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Mittlerweile ist es 17 Jahre her, dass der aus Sierra Leone stammende Oury Jalloh am 07. Januar 2005 in der Zelle Nr. 5 des Dessauer Polizeireviers ermordet wurde. 
17 Jahre, in denen die Initiative in Gedenken an Oury Jalloh Gedenkveranstaltungen und Solidarität organisierte, Brandgutachten durchführen ließ und sich für Aufklärung einsetzte. In denen viel geschrieben und gesagt wurde über die möglichen Todesumstände und die nicht stattfindende Aufarbeitung seitens Polizei, Justiz und Politik. Wer den Staat wohlwollend betrachtet, mag annehmen, dass hier eine schreckliche Ausnahme vorliegt, in der alle drei staatlichen Gewalten versagt haben. Schaut man sich jedoch die schiere Masse an sogenannten „Einzelfällen“ von rechter und faschistoider Gesinnung und Gewalt in den deutschen Sicherheitsbehörden in den letzten Jahren und den politischen Umgang mit diesen an, beginnt man zu zweifeln. Wer sich dann noch mit dem konkreten Fall auseinandersetzt – mit all den Hinweisen, die aufzeigen, dass die offizielle Erzählung der Selbstentzündung so nicht stimmen kann – der muss zu dem Schluss kommen, dass es sich um einen vertuschten Mord handelt. Dass der Korpsgeist innerhalb der Polizei mehr zählt, als ein Menschenleben. Und, dass die zuständigen Gerichte einige juristisch fragwürdige Entscheidungen zugunsten der Beamten fällten. 

Schon die Festnahme Oury Jallohs am Morgen des 07. Januar 2005 war – wie zwei vom Landtag eingesetzte Expert:innen 2020 in ihrem Bericht feststellten – rechtswidrig. Keine seiner vorherigen Handlungen rechtfertigte diese. Hinzu kommt, dass Jalloh mit zirka drei Promille Alkohol und Spuren von Drogen im Blut zu diesem Zeitpunkt sicherlich nicht mehr gewahrsamtauglich war. Trotz einer ärztlichen Untersuchung wurde er am Vormittag des 07. Januar, in Zelle Nr. 5 im Keller des Dessauer Polizeireviers verbracht und dort an Händen und Füßen auf einer Matratze gefesselt. Das vorangegangene Telefonat zwischen dem Bereitschaftsarzt und dem Dienstgruppenleiter Andreas S. findet sich in den Gerichtsakten. Es ist herablassend und rassistisch. Was danach folgte, ist bis heute nicht abschließend geklärt. Und das, was man weiß, ist grauenvoll. Oury Jalloh versucht mehrmals, durch die Sprechanlage auf sich aufmerksam zu machen, bittet darum, dass seine Fixierung gelöst wird. Nach einiger Zeit geht eine zuständige Polizistin Beate H. nach unten in den Keller und schaut nach ihm. Beim Verlassen der Zelle nimmt sie eine durchsichtige Flüssigkeit auf dem Boden der Zelle wahr, doch sie geht wieder nach oben ohne sich näher damit zu befassen. Jalloh ruft daraufhin erneut mehrmals durch die Sprechanlage, woraufhin Andreas S. diese leise stellt. Beate H. dreht sie wieder lauter. Auch den später erklingenden Feueralarm drückt Andreas S. zwei Mal weg. Erst als der Alarm für die Zellenbelüftung angeht, schickt sie ihren Gruppenleiter hinunter in den Keller, damit er nachschaut, was dort passiert. Im Folgenden hört sie nur noch panische Schreie durch die Sprechanlage. Niemand rettet ihn. Der junge Mann verbrennt an diesem Tag bei lebendigem Leib und ohne jegliche Chance, sich aus der Situation zu befreien.


