschenrechte systematisch verletzt.

Weil wir Geschichte geschrieben haben, werden wir jetzt gesehen.

# Titelbild: Daniela Zárate, @dezetag

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Zum internationalen Frauenkampftag am 8. März, besuchen wir einen für den Befreiungskampf der Frauen in Syrien zentralen Ort: das Frauenzentrum „Mala Jin“, wörtlich das Haus der Frauen, in Qamişlo. Dies ist das erste Frauenzentrum, von denen es heute 72 in ganz Syrien gibt. Wir sprachen mit der Gründerin des Projektes, Ilham Umer, die auch die Leiterin aller Frauenzentren im nordsyrischen Kanton Cizîrê ist, und ihrer Kollegin Hanifa Muhammad, die im Dada Jinê, der Frauenkommission an den Gerichten, arbeitet.

Angesichts der Schwierigkeiten, mit denen viele Frauen im täglichen Leben konfrontiert sind, und den vielen Fälle von häuslicher Gewalt gründete Umer 2011 das Projekt der „Malên Jinê“, der Häuser der Frauen mit dem Ziel, einen Ort zu schaffen, an denen Frauen sich von Frauen beraten lassen und rechtlichen Beistand bekommen können. Die Probleme, mit denen sich Frauen an Ilham Umer und ihre Kolleginnen wenden, betreffen häufig Themen wie physische und psychische Gewalt, Unterdrückung, Verweigerung des Zugangs zu Bildung oder Gesundheit, oder Probleme innerhalb der Ehe oder mit Familienangehörigen. Zunächst wird versucht, durch Mediation eine Lösung zu finden. Wenn dies nicht möglich ist oder es sich um schwere Rechtsverletzungen handelt, wird der Fall an vor ein Gericht gebracht. Bei Androhung von Gewalt oder Mord werden Asayişa Jin (weibliche Sicherheitskräfte) hinzugezogen.

Ilham Umer, erzählen Sie uns wie alles angefangen hat!

Ilham Umer: Das erste Mala Jin haben wir 2011 in Qamislo eröffnet. Es folgten weitere Mala Jin in den Regionen Jazira, Efrîn und Kobanê. Heute gibt es 72 Frauenzenten in ganz Syrien. Unser Ziel ist es, allen Frauen zu helfen, unabhängig davon, ob sie kurdischer, arabischer, assyrischer oder jezidischer Abstammung sind. Auf dieser Grundlage eröffneten wir die Häuser nach und nach in den vom IS befreiten Regionen: Raqqa, Tabqa, Deir ez-Zor, Manbiç. Diese Arbeit begann noch bevor 2014 die „Frauengesetze“ (Gesetze, die die Rechte der Frau festhalten, Anm. d. Aut.) herauskamen und unserer Arbeit eine rechtliche Grundlage boten.

Wie läuft eine Beratung im Mala Jin ab?

Ilham Umer: Wir hören uns als erstes die Geschichte der Frauen an und welche Art von Unterstützung sie sich von uns wünschen. Oft handelt es sich um Probleme innerhalb der Ehe, dann sprechen wir mit ihren Ehemännern oder weiteren Familienangehörigen. Wir versuchen gemeinsam eine Lösung für das Problem zu finden. Oft gelingt uns das mit Gesprächen. Wenn wir auf diesem Weg keine Lösung finden können oder wenn es sich um einen Gesetzesverstoß handelt, müssen wir den Fall vor das Gericht bringen. Unter diesen Umständen wird Dada Jinê, die Frauenkommission an den Gerichten, hinzugezogen.

Hanifa Muhammad, Sie arbeiten in der Frauenkommission an den Gerichten. Wie sieht Ihre Arbeit dort aus?

Hanifa Muhammad: Wenn ein Fall vor Gericht behandelt wird, der in Zusammenhang mit den Frauengesetzen steht, wird die Frauenkommission hinzugezogen. Wir haben verschiedene Aufgaben: einerseits die Koordination der Prozesse am Gericht und die Mediation zwischen den verschiedenen Einrichtungen wie den Malên Jinê, den Asais und dem Gericht. Andererseits beobachten und dokumentieren wir den Gerichtsprozess, um die Einhaltung der Frauengesetze sicherzustellen. Einmal im Monat kommen wir zusammen und schreiben einen Report. Dieser wird dann dem Ministerium für Frauenjustiz und Kongra Star (Vereinigung von Frauenorganisationen in Rojava, Anm. d. Aut.) vorgelegt.

Wie reagieren Männer auf Ihre Arbeit?

Ilham Umer: Anfangs gab es Mißtrauen und sogar Anfeindungen von Männern, die sich durch unsere Arbeit bedroht gefühlt haben. Mittlerweile kommen sogar viele Männer zu uns, um sich beraten zu lassen. Viele Männer ziehen es vor, ihre Probleme in den Malên Jinê zu lösen, anstatt vor Gericht zu gehen.

Gibt es Unterschiede in den Problemen, mit denen Frauen aus unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen zu Ihnen kommen?

Hanifa Muhammad: Häufig spielt es keine Rolle, zu welcher Bevölkerungsgruppe die Frauen gehören, ihre Probleme sind sich sehr ähnlich. Generell haben arabische Frauen mehr mit dem Druck von Familien- und Stammestraditionen zu kämpfen. Ein anderes Beispiel ist die Scheidung. Scheidung ist legal in Syrien und wir sezten uns für Scheidungen ein, wenn sie von beiden Parteien gewünscht wird. Anders als bei Muslimen muss bei Christen das Kirchenoberhaupt die Einwilligung zur Scheidung geben, was selten der Fall ist, auch wenn sie von beiden gewünscht wird.

Wie hat sich die Situation für Frauen seit Beginn der Revolution verändert?

Ilham Umer: Es gab viele positive Entwicklungen. Dabei muss bedacht werden, dass sich das Land permament im Krieg befindet, erst gegen das syrische Regime, dann gegen den IS, nun gegen das türkische Militär und seine dschihadistischen Milizen. Dabei wurden das ganze Land und die gesamte Gesellschaft zerstört. Wir haben alles selbst wieder aufgebaut: unsere ökonomische, militärische, politische Existenz und ganz besonders die Situation der Frauen. Frauen können nun frei leben, sie kennen ihre Rechte, haben Zugang zu Bildung und organisieren sich. Freie Frauen, die gemeinsam kämpfen und für ihre Rechte einstehen sind starke Frauen. Und die Gesellschaft braucht starke Frauen, um Widerstand gegen die türkische Invasion und gegen das syrische Regime zu leisten. Mit den Malên Jinê und den Frauenkommissionen an den Gerichten haben wir es geschafft, gegen Unterdrückung und Gewalt an Frauen vorzugehen und die Schuldigen dafür zur Rechenschaft zu ziehen. Es gab viele positive Entwicklungen, aber es ist auch noch viel zu tun, besonders an Orten wie Serekanye und Afrin.

Was ist Ihre Botschaft an Frauen in Europa und Deutschland?

Ilham Umer: Wir Frauen in Rojava haben viel durch unsere Kämpfe erreicht. Wir haben uns organisiert, stehen für unsere Rechte ein und treten in der Öffentlichkeit auf. Aber wir möchten, dass die Frauen in Europa und überall auf der Welt wissen, dass der Krieg hier weitergeht und unsere Kämpfe andauern. Wir sind erschöpft, wir wollen Frieden, aber wir kämpfen weiter. Und wir brauchen eure Unterstützung. Wir hoffen, dass alle Frauen, nicht nur in Syrien, sondern auf der ganzen Welt, sich gegenseitig unterstützen und Mut machen!

Und noch eine Botschaft zum 8. März. An diesem Tag feiern wir die Frauen auf der ganzen Welt. Aber meiner Meinung nach sollten Frauen an jedem Tag wie am 8. März gefeiert werden. Denn jeden Tag kämpfen wir für unsere Rechte und Gerechtigkeit. An allen Fronten kämpfen wir diesen Kampf. Und der Kampf, den wir in den Malên Jinê und in den Gerichten kämpfen ist genauso wichtig, wie die Kämpfe unserer Hevals (Kameradinnen, Anm. d. Aut.) an der Front.

Haben Sie einen Vorschlag, was konkret Frauen in Deutschland tun können?

Ilham Umer: Nutzt die Medien, zeigt der Bevölkerung und der Regierung, was hier in Rojava passiert und was die Türkei und dschidadistische Milizen uns antun! Geht zu euren Parlamenten und Regierungen und fordert Sanktionen gegen die Türkei!

Hanifa Muhammad: Wir Frauen aus Rojava können nicht in eure Länder kommen, aber ihr könnt zu uns kommen und ihr könnt die unsere Realität miterleben und weitererzählen. Die meisten Menschen wissen nur das, was die Massenmedien über den Krieg in Syrien berichten. Aber wir möchten, dass die Menschen in aller Welt auch über unsere Gesellschaft erfahren, über unsere Familien mit ihrem Schmerz und den Toten durch türkische Luftangriffe, die wir jeden Tag begraben. Ihr Frauen aus aller Welt könnt unsere Stimme sein.

Was ist ihr Wunsch für die Frauen in Rojava?

Ilham Umer: Mein Wunsch für die Frauen in Rojava und in ganz Syrien, ist dass wir unseren gemeinsamen Kampf für Gleichberechtigung fortführen und uns von Unterdrückung und Schwierigkeiten befreien können. Ich wünsche uns, dass wir nicht mehr kämpfen müssen. Ich wünsche uns Frieden.

#Titelbild: Das Haus der Frau in Qamislo

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Am 14.02. fand in Berlin eine Demo unter dem Aufruf „My Body is not your Porn – Rache am Patriarchat“ statt. Bis zu 2.000 Menschen gingen dafür auf die Straße.

Die Idee war es, auf die Straße zu gehen, „um gegen die patriarchalen Zustände zu demonstrieren, die sexualisierte Gewalt möglich machen.“ Das war zumindest der Aufruf dem wir als Frauen unserer Gruppe folgten. Was wir damit verbunden haben, war an die traditionellen feministischen Aktionen im Sinne von „take back the night“ anzuknüpfen. Diese Aktionen dienten in den letzten Jahrzehnten immer wieder dazu, sich die Straße/ die Nacht symbolisch zurück zu nehmen. Kern dieser Aktionsformen ist, das Thema (sexualisierte) Gewalt an Frauen zu enttabuisieren und sich selbst zu ermächtigen, in dem kollektiv gehandelt wird.

Der konkrete Anlass der Demo ist, dass – wie Anfang des Jahres öffentlich wurde – auf den Festivals Fusion und MonisRache Frauen mittels versteckter Kameras in Toiletten/Duschen gefilmt wurden. Die Videos wurden anschließend auf Porno-Plattformen hochgeladen, getauscht und zum Verkauf angeboten. Betroffen scheinen potentiell alle Besucherinnen dieser Festivals zu sein. Während das Fusion Festival direkt nach bekannt werden an die Öffentlichkeit ging, war die Aufarbeitung vom Organisationsteam von MonisRache eine Katastrophe. Es selbst sagt, sie seien zunächst überfordert gewesen einen Umgang mit der Situation zu finden. Sie wollten das Problem mit dem Ansatz der „transformative justice“ aufarbeiten, um nicht mit Polizei oder Strafbehörden zusammen zu arbeiten. Der Ansatz dient nicht nur zu Täterarbeit, sondern orientiert sich vor allem an der Betroffenenperspektive. Blöd nur, dass mit den Betroffenen niemand auch nur ein Wort gewechselt hat, während man sich mit dem Täter auseinandersetzte. Daher vernetzten sich die Betroffenen selbst über eine Chatgruppe, die in kürzester Zeit mehr als 1.000 Mitglieder zählte. Ziel war die Erfahrung kollektiv aufzuarbeiten und sich gegenseitig zu supporten. Dem folgten Treffen in Berlin und Leipzig, die u.a. diese Demo zum Ergebnis hatten.

Im Vorfeld der Demo waren nur einzelne Stimmen in der Presse zu lesen, die vor allem an den Staat appellierten und mehr Repression forderten. Kaum sichtbar wurde dabei, dass im Betroffenenkreis selbst formuliert wurde, dass es wichtig ist „das Thema sexualisierte Gewalt zum Politikum zu machen.“ Daher wollen wir in diesem Beitrag dazu Position ergreifen. Diese Vorfälle haben vor allem sichtbar gemacht, dass Gewalt an Frauen verschiedene Dimensionen hat und allgegenwärtig ist.

Allem voran wollen wir klar stellen, dass jede Betroffene selbst darüber entscheidet, ob sie Strafanzeige stellt oder nicht. Es ist ein erster Schritt des Umgangs, über individuelle Erfahrungen und Handlungsmöglichkeiten zu sprechen. Ein zweiter Schritt eine Sichtbarkeit zu schaffen. Es bleibt aber notwendig – um das Thema ernsthaft anzugehen – den eigenen Mikrokosmos zu verlassen und zu schauen, wie das was erlebt wurde mit der Gesellschaft zu tun hat, in der wir leben. Nur so können wir Strategien entwickeln, die über Forderungen an den Staat hinaus gehen.

Jeden Tag erleben Frauen1 Gewalt. Jede dritte Frau in Deutschland hat mindestens einmal in ihrem Leben körperliche oder sexuelle Gewalt erlebt. Laut Bundeskriminalamt wird in Deutschland jeden Tag eine Frau Opfer eines Mordes oder Mordversuchs durch ihren Partner oder Expartner. Im letzten Jahr waren 114.393 Frauen von Gewalt durch einen Partner betroffen und 122 Frauen wurden von diesen getötet. Und das sind nur die offiziellen Zahlen; wie viele Fälle im Verborgenen bleiben, bleibt offen. Erst letzte Woche Montag wurde abends eine wohnungslose Frau tot in ihrem Schlafsack in Mitte gefunden. Ein Feminizid, ein Frauenmord, ein Ausdruck patriarchaler Gewalt. Und obwohl dieser Fall in der Lokalpresse war, gab es bis auf eine Ausnahme keine Bezugnahme in den Redebeiträgen der Demo vom 14.02. dazu. Gewalt gegen Frauen scheint nur dann ein Thema zu sein, wenn sie in der eigenen sozio-kulturellen Blase stattfindet.

Das Problem liegt aber tiefer. Denn ein Politikum wird Gewalt gegen Frauen aber auch sonst kaum. Gewalt gegen Frauen ist ein Familien- oder Beziehungsdrama, Ehrenmord und so weiter. Unterm Strich also als privates Problem oder, noch schlimmer, selber schuld weil den Falschen ausgesucht. Diese Einordnung ist die Kontinuität patriarchaler, kapitalistischer Strukturen in Form von Kontrolle und Dominanz von Männern über Frauen. Wie häufig rechtfertigen Täter ihre Handlungen mit plötzlichen Kontrollverlust – über sich selbst oder die Situation? Jedes Mal, wenn eine Frau vergewaltigt, geschlagen oder getötet wird, zeigt, dass Millionen von überlebenden Frauen: Es könnte dich treffen. So erfolgt Disziplinierung des Körpers, des Begehrens und des Verhaltens dieser.

Das sind die Zustände hier und heute – während sich allenthalben „Geschlechtergerechtigkeit“ auf die Fahnen geschrieben wird. Wie häufig ist zu hören, es sei übertrieben von Feminiziden zu sprechen? Es sei fernab der Realität zu glauben, in Deutschland würde ein Mensch auf Grund seines Geschlechtes Angriffe erleben oder ermordet werden. Und wenn es dann doch zum Thema wird, dann ist es ein Phänomen das entweder mit der fremden rückständigen Kultur der Migranten oder durchgeknallten Einzeltätern in Verbindung gebracht wird. Wie man beim frauenfeindlichen Attentäter von Halle 2019 sehen konnte, der willkürlich eine Frau ermorderte – weil sie eine Frau war.

Kein Angriff steht für sich allein. Wenn wir das verstehen, können wir kollektiv gegen die Verhältnisse vorgehen und uns von den patriarchalen Strukturen befreien. Generationen von Frauen haben gegen die Unterdrückung der Frau gekämpft. Viele Rechte, die heute selbstverständlich scheinen, sind das Ergebnis revolutionärer Kämpfe in Zeiten der sozialen und politischen Radikalisierung. Wenn jetzt Forderungen an einen patriarchalen Staat formuliert werden, der uns unterdrückt, ist das einzige was wir damit erreichen den Schein von Demokratie und Geschlechtergerechtigkeit aufrecht zu erhalten. Gesellschaftliche Veränderungen werden dadurch nicht erreicht.