Was danach folgt, ist eine unerträgliche Farce. Anstatt wegen Mordes zu ermitteln, steht das Urteil für viele der beteiligten Beamt:innen anscheinend schon fest: In den Mittelpunkt der Ermittlungen rückt die These, dass Oury Jalloh seine Matratze selbst angezündet haben soll und die anwesenden Polizist:innen lediglich nicht schnell genug gehandelt hätten. Doch dafür spricht nichts, wirklich gar nichts. Die Matratze ist feuerfest, das Feuerzeug wurde angeblich zwei Mal übersehen. Zunächst bei der Durchsuchung vor der Gewahrsamnahme, dann taucht es erst drei Tage später, am 10. Januar, im Brandschutt auf. Lediglich leicht angeschmort und mit Anhaftungen von Fasern und DNA, welche eindeutig nicht auf eine Benutzung durch Oury Jalloh zurückzuführen sind. Spätere Brandgutachten, welche von der Initiative in Gedenken an Oury Jalloh initiiert und durch Spendengelder bezahlt wurden, schließen aus, dass es ihm überhaupt möglich gewesen wäre, in gefesseltem Zustand die Doppelnaht der Matratze aufzureissen und anzuzünden. Und sie stellen fest, dass Brandbeschleuniger im Spiel gewesen sein muss. 
Doch von alldem will die Staatsanwaltschaft Dessau nichts wissen. Sie ermitteln gegen Andreas S. und einen weiteren Beamten, der angeblich das Feuerzeug übersehen hat, lediglich wegen fahrlässiger Tötung. Außerdem wehrt sie sich gegen eine Röntgenuntersuchung der Leiche. Eine zweite Obduktion findet im März 2005 dann doch statt – erneut organisiert und finanziert durch die Initiative. Diese zeigt einen Bruch des Nasenbeins, im Oktober 2019 wird darüber hinaus festgestellt, dass auch sein Schädel, sowie mehrere Rippen gebrochen sind. Die Herkunft dieser Verletzungen wird gerichtlich nicht weiter geklärt. Ganze 59 Verhandlungstage dauert der Prozess vor dem Dessauer Gericht und doch gibt es am Ende keine Aufklärung. Die beiden Beamten werden am 08. Dezember 2008 zunächst freigesprochen. 
Daraufhin legen die Anwält:innen der Familie Jallohs beim Bundesgerichtshof in Karlsruhe Revision ein. Es folgen jahrelange Gerichtsverhandlungen: Erst in Magdeburg, wo es zunächst zu einer Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung kommt, nach einer von allen Seiten eingelegten Revision soll das Verfahren dann aber an die Bundesanwaltschaft übergeben werden. Diese verweigert sich jedoch ihrer Zuständigkeit und gibt die Ermittlungen an die Generalstaatsanwaltschaft Naumburg ab, welche wiederum die Staatsanwaltschaft Dessau für zuständig erklärt. Schließlich bestätigt der Bundesgerichtshof im September 2014 – also neun Jahre nach dem Mord – das Urteil des Magdeburger Landgerichts, welches dadurch rechtskräftig wird. 