Das zeigt sich auch im Umgang mit dem Thema Gewalt an Frauen in den öffentlichen Diskussionen. Nach der berühmten Silvesternacht in Köln wurde das Thema Gewalt an Frauen vor allem dazu benutzt den Sicherheitsdiskurs und eine Verschärfung der Migrationskontrolle zu befeuern. Die rassistische Hetze trug maßgeblich zur Verunmöglichungeiner Auseinandersetzung mit der Erfahrung der Betroffenen bei. Die himmelschreiende Untätigkeit der Polizei nach Ritas Verschwinden und ihrer Ermordung hat noch ein Mal deutlich gemacht, was es für einen Unterschied macht, wer du bist und welche Hautfarbe du hast. Marias Ermordung hat gezeigt, dass die Polizei ihren Finger am Trigger hat und nicht unser Freund und Helfer ist. Warum beziehen wir uns in den Parolen auf Kapitalismus und Patriarchat, beschränken uns dann aber in der konkreten Auseinandersetzung auf ein Rufen an den Staat?

Dass es anders geht, zeigt sich beim Blick in andere Länder. Wir möchten kurz vor dem 8.März an den militanten feministischer Streik in Spanien erinnern, der viele von uns 2018 bewegte. Mehr als fünf Millionen Demonstrantinnen folgten dem Aufruf zum feministischen 24h Streik für „eine Gesellschaft ohne sexistische Unterdrückung, Ausbeutung und Gewalt […], für Rebellion und den Kampf gegen jenes Bündnis von Patriarchat und Kapitalismus, das uns gehorsam, fügsam und still sehen will“.Und auch die während des Kontexts der Aufstände in Chile vom Kollektiv „Las Tesis“ entwickelte Performance „Ein Vergewaltiger auf deinem Weg“, die auch während der Demo gemacht wurde, macht klar, dass Feminizide, Gewalt gegen Frauen, staatliche Gewalt und kapitalistische Ausbeutung nicht getrennt betrachtet werden können.

Um gegen dieses System zu kämpfen, brauchen wir Solidarität und die Gewissheit, dass keine mit ihrer Unterdrückung allein ist. International zeigen uns Frauen wie das aussehen kann. Die Demo vom Freitag war ein erster Schritt, es muss aber noch viel mehr passieren, damit wirklich klar ist, dass jede Form von Gewalt gegen Frauen uns alle betrifft. Dann können wir anfangen uns am Patriarchat zu rächen und eine andere Gesellschaft aufbauen.

#Titelbild: Transpi auf der Demo am 14.02., privat
#Text: Selma von Sabot 44

1 Wir haben uns in diesem Artikel dafür entschieden von Frauen und nicht von Lesben/Inter/Non-binary/Trans zu schreiben. Wir wollen die Menschen nicht unsichtbar machen, glauben aber, dass es nicht förderlich ist die Identitäten mit zu benennen ohne eine wirkliche Auseinandersetzung mit den realen Erfahrungen zu haben. Das bloße Mitnennen erweckt den Eindruck, dies sei anders. Das wollen wir nicht mittragen, denn so würden wir unsichtbar machen, dass es eine Auseinandersetzung damit braucht.

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Das deutsche Kleinbürgertum ist über Kritik an Menschenverachtung genervt und unwillig, die eigene Verantwortung kritisch zu reflektieren. So auch Patricia Hecht, Autorin der taz. Dem moralischen Appell “Sexkauf nicht in die Illegalität drängen“ betitelt sie ihren Artikel vom 1. Januar 2020 und kaut in lähmender Schwere durch, was die Prostitutionslobby rund um den „Berufsverband sexueller und erotischer Dienstleistungen e.V.“ (BesD) der Öffentlichkeit seit Jahren zum Fressen vorwirft. In ihrem Artikel werden Vertreterinnen der politischen Forderung des Sexkaufverbots zititiert, in die gegenüberliegende Ecke des Rings stellt Hecht “die anderen”, darunter „Verbände von Sexarbeiter*innen, die Prostitution als eine selbstgewählte Arbeit wie andere auch werten“. Damit sind die Torpfosten der Debatte gesetzt und während sie selbst bedauert, dass Zwischentöne in der aufgeregten Debatte fehlen würden, sind diese auch nicht in ihrem Artikel zu finden. So wird der BesD unkritisch als „Verband von Sexarbeiter*innen“ beschrieben. Unerwähnt bleibt, dass auch Betreiberinnen von Prostitutionsstätten stimmberechtigtes Mitglied und Freier und Zuhälter Fördermitglieder werden. Für Hecht scheint es auch nicht nennenswert, dass der BesD in Freierforen beworben wird, dort auch selbst zur Unterstützung aufruft, der Verein eng mit den Profiteur*innen der Branche kooperiert und dass die Pressesprecherin des BesD auch bei einem großen Onlinesexportal angestellt ist. Erst kürzlich bezeichnete Salome Balthus den BesD als “Hurengewerkschaft”.

Das alles nicht zu hinterfragen, nicht einmal kritisch zu prüfen, sorgt für eine eingeschränkte Sicht auf Prostitution in Deutschland. Und so wirkt auch der Text, als sei er aus Fragmenten der Publikationen der Prostitutionslobby zusammengesetzt und um bereits genehmigte Zitate von Vertreterinnen des Sexkaufsverbots ergänzt. Der Clou aber: Hecht verschiebt die Verantwortung für die patriarchal tradierte Stigmatisierung weiblichen Begehrens in die Prostitutionskritik. Denn nach Hechts Gedankenmodell, löse nicht der Sexkauf das Stigma aus, sondern die Kritik daran. Ergo: Wer Ausbeutung kritisiert, besorgt den Opfern das Stigma und hinter dem Stigma verschwindet die Tat.

Linksliberale wie Hecht fühlen sich dabei denen näher, die jauchzend-fröhlich in die eigene Ausbeutung laufen, als jenen, die sich ausbeuten lassen müssen, um überleben zu können. Ihr soziales Engagement heißt in diesem Fall, ohne Gewissensbisse armen Frauen zu raten, sich doch freiwillig gegen Geld ficken zu lassen, um nicht verhungern zu müssen. Mit dieser Lösung sind alle froh: Der Mann hat Spaß, der Staat spart Sozialausgaben und kassiert Steuern, die Frau hat Sex und was zu essen. Was will eine Frau denn mehr? Prostitution als „Sexarbeit“ verharmlost, besorgt dann die Idee der Nützlichkeit, denn nur wer „arbeitet“ schafft was und darf auch essen. So wird aus der Prostitution ein „Beruf wie jeder andere“ und die politische Linke bekommt noch ihre Ohnmacht im Diskurs vorgeworfen, denn gegen die Lohnarbeit rebelliert ja auch niemand (mehr).

Für Hecht selbst kommt Prostitution nicht in Frage, denn sie verdient mit Prostitutionslobbyismus für die taz Geld. Das Thema Prostitution erarbeitet sie sich theoretisch. Der “Sex” in der Prostitution gilt Hecht dabei als “einvernehmlich” und für andere Argumente fehlen ihr leider, leider die Zahlen. Die notwendige Entrichtung einer materiellen Entschädigung für einen Teil der Abmachung gilt dabei nicht als Sachzwang, sondern als ein Akt besonderer Großzügigkeit der Freier. In einem Staat, in dem Menschen ohne deutschen Pass mindestens einen Ausbeutungsplatz brauchen, um überleben zu können, wird das Zahlen von Entschädigungen für das Aushalten sexueller Gewalt zur milden Geste erklärt. Als wären ein brutales Abschieberegime, Rassismus, Sexismus und die Härten des Arbeitsmarkts noch nicht Elend genug, mündet das alles als Geschlechterverhältnis veranschaulicht in der Prostitution. Kapitalismus besorgt weißen Männern das Geld und nichtweißen Frauen die Not, um am freien Markt ihr letztes Hemd samt Slip anzubieten und sogar Käufer für die Nutzbarmachung des Körpers darunter zu finden. Weiße Frauen erteilen dazu auch noch in linksliberalen Medien Absolution zum Handel mit dem Sex, Ablass wird an den Fiskus gezahlt und alle fühlen sich wohl dabei, denn diese armen Geschöpfe brauchen doch was zu beißen.

Frauen, die sich prostituieren wollen, gelten im Lobbyslang als „selbstbestimmte Sexarbeiterinnen“. Sie organisieren sich in „Hurengewerkschaften“, werden in Talkshows eingeladen und predigen, dass Prostitution ein „Beruf wie jeder andere sei“, das „älteste Gewerbe der Welt“ und das ihnen nach Uhr getakteter Sex richtig viel Spaß macht. Diese selbstbestimmten Sexarbeiterinnen sind meist weiß, sprechen deutsch, drücken sich gebildet aus und sie vertreten angeblich die Interessen aller Prostituierten.

Dass es da noch andere Wirklichkeiten gibt, das wissen wir alle. Aber diese Frauen, die nicht so glücklich als Prostituierte sind, sprechen nicht selbst. Zwangs- und Armutsprostituierte werden zwar erwähnt und bedauert, aber Gewalt sei ja sowieso schon strafbar. Man spricht nicht mit ihnen, sondern über sie. Was diese verstummten Frauen bewegt, wie sie leben, warum sie was machen und was sie eigentlich wollen, findet in den Talkshows nicht statt. Das Bild, das sie vermitteln könnten, schillert nicht. Ein Sexkaufverbot schade dann aber wieder allen und muss darum abgelehnt werden, spricht die Highclass-Escort-Lady aus den Medien, denn es schaffe demnach nur weitere, viel dramatischere Probleme als eben jene, die andere jetzt schon haben. Dann aber für alle Prostituierten. Von noch mehr Gewalt ist die Rede, die Prostituierte in der Illegalität zu ertragen hätten und sich nun nicht mehr wehren können. Mit dem Sexkaufverbot verblieben im Pool der ansonsten supernetten Freier plötzlich lediglich schwer Kriminelle und brutale Triebtäter, weil sich die zahlbereiten Womanizer nun weigern, eine Ordnungswidrigkeit zu begehen. So lauten die aufrüttelnden Appelle der Lobbyvereine.

Mir bleibt nur das Kopfschütteln: Ein Blick in Freierforen genügt, um zu erfahren, wie brutal und massenhaft Prostitution täglich ohne Sexkaufverbot stattfindet: Es werden Vergewaltigungen geschildert, brutale Übergriffe, ekelhafte Beleidigungen. Das alles ist nicht legal. Nur ganz wenige Prostituierte sind krankenversichert, zahlen Sozialabgaben. Offen wird Verkehr ohne Kondom praktiziert und offen kommuniziert, trotz geltender Kondompflicht. Der Großteil der Prostitution findet bereits jetzt in der Illegalität statt. Gewalt ist Alltag, Prostituierte wehren sich höchstselten. Das alles, Elend und Gewalt, verschwindet hinter der Hochglanzprostitution, die crossmedial als Recht aus Selbstbestimmung verkauft wird.

Auch in Hechts Text wird deutlich, dass ihr jedes Wissen um die Wirklichkeit in der Prostitution fehlt. Aber auch, aus welch elitärer Position sie selbst auf die Prostituierten herabblickt. Sie vergleicht das Elend in der erzwungenen Prostitution mit der siebten Nachtschicht einer Putzfrau. Warum vergleicht sie nicht das Elend einer Armutsprostituierten mit den „Belastungen” eines schwerreichen Puffbesitzers? Warum vergleicht sie das Leben und Arbeiten einer Prostituierten nicht mit ihrem Alltag? Jede Frau ist in einer Gesellschaft, in der Prostitution als “eine Option besser als keine” gilt, eine potenzielle Prostituierte. Jede Frau ist von Armut und Gewalt bedroht. Warum vergleicht und identifiziert sich also eine Journalistin nicht mit den Betroffenen von Armut und Gewalt und dem System Prostitution sondern nimmt sogar Partei ein für die Profiteure der Branche?

Die Vergleiche wählt sie, um sich von den Ausgebeuteten besser distanzieren zu können. Denn weder die Prostituierte, noch die Putzfrau, noch die Pflegekraft oder der Bauarbeiter haben etwas mit Hechts Lebenswirklichkeit zu tun. Prostitution bleibt für jene als Option im täglichen Überlebenskampf vorbehalten, denen “andere Möglichkeiten zum Beispiel aus sprachlichen Gründen oder wegen fehlender Bildungsabschlüsse nicht zur Verfügung stehen”. Patricia Hecht gehört nicht zu den Ausgegrenzten. Patricia ist weiß und deutsch und sie schreibt seit 2012 für die taz. Patricia kann einvernehmlich, ohne Entschädigungen eintreiben zu müssen, und mit wem sie will ficken. Patricia reflektiert ihre Privilegiertheit nicht. Dafür legt sie in ihrem Artikel dar, wie Linksliberale über Armut und Elend denken.

Menschen in die Prostitution zu zwingen, ist strafbar. Frauen zu ermutigen, freiwillig „Sexarbeit“ zu leisten, gilt Linksliberalen als „feministisch“ und „empowernd“ und als ein (vor allem Frauen) zumutbarer Weg aus der Armut. Die Möglichkeit, mit dem zeitweisen Verzicht auf Grundrechte, den selbstbestimmte Prostituierte notwendigerweise vollziehen müssen, Geld zu verdienen, rechtfertigt die Entwürdigung aller Frauen nicht. Es rechtfertigt auch nicht, von Prostitution als “Sexarbeit” zu sprechen. Prostitution ist auch keine „Dienstleistung“, sondern der personalisierte Handel mit Sexualität. Jedem Versuch der Normalisierung des Handelns mit sexueller Ausbeutung muss vehement widersprochen werden. Dem Wesen der Prostitution entspricht, dass der eine Part den anderen für das Aushalten entschädigen muss. Der Profit, der aus der Kommerzialisierung des Aushaltens zu erzielen ist, rechtfertigt auch nicht, diejenigen Frauen im Stich zu lassen, die keine anderen Optionen als ihre Verprostituierung haben, um in Deutschland zu überleben. Der Profit, der aus dem freiwilligen, überlebensnotwendigen oder mit Gewalt erzwungenem Verzicht auf Menschenrechte zu erzielen ist, rechtfertigt überhaupt nichts!
(Auch keine Gefälligkeitsartikel in der taz.)

Ich habe massenhaft Bücher gelesen, Diskurse durchgeackert, aktiven Prostituierten, Lobbyvertreterinnen, Freiern, Dominas und Bordelbetreibern zugehört. So wie es in jeder Debatte zur Prostitution von prostitutionskritischen Stimmen erwartet wird. Und ich habe Überlebenden zugehört, Aussteigerinnen, die täglich um ihren Lebensunterhalt kämpfen, weil sie sich nicht mehr prostituieren werden und aus allem eine Meinung gebildet. Ich streite, schreibe und kämpfe als Linke, als Feministin, als Frau, für ein Sexkaufverbot. Mir ist bewußt, was das bedeutet. Auch die linken Gegenargumente sind mir bekannt. Meine Forderung ist ein politischer Appell an einen Staat, dessen Verfasstheit von Ausgrenzung, Ausbeutung und Gewalt bestimmt ist, sich für die Rechte von Frauen einzusetzen und diese gegen männliche Kontrolle und Verfügungsgewalt zu schützen. Ein solcher Appell ist Anklage und Ausdruck meiner Hilflosigkeit, denn selbst die politische Linke scheint sich nicht im Klaren darüber zu sein, wie sie sich zum System Prostitution äußern soll und sich zu verhalten hat. In diesem Sinne ist meine Forderung nach einem Sexkaufverbot auch eine Aufforderung an euch, entgegen der ideologischen Zumutungen der Lobbyvereine, Prostitution wieder als Ausdruck der sozialen Not von Frauen zu betrachten. Wer eine solche Notlage ausnutzt, um sich Triebbefriedigung zu kaufen, ist weder Wohltäter noch Gönner, sondern ein Dreckschwein.

Emily Williams

# Titelbild: Bordellszene aus dem 15. Jahrhundert, wikimedia.commons

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Vor gut einem halben Jahr, es war die Nacht zum 8. März, zogen wir durch die menschenleeren Straßen im Wedding, um uns zur Feier des Tages einen Teil des öffentlichen Raums anzueignen. Wir sind eine Gruppe organisierter Frauen aus dem Wedding, die anlässlich des Frauenstreiks verschiedene Aktionen in ihrem Kiez durchgeführt haben. Eine davon die Umbenennung von Straßennamen.

Es gibt knapp 10.000 Straßen in Berlin. 90 % der nach Personen benannten Straßen tragen männliche Namen. In anderen Städten sieht das Verhältnis genauso aus. Keiner dieser Namen ist zufällig gewählt, die Straßenbenennung ist eine Würdigung und ein unübersehbares Gedenken an diese Person. Gedacht wird allerdings fast ausschließlich Männern, darunter auch so besondere Schätze wie Axel Holst, ein SS-Sturmführer oder Adolf Lüderitz, ein Kolonialherr. Gleichzeitig werden Frauen in der Geschichte und im öffentlichen Raum systematisch unsichtbar gemacht, obwohl es zahlreiche tatsächlich verdienstvolle Frauen gibt.