Doch die Initiative in Gedenken an Oury Jalloh hört nicht auf, für Aufklärung und Gerechtigkeit zu kämpfen. Gegründet im Januar 2005 organisierte sie seitdem unzählige Kundgebungen und Mahnwachen, die jährlich stattfindende Gedenk-Demonstration sowie zwei radiologische Untersuchungen. Insgesamt drei unabhängige Brandgutachten wurden beauftragt, das letzte aus dem November 2021, ausserdem Pressekonferenzen sowie eine unabhängige internationale Kommission aus Sachverständigen und stellte zusammen mit der Familie von Oury Jalloh mehrmals Anzeigen wegen Mordes – teilweise mit konkreten Hinweisen zu einem möglichen Täter. Doch statt dem nachzugehen, wurde mit Repression gegenüber denjenigen reagiert, welche die Anschuldigungen äußerten. In einem Fall traf dies einen Justizvollzugsangestellten, welcher die Polizei darüber informierte, dass ein gewisser Udo S. (zu diesem Zeitpunkt schon im Ruhestand) der Mörder von Oury Jalloh sei. Gegen ihn wird ein Disziplinarverfahren eingeleitet und eine Anzeige wegen Verleumdung gestellt. Und auch die politische Aufklärung wird blockiert. Erst im August 2021 beschloss der Vorstand der SPD im Landtag von Sachsen-Anhalt, dass sie in der folgenden Legislaturperiode nicht für einen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss stimmen wird. Sie geben sich mit dem Bericht der zwei Sonderbeauftragten aus dem Jahr 2020 zufrieden, welcher ihrer Auffassung nach belege, „dass offene Ermittlungsansätze zum Tod von Oury Jalloh nicht zu erkennen seien“. Diese Aussage ist zutiefst verachtend.
Doch trotz all diesem offensichtlichen Unwillen zur Aufklärung, trotz des vorherrschenden Korpsgeists und den wiederkehrenden Falschbehauptungen, arbeitet die Initiative weiter für „Aufklärung, Gerechtigkeit und Entschädigung“, wie es auf ihrer Website heißt. Und sie sind gut darin. Waren bei der ersten Demonstration in Dessau noch 150 Menschen, so kommen mittlerweile an jedem 07. Januar mehrere Tausend Menschen aus dem gesamten Bundesgebiet in Dessau zusammen, um für die oben genannten Forderungen zu demonstrieren. Doch nicht nur auf der Straße zeigen sich die Errungenschaften der Initiative. Ihr und der Familie Oury Jallohs ist es zu verdanken, dass eine breite Öffentlichkeit auf den Fall aufmerksam geworden ist und das Narrativ der Selbsttötung angezweifelt wird.

Diese Kontinuität und Beharrlichkeit der Beteiligten ist wichtig in einem Land, in dem rassistische Morde oft zu einem seltenen Randphänomen verklärt werden, anstatt sie als das anzuerkennen, was sie sind: Die Konsequenz einer strukturell rassistischen Gesellschaft inklusive der ihr eigenen staatlichen Organe.

#Foto: PM Cheung

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„Sein Gewissen war rein. Er benutzte es nie.“ Angesichts dieses mir schon lange vertrauten Zitats des polnischen Aphoristikers Stanislaw Jerzy Lec muss ich immer zuerst an den Mann denken, der vor ein paar Tagen zum Bundeskanzler dieses Landes gewählt worden ist. Olaf Scholz erscheint mir wie ein Prototyp dieses von Lec beschriebenen Menschenschlags. Was bürgerliche Medien bei dem Sozialdemokraten als „Pragmatismus“ bejubeln, lässt sich wohl eher als kalte Arroganz der Macht beschreiben. In Scholz‘ politischer Karriere gibt es genug Ereignisse, die diese Einschätzung bestätigen – aber wohl keines so deutlich wie der Fall Achidi John.

Es ist ein irgendwie seltsam anmutender – aber auch bezeichnender – Zufall, dass der frühere Hamburger Bürgermeister ausgerechnet am 9. Dezember 2021 zum Bundeskanzler gewählt worden ist. Das war auf den Tag genau 20 Jahre nach den Vorgängen im Institut für Rechtsmedizin des Hamburger Universitätsklinikums (UKE), die den Nigerianer Michael Paul Nwabuisi, der sich Achidi John nannte, das Leben kosteten. Mit großer Brutalität wurde dem als Kleindealer verdächtigten und erst 19 Jahre alten Mann am 9. Dezember 2001 dort zwangsweise ein Brechmittel verabreicht, um verschluckte Drogenkügelchen zu Tage zu fördern. John erlitt einen Herzstillstand, fiel ins Koma. Drei Tage später wurde er auf einer Station des UKE für tot erklärt.

Der 20. Todestag von Achidi John wurde in den bürgerlichen Medien, von Ausnahmen abgesehen, in den vergangenen Tagen geflissentlich beschwiegen. In der überbordenden Berichterstattung über die Kanzlerwahl und die neue Bundesregierung, fanden die Verstrickungen von Scholz in die Affären um die Cum-Ex-Deals und Wirecard oder seine Rolle beim G-20-Gipfel im Sommer 2017 in Hamburg gelegentlich Erwähnung. Aber mit dem Thema Brechmittel und seinem Anteil an der Sache wollte man dem neuen mächtigsten Mann im Staat offenbar nicht kommen. Dabei sagen die Vorgänge vermutlich mehr über ihn aus, als vieles andere.