Anlässlich des Frauenstreiks in Berlin haben wir mehrere Straßen, die jeweils einen Mann würdigen, umbenannt. Wahlweise in Elise-Hampel-Straße, Stephanie-Hüllenhagen-Weg oder auch Luise-Kraushaar-Allee. Sie alle waren NS-Widerstandskämpferinnen, die zum Teil auch im Wedding gelebt haben. An jedes Straßenschild befestigten wir außerdem einen Steckbrief zur Person und der Erklärung, warum diese Straße nun einen Frauennamen trägt. Die Müllerstraße, die so etwas wie die Hauptstraße im Wedding ist, benannten wir außerdem in „Müllerinnenstraße“ um.

Mit der einsetzenden Morgendämmerung fielen wir zufrieden in unsere Betten. Die Aktion war geglückt. Das böse Erwachen kam dann einige Monate später in Form eines Großflächenplakats, prominent platziert auf dem Mittelstreifen der Müllerstraße. Auf ca. 2×3 Metern war da ein Foto der von uns umbenannten „Müllerinnenstraße“ zu sehen. Unsere Kritik war plötzlich Teil einer Kampagne der StandortGemeinschaft Müllerstraße e.V., gefördert vom Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat sowie der Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen. Kannste dir nicht ausdenken.

Nun ist es sicherlich kein neues Phänomen, dass Systemkritik verwertbar und warenförmig gemacht wird. Auffällig ist aber, dass man sich derzeit besonders gern mit feministischen Attitüden schmückt. Sexismuskritik sells. Da werden im Sweathsop produzierte Shirts mit frechen feministischen Sprüchen verkauft, einer der bekanntesten Hersteller für Rasierer ruft zur „Selflove-Challenge“ auf, weil Frauen sich doch so mögen sollen wie sie sind (nur bitte ohne Haare unter den Achseln!) und „Problemkieze“ bekommen mit gegenderten Straßenschildern ein hippes Image, um sie attraktiver für Investor*innen zu machen. Feminismus wird zur erfolgreichen Marketingstrategie.

Im Wedding taucht das Plakat außerdem zu einem Zeitpunkt auf, an dem der Gentrifizierungsprozess so richtig an Fahrt gewinnt. Das internationale „Time Out Magazine“ erklärte jüngst den Wedding zum „viertcoolsten“ Stadtviertel der Welt und beschreibt den Kiez wie folgt: „This neighbourhood in north-west Berlin feels warm and inviting, with street markets and sprawling public parks frequented by young families and long-time residents alike. Striking Weimar-era architecture contrasts with the harsh lines of former factories – a hangover from Wedding’s history as a working-class district in West Berlin“. Dazu ein Titelbild, das ausschließlich weiße, adrett gekleidete Menschen zeigt, die gemütlich im Nordhafenpark sitzen. Man könnte lachen, wenn es nicht so traurig wäre.

Vor ein paar Tagen hat dann noch das Projekt Mietenwatch seine Studie veröffentlicht, bei der 80.000 Wohnungsangebote in 477 Kiezen in Berlin ausgewertet wurden. Das Ergebnis? Es gibt kaum noch bezahlbaren Wohnraum. Bezahlbar bzw. als „leistbar“ gelten Wohnungen, deren Gesamtmiete 30 % des Netto-Haushaltseinkommens nicht übersteigt. Für Haushalte mit niedrigem Einkommen sind Mieten aber bereits in dieser Höhe mit erheblichen Lebensqualitätseinschränkungen verbunden. Und damit hat Berlin gleich noch einen weiteren Weltlistenplatz belegt: Laut des „Global Residential Cities Index“ sind die Immobilienpreise in Berlin zwischen 2016 und 2017 um 20,5 Prozent gestiegen. Damit liegt die Stadt beim Preisansteig von Immobilien weltweit auf Platz eins. Glückwunsch.

Die Studie von Mietenwatch zeigt außerdem, dass der Verdrängungsdruck im Wedding am höchsten ist. Ob Humboldthain, Reinickendorfer Straße, Leopoldplatz oder Soldiner Straße – für Vermieter*innen ist es hier besonders lukrativ Altmieter*innen loszuwerden und die Wohnung danach teurer weiterzuvermieten. Ja, der Wedding kommt. Was lange Zeit ein Running Gag war, scheint nun bittere Realität zu werden. Die meisten von uns haben das bereits am eigenen Leib zu spüren bekommen und nervenzehrende Auseinandersetzungen mit der eigenen Hausverwaltung hinter sich oder stecken mitten drin.

Doch auch wenn all diese Dinge eine enormes Frustrationspotential bieten, wir werden weder die kapitalistische Ausschlachtung feministischer Kämpfe noch die Verdrängung aus unseren Kiezen akzeptieren. Gemeinsam kämpfen wir gegen den Ausverkauf der Stadt und unserer Kieze. Ob in Berlin oder anderswo: Der Aufbau von Gegenmacht hat gerade erst begonnen.

# Die Autorin Ella Papaver lebt in Berlin-Wedding und ist organisiert in der Kiezkommune Wedding.





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Vom 5. Oktober bis zum 15. November findet in Berlin der erste Antikoloniale Monat statt. Unter dem Motto „Widerstand ist Leben“ werden am 12. Oktober um 15 Uhr am Hermannplatz, der Tag an dem 1492 die brutale europäische Kolonisierung auf dem amerikanischen Kontinenten begann, viele zu einer großen Antikolonialen Demo zusammenkommen. Der 15. November markiert den Beginn der Berliner Kongo Konferenz im Jahr 1884, bei der von europäischen Kolonialmächten der afrikanische Kontinent aufgeteilt wurde.

Kämpfe im Globalem Süden sollen im Antikolonialen Monat mit den Widerständen gegen Grenzregime und Rassismus von migrantischen Gemeinschaften im Globalen Norden verbunden werden. Der Antikoloniale Monat bietet einen Rahmen für eine Vielzahl von Veranstaltungen, die von politischen Diskussionen über Tanzworkshops, musikalische Jam-Sessions bis zu Theateraufführungen reichen. Während des Antikolonialen Forums am vergangenem Samstag und Sonntag fanden dazu im Kreuzberger linksalternativem Projekt New Yorck Bethanien vier Podiumsdiskussionen, drei Workshops, eine Party und zahlreiche Gespräche am Rande statt.

Beim Podium zu Rassismus und Anti-Rassismus am Samstagmorgen wurde sich mit den materiellen Grundlagen und konkreten Folgen von drei Schlüsselformen von Rassismen in Deutschland auseinandergesetzt: anti-muslimischer, anti-Schwarzer und anti-jüdischer Rassismus. Dabei wurde mehrfach betont wie wichtig es ist, als rassistisch markierte Minderheiten in Deutschland, sich nicht voneinander trennen zu lassen und Perspektiven gemeinsamer Kämpfe zu fokussieren.

Bei dem Parallelpodium zur Verteidigung des Landes und der Umwelt erzählte Abel, Mitglied der Nationalen Indigenen Organisation Kolumbiens, über die Verteidigung des Territoriums im Norden der Cauca Region. Abel, der noch diese Woche zurück nach Kolumbien reist, erwartet eine harte Zukunft: „Ich weiß, dass ich sterben werde. Ich habe gesagt, was gesagt werden muss. Das ist die Realität von unserem Land und ich bin nur ein kleiner Teil davon“. Indigene und Schwarze Aktivist*innen werden in Kolumbien am laufendem Band unter der rechten Regierung Iván Duques ermordet, ohne irgendwelche Konsequenzen. Ferhat, von YXK, Dachverband der Studierenden aus Kurdistan in Europa, sprach über die Kontrolle des Wassers als Machtmittel in der Türkei um den Widerstand in Kurdistan zu zerschlagen. Bischof Ablon von der unabhängigen Philipponischen Kirche erläuterte, wie der Kampf der Lumad um ihr Territorium mit ökologischen Fragen zusammenhängt.

Der Workshop zu Imperialismus, Patriarchat und Natur behandelte im Zuge der aktuellen ökologischen Krise, wie beispielsweise im Hinblick auf die kriminell gelegten Waldbrände im brasilianischen Amazonasgebiet, das Verhältnis zwischen Kapitalismus, Imperialismus und Extraaktivismus zu verstehen ist. Erfrischend waren die klaren Imperialismusanalysen, sowie die Zentralität feministischer Kämpfe für ökologische Fragen, die in der Deutschen Debatte um die Klimakatastrophe wenn überhaupt nur am Rande behandelt werden.

Bei der abendlichen Diskussion zu Antikolonialen und anti-patriarchale Kämpfen kamen fünf Aktivistinnen aus Brasilien, Kaschmir, Kurdistan, Palästina und dem Sudan zusammen. Die politischen und wirtschaftlichen Interessen von Deutschland in den jeweiligen Regionen wurden genauso betrachtet, wie die Frage der politischen Zusammenarbeit. „Der Genozid an der Schwarzen und an der indigenen Bevölkerung findet jetzt in der Aktualität statt. Es ist die Kontinuität der Kolonie“ so die brasilianische Aktivistin Sandra Bello von QuilomboAllee. Auch Salma Ashraf erklärte, dass die Unterdrückung in Kaschmir nicht neu sei, sondern seit Jahrhunderten andauert – dass aber auch der Widerstand der Bevölkerung mindestens genauso alt ist. „Wenn Israel Gaza bombardiert, dann fragt es nicht ob sich da eine Frau oder eine LGBT Person in dem Gebäude aufhält. Palästinensische Frauen und LGBT sind genauso von den Bomben Israel betroffen wie alle anderen“ so Fidaa Zaanin, Aktivistin aus Gaza. Deswegen ist „Palästina eine feministische Angelegenheit“, so die Aktivistin. Die zeitgleiche Podiumsdiskussion zur Wirtschaftsordnung des gegenwärtigen Imperialismus behandelte die Beziehungen zwischen Imperialismus und Kolonialismus in den Philippinen, in Argentinien und in Deutschland.

Am Sonntag Vormittag drängten über 80 Menschen zum Internationalismus Workshop. Hier wurde die Solidarität mit der palästinensischen Befreiungsbewegungen in Deutschland verhandelt. In vier Kleingruppen wurden sehr offen die Grundlagen der Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen Kampagne, wie dessen internationalistische und intersektionale Ausrichtung, sowie Kritiken von links diskutiert. Es wurde klargestellt, dass die gängige Gleichsetzung von Anti-Zionismus mit Antisemitismus eine der größten Probleme für eine ernsthafte Debatte zu Palästina/Israel darstellen. Kritiken von links richteten sich an die individuelle Konsumkritik in der BDS oft mündet, sowie daran, dass sich BDS oft liberaler Argumente („Gewaltfreiheit“) berufe, auch wenn in Palästina eine koloniale Situation mit gewaltvoller kolonialer Unterdrückung herrsche. Linke, antikoloniale Palästina-Solidarität zeigt sich in verschiedensten Formen. Zum Beispiel drückt sie sich in Kämpfen palästinensischer Frauen, Queers und/oder Arbeiterinnen und Arbeiter, auch gegen die eigene herrschende Klasse in Palästina, aus.

Den Abschluss des zweitägigen Forums bildete eine offene Abschlussversammlung, die über weitere Zusammenarbeit und Vernetzung antikolonialer Kräfte in Berlin, Deutschland und weltweit sprach. Konkret soll eine Kampagne gegen die Deutsche Beteiligung an den Strukturanpassungsprogrammen des Internationalen Währungsfonds ins Leben gerufen werden, welche abhängige Staaten dazu zwingt, radikale Kürzungspolitiken durchzuführen, die zum Beispiel subventionierte Lebensmittel, aber auch das Mindesmaß an Krankenversicherung etc. angreifen – genau diese Politiken bringen aktuell Hunderttausende von Ecuador, über Haiti und Irak auf die Straßen.

Deutlich wurde, dass Gemeinschaften des Globalen Südens, sowie der europäischen Peripherie, unterschiedlichste Geschichten von Kolonialisierung, Versklavung und Genozid teilen. Gerade weil in linken politischen Diskussionen in Deutschland migrantische Kämpfe und antikoloniale Perspektiven vernachlässigt werden, ist der Antikoloniale Monat auch eine kritische Intervention in eine doch recht homogene linke Landschaft, die selten die Lebens- und Kampfrealitäten migrantischer und diasporischer Menschen in Deutschland zentriert.

# Eleonora Roldán Mendívil und Chandrika Yogarajah

# Titelbild: Daniela Carvajal, Instagram @aves_azules, Workshop im Bethanien

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In Palästina stehen Frauen* gegen patriarchale Gewalt und Besatzung auf; tausende nehmen an den Demonstrationen teil – konsequent ignoriert von westlicher Berichterstattung. Haydar Kizilbas und Alia Ka haben sich für lower class magazine mit Fidaa Zaanin, einer Palästinensischen Aktivistin aus Gaza, die seit einigen jahren in Deutschland lebt, getroffen, um über die Tal3at Bewegung der Palästinensischen Frauen zu sprechen. Fidaa forscht zu Feminismus und Genderstudies und ist in der palästinensischen Community in Berlin aktiv

Am 26. September gab es in Berlin eine Kundgebung in Solidarität mit der und als Teil der Tal3at Bewegung. Was waren die Anliegen der Protestierenden?

Wir haben den Aufruf für Tal3at gesehen, was übersetzt so etwas bedeutet wie „Wir gehen auf die Straße“. Mit Wir sind Frauen* gemeint. Palästinensische Frauen* überall auf der Welt, egal wo sie sind, haben sich entschieden, auf den Aufruf zu reagieren und auf die Straße zu gehen.

„Tal3at“ bedeutet auf die Straße zu gehen, um gegen Gewalt zu protestieren, alle Formen von Gewalt, egal, welches System hinter dieser Gewalt steckt. Der Aufruf kam in den Wochen nach der Ermordung von Israa Ghrayeb. Sie war ein junges palästinensisches Mädchen, das in Beit Shaour, im Westjordanland von ihrer Familie umgebracht wurde. Wir haben nicht viele Details zu diesem Fall, aber es ist kein Einzelfall. Solche Dinge passieren in Palästina. Es gibt Statistiken, die besagen, dass 38 Frauen* in 2018 ermordet wurden. Und immer noch wird über viele Ermordungen überhaupt nicht berichtet, oder andere Todesursachen werden angegeben. Deswegen hat Tal3at Frauen* dazu aufgerufen auf die Straße zu gehen, um die Gewalt gegen Frauen* anzuprangern, und um klarzumachen, dass es keine Befreiung für das palästinensische Volk gibt, ohne die Befreiung der Frauen* in Palästina. Man kann das Thema der Frauen*befreiung nicht auf später verschieben, nachdem die Befreiung des palästinensischen Volkes erreicht wurde.

Es ist ja auch nicht das erste Mal, dass palästinensische Frauen* Teil der politischen Bewegung sind und eine führende Rolle einnehmen. Kannst du uns einen kurzen historischen Überblick über die Rolle der Frauen* in der palästinensischen Widerstandsbewegung geben?

Ja, klar. Es ist nichts neues, dass palästinensische Frauen* in politische Kämpfe involviert sind. Sogar schon unter dem britischen Mandat in den 1930er-Jahren haben Frauen* angefangen, ihre eigenen Gemeinschaften zu gründen, hauptsächlich um anderen Frauen* in sozialen Fragen zu helfen. Aber schlussendlich haben sie dann auch politische Arbeit gemacht, weil soziale Fragen eben politisch sind. Auch das Persönliche ist schlussendlich politisch. Nachdem Palästina von den Zionist*innen kolonialisiert wurde, waren Frauen* natürlich in der ersten Intifada aktiv. Sogar sehr stark. Sie haben Flugblätter geschrieben, ausgeteilt und echte politische Arbeit gemacht.

Später waren sie auch Teil von politischen Organiserungsstrukturen. Sie wurden eingesperrt. Sie waren eben nicht nur die Frauen* von palästinensischen Männern. Sie waren nicht nur die Ehefrauen der Gefangenen. Sie selbst, palästinensische Frauen*, haben politische Arbeit unter dem Kolonialismus gemacht. Aber danach, mit der zweiten Intifada und der Form, die der Widerstand angenommen hat, wurde die Rolle, die Frauen* eingenommen haben, immer kleiner. Grade nach dem Oslo-Abkommen, durch die Mengen an Geld, das nach Palästina floss und dadurch, wie der Widerstand NGO-isiert wurde, wurden auch ihre politischen Kämpfe vereinnahmt.

Die Probleme der palästinensischen Frauen* wurden so aus dem Kontext genommen. Sie reden über Armut, aber niemand redet über die Ursachen von Armut unter dem Kolonialismus. Sie sprechen über Kinderehen, aber nicht darüber was die Ursachen sind, wo die Wurzeln des Problems liegen. Sie sprechen über diese Themen ungeachtet der politischen und ökonomischen Aspekte oder der Gesetze, die die Israelis den Palästinenser*innen aufzwingen. Also wir sehen, es ist nicht das erste Mal, dass Frauen* auf die Straße gehen und politische Arbeit machen.

Ich habe einige der Slogans der Tal3at Bewegung gesehen: „Es gibt keine nationale Befreiung ohne die Befreiung der Frau“. Dieser Slogan wird ja auch von anderen z.B der kurdischen Befreiungsbewegungen, im Mittleren Osten ähnlich formuliert…

Es ist auch wichtig zu sagen, dass sehr oft Frauen* sogar in politischen Räumen ausgeschlossen und von ihren eigenen Genossen marginalisiert wurden. Ich habe das Gefühl, dass Frauen* immer alternative Ideen und Strategien für die Befreiung Palästinas hatten. Aber die Männer haben gesagt: „Nein, es muss auf unsere Art und Weise getan werden, nicht auf die, die ihr euch vorstellt. Weil wir Prioritäten haben“.

Und genau das ist es, was Tal3at in Frage stellt, in dem gesagt wird: nein, wir sind hier, um umzudefinieren, was es bedeutet, gegen Kolonialismus zu kämpfen und wie wir uns eine befreite Gesellschaft vorstellen, in der alle Menschen gleich sind, in einem befreiten Palästina. Also was die Frauen* sagen ist: „Nein, ihr könnt uns nicht ausschließen, ihr könnt nicht so weitermachen, wie ihr es die letzten 70 Jahre getan habt“. Wir sagen nein, wir werden es auf unsere Art machen, und nicht auf die Art, auf die ihr, die Männer, es haben wollt.

Ist diese Bewegung eine spontane oder stehen längere Organisierungsprozesse dahinter? Und was sind die Perspektiven für diese Bewegung?

Es ist eine ganz spontane Bewegung. Wie ich gesagt hatte, wurde sie ausgelöst durch die Ermordung von Israa Ghrayeb. Viele Frauen* innerhalb der 1948er-Gebiete haben sich aufgelehnt und haben gesagt: Nein, wir werden jeden Tag umgebracht und wir sollten nicht mehr schweigen und zum Schweigen gebracht werden. Und wir sollten nicht nur darüber sprechen, wenn Israelis uns umbringen, weil wir auch an diesen für uns angeblich „sichersten“ Orten umgebracht werden, in unserem Zuhause, dort wo die meisten Morde passieren, durch Mitglieder der eignen Familie.

Der sicherste Ort für Frauen*, das Zuhause, wird zum Tatort. Es gibt einen Anstieg der Morde an Frauen*, der sogenannten Ehrenmorde, in Palästina besonders innerhalb der 1948er-Gebiete. Und es spricht Bände, dass die Mordrate innerhalb der Gebiete, die von Israelis kontrolliert werden, höher sind als im Westjordanland und in Gaza. Es kommt auch im Westjordanland und Gaza vor, aber nicht so oft wie an Orten wie Haifa, Jaffa, Umm al-Fahm und anderen Städten innerhalb der 1948 besetzten Gebiete. Die Tal3at Proteste haben ja auch in Haifa angefangen. Und wir haben auf deren Aufruf geantwortet, in Berlin, Gaza, Beirut und in den Geflüchtetenlagern. Frauen* waren überall. Und das ist auch was Tal3at einzigartig macht. Sie haben es sich nicht nur zum Ziel gemacht, nur das Patriarchat zu zerstören, sondern die Bewegung stellt auch die Grenzen in Frage, die die Kolonialisten uns aufgezwungen haben. Es macht deutlich, dass wir eine Einheit sind, egal wo wir sind, im historischen Palästina oder sogar in den Geflüchtetenlagern und in Europa.

In Deutschland wird über die Proteste geschwiegen. Gleichzeitig ist es ja oft so, dass wenn es um die Palästinensische Sache geht, der Großteil der sogenannten Linken auf die Frauen* zeigt und sagt, dass die palästinensische Freiheitsbewegung Frauen* unterdrückt und, dass wir eine generelle Befreiung brauchen und alle Formen von Unterdrückung betrachten müssen. Aber jetzt gerade schweigen eben diese Leute darüber, dass palästinensische Frauen* kollektiv zu diesen Protesten aufgerufen haben. Warum eigentlich?

Natürlich, als ich zu dem Protest am 26. September vor dem Rathaus Neukölln gegangen bin, ist mir aufgefallen, dass keine deutsche Presse da war. Und normalerweise sind sie immer da, wenn es etwas über Palästina gibt. Und plötzlich, wenn wir gegen diese Sache protestieren, ist niemand da und es gibt keine Solidarität der feministischen Bewegung oder von den sogenannten Feminist*innen hier in Deutschland.

Ich frage mich, warum die nicht gekommen sind. Wenn man ihnen nichts Böses unterstellen möchte, könnte man sagen, dass sie vielleicht einfach nichts davon wussten. Aber ich denke, es hatte auch etwas mit den Slogans zu tun. Weil die Frauen* gesagt haben: „Althowra did al thakaria w’al isti3maar“, also „Revolution gegen das Patriarchat und den Kolonialismus“. So haben die deutschen Feminist*innen vielleicht verstanden, dass die Proteste sich nicht nur gegen palästinensische braune Männer richten, sondern, dass sie auch gegen Zionismus sind. Und das ist der Konflikt hier in Deutschland. Man kann das zionistische Regime für sie so nicht kritisieren und man darf auch nicht darüber reden.

Ich bin mir nicht sicher, ob die Leute hier die Proteste verfolgt haben. Weil Tal3at online gesagt hat, dass sie aufgefordert wurden auf zionistische Feminist*innen zuzugehen. Die wollten bei den Protesten mitmachen, um gegen Gewalt an palästinensischen Frauen* zu protestieren. Tal3at hat dazu nein gesagt, sie sagten: nicht dieses Mal. Wir stellen uns gegen die Hegemonie, die Israelis versuchen auf unseren Diskurs auszuüben, weil dieser politischer Raum uns gehört. Tal3at geht für eine befreite Gemeinschaft auf die Straße, in der jede*r dieselben Rechte hat, in einem befreiten Palästina. Sie gehen nicht auf die Straße, um gleiche Rechte oder keine Diskriminierung in einem kolonialen Staat einzufordern. Das ist nicht der Zweck, weil sie gleiche Rechte für alle Palästinenser*innen fordern. Deswegen passt es vielleicht einfach nicht in die Kriterien der Deutschen hier. Nach dem Motto: „Wie könnt ihr es wagen Israel zu kritisieren und nicht nur eure palästinensischen brauen Männer?“ Und deswegen glaube ich auch, dass sie das nicht in den Medien ausschlachten können.

Als palästinensische Frau, die nach Deutschland gekommen ist, wurde ich oft gefragt wie das Leben von Frauen* in Gaza ist. Ich antworte immer: „Du meinst von palästinensischen Frauen* in Gaza, die nicht nur das Patriarchat bekämpfen, sondern auch unter einer Blockade, unter israelischer Besatzung leben müssen?“ Aber wenn ich sagen würde: „Okay, mein Leben in Gaza ist die Hölle, ich bin eine queere Person, die verfolgt wird…“ Das könnte sehr einfach in den deutschen Medien ausgeschlachtet und gegen mich und meine eignen Leute verwendet werden. Weil es ihnen nicht um mich geht. Es geht ihnen darum, wie sie mich für ihre Zwecke benutzen können. Und ich glaube, das ist das Problem.

Die ganze Sache mit über Palästina in Deutschland reden… Es geht auch nicht nur um diese Proteste. Wenn sie es nicht im Sinne der Besatzung benutzen können, dann berichten sie natürlich nicht darüber, sie sprechen nicht darüber. Es ist ein anderer Diskurs. Ich kann mich erinnern wie sie über den Frauen*streik in Tel Aviv berichtet haben: „Es ist so cool, es ist so bunt… Palästinensische Frauen* gehen zusammen mit israelischen Siedlerinnen* auf die Straße… Das ist so gut und wir lieben das, das ist, wie wir es gerne hätten“. Aber das ist nicht richtig. Sie haben über den Streik berichtet und haben mir viele Fragen zu dem Streik gestellt. Ich habe darauf geantwortet, dass ich aus Gaza komme und mir deswegen nicht erlaubt wird, in das besetzte Tel Aviv zu gehen. Ich würde niemals zu einer Demonstration gehen auf der israelische Soldatinnen* stehen, nur weil sie Frauen* sind. Einfach eine Frau* zu sein ist für mich keine Gemeinsamkeit, es ist eine politische Frage. Ich könnte mit so einer Frau* den ganzen Tag demonstrieren und am nächsten Tag kann sie an einem Checkpoint eine Waffe an meinen Kopf halten. Das sind aber nicht die Worte, die diese Leute hören wollen.

Was wären deiner Meinung nach die Pflichten von internationalistischen Revolutionär*innen und auch linken Bewegungen hier in Deutschland, um eure Kämpfe zu unterstützen?

Ich würde sagen Solidarität. Transnationale feministische Solidarität mit Palästina, im Kontext des Lebens unter dem Siedlerkolonialismus. Die Leute sollten unsere Sache weitertragen. Informationen weiterzugeben, kann ein revolutionärer Akt sein. Damit Leute von den Protesten hören, durch palästinensische Stimmen. Das ist das Wichtigste, dass sie palästinensische Frauen* sprechen hören. Es ist gut, dass ihr wir ein Interview zusammen führen. Das ist ein Akt der Solidarität. Wir können ihn nach Palästina schicken und die Frauen*, die sich dort organisieren werden wissen, dass es Leute in Deutschland gibt, die daran interessiert sind, über Tal3at zu erfahren. Und, dass ihr dem Diskurs darüber, wie nationale Befreiung aussehen sollte, zustimmt. Und es ist wichtig zu sagen, dass Palästina nicht befreit werden kann, so lange Frauen* nicht befreit sind. Auch in unseren Räumen hier in Deutschland, Großbritannien und überall. Als Internationalist*innen dürfen wir nicht zulassen, dass dieses Thema auf später verschoben wird. Auf Arabisch sagen wir: „Du kannst kein freies Palästina auf den Gebeinen von toten palästinensischen Frauen aufbauen“. Wir werden das nicht zulassen. Das ist nicht wonach wir streben. Es geht darum den Diskurs von Tal3at und den Frauen*, die auf der Straße protestieren aufzugreifen. Wir fordern Solidarität.

#Bildquelle: wikimedia commons

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Einige Beobachtungen von Ramsis Kilani, Narges Nassimi, Eleonora Roldán Mendívil und Aida Vafajoo

Vom 12. bis zum 15. September 2019 fand das „Feminist Futures Festival“ auf dem Gelände des ehemaligen Steinkohlebergwerks Zeche Zollverein in Essen statt. Im Herzen des Ruhrgebiets ereignete sich bei spätsommerlichen Temperaturen mit rund 1500 Feminist*innen die bislang größte feministische Zusammenkunft in Deutschland. Organisiert wurde das Festival von der Rosa Luxemburg-Stiftung, dem „Konzeptwerk Neue Ökonomie“ und dem Netzwerk „Care Revolution“. Neben diesen drei Hauptorganisator*innen waren an der Durchführung des Festivals aber auch zahlreiche weitere Initiativen beteiligt.

Leider waren die meisten Workshops überfüllt, so dass man oft nicht teilnehmen konnte und die organisierten Podiumsdiskussionen ließen wenig Raum für Diskussionen. Wir hätten uns hier mehr Möglichkeiten für die Interaktion mit und aus dem Publikum gewünscht. Trotzdem ergaben sich spannende Gespräche am Rande.

Zeche Zollverein und die Kämpfe der Migration

Da Veranstaltungen, die sich feministischen oder frauenpolitischen Anliegen widmen, häufig in Berlin oder Hamburg stattfinden, war es besonders sinnvoll, dass durch das Festival auch für NRW-ansässige Feminist*innen die Möglichkeit für politische Diskussionen, auch mit internationalen Aktivist*innen, geschaffen wurde. In Gesprächen wurde jedoch deutlich, dass kaum jemandem bewusst war, wie bedeutsam das Gelände, auf dem das Festival stattfand, für die Region, die Arbeiterbewegung und die Geschichte der Einwanderung in Deutschland tatsächlich ist.

Gerade, dass darüber nicht gesprochen wurde, war für uns befremdlich. Denn wenn vom Ruhrpott mit seinen Zechen als historische Hochburg deutscher Industrie die Rede ist, dann sind nicht nur weiße, deutsche Arbeiter*innen Teil dieser Geschichte, sondern auch jene migrantischen Arbeiter*innen, die mit ihrer Arbeitskraft ab den 1960er Jahren maßgeblich zum Wiederaufbau der deutschen Wirtschaft beigetragen und auch eigene, bedeutende Arbeitskämpfe geführt haben.

Als berühmtestes Beispiel gilt der von migrantischen Arbeiter*innen getragene „Wilde Streik“ 1973 bei Ford in Köln, bei dem die Arbeiter*innen für gleichen Lohn und gleichen Umgang wie ihre deutschen Kolleg*innen kämpften. Er wurde, unterstützt von der Gewerkschaftsbürokratie gewaltsam von der Polizei angegriffen und aufgelöst[1]. Im gleichen Jahr legten migrantische Arbeiterinnen beim Automobilzulieferer Pierburg in Neuss ihre Arbeit nieder, um die Kategorie der „Leichtlohngruppe“, welche Frauen weniger verdienen ließ als Männer, anzufechten[2]. Diese Streiks waren Ausdruck davon, dass sich migrantische Arbeiter*innen nicht mehr wie Menschen zweiter Klasse behandelt lassen wollten. Auch Arbeiter in der Zeche Zollverein organisierten sich und brachten ihre Forderungen für eine gleichberechtigte Behandlung und ein Ende der Polarisierung der Arbeitsbedingungen und Löhne zwischen „deutschen“ und „ausländischen“ Arbeitern hervor. Dies ist in der Dauerausstellung im Museum Zollverein nachzulesen. Schade, dass dieser Teil der deutschen – auch feministischen – Geschichte, gerade angesichts der Aktualität der Migrationsfrage sowie Arbeitsniederlegungen mit einem hohen Anteil migrantischer Streikender[3] (außer einer kurzen Nennung in einem Workshop, in dem es um das Ruhrgebiet und die Probleme der Menschen vor Ort ging) beim Festival ausgelassen wurde.

Liberaler Feminismus

Was wollten die Feminist*innen, die sich im Rahmen des Feminist Futures Festivals zusammengeschlossen haben, erreichen? Eine solch große Veranstaltung mit der Teilnahme von unterschiedlichen politischen Spektren in Deutschland zu organisieren, ist ein wichtiger Versuch. Unser Eindruck ist jedoch, dass das Festival in seiner thematisch-inhaltlichen Ausrichtung, sowie personellen Besetzung eingeschränkt war. Der Grund dafür war, dass es insgesamt von weißen Akademiker*innen mit wenig oder gar keinem Bezug zu Fragen von Klasse, Armut und Rassismus dominiert wurde. Diese Ansicht teilten verschiedene, vor allem migrantische, nicht-weiße und ausländische Aktivist*innen[4]. An der geringen Partizipation und Repräsentation von Arbeiter*innen als Referent*innen war erkennbar, dass zwar über uns, unsere Mütter, Cousinen und Tanten gesprochen wird, aber selten mit uns.