Denn Achidi John kann ohne Übertreibung als direktes Opfer des machiavellistischen Politikansatzes des Olaf Scholz bezeichnet werden. Dazu muss man wissen, dass Scholz im Mai 2001 zum Innensenator Hamburgs ernannt worden war. Damals stand eine Bürgerschaftwahl im September bevor und der SPD und den Grünen drohte der Machtverlust. Die bürgerlichen Medien der Stadt arbeiteten fleißig daran, allen voran die Springerblätter Hamburger Abendblatt (inzwischen Funke-Gruppe), Bild und Welt. Die Kleindealer auf St. Pauli, in St. Georg und im Schanzenviertel, fast durchweg Afrikaner, wurden zum Hauptproblem der Stadt hochstilisiert. Zugleich baute die Presse den durch überharte Urteile aufgefallene Amtsrichter Ronald Schill, den man „Richter Gnadenlos“ getauft hatte, zum Heilsbringer auf.

Scholz versuchte der Schill-Partei, die mit dem Richter als Zugpferd gegründet worden war und rückblickend als Vorläufer der AfD bezeichnet werden kann, das Wasser abzugraben. Und zwar indem er einen harten Law-and-Order-Kurs fuhr. Dazu gehörte auch, dass er die zwangsweise Verabreichung von Brechmitteln gegen als Drogendealer verdächtigte Menschen erlaubte, obwohl es auch damals schon medizinische Bedenken gegen den Einsatz des Brechsirups Ipecacuanha gab. Mit diesem gewissenlosen Profilierungsversuch gab Scholz letzlich nur der rassistischen und protofaschistischen Schill-Partei recht, die folglich bei der Bürgerschaftswahl im September 2001 sensationelle 19,4 Prozent einfuhr und der CDU unter Ole von Beust an die Macht verhalf. Als Achidi John starb, war Schill bereits Innensenator.

Noch heute läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken, wenn ich Schilderungen der Foltertortur lese, die der junge Mann im Institut für Rechtsmedizin am 9. Dezember 2001 erleiden musste. Der Nigerianer wehrte sich verzweifelt gegen die Verabreichung des Sirups. Aber das half ihm nicht. Zuletzt fixierten ihn fünf Polizeibeamte. Mit auf dem Rücken gefesselten Händen hielten sie ihn auf dem Boden fest. Erst nach mehreren Versuchen gelang es der Rechtsmedizinerin Ute L., John eine Magensonde durch die Nase einzuführen und ihm 30 Milliliter des Brechsirups Ipecacuanha sowie Wasser einzuflößen. Später gab es Vorwürfe, L. und die Beamten hätten den Nigerianer anschließend liegen lassen ohne sich um ihn zu kümmern und die Reanimation zu spät eingeleitet. Dieser Verdacht ließ sich aber offenbar nicht wirklich erhärten. 

Weder Ute L. noch einer der beteiligten Beamten wurden jemals angeklagt. Die Staatsanwaltschaft stellte ein Vorermittlungsverfahren gegen die an dem Einsatz Beteiligten im Juni 2002 ein. Ein Klageerzwingungsverfahren des Vaters von Achidi John wurde vom Hanseatischen Oberlandesgericht im Juli 2003 wegen angeblicher Formfehler abgelehnt. Natürlich gab es weder von Olaf Scholz, noch von Klaus Püschel, dem kürzlich pensionierten Leiter des IfR, auch nur das geringste Wort des Bedauerns oder gar eine Entschuldigung. Unter Püschels Leitung wurden auch nach dem Tod von John die Brechmitteleinsätze noch bis ins Jahr 2006 fortgeführt. 