Die tendenzielle Trennung der Frauenkämpfe von Klassenfragen und Rassismus wurde auch in der Praxis deutlich. Wenn beispielsweise Arbeiter*innen als Arbeiter*innen referiert haben (was nur in einem Panel zu migrantischer Hausarbeit vorkam), waren diese nicht aus Deutschland. Sie kannten sich dementsprechend nicht mit den Tücken der DGB-Gewerkschaften und ihrer Führungen aus und konnten keine Kritik an ihnen oder ihrer Bürokratie formulieren. Dabei gibt es hier konkrete Ansprechpartner*innen: Die Kämpfe der migrantischen Arbeiter*innen gegen die neoliberale Prekarisierung an der Alice-Salomon-Hochschule oder am Wombat’s Hostel in Berlin sind emblematische Beispiele[4]. Auch migrantischen Aktivist*innen, vor allem aus dem globalen Süden, lagen viele Steine im Weg, die ihnen eine gleichberechtigte Teilhabe an Diskussionen erschwerten. Es wurde für asylsuchende und migrantische Frauen in Deutschland keine Dolmetschung in für sie wichtigen Sprachen wie Arabisch, Türkisch, Farsi, Dari, Kurdisch oder Französisch organisiert. Der Aufruf, dies solidarisch selbst zu organisieren, mündete häufig darin, dass migrantische Teilnehmende selbst unter deutschen Feminist*innen so häufig gesprochene Sprachkombinationen wie Deutsch-Englisch-Spanisch dolmetschen mussten und somit selbst eingeschränkt waren, an einer politischen Diskussion teilzunehmen. Weiße deutsche Freiwillige zum Dolmetschen meldeten sich selten.

Die Frage, wer die Frauen und Queers eigentlich sind, über die konkret gesprochen wurde, war ein Randthema des Festivals. Gehören Ausbeutende – CEO’s, Kapitalist*innen – und ihre Handlanger*innen – Frauen und Queers bei Polizei und Armee – dazu? Diese Nicht-Benennung etabliert eine Romantisierungeiner „Schwesternschaft“. Das und die Homogenisierung von Frauen und Queers führen dazu, dass Unterdrückungsmechanismen und die unterschiedlichen Formen von notwendigen Trennungen entlang von Klassenlinien unsichtbar gemacht werden.

Rassismus im Feminismus

Unserer Erfahrung nach, schrecken linke und/oder feministische Organisationen in Deutschland meist davor zurück, offen über Rassismus, und besonders antimuslimischen Rassismus, zu sprechen. Zwar wird gerne behauptet, man sei antirassistisch, doch werden in jenen linken, feministischen Räumen so oft Rassismen reproduziert oder kleingeredet, dass nicht-weiße Personen eben dort, wo sie sich sicher fühlen sollten, kaum Gehör finden. Ein solcher eurozentrischer Feminismus mündet somit immer in einer rassistischen Praxis. Themen, die sich (neo-)kolonialen Strukturen und deren realen Konsequenzen im heutigen Kontext widmen, wie beispielsweise die Besatzungspolitik Israels, oder den verstärkten feministischen Rufen nach Hijab-Verboten (Terre des Femmes und andere) werden in linken feministischen Räumen als „kontrovers“ abgestempelt und gemieden. Wir haben diese Scheinargumente nun seit vielen Jahren gehört und wir sind es Leid, Themen die unser Leben als Migrant*innen in Deutschland zentral betreffen, wie einen Nebenwiderspruch behandelt zu sehen. Ein Feminismus, der den Anspruch hat, gesellschaftliche Strukturen zu hinterfragen, kann Rassismus und breitere Systemkritik nicht weiter ignorieren. Aus genau diesem Grund haben wir in unterschiedlichen Konstellationen unter anderem Workshops zu migrantisch-feministischer Organisierung und zu Rassismus in feministischen Strukturen in Deutschland eingereicht, um gemeinsam Wege des Zusammenarbeitens zu erörtern und feministische Räume in Deutschland zumindest für diese ersten selbstkritischen Schritte zu öffnen. Unser Ziel war es, endlich miteinander ins Gespräch zu kommen und auch andere nicht-weiße Personen zu motivieren, feministische Räume als ihre eigenen Räume zu erkennen und zu nutzen.

Die oben genannten Workshops wurden nicht angenommen. In zwei Workshops wurden jedoch ähnlich klingende Themen angeschnitten. Bei dem Workshop „Frauen*, Asyl und Solidarität“ versuchten die Teamenden von Women in Exile and Friends eine Diskussion darüber auszulösen, was wir brauchen, um feministische Räume, vor allem für Frauen und Queers mit Fluchterfahrung, weniger barrierevoll zu gestalten. Dadurch, dass der Fokus nicht explizit auf Rassismus gelegt wurde, was im Rahmen der Frage von der Teilnahme und des Protagonismus von Frauen und Queers mit Fluchterfahrung innerhalb feministischer Kämpfe eines der zentralen Hindernisse ist, kam es zu einer Aneinanderreihung und teilweise Gleichsetzung verschiedenster Unterdrückungslinien sowie Diskriminierungserfahrungen. Rassismus wurde hier nur abstrakt und nicht konkret als ein feministisches Problem, was die Teilnehmenden des Workshops betrifft, behandelt.

Ein zweiter Workshop mit dem Namen „Muslima in Deutschland“ beschäftigte sich mit der besonderen Unterdrückung, die muslimische Frauen in Deutschland erfahren. In Kleingruppen wurden zuerst Grundlagen wie die Verhandlung von Identität und Othering diskutiert. Mit der Öffnung der Diskussion wurden konkretere Probleme deutlicher. Die einzige Hijab-tragende Frau im Raum, berichtete von ihrem brutalen rassistischen Alltag; der Alltag einer Mehrheit von muslimischen Frauen in Deutschland: An der Universität für eine Putzfrau gehalten zu werden; bei Jobgesprächen gesagt zu bekommen, man habe sich für eine andere Bewerberin entschieden, nur um die selbe Stellenausschreibung dann weiterhin in der Zeitung und im Internet zu finden; im vollen Zug zu sitzen und trotzdem neben sich einen freien Platz zu sehen, den niemand nutzen will; sich als Jugendliche selbstbestimmt dazu zu entscheiden, Hijab zu tragen, aber danach in linken Strukturen, konkret der Linksjugend Solid, von weißen Deutschen gemieden und isoliert zu werden. Diese Erfahrungen wurden auch auf dem Feminist Futures Festival gemacht: Auch hier hätte sie sich meist alleine wiedergefunden. Die Reaktion der Anwesenden war bezeichnend: Zwar wurde nach den Ausführungen geklatscht und gesagt, dass weiße Deutsche in solchen Situationen migrantischen Frauen in erster Linie zuhören sollten, gleich darauf nahm die Rededominanz weißer Aktivist*innen, selbst in diesem Workshop, aber wieder zu. Als von einer Migrantin mit ägyptischem Hintergrund angemerkt wurde, dass sie den Begriff „bio-deutsch“, den eine weiße Teilnehmende statt weiß verwendete, problematisch findet, entgegnete diese ihr mit einem scharfen „Ich kenne aber keinen anderen Begriff und benutze ihn!“ und redete weiter. Es gab anscheinend kein Interesse daran, zu erfahren, warum „bio“ von „biologisch“ kommt und somit einer Rassenlogik entspricht, anstelle von weiß als gesellschaftlicher Kategorie zu sprechen, was eine soziale Realität in einer rassistischen Gesellschaft beschreibt. Über eine Aneinanderreihung von rassistischen Problemen kam also auch dieser Workshop nicht hinaus. Ein Raum, in dem muslimische Aktivist*innen offen und direkt kritisieren und auch Antworten verlangen konnten, entstand nicht.

Wir fragen uns: Warum fällt es der Mehrheit von weißen Feminist*innen häufig so enorm schwer, offen über Rassismus zu sprechen? Es ist leichter, sich einfach abstrakt „antirassistisch“ zu nennen, mal auf eine Demo zu gehen und somit auf der richtigen Seite zu sein, ohne dafür konkret irgendetwas getan zu haben. Vorschläge, noch mehr Workshops zu Kritischem Weißsein in mehrheitlich weißen Strukturen durchzuführen, wie wir immer wieder hörten, setzen aus unserer Sicht an der falschen Stelle an. Denn diese Konzepte gehen zwar von strukturellen Problemen aus, aber begegnen ihnen mit im Grunde individualistischen Lösungen à la „Verändere dein Bewusstsein!“ und führen kaum zu einer Veränderung der Praxis dieser Gruppen, noch zu einem Verständnis der Funktion von Rassismus im Kapitalismus und damit zu einem antikapitalistischem Antirassismus mit Migrant*innen als zentralen Protagonist*innen. Wir denken, dass es bei einem gelebten Antirassismus um eine klare politische auch feministische Praxis gehen muss. Und diese setzt an in der Analyse, was Rassismus in Deutschland 2019 überhaupt ist.

Für einen internationalistischen, antiimperialistischen Feminismus – auch in Deutschland

Lichtblicke des Festivals waren Teilnehmende, die ähnliche Kritiken formulierten. Bei dem Workshop „Frauen*Streik international“ am Samstag Abend konnte ein Raum geschaffen werden, um zu diskutieren, was Internationalismus bedeutet und in dem die Anwesenden gängige Probleme aufzeigen konnten. Zwei der zentralen Themen war die Frage von Rassismus in feministischen Räumen sowie die Schwierigkeiten, den meisten deutschen Feminist*innen ein Bekenntnis zu Antikolonialismus und Antiimperialismus abzuringen. Viele der über 100 Teilnehmenden des Workshops bekräftigten die Notwendigkeit, genau diese Diskussion weiterzuführen. Nachdem wir in Erfahrung gebracht hatten, dass Internationalismus und die Wege dorthin als Diskussion nicht bei der Abschlussveranstaltung Platz finden würden, beschlossen circa 50 Teilnehmende zeitgleich zur Abschlussveranstaltung ein Alternativtreffen zu organisieren und alle dazu einzuladen. Hieraus entstanden wiederum neue internationalistische Initiativen, die unter anderem in konkreten Netzwerktreffen in Berlin im Oktober im Rahmen des Antikolonialen Monats[5] an einer weiteren Zusammenarbeit feilen werden, sowie eine Solidaritätsaktion mit den zu bis zu 18 Jahren verurteilten Arbeiter*innen und Aktivist*innen der Haft-Tapeh Zuckerfabrik im Iran[6].

Den Organisierenden des Festivals ging es mit einer wohlwollenden Auslegung um einen antineoliberalen Intersektionalismus. Diese Analyse lässt sich an einigen Beispielen verdeutlichen. Unter dem Titel „Für eine feministische Klassenpolitik!“ stand zum Beispiel im Programm: „Ein Klassenpolitischer Feminismus will eine Antwort auf die neoliberale Politik sein, er will Antworten auf Konkurrenz, soziale Spaltung und die Angriffe auf die sozialen Infrastrukturen finden.“ Es ist sehr wichtig, sich gegen den Neoliberalismus zu stellen, vor allem für Feminist*innen. Denn die neoliberale Ordnung ist mit massiven Privatisierungen und einem Abbau der Sozialleistungen weltweit verbunden, die zuallererst und am härtesten arme Frauen und Queers treffen. Er führt ferner zu mehr und schlechter bezahlten, unsicheren Lohnarbeitsverhältnissen sowie zu mehr unbezahlter Reproduktionsarbeit für Arbeiter*innen. Sicher muss sich ein Feminismus der Unterdrückten gegen den Neoliberalismus wenden. Die entscheidende Frage ist jedoch unserer Ansicht nach strategischer Natur: Wohin wollen wir statt zum Neoliberalismus? Zurück zum Wohlfahrtsstaat, unter dem extreme Armut zwar tendenziell minimiert, aber nicht grundsätzlich abgeschafft werden kann? Wir verteidigen die Errungenschaften des Wohlfahrtsstaates und kämpfen für mehr Zugänge für die besonders verarmten Teile unserer Klasse. Wir teilen jedoch die sozialdemokratische Illusion des „Kapitalismus mit einem humanitärem Gesicht“ nicht.

Die inhaltiche Ausrichtung des Festivals deutet aber genau in diese Richtung. Es war geprägt von Themen wie Sorgearbeit, also Arbeit in der Pflege, Erziehung, Fürsorge, etc. Diese Arbeit ist zu Hause und im Job überproportional weiblich und besonders prekär. Die Unterdrückung und Ausbeutung von Frauen und queeren Menschen geht aber über diese Frage hinaus. Wir werden den patriarchalen, rassistischen Kapitalismus nicht allein mit einer „Care-Revolution“ besiegen, sondern mit einer sozialen Revolution, deren Subjekt die in ihrer Universalität und Zentralität erkannte gesamte Arbeiterklasse in Produktion und Reproduktion sein muss. Das heißt, es ist ein Programm notwendig, das nicht beim Organizing und der Kritik an geschlechtlich aufgeteilter reproduktiver Arbeit stehen bleibt. Wir müssen in der Lage sein, tatsächlich mit der gesamten Arbeiterklasse Kämpfe zu Ende zu führen und zu gewinnen. Dies schließt auch das Stellen der Machtfrage mit ein. Darin spielen Frauen und diejenigen, die in Sorge- und Pflegeberufen arbeiten, eine zentrale Rolle: Sie sind oft, wie im Pflege- oder Reinigungssektor, die Avantgarde der gesamten Arbeiterklasse, die Risiken eingehen, um andere Sektoren mitzunehmen[7]. Politische Kämpfe, wie der internationale Frauen*streik, sind eng verbunden mit der Arbeiterklasse als Subjekt. Und dies wollen wir wieder ins Zentrum unserer Politik rücken. Wir kämpfen für eine Welt ohne Ausbeutung und Unterdrückung. Wir wollen der Aneignung des Produkts der Mehrarbeit der Arbeiterklasse durch die Kapitalistenklasse und der Diskriminierung und der Angst um das eigene Leben –- als Ausländer*in, Trans*, etc. – ein Ende setzen.

#Titelbild: Solifoto für die Arbeiter*innen und Aktivist*innen von Haft Tapeh

Über die Autor*innen:

Ramsis Kilani ist palästinensischer Sozialist und Mitglied beim SDS. Sein politischer Fokus liegt auf Antirassismus und antikolonialen Befreiungskämpfen.

Narges Nassimi ist kurdische Feministin aus Rojilat und Mitbegründerin der internationalen, sozialistischen Frauenorganisation Brot und Rosen in Deutschland.

Eleonora Roldán Mendívil ist Marxistin und arbeitet als Journalistin und Freie Bildungstrainerin zu Rassismus, Geschlecht und Kapitalismuskritik. Sie ist im Frauen*Streik Komitee Berlin aktiv.

Aida Vafajoo ist Sozialistin und Feministin mit iranischen Wurzeln und studiert Soziologie/Politikwissenschaft.

[1] https://www.klassegegenklasse.org/interview-die-gastarbeiterinnen-bei-angela-merkel/

[2] https://revoltmag.org/articles/empowerment-und-klassenkampf-gegen-den-rassismus-des-kapitals/; https://de.labournet.tv/video/6489/pierburg-ihr-kampf-ist-unser-kampf

[3] Zum Beispiel: https://www.jungewelt.de/artikel/362525.agrarproduktion-streik-im-gew%C3%A4chshaus.html

[4] https://www.klassegegenklasse.org/interview-maya-john-den-intersektionalen-feminismus-hinterfragen/

[5] https://www.facebook.com/pages/category/Cause/Anticolonial-Berlin-111417073575130/

[6] https://www.klassegegenklasse.org/free_iran_workers-internationale-solidaritaet-vom-feminist-futures-festival-deutsch-english-farsi/

[7] https://www.klassegegenklasse.org/alle-sind-teil-der-universitaet/

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Über die Frauenbewegung in Afghanistan, die Rolle der Besatzungsmächte und die Abhängigkeit der internationalistischen Linken von Mainstreammedien. Ein Gespräch mit Mehmooda von der Revolutionären Vereinigung der Frauen Afghanistans (RAWA) .

Kannst du unseren Leser*innen einen kurzen Überblick über die Geschichte und Gegenwart deiner Organisation RAWA geben?

RAWA steht für „Revolutionary Association of Women in Afghanistan“. Die Organisation wurde 1977 von Meena Keshwar Kamal und einer Gruppe intellektueller Frauen in Afghanistan gegründet. Es handelt sich um eine unabhängige Organisation von Frauen. Wir kämpfen für Frauenrechte, Demokratie und soziale Gerechtigkeit. Das war von Anfang an unser Ziel.

Ein Jahr nach der Gründung, 1978, wurde Afghanistan von sowjetischen Soldaten besetzt. Das war eine große Veränderung, denn wir denken, dass, wenn ein ganzes Land nicht frei ist, wir nicht nur über die Befreiung der Frau sprechen können. Also sind wir Teil des Widerstands geworden. Denn wie leider nicht alle wissen, begann der Widerstand gegen die russische Besatzung von demokratischer Seite, nicht von fundamentalistischer. Der Widerstand hat friedlich begonnen, und die Regierung hat viele Studierende und Lehrende der Universitäten festgenommen, viele Intellektuelle und Linke. Sie haben sie in ihre Gefängnisse gesteckt, sie haben sie gefoltert und sie haben sie getötet.