Erst danach wurde die zwangsweise Verabreichung in Hamburg eingestellt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte im Juli 2006 geurteilt, dass die erzwungene Vergabe von Brechmitteln gegen das Folterverbot des Artikels 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention verstößt. Nach Angaben der Hamburger „Initiative zum Gedenken an Achidi John“ wurden zwischen 2001 und 2006 insgesamt 530 Menschen – fast ausschließlich schwarze junge Männer – von der Polizei dem Institut zugeführt und mit einer Zwangseinflößung des Brechmittels bedroht, respektive malträtiert. Was wenig bekannt ist: Die „freiwillige“ Einnahme von Brechmitteln wurde noch bis 2020 fortgesetzt. Wobei von Freiwilligkeit nicht wirklich gesprochen werden kann, wenn einer Straftat Verdächtigte unter Druck gesetzt und Vorteile bei „Kooperation“ versprochen werden.

Die „Initiative zum Gedenken an Achidi John“ hat aus Anlass seines 20. Todestages dem Vorstand des Universitätsklinikums Eppendorf geschrieben und ihn unter anderem gefragt, „wie er heute zu der damaligen menschenrechtswidrigen Praxis am IfR steht, und ob zumindest eine medizin-ethische Aufarbeitung am UKE stattgefunden habe“. Die Antwort des UKE in einem Schreiben vom 12. August sei keine, erklärte die Initative in einer Mitteilung. Das UKE habe lediglich auf Bürgerschaftsdrucksachen verwiesen. „In den Räumen des Instituts für Rechtsmedizin ist gefoltert worden“, wird der Sprecher der Initiative, Daniel Manwire, zitiert. Püschel und seine Mitarbeiter hätten sich den Einsätzen verweigern können und müssen.


Ebenso wie die Linksfraktion in der hamburgischen Bürgerschaft fordert die Initiative eine Entschuldigung der Verantwortlichen und die Einrichtung eines „würdigen Gedenkortes“ für Achidi John und die anderen von der Brechmittelfolter Betroffenen auf dem Gelände des UKE. Daraus dürfte aber nichts werden. Ein entsprechender Antrag der Linken in der Bürgerschaft wurde abgebügelt. Von Vertreter*innen der SPD und der Grünen gab es Worte des Bedauerns, entschuldigen wollten sie sich nicht.

Olaf Scholz wird vermutlich weiterhin gut schlafen können, da er sich wohl – wie immer – nichts vorzuwerfen hat. Das Hermetische seiner Auffassungen macht Angst, mir jedenfalls. Ein langjähriger Abgeordneter der Linken in der Bürgerschaft erzählte mir einmal eine Begebenheit, die viel über den Sozialdemokraten aussagt. Er habe versucht, Scholz seinen Standpunkt zu erläutern, darauf habe dieser zu ihm gesagt: „Das weiß ich doch alles schon. Da sagen Sie mir nichts Neues.“ Diese felsenfeste Überzeugung, alles besser zu wissen, kann gefährlich sein – vor allem wenn jemand an den Hebeln der Macht sitzt. 

#Foto: Wikimedia Commons

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Die Abschottungspolitik der Europäischen Union führt immer wieder zu Eskalationen an den Außengrenzen der Staatengemeinschaft. Zuletzt hat sich die Lage an der polnisch-belarussischen Grenze zugespitzt, weil eine wachsende Zahl Geflüchteter versucht, über diese Route in die EU zu gelangen. Als Antwort entsandte die polnische Regierung tausende Soldaten an die Grenze und richtete eine Sperrzone ein, in die weder internationale Beobachter noch Ärzte und Journalisten gelassen werden. Helfer dringen dennoch unter Inkaufnahme persönlicher Risiken zu den Geflüchteten vor. Sie berichten von unhaltbaren Zuständen. Die Aktion Mauerfall jetzt! – bestehend aus der Seebrücke DeutschlandLeaveNoOneBehind und dem Verein Wir packen’s an aus dem brandenburgischen Bad Freienwalde – brachte vor kurzem mit einem Bus Sachspenden an die Grenze. Unter den Aktivisten war auch Tareq Alaows, aktiv bei Seebrücke und dem Flüchtlingsrat Berlin. Im Interview mit dem Lower Class Magazine berichtet er von der Aktion und der Lage an der Grenze. 

Ihr wolltet den Geflüchteten an der polnisch-belarussischen Grenze Hilfsgüter bringen. Wie ist es gelaufen?

Leider sind wir nicht bis zur Grenze durchgekommen. Direkt an der Sperrzone wurde der Bus gestoppt. Plötzlich war überall Polizei, uns wurde erklärt, dass wir umkehren müssten. Die Situation war so eskalierend, dass wir das wir das Gefühl hatten, man würde uns in Gewahrsam nehmen, wenn wir noch geblieben wären. Schweren Herzens haben wir uns zur Umkehr entschlossen, da eine Konfrontation hier keinen Sinn gemacht hätte. Die Hilfsgüter, die wir dabei hatten, haben wir an humanitäre Organisationen übergeben, die eine Möglichkeit haben, sie Geflüchteten zukommen zu lassen. 

Erklärtes Ziel eurer Aktion war neben dem Transport von Sachspenden, geflüchtete Menschen auf der Rückfahrt mit nach Deutschland zu nehmen. 

Ja. Wir hatten beim Bundesinnenministerium um eine Erlaubnis gefragt, dass wir Geflüchtete im Bus mit nach Deutschland zurücknehmen können. Es lagen bereits Zusagen von drei deutschen Kommunen vor, die Menschen aufzunehmen. Aber wie nicht anders zu erwarten war, hat das BMI (Bundesministerium des Inneren, Anm.) auf unser Hilfsangebot nicht reagiert. 

Habt Ihr denn bei eurer Aktion Geflüchtete treffen können?

Vor Ort ging das leider nicht. Aber ich bin über die sozialen Medien im Kontakt mit vielen geflüchteten Menschen in der Grenzregion. Weil ich eine relativ große Reichweite in den entsprechenden Communities habe und selbst arabisch spreche, schreiben sie mich dort an. Ich komme ja aus Syrien und bin vor sechs Jahren selbst geflüchtet und dann nach Deutschland gekommen, habe hier deutsch gelernt. 

War hörst du über die Lage vor Ort? Es heißt die Versorung sei miserabel, die Menschen der Kälte und Witterung seit Tagen und Wochen fast schutzlos ausgeliefert. Ein Video des belarussischen Fernsehens zeigte Menschen, die um Lagerfeuer kauern. 

Von der belarussischen Seite gibt es überhaupt keine Versorgung. Die Menschen haben faktisch nur die Sachen, die sie mit sich tragen. Wer also eine Decke mitgebracht hat, der hat eine. Wer keine dabei hatte, hat eben keine. Sie versuchen, sich an Lagerfeuern ein wenig zu wärmen. Auch zu Essen und zu Trinken haben die Menschen zu wenig. Viele sind schon länger dort. Sie kommen weder über die von Grenzpolizisten und Soldaten gesicherte polnische Grenze, noch kommen sie zurück nach Belarus. Die Grenzer auf belarussischer Seite lassen sie nicht durch, um zum Beispiel etwas zum Essen oder zu Trinken zu beschaffen. 

Das heißt, die Menschen sind im Grunde eingesperrt in den Wäldern.

Sie stecken fest im Niemandsland zwischen den beiden Staaten, kommen nicht vor und nicht zurück. 

Bis vor kurzem war von zehn bestätigten Todesfällen die Rede, Menschen, die erfroren oder an Dehydrierung gestorben sind. Jetzt kam noch ein Fall hinzu.

Ja, es ist schrecklich. Ein 14 Jahre alter Junge wurde heute morgen tot aufgefunden, offensichtlich ist er erforen. Viele Berichte, die ich von Geflüchteten aus der Region empfange, sprechen von viel mehr Toten als den jetzt elf bestätigten. Die Dunkelziffer ist hoch. Viele Geflüchtete, die durchgekommen sind und hier in Deutschland ankommen, berichten, dass sie in den Wäldern Leichen gesehen haben. 