So wurden in dieser Zeit auch einige RAWA-Mitglieder von der Regierung verhaftet, da Meena, die Vorsitzende von RAWA, und andere Frauen Demonstrationen in Kabul und verschiedenen anderen Städten organisiert haben. Da die Situation für die Menschen, die gegen das Regime waren, zu dieser Zeit sehr schlecht war, flohen viele Menschen nach Pakistan und Indien. Auch RAWA hat sich dafür entschieden, nach Pakistan zu gehen. Also haben wir begonnen, mit den geflüchteten Menschen in Pakistan zu arbeiten, vor allem in Quetta und Peschawar [in Ostpakistan nahe der Grenze zu Afghanistan, d. Red.]. Das Problem war, dass unmittelbar nach der russischen Besatzung die USA und andere westliche Länder damit begonnen haben, Fundamentalisten zu unterstützen.

Und diese Fundamentalisten waren noch gefährlicher als das russische Regime. Somit waren wir in Pakistan mit großen Problemen konfrontiert, weil die pakistanische Regierung und der ISI [pakistanischer Geheimdienst] fundamentalistische Gruppen wie Abu Sajaf unterstützt hat. Wir kämpften also nicht nur gegen das russische Regime, sondern auch gegen die Fundamentalisten. Unsere Vorsitzende Meena hat erkannt, dass, wenn die Fundamentalisten die Kontrolle in Afghanistan übernehmen, die Situation noch schlechter sein würde als unter russischer Besatzung. Und weil RAWA die einzige Stimme gegen diese Fundamentalisten war, und Meena die Stimme von RAWA, haben sie beschlossen, diese Stimme verstummen zu lassen, und haben unsere Vorsitzende Meena 1987 in Pakistan ermordet.

Als wir nach Pakistan gegangen sind, haben wir in zwei Bereichen gearbeitet: im Politischen und im Sozialen. Von Anfang an war RAWA eine politische Organisation von Frauen. Denn die anderen Frauenverbände und Organisationen, die es 1977 in Afghanistan gab, drehten sich lediglich um solche Dinge, wie wie werde ich eine gute Frau, eine gute Ehefrau und Mutter, und es wurde vor allem darüber gesprochen, wie man das Haus zu putzen und zu kochen hat und wie man Kinder am besten erzieht. RAWA war die erste Organisation, die damit angefangen hat, über mehr als das zu sprechen; zu sagen, dass Frauen Teil von politischen Prozessen und Entscheidungen in Afghanistan sein können. Also sind wir eine politische Organisation, denn wir denken, dass, um die Situation der Frauen in Afghanistan zu ändern, die politische Struktur geändert werden muss.

Doch als wir in Pakistan waren, haben wir angefangen, in beiden Bereichen zu arbeiten. Denn geflüchtete Frauen brauchten vor allem soziale Aktivitäten, Schulen, Waisenhäuser, Krankenhäuser. Durch diese Projekte konnten wir in Kontakt mit Frauen treten.

Nach der Ermordung unserer Vorsitzenden haben wir nicht aufgehört, ihrem Weg zu folgen. Denn RAWA war nicht Meena, RAWA war und ist eine Organisation. Sie hat sie angeführt, doch andere Mitglieder hatten auch etwas zu sagen und wollten weitermachen. Und trotz all der Schwierigkeiten haben wir auch weitergemacht, auch in Afghanistan waren wir aktiv. Hier jedoch waren wir von der ersten Minute an nur im Untergrund tätig. Selbst während der Zeit der Taliban, als die Fundamentalisten nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1992 die Kontrolle in Afghanistan übernahmen, war RAWA die einzige Organisation, die Berichte und Bilder aus den Städten schickte. Denn während dieser Zeit haben sämtlichen Medien und internationale Organisationen das Land verlassen. Afghanistan war vergessen. Aber wir haben dort weitergearbeitet, wir haben die Verbrechen der Taliban dokumentiert und weiterhin Frauen organisiert. Alle Schulen für Frauen waren geschlossen; also hat RAWA im Untergrund Bildung organisiert, überall im Land. Das war unsere Form des Kampfes, so haben wir uns am Leben erhalten.

Wir waren erneut mit vielen Schwierigkeiten konfrontiert, denn die Taliban und auch die Jihaddisten, die anderen Fundamentalisten, wussten, dass RAWA als einzige Organisation sehr klar und sehr stark gegen sie agiert. Außerdem war es für sie kaum zu verstehen, dass ausgerechnet Frauen Widerstand leisten. Also haben sie immer wieder versucht, uns zu stoppen, indem sie uns verfolgten und unsere Mitglieder verhaften ließen.

Desweiteren war RAWA nach dem Kollaps des Taliban-Regimes mit vielleicht ein paar anderen demokratischen Parteien die einzige Organisation, die klar gesagt hat, dass mit US-amerikanischer Besatzung nichts verändert werden wird. Denn die USA sind Imperialisten, und Imperialisten werden einer Nation nicht zur Freiheit verhelfen. Natürlich sind die Taliban ein diktatorisches Regime gewesen und sie mussten entmachtet werden. Aber das muss in der Hand der afghanischen Bevölkerung liegen, nicht in der der USA oder der anderer westlicher Staaten. Es ist nicht ihre Aufgabe, uns Demokratie und Frauenrechte zu geben.

Seitdem und bis heute arbeiten wir in Afghanistan, wegen der Situation, leider immer noch im Untergrund. Als wir noch in Pakistan waren, konnten wir offener arbeiten und zum Beispiel Demonstrationen veranstalten.

Unsere politische Arbeit besteht vor allem aus der Bildung von Mädchen und jungen Frauen – aber immer im Untergrund. Auch machen wir Veranstaltungen, feiern zum Beispiel Frauen- und Menschenrechte. Diese Veranstaltungen müssen wir mit anderen demokratischen Organisationen zusammen machen, die offen arbeiten können. Wir arbeiten mit ihnen, wenn sie beispielsweise Demonstrationen organisieren, aber nicht unter dem Namen RAWA. Dasselbe gilt aus Sicherheitsgründen für unsere Arbeit im Sozialen Bereich.

Ihr arbeitet nicht nur in der Stadt, sondern auch auf dem Land. Wie gestaltet sich diese Arbeit und wie weit ist die Bevölkerung dort vom Fundamentalismus geprägt?

In den Städten arbeiten wir eher mit intellektuellen Frauen wie zum Beispiel Studentinnen und Lehrerinnen, Frauen, die lesen und schreiben können. Wir versuchen, sie für Aktionen und Demonstrationen gegen die Besatzung der USA und gegen die Fundamentalisten zu mobilisieren. In den Dörfern haben wir mehr soziale Projekte. Unsere Projekte sind anders als die von anderen Organisationen, die vor allem Geld damit machen wollen. Wir dagegen arbeiten mit sehr wenig Geld, und worum es uns geht ist, mit den Menschen gemeinsam zu arbeiten. In den Dörfern ist es sehr wichtig, unter den Leuten zu sein. Denn wir haben die Erfahrung gemacht, dass es zu Zeiten der russischen Besatzung eine große linke Bewegung gab. Da diese stark verfolgt wurde, sind viele dieser Menschen nach Europa geflohen. Dort sind sie einfach verschwunden. Aber der Grund, dass RAWA weiterhin existiert, ist, dass wir nicht versuchen, aus dem Land zu fliehen. Wir wollen mit und unter den Menschen sein. Wenn du kämpfen willst, musst du in der Bevölkerung sein, und der beste Ort für eine revolutionäre Organisierung sind die Dörfer; in den Dörfern vertrauen dir die Leute, und du kannst den Leuten ebenfalls vertrauen. Wenn du das Vertrauen der dörflichen Bevölkerung erst einmal gewonnen hast, werden diese Menschen dich um jeden Preis verteidigen. Außerdem wollen wir genau diese Menschen mobilisieren, denn die soziale Ungleichheit betrifft vor allem die Leute in den Dörfern. Heute sind die meisten Dörfer unter der Kontrolle der Taliban, ISIS oder anderer Jihaddisten – wir wollen genau dort sein, mit diesen Frauen arbeiten und sie gegen diese Kontrolle mobilisieren. Die Menschen haben weniger Möglichkeiten und weniger Zugang, also brauchen sie auch mehr Unterstützung. Das ist gut für sie, und das ist gut für uns. Mit diesen Menschen können wir die Revolution machen. Wir dürfen uns nicht nur auf die Städte konzentrieren. Auch ist es so, dass es in den Städten viele Spione gibt, die dich innerhalb kürzester Zeit fertig machen können. In den Dörfern jedoch ist es einfacher, zu überleben – auch deswegen sind wir dort.

Du hast gesagt, dass ihr auch politischen Unterricht organisiert und dass RAWA eine explizit politische Organisation ist. Was unterrichtet ihr?

RAWA ist eine demokratische, säkulare Organisation. Offiziell sind wir keine Marxistinnen, dennoch arbeiten wir mit Marxistinnen zusammen, die sehr willkommen sind. Wir sind nicht anti-marxistisch, wir haben keine Angst vor dem Marxismus und denken auch nicht, er könne in Afghanistan nicht funktionieren. Aber die Situation in Afghanistan bedingt, dass wir erst einmal eine demokratische Veränderung brauchen. Das ist für uns im Moment das Wichtigste. In unseren Klassen sprechen wir über verschiedene Dinge, vor allem über die aktuelle Situation. Denn leider ist die afghanische Bevölkerung, mit diesen Medien und der imperialistischen Besatzung, beinahe apolitisch geworden. Die Menschen versuchen erst mal, nach sich selbst zu schauen, oder sie sind stark beeinflusst von den Medien. Unser Versuch ist es, den Menschen vor allem zwei Dinge nahezubringen; erstens, dass diese „Friedensgespräche“ nicht wirklich solche sind. Wir sprechen über die imperialistischen Pläne für unser Land und versuchen, die Menschen für den Widerstand zu organisieren, sie für Demonstrationen zu mobilisieren und sie dazu zu bringen, ihre Stimmen zu erheben. Aber natürlich lesen wir auch manchmal marxistische Bücher, denn es handelt sich um eine Ideologie, die in manchen Ländern funktionieren kann und manche Menschen, auch manche unserer Mitglieder, denken, der Marxismus sei der einzige Weg, uns zu befreien. Auch lesen wir Bücher über den Iran, zum Beispiel Bücher von Frauen in den dortigen Gefängnissen, schauen Filme oder sprechen über die Politik in Kobanê und Afrin. Denn in einem Land wie Afghanistan müssen wir uns auch Beispiele aus anderen Ländern anschauen. Wenn du mit einer Kultur aufwächst, die dir beibringt, dass Frauen die Hausarbeit machen müssen, dass sie Mutter, Schwester oder gute Ehefrau sein müssen, dann ist es wichtig, Frauen zu ermutigen und ihnen andere Perspektiven beizubringen. Vielleicht macht das für europäische Länder nicht so viel Sinn, aber in unserer Situation funktioniert das sehr gut. Andere Bildung zu erhalten, in einer Gesellschaft, die dir erzählt, Frauen können nur diese kleinen Dinge tun, und sie könnten nur Lehrerinnen, Mutter oder Gynäkologin werden. Wir müssen ihnen eine andere Bildung verschaffen. Das Hauptthema unserer Bildung ist also genau das.

Wie ist eure Selbstverteidigungsstruktur, wie verteidigt ihr euch gegen all die Schwierigkeiten, mit denen ihr konfrontiert seid?

Das Einzige ist, dass wir im Untergrund arbeiten. Natürlich hat diese Untergrundarbeit ihre eigenen Regeln; wir können nicht offen darüber sprechen, was wir tun. Wir ändern unsere Namen, unseren Wohnort regelmäßig. RAWA-Mitglieder ziehen oft in andere Städte, Provinzen oder gehen eine Weile komplett in den Untergrund. Auch können wir elektronische Kommunikationsmittel wie Handys und das Internet nicht für unseren Austausch nutzen. Und vielleicht ist die Burka für Frauen nicht wirklich gut, aber in unserem Fall können wir sie nutzen, um uns selbst zu schützen, vor allem wenn wir in die Dörfer gehen. Wenn du dort eine Burka anziehst, werden dich die Menschen nicht erkennen. Wichtig sind vor allem unsere Verbündeten, Menschen, denen wir vertrauen können und umgekehrt. Diese Beziehungen helfen enorm, dich zu schützen.

Wie schafft ihr es Demonstrationen nur von Frauen zu organisieren, während zur selben Zeit Bombardierungen stattfinden.

Diese Demonstrationen finden nicht unter dem Name RAWA statt und werden nicht von RAWA, sondern von anderen demokratischen Gruppen organisiert. Sie werden dann bei der Regierung registriert, die diese dann auch schützen muss, aber natürlich vertraut niemand der Polizei. Es gibt zwar auch einzelne Verbindungen zu ihnen, die helfen können, aber natürlich haben RAWA und andere demokratische Organisationen in Afghanistan ihre eigenen Verteidigungsstrukturen.

Vielleicht siehst du sie nicht sofort, aber wenn etwas passiert, sind sie da. Wenn wir zum Beispiel zu Demonstrationen gehen, wird das Gelände ein paar Tage vorher angeguckt, mit den Leuten in den Läden gesprochen, zu denen es gute Verbindungen gibt, und durch sie können dann Informationen gesammelt werden. So arbeiten wir also in etwa, aus Sicherheitsgründen kann ich da leider nicht weiter ins Detail gehen.

Könntest du vielleicht noch ein bisschen mehr über die Situation der US-Besatzung und der Verbindung zu den Fundamentalisten erzählen?

Wie ich bereits gesagt habe, sind all diese fundamentalistischen Gruppen nichts als die Söhne der USA. Denn wir wissen, dass die Vereinigten Staaten sie in den 80er-Jahren unterstützt und bewaffnet haben, um gegen die Sowjetunion zu kämpfen. Aber jetzt gibt es andere Pläne für die Region. Afghanistan ist für alle diese Kräfte aus Gründen der strategischen Lage sehr wichtig. Aber auch aus anderen Gründen, wie Opium oder Waffenhandel und den natürlichen Ressourcen. All die Großmächte, die USA, Russland und jetzt auch China, kämpfen um ihre Vormachtstellung. Die Fundamentalisten sind die Söhne der USA. Sie wurden von ihnen etabliert und sie wurden und werden von ihnen unterstützt. Nach dem Kollaps der Taliban, waren die Jihaddisten nicht gerade mächtig. Aber die USA haben 2001, als sie eine sogenannte demokratische Regierung in Afghanistan errichten wollten, die Jihaddisten an die Macht gebracht.

Und wir sagen immer, dass diese Regierung sogar noch terroristischer ist als die Taliban. Ihre Mentalität, ihre Gedanken sind genau dieselben. Aber die USA hat sie zu Demokraten erklärt. Sie wollen eine demokratische Regierung mit diesen undemokratischen Menschen errichten, mit Frauenfeinden. Diese Jihaddisten sind also nun an der Macht in Afghanistan. Alle von ihnen haben Kriegsverbrechen begangen, aber ohne jegliches Verfahren, ohne Fragen gestellt zu bekommen, kamen sie durch die USA an die Macht. Das, was 2001 mit den Jihaddisten passiert ist, passiert nun mit den Taliban. Sie sprechen mit den Taliban und sie nennen es Friedensverhandlungen, aber das sind keine Friedensverhandlungen, das sind politische Deals. Über die Opfer wird nicht gesprochen. Die Taliban attackiert Menschen, sie haben Tausende Unschuldige getötet. Gerade einmal vor ein paar Tagen gab es einen Anschlag, zwei Tage später wieder, kurz darauf ein neuer. Bei jeder Attacke ermorden sie über hundert Menschen. Und zu dieser Zeit werden dann solche Friedensverhandlungen geführt, und dort wird über alles gesprochen, nur nicht über Kriegsverbrechen. Und befragt man sie dazu, antworten sie, naja, in Afghanistan sind eben alle Menschen Kriminelle. Die Taliban sind ebenfalls Kriminelle, also können sie eben auch regieren. Aber die Wahrheit ist, dass die USA eine Marionettenregierung konstituieren will – mit all diesen Verbrechern. Das Einzige, was ihnen wichtig ist, ist die Wirtschaft und ihre strategischen Interessen. Die Menschen in Afghanistan spielen keine Rolle.

Wir sehen, dass es eine große Verbindung gibt zwischen den USA und den Fundamentalisten. Also sagen wir, dass der einzige Weg, diese Krise zu beenden, der ist, beide Akteure zu bekämpfen; sowohl die Besatzung Afghanistans durch die USA und die NATO als auch die Taliban, die Jihaddisten, ISIS und all die anderen.