Wie viele Geflüchtete halten sich denn nach deinen Kenntnissen in der Grenzregion auf?

Laut den Zahlen, die ich bekomme, sind es 4000 bis 5000 Personen. Aber es könnten auch noch mehr sein. 

Es heißt, die polnischen Grenzpolizisten und Soldaten würden äußerst brutal gegen die Menschen vorgehen. Die Männer, die es geschafft hätten und hier ankommen, hätten fast alle Hämatome oder andere Verletzungen. Entspricht das deinen Erkenntnissen?

Das kann ich bestätigen, auch auf Grundlage der Berichte meiner Kollegen aus der Flüchtlingsberatung in Berlin. Es liegen viele Berichte von Gewaltspuren an den Körpern der Menschen vor, meist erwachsene Männer. Es wird von hunderten rechtswidrigen Pushbacks berichtet, die mit Gewalt verbunden sind. Von denen, die hier sind, sind die wenigsten gleich beim ersten Mal durchgekommen. Als wir vor Ort waren, bekam ein Aktivist einen Anruf von einer achtköpfigen Familie mit schwerkranker Tochter. Die hatte drei oder vier Mal versucht, über die Grenze zu kommen. Es wurde berichtet von Gewaltspuren bei diesen Menschen, das Kind wurde nicht medizinisch versorgt. Wir wissen nicht, wie es ihnen jetzt geht und wo sie sind. 

Hierzulande hat die Entwicklung eine üble Kampagne in den Leitmedien und viel Hetze in den sozialen Medien ausgelöst. Bild, Welt, die FAZ und viele andere Medien haben kritiklos das Narrativ übernommen, es handele sich um einen „hybriden Krieg“ des belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko, die Geflüchteten würden „als Waffen benutzt“. Was sagst du dazu?

Diese Berichterstattung und die Debatte führen zu einer Enthumanisierung. Wir haben es mit Menschen zu tun, die in Not sind. Sie kommen zu einem großen Teil aus Syrien, Irak und Afghanistan. Das sind Länder die instabil sind, in denen es Kriege gibt oder gab. Die Not dieser Menschen wird von Lukaschenko missbraucht, keine Frage. Aber die politische Antwort der EU kann nicht sein, dass neue Zäune und Mauern errichtet werden, sondern die müssen abgebaut werden. Ich begreife nicht, woher diese Angst vor den geflüchteten Menschen kommt. Wir machen uns doch erpressbar, wenn wir mit Panik reagieren. Die Gesamtzahl der Menschen an der Grenze liegt, wie gesagt, bei etwa 5000 Personen. Wenn die alle aufgenommen und in ganz Europa verteilt werden, dann machen sie einen Anteil von 0,01 Prozent der europäischen Bevölkerung aus. 

Rechte Politiker und Medien wie die Bild-Zeitung arbeiten mit dem Framing, 2015 dürfe sich nicht wiederholen.

Den Satz kann ich aus meiner persönlichen Erfahrung heraus nur bekräftigen – allerdings ganz anders, als etwa die CDU oder die AfD es meinen. Ich gehöre zu den Menschen, die damals nach Deutschland gekommen sind und weiß, wovon ich rede. 2015 bedeutet soviel Leid, bedeutet brutale Reaktionen gegen geflüchtete Menschen, 2015 steht für viele, die ertrunken sind. Und das ist es, was sich auf keinen Fall wiederholen darf. Darum müssen wir sichere Fluchtwege schaffen, dass Menschen Asyl außerhalb von Europa beantragen können und sich nicht auf solche lebensgefährlichen Routen begeben müssen. 

Die EU scheint das Elend der Menschen an der Grenze nicht zu interessieren. Offenbar geht es nur darum, die Abschottung um jeden Preis aufrecht zu erhalten. Ist es nicht absurd, wenn