Am Anfang der Besatzung Afghanistans, als Deutschland Teil der Besatzung war, gab es eine Rede im Deutschen Parlament, und einer der Abgeordneten sagte, dass die deutsche Freiheit auch in Afghanistan verteidigt werden würde. Haben die deutschen Truppen eine besondere Rolle im Krieg eingenommen?

Wie du bereits gesagt hast, war Deutschland zu Beginn des Krieges in Afghanistan involviert. Deutsche Truppen waren vor allem im Norden des Landes aktiv. Es ist offensichtlich, dass auch sie Verbrechen begangen haben – es gab beispielsweise Bombardierungen, bei denen Unschuldige getötet wurden. Aber seit etwa einem Jahr ist Deutschland nicht mehr so sehr involviert, sowie andere europäische Staaten auch. Nun sind es vor allem die USA; sie sagen zwar, es handele sich um die NATO, aber eigentlich sind es vor allem US-Amerikanische Truppen. Das liegt aber nicht daran, dass Deutschland so besonders friedlich ist. Es geht um imperialistische Interessenkonflikte.

Jeder der Beteiligten will mehr – und die USA lässt das nicht zu. Also sind sie heute nicht mehr so aktiv in Afghanistan, denn es passt ihnen nicht, dass sie nicht mehr Macht abbekommen. Trotzdem unterstützt die deutsche Regierung weiterhin die korrupte afghanische Regierung.

Wir können uns die Situation der geflüchteten Menschen hier anschauen. Viele fliehen vor dem Krieg, und sie landen hier in Deutschland, vor allem junge Menschen. Aber sie werden zurück nach Afghanistan abgeschoben und es wird als „sicheres Herkunftsland“ benannt. Es ist absurd, Afghanistan als einen sicheren Ort zu bezeichnen. Nur muss Deutschland das tun, da sie die afghanische Regierung unterstützen. Sie unterstützen damit aber eine der korruptesten Regierungen der Welt, geben ihnen Geld und lassen die Menschen, die wirklich Hilfe brauchen, im Stich.

Kannst du uns noch mehr über die Situation der Frauen in Afghanistan erzählen und darüber, wie die Organisierung von Frauen eine Basis für eine Veränderung darstellt?

Leider wird die Situation der Frauen jeden Tag schlechter. Einer der Gründe des Krieges, den die USA begonnen hat, war, dass sie gesagt haben, sie müssten die Frauen befreien. Für uns, als eine Organisation von Frauen, war von Anfang an klar, dass das nur eine Ausrede war, um den Krieg zu beginnen. Sie haben die Situation der Frauen missbraucht.

Aber wie ich vorher sagte, haben sie selbst die Frauenfeinde an die Macht gebracht, sie selbst haben diese Regierung kreiert. Du kannst nicht Frauenfeinde in eine Regierung setzen und dann erwarten, dass sie Frauenrechte respektieren und etablieren, das ist nicht möglich. Manchmal propagieren sie auch, dass sich die Dinge in Afghanistan ändern, und listen ein paar Beispiele auf. Diese Beispiele sind aber wenige, und sie zeigen sie nur zu Legitimationszwecken.

Aber die reale Situation ist eine andere, insbesondere in den Dörfern. Die Lage der Frauen dort ist sehr hart, da die fundamentalistischen Gruppen vor allem in den Dörfern viel Macht haben. Sie sind involviert in viele Verbrechen und Gewalt gegen Frauen; es gibt viele Fälle von Vergewaltigung, sexualisierter Gewalt, Zwangsheirat. Aber niemand redet darüber, denn die, die diese Verbrechen begehen, sind die, die Geld, Waffen und Macht von der US-Regierung erhalten, um gegen die Taliban zu kämpfen. Wir sagen, dass es unmöglich ist, die Frauen eines Landes mit fremder Besatzung zu befreien, mit Bombardierungen. Es liegt in der Verantwortung afghanischer Frauen, für ihre Befreiung selber zu kämpfen. Heute sagen sie, sie hätten Angst, dass die Errungenschaften für Frauen in Afghanistan wieder verschwinden könnten. Und ja, warum werden sie wieder verschwinden? Weil sie einfach so aus dem Nichts gebracht wurden. Afghanische Frauen werden nicht für diese Errungenschaften kämpfen. Wenn die Menschen für etwas gekämpft haben, ist es schwierig, das Erkämpfte wieder zu verlieren. Doch wenn etwas nur etabliert wurde, obwohl niemand dafür gekämpft hat, ist es ganz schnell auch wieder verloren. Also werden sie Deals mit der Taliban machen, und sie werden die Rechte der Frauen opfern, denn für sie sind Dinge wie ihre Interessen, strategisch sowie ökonomisch, wichtiger als die Rechte der Frauen und Menschenrechte allgemein.

Gibt es eine internationalistische Bewegung in Afghanistan oder bekommt ihr Unterstützung von Internationalist*innen, sowohl heute als auch in der Geschichte?

Leider ist Afghanistan so etwas wie ein vergessener Fleck auf der Landkarte. Die USA unterstützen die Fundamentalist*innen, ebenso wie Saudi-Arabien, Pakistan, Iran. Die demokratischen Gruppen bekommen solche Unterstützung nicht.

RAWA als Organisation steht zur Zeit vielen Problemen gegenüber, zum Beispiel was die Sicherheit, aber auch das Finanzielle angeht, ebenfalls wegen der geringen Unterstützung von Internationalist*innen. Wir haben ein paar Soli-Gruppen in den USA, Italien, Japan und Deutschland, aber die Menschen in Europa und den USA, allgemein in westlichen Staaten, sind stark beeinflusst von den Medien. Wenn die Medien nicht über eine Sache sprechen, dann gibt es auch keinerlei Interesse dafür. Selbst Linke sind stark beeinflusst von diesen Medien.

Heutzutage werden die Medien dieser Länder nicht über Afghanistan berichten, denn es heißt, mit Afghanistan ist jetzt alles in Ordnung, die Frauen sind frei oder wenn sie es noch nicht sind, dann wollen sie es wohl auch nicht anders. Deswegen versuchen selbst die Linken nicht, mehr über die Situation dieses Landes zu erfahren. Aber gerade Unterstützung aus anderen Ländern ist sehr wichtig für eine Bewegung. Ich rede gar nicht über die finanzielle Unterstützung, ich rede von der politischen Unterstützung. Insbesondere in europäischen Ländern könnte der Bewegung eine Stimme gegeben werden; aber wir haben in den letzten Jahren keine Demonstrationen zu Afghanistan gesehen. Die USA haben Afghanistan 2001 bombardiert. In diesem Jahr gab es ein paar Demonstrationen; aber nicht im Ansatz so viele wie während des Irakkriegs. Sie legitimieren ihre Kriege und teilen ein in Gut und Böse, selbst die Linken tun das. Sie sagen, das ist ein guter Krieg, denn wir kämpfen schließlich gegen das Böse, die Taliban. Aber es gibt keinen guten und schlechten Krieg. Alle Kriege sind imperialistische Kriege, die wegen finanzieller und ökonomischer Interessen geführt werden.

Wir sagen also unseren Genoss*innen hier in Deutschland und anderen Ländern: Denkt nach, versucht die Realität in anderen Ländern zu sehen und nutzt andere als die Mainstream-Medien. Denn die vertreten nur die Interessen der Imperialisten und Großmächte.

# Interview: Hubert Maulhofer

# Übersetzt aus dem Englischen

# Titelbild: Eine RAWA-Frauendemonstration in Afghanistan

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Am 26. Mai 2019 wählte Bremen gleich zweimal. Zum einen für die Europawahl und zum anderen für die Bremer Stadtbürgerschaft. Die immer wiederkehrende Schlagzeile nach den Wahlen: SPD liegt das erste mal seit 73 Jahren hinter der CDU. Medial nicht benannt: insgesamt ist die Gruppe der extrem Religiösen, und zwar parteiübergreifend, heimliche Gewinner der Wahl.

17 von 69 Abgeordneten der neugewählten Bremer Stadtbürgerschaft haben nach Informationen des Internationalen Bunds der Konfessionsfreien (IBKA) einen stark religiösen Hintergrund. Das bedeutet, dass sie eine Funktion innerhalb der Religionsgemeinschaft ausüben und ihr Engagement insofern deutlich über die beitragszahlende Mitgliedschaft oder den Kirchen- oder Moscheebesuch hinausgehen. Dabei sind Evangelikale und Islamisten auf den Listen von SPD, CDU und FDP erfolgreich. In dem Zusammenhang bleibt die SPD auch die stärkste Fraktion: dort haben 8 von 19 gewählten Abgeordneten einen solchen starken religiösen Background. Demgegenüber stehen 13,6% praktizierende Christ*innen in der Gesamtbevölkerung der BRD.

Begünstigt wird der Erfolg der Religiösen durch das Bremische Wahlgesetz. Nach diesem ist es möglich auch Einzelpersonen auf den Kandidatenlisten anzukreuzen. So konnte beispielsweise der in der evangelikalen Markus Gemeinde aktive Elombo Balayela mit 3303 Stimmen vom SPD Listenplatz 44 auf Platz 7 hochgewählt werden.
Auf muslimischer Seite gelang dem im Umkreis der staatlich-türkischen Religionsbehörde DiTiB aktiven Mustafa Güngör (SPD), sowie dem nach Informationen des Kurdistan Solidaritätskomitees Bremen bei ATIB aktiven Dr. Oszguhan Yazici (CDU) durch ein paar tausend Personenstimmen einen vorderen Listenplatz zu erzielen. Bei ATIB handelt es sich um den religiösen Zweig der faschistischen grauen Wölfe.

Dass sich Islamismus, Anti-Feminismus und Faschismus bedingen, ist spätestens seit dem Angriff des IS auf Kobane 2014 in der radikalen Linken in der BRD angekommen. Aber auch christliche Fundamentalist*innen sind keine harmlosen Freaks. Im Folgenden soll die politische Ausrichtung der Evangelikalen in Deutschland kurz in den Blick genommen werden.

Die Evangelikalen sehen sich als Erneuer*innen des Christentums und bestehen als politisch-religiöse Kraft, ähnlich wie die Salafisten, auf die wortgetreue Auslegung der Bibel. Im Rahmen der Deutschen Evangelischen Allianz (DEA) sind die evangelikalen Freikirchler*innen aufs engste mit der evangelischen Kirche verbunden. Die DEA Bremen listet auf ihrer Internetseite 70 Gemeinden und Initiativen in Bremen und Umgebung. Bundesweit gehören zur DEA über 1100 Gruppen sowie 350 Organisationen, unter anderem das AfD nahe Institut für Islamfragen.

In ihrem Magazin EiNS ist die DEA bemüht ein freundliches Gesicht aufzusetzen, zum Beispiel für Europa und Frauen in Leitungspositionen. Darüber hinaus wird betont, man habe mit amerikanischen Evangelikalen und Trump Wähler*innen nicht viel am Hut. Man sei „eher langweilig”, „fromm und anständig, fleißig und verantwortungsbewusst.“ Außerdem zahlen sie „ihre Steuern und beten für die Obrigkeit.” Die Vermutung, dass dies dem Selbstbild von amerikanischen Evangelikalen nahekommt, erscheint nicht allzu gewagt. Weiter heißt es, die Evangelikalen seien im Erscheinungsbild ausgesprochen vielfältig, daher sei es schwer von DEN Evangelikalen zu sprechen. Ob die DEA diese Strategie zur Kritikabwehr von Salafisten abgeguckt hat oder selbst drauf gekommen ist, wäre noch zu recherchieren – ein paar Gemeinsamkeiten der Evangelikalen in Deutschland lassen sich aber entgegen der Behauptung schon einmal feststellen:

Unter Hartmut Steeb, der von 1988 bis 2019 Generalsekretär der DEA war, gehörte der Kampf gegen Schwangerschaftsabbrüche zum Kerngeschäft der DEA. Steeb sagt dazu rückblickend: „Es gibt keine schlimmere Menschenrechtsverletzung als das private Töten von Menschen, in der Abtreibung“. Weiterhin sagt er, man müsse der Homoehe entgegentreten. Angesichts der Kritik, die er sich wohl mit eben solchen Frauen- und homofeindlichen Positionen eingehandelt hat, schwadroniert er von Meinungsfreiheit und fragt rhetorisch: „Dürfen wir eigentlich noch Meinungs- und Glaubensfreiheit in unserem Land leben? Wenn Leute den Mund halten vor Sorge, sie würden benachteiligt, dann wird es schwierig”. Dem entgegen setzt er die Evangelischen Allianzen als politisch-religiöse Fraktion: Diese sollten ihm zufolge Missionskartelle sein. Das gehöre zum Urauftrag von Christ*innen. An seine Schäfchen gerichtet appelliert er: „Betet in Rathäusern, in Krankenhäusern, bei der Polizei! “

Neben Balayela gelang auch Sigrid Grönert (CDU) von der DEA-Paulusgemeinde sowie Birgit Bergmann (FDP) von der evangelikalen St. Matthäusgemeinde der Einzug in die Bremer Bürgerschaft. Aber nicht nur durch die Bürgerschaftswahlen im Mai 2019 sind Evangelikale in Bremen präsent: christliche Fundamentalist*innen stehen jeden Tag am Bahnhof, verschenken Bibeln und wollen über Jesus reden. Nur selten kommen die Missionar*innen mit Vorübergehenden ins Gespräch, trotz dessen kommen sie jeden Tag wieder. Die Anti-Feminist*innen und Homohasser*innen betreiben außerdem Kindergärten, bauen Kirchen im Gewerbepark am Stadtrand oder unterwandern innenstädtische Gemeinden. Sie organisieren Busanreisen zum Tausend Kreuze Marsch, demonstrieren gegen sexuelle Aufklärung und rufen auf zum massenhaften „Danken – Feiern – Beten” am Tag der deutschen Einheit 2019.

Auch wenn die politischen Positionen der religiösen Fundamentalist*innen bisher keinen Eingang in den Rot-Grün-Roten Koalitionsvertrag gefunden haben, sollte das nicht darüber hinwegtäuschen, dass Evangelikale und Salafisten beharrlich, still und leise ihre Strukturen ausbauen. Sie verfügen bereits jetzt über gute Verbindungen in die Bremer Verwaltung. Ihre sozialen Dienste, wie z.B. der Betrieb von Kindergärten, werden über die Staatskasse finanziert. Mit den Bremer Wahlen haben sie sich des Weiteren still und heimlich in die Bürgerschaft eingeschlichen. Die Gefährlichkeit der Fundamentalist*innen auf beiden Seiten ist nicht zu unterschätzen, denn sie sind in der Lage, ihre Organisationserfolge in politischen Einfluss umzumünzen.

# Onno Kunz – lebt in Bremen und findet Glockenläuten eine Zumutung

# Titelbild: Wolfgang Kumm/ picture alliance / dpa

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Santiago de Chile. Seit Wochen gibt es Proteste an den Universitäten in Chile. Eines der Hauptanliegen der Streikenden ist die kritische Lage der mentalen Gesundheit der Student*innen.

Es ist Streikzeit an den Unis in Chile. Wie oft in den letzten Jahren rief die chilenische Student*innenkonförderation (Confech) am 25. April zum ersten nationalen Streik für die Universitäten in diesem Semester auf. „Wir mobiliseren uns für uns, unsere Familien und ganz Chile, gegen die Verschuldung und für eine Bildung ohne Sexismus, für Finanzierung, Demokratie, Wissensorientierung, Wissenszugang, dem Allgemeinwohl der Student*innen und für Integration!“

Was mit einem Streik begann, entwickelte sich in den letzten Wochen zu einer größeren Protestbewegung auf nationaler Ebene. Vom Norden Chiles, La Serena über Santiago de Chile, Valdivia bis nach Puerto Montt, organisieren sich Universitäten in ganz Chile. Bei allen Bemühungen der Organisator*innen fehlt es an Struktur, Planung und einheitlichen Forderungen. Der Streik scheint nicht in Bewegung zu kommen.

Teure Bildung

Die Streikenden fordern unter anderem mehr Geld zur Förderung von Student*innen. Studieren in Chile ist teuer. An öffentlichen Unis kostet ein Semester bis zu 8.000€ – und das bei einem Mindestloh von umgerechnet 385,90€ pro Monat. In der Konsequenz bedeutet das, dass es sich nur die Oberschicht leisten kann ihre Kinder ohne staatliche Förderprogramme auf die Universität zu schicken. Die Ursprünge dieses neoliberalen Bildungssystems liegen in der 17 Jahre andauernden Militärdiktatur Augusto Pinochets von 1973 bis 1990. In dieser Zeit wurden in Chile Universitäten privatisiert und Studieren zu einem Business gemacht. Über die Jahre hinweg konnte jede Person mit genügend Geld eine Universität ins Leben rufen. Eine der Folgen ist, dass Studiengänge unverhältnismäßig lang dauern. Ein Bachelor dauert im Normalfall zehn Semester, die alle bares Geld für die Betreiber*innen der Universitäten sind.

Die Confech rief den Hashtag #miDeudavale (meine Schulden zählen) ins Leben unter dem Student*innen ein Foto von sich und einem Schild posten, auf dem die Zahl ihrer Schulden steht. Durch diese Aktion soll in Sozialen Netzwerken gezeigt werden, wie sehr Student*innen auf staatliche Hilfe angewiesen sind, die sich bisher in Zuschüssen für Studiengebühren, Miete, Essen und Transport äußerte. Nun sollen diese Gelder für diejenigen gestrichen werden, die die Regelstudienzeit überschreiten. Mehr als 27.000 Student*innen sind davon betroffen. Ihre einzige Möglichkeit das Studium zu beenden, ist es Kredite aufzunehmen, mit denen sie sich hoch verschulden. Die konservative Regierung von Präsident Sebastián Piñera, der gleichzeitig einer der reichsten Chilenen ist, hatte sein Amt Anfang 2018 mit dem Versprechen angetreten, den „kostenlosen Zugang“ zu Bildung auszuweiten. Von diesem Versprechen ist allerdings wenig übrig geblieben.

Mentale Gesundheit an chilenischen Universitäten

Doch die Probleme für die Studierenden gehen über Finanzprobleme hinaus. Mitte April wies als eine der Ersten die Fakultät für Architektur der staatlichen Universidad de Chile auf ein weiteres nationales Problem hin: Die mentale Gesundheit der Student*innen. Laut veröffentlichten Studien über die psychische Gesundheit in Chile befinden sich 44 Prozent der Student*innen in psychologischer Behandlung. 46 Prozent gaben an, depressive Symptome und Angstzustände zu haben. Darüber hinaus leiden 54 Prozent unter Stress, 67 Prozent unter Schlaflosigkeit und 5,1 Prozent haben über Selbstmord nachgedacht. Der lange Weg zum Abschluss eines Studienganges,Überforderung und Leistungsdruck während des Semesters werden als Gründe für den psychologischen Stress angegeben.

Vielleicht ist auch das einer der Gründe, warum sich bisher nicht viele Student*innen am Streik beteiligten. Zu groß könnte die Angst sein, das Semester in wenigen Wochen aufholen zu müssen. Die Universitäten schließen sich nicht zu einem gemeinsamen Streik, es bleibt an einigen Fakultäten hängen, die nicht die Kapazitäten besitzen alleine strukturell etwas zu ändern. Stress und Überforderung sind vorprogrammiert. So wurde aufgrund mehrerer Aufforderungen von Student*innen verschiedener Fakultäten der Streik für beendet geklärt, damit das Semester nicht verlängert wird. Am 8. Mai rief die Confech erneut zu einer nationalen Demonstration für die psychische Gesundheit auf. Akademische Überlastung solle nicht mehr normalisiert werden.

Die Forderung der Studierenden reichen allerdings weiter als reine Bildungsthemen. Die Demo am 8. Mai richtete sich auch gegen die Transpazifische Partnerschaft – kurz TPP-11. Das transnationale, geplante Freihandelsabkommen zwischen elf Ländern im pazifischen Raum, einschließlich Chile, sieht vor, Zölle abzuschaffen und freien Wettbewerb in den Ländern zu ermöglichen. Auf Kritik stößt TPP, da es die Demokratie gefährde und die Rechte indigener Völker, Umweltschutzmaßnahmen und die Freiheit des Internets negativ beeinflusse. Das geplante Freihandelsabkommen schaffe neuen Kolonialismus, privatisiere natürliche Ressourcen und wirke sich negativ auf Arbeits- und Menschenrechte in Chile aus.

Fehlende Mobilisierung und uneindeutige Ziele

Doch wie sinnvoll ist ein Streik, wenn die Mehrzahl der Student*innen aus Angst vor folgender Überforderung und aufzuholender Arbeit gar nicht teilnehmen möchte?

Einige Student*innen kritisieren, der Streik sei zu unorganisiert. „Im gleichen Dokument mit den Forderungen, die bei der Demonstrationsanmeldung der Regierung vorgelegt werden, stehen die Stärkung der Rechte der Indigenen direkt unter der Bekämpfung mentaler Gesundheitsprobleme“, erzählt eine Studentin der humanwissenschaftlichen Fakultät. „Es gibt keine Organisierung. So werden wir nie etwas erreichen. Viel eher sollten einige wenige Punkte intensiver ausgearbeitet werden.“

Tatsächlich scheint jede Woche ein neues Thema zu dem Streik hinzuzukommen. Ursprüngliche Streikforderungen werden ausgeklammert oder nicht mehr beachtet. Um wirklich einige der Forderungen umzusetzen, müssten die Student*innen sich solidarisieren und an wenigen Punkten dafür intensiver arbeiten. Essentielle Forderungen werden sonst unter vielen untergehen. Was bisher fehlte waren auch direkte Vorschläge, wie die Situation verbessert werden soll. Mit konkreten Vorstellungen könnte sich ein Gespräch mit der Regierung etablieren.

Ende Mai entschlossen sich neue Fakultäten zum Streik, so zum Beispiel auch die Fakultät für Philosophie, Geschichte und Sozialwissenschaften der Universidad de Chile. Ein neuer Beweggrund auf der Liste: die Regierung will das Schulfach Geschichte in der Oberstufe nur noch als Wahlfach anbieten und nicht mehr obligatorisch im Lehrplan haben, genauso wie die Fächer Kunst und Sport. Insbesondere der Versuch das Fach Geschichte aus dem festen Lehrplan zu streichen kann als Versuch gewertet werden, die Erinnerung an die blutige Militärdiktatur verblassen zu lassen. In der Vergangenheit gab es bereits Versuche in Schulbüchern die Vokabel „Militärdiktatur“ durch „Militärregierung“ zu ersetzen. Auch so ist die Schaffung eines neuen Geschichtsbild teilweise erfolgreich. Das zeigte zuletzt eine Studie, der zufolge 57% der Achtklässler*innen es befürworten würden, erneut in einer Diktatur zu leben.

Und so geht der Streik recht unentschlossen vor sich hin. Einige Fakultäten steigen in den Streik ein, andere beenden ihn nach mehreren Wochen. Doch richtig aktiv werden die Student*innen nicht. Zu wenig Menschen setzen sich innerhalb der Universitäten für die Forderungen der Confech ein, zu wenig stimmen überhaupt einem Streik zu. Nur eine Minderheit geht entschlossen zur Wahlurne, um für oder gegen einen Streik zu wählen. Es werden kaum Demonstrationen organisiert und auch zu den politischen Versammlungen erscheinen wenige. „Was wirklich fehlt, ist eine größere Effektivtität in den Versammlungen. Nie kamen wir zu einem Ergebnis und deshalb fingen die Menschen an, Interesse zu verlieren“, so Brian Arredondo, Journalismus-Student des 5. Semester.

Mehr Druck auf die Regierung“

Nach wochenlangen Versuchen einen nationalen Streik zu etablieren und Bewegung in die konservativ gedachten Universitäten zu bringen, bleiben nur enttäuschte, erschöpfte Student*innen. Diejenigen, die sich am Streik beteiligten, werden den verlorenen Unterrichtsstoff in den verbleibenden sechs Wochen des Semesters aufholen müssen. Mentale Gesundheit ist gefährdeter denn je. Die Suizidrate an Universitäten in Chile ist gestiegen.

Dabei können groß angelegte Unistreiks durchaus funktionieren. Bei den durch Feminist*innen organisierten Protesten im letzten Jahr beispielsweise besetzten Streikende die Universitäten, landesweit organisierten sie Demonstrationen an denen mehrere Tausend Menschen regelmäßig teilnahmen und öffentlich wurden mehrere Vergewaltiger angeklagt. Durch diverse, organisierte Aktionen im öffentlichen Raum wurde die Einrichtung von Gleichstellungsbüros in den Universitäten erreicht. In den sechs Wochen setzten sich Streikende für eine Bildung ohne Sexismus ein. Eine Aktivistin, die an den Protesten des letzten Jahres teilnahm, meint, um die Aufmerksamkeit der Regierung zu erhalten, brauche der diesjährige Streik mehr Zusammenhalt, politische Effizienz und öffentliche Protestaktionen. Wichtige Probleme gehen durch eine fehlende Organisation und Teilnahmelosigkeit von Seiten der Universitäten unter. Zwar gab es bisher keine Reaktion der Regierung auf die Proteste aber der Öffentlichkeit wird immer klarer, dass es ein Problem an den Universitäten Gibt. Die mentale Gesundheit der Student*innen muss auf nationaler Ebene von den Behörden ernstgenommen werden. „Es sollte mehr Druck auf die Regierung ausgeübt werden, damit sie wirklich etwas ändern“, meint Arredondo. „Ich denke nicht, dass von der Regierung noch von der Universitätsgemeinschaft die Problematiken ausreichend verstanden wurden. Wir sind Menschen und möchten auch so behandelt werden!“

# Jule Pauline Damaske ist in Berlin geboren und studiert Europäische Medienwissenschaften an der Universität Potsdam. Nach einem Semester an der Universidad Nacional de Colombia in Bogotá, studiert sie jetzt Journalismus an der Universidad de Chile in Santiago de Chile.

# Titelbild: Frente Fotográfico Auch Schüler*innen demonstrieren. „Wenn es keine Bildung für mein Volk gibt, wird es keinen Frieden für die Regierung geben“

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Alte, junge, durchaus weiße und vermutlich besonders männliche Männer, sind es, die nicht aufhören, in Kommentarspalten Sophie Passmanns angebliche sexuelle Unverwertbarkeit zu betonen. Diese Form der „Kritik“ bedarf keiner Kreativität. Sie ist der einfache Ausdruck des misogynen Grundrauschens im Abendland.

Es gibt aber auch weibliche Kritik an Sophie Passmann. Eine österreichische Lehrerinnentochter zum Beispiel, Lisa Eckhart, die sich nicht zu schade ist, in einer Polemik über Passmann, mit einer Me-Too-Lamoryanz-Keule die Debatte um strukturellen Sexismus zu zertrümmern, um sodann Passmanns augenscheinlich identitätspolitischen Ansatz zu demontieren, haut im Standard, bumm bumm, auf die Pauke. Dabei hätten Passmann und Eckhardt so viel gemeinsam. Beide sind female, beide sind future. Junge weiße Frauen. Gymnasial sozialisierte, durchsetzungsfähige Kleinstadt-Emporkömmlinge mit bisher erfolgreichem Berufsweg. Beide sind im Entertainment-Business. Und dann wird eine Göre von einer Göre als Göre bezeichnet. Die eine Göre erntet Schulterklopfen von bürgerlichen Konservativen, die andere Göre von bürgerlichen Liberalen. Zwei Frauen stehen gegeneinander im Ring. Statt eines Faustkampfes bewerfen sie sich gegenseitig mit ihren Poetryslam-Preisen und der Hauptgewinn ist ein eingeölter reicher weißer Mann – Ulf-Poschardt-Type – im Julius-Cäsar-Kostüm der glücklich #Teamkarriere ruft.

Stell dir vor, es ist Pop-Feminismus und alle machen mit.

Eine Frau, die mit Mitte zwanzig ihre Hausbibliothek alphabetisch sortiert, am meisten Geld für Weißwein ausgibt, eine junge Frau, die sagt, dass es angenehm ist, mit Andrea Nahles den Vormittag im »Arbeitskreis Pferd« zu verbringen. Eine junge weiße Frau, die bisher offenbar sehr gut funktionieren konnte in der Mühle Kapitalismus, deren Leben fast einer Blaupause für eine reibungslose Medienkarriere gleicht, Sophie Passmann, will die Frauen befreien.

Das ist an sich noch kein Widerspruch.

Eines ihrer Bücher heißt: „Alte weiße Männer, ein Schlichtungsversuch“. Darin isst, trinkt und plaudert sie nett mit weißen Männern. Leuten aus der gehobenen Mittelschicht, mehr oder weniger alten und mächtigen Leuten. (Btw. warum eigentlich nicht mit ihrem Parteigenossen Sarrazin?) Welche wirtschaftliche oder ob gesellschaftliche Macht sich allein daraus ergibt, als weiß und männlich geboren zu sein, so zu altern, warum das so sein soll, der versprochene Versuch einer Schlichtung worüber auch immer, all das bleibt offen. Sie reproduziert lediglich einen von ihr kritisierten Missstand: alte weiße Männer und ihre Standpunkte bekommen zu viel Raum.

Das ist dann schon ein Widerspruch.

Dabei hätte ein Passmann-Buch mit Geschichten von jungen schwarzen Frauen in meinem Regal stehen können. Jetzt steht nur ein Buch in Sophie Passmans Regal, eines dass von ihr selbst handelt, voller Worte von mitunter sehr reaktionärer Typen, aber immerhin neben Philip Roth.

Erste Regel der Leistungsgesellschaft: man spricht nicht über die Leistungsgesellschaft. Wir leben in einer weißen, hetero- und cis-normativen Klassengesellschaft, werden in einer von Silberrücken dominierten Kultur erzogen. Sexismus, Rassismus, Ableismus und der Ausschluß von wirtschaflich schwachen Menschen, sind allgegenwärtige Symptome einer Ökonomie, die frühstmöglich in Gewinnende und Verlierende, in verwertbar und unverwertbar aufteilt.

Diese Verhältnisse sind umzustürzen und es ist wichtig, dass so viele Menschen wie möglich darüber Sprechen. Wenn die Substanz einer feministischen Agenda aber selten darüber hinauskommt, „ich war früher hässlich und es ist egal“ und „hahaha du weißt ja gar nichts über den Menstruationszyklus!“ ins Internet zu schreiben, dann veralbert sich dieser Diskurs selbst und leistet der Bewegung einen Bärendienst.

Wenn eine junge weiße Sophie Passmann eine junge schwarze Beyoncé neoliberal nennt, ist das keine feministische Kritik, es ist heuchlerisch und undurchdacht. Du kannst deine eigenen Bücher mit dem Argument einer Hautfarbe vor dir hertragen, aber dann sei selbst keine neoliberale Sophie mit unreflektiertem white privilege im Unterhaltungsfernsehen, die einer Debatte um ihrem eigenen Rassismus nicht einmal bei Twitter standhält.

Sophie Passmann profitiert mehr von dem System der alten weißen Männer, als sie sich eingestehen will. Keine Frau braucht emanzipatorische Authentizität, um etwas zu vermarkten. Aber Feminismus braucht mehr als Selbstvermarktung der gehobenen Mittelschicht. Es ist der Lauf der Dinge, dass alte weiße Männer sterben, aber wenn dann alte weiße Sophies auf ihre Plätze nachrücken, verändert sich vielleicht gar nicht so viel.

Ich bin dafür über alte weiße Männer zu reden, über ihren Raum in der Gesellschaft, was stört, was zu ändern ist, ich bin dafür Feminismus in einen popkulturellen Diskurs einzubinden. Auch bin ich dafür, dass mehr Frauen Bücher veröffentlichen.Vor allem aber bin ich dafür, dass Feminismus das Umstürzen der Verhältnisse stärkt und dafür muss er klar formuliert, konfrontativ, unbequem und klassenbewusst sein. All das ist Sophie Passmann nicht.

#Titelbild: re:publica/CC BY-SA 2.0

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Gegen Patriarchat, Rassismus und Kapitalismus – am Frauen*kampftag geht es ums Ganze. Gespräch mit Friederike Benda

Friederike Benda, 31 Jahre alt, hat das Bündnis Frauen*kampftag mit ins Leben gerufen, ist im Frauenstreik Komitee Berlin und in der LINKEN aktiv.

Was ist das Frauen*kampftag-Bündnis in Berlin?

Vor sechs Jahren haben wir versucht, trotz notwendiger Benennung aller Differenzen und Widersprüche innerhalb der feministischen Bewegung unsere Gemeinsamkeiten in den Vordergrund zu stellen. Nicht, weil wir Frauen alle gleich wären, sondern weil sich unser Wir über gemeinsame Forderungen herstellt. In Zeiten, in denen Feminismus zum Teil selbst zu einem neoliberalen Projekt geworden ist – etwa der »Hillary Clinton Feminismus« -, wollen wir deutlich machen, dass wir uns nicht mit Verbesserungen für wenige Frauen abgeben. Wir wollen ein sorgenfreies Leben für alle Menschen. Wir lassen uns nicht durch Frauenquoten und Antidiskriminierungsstellen ruhig stellen, auch wenn wir deren Notwendigkeit nicht in Frage stellen.

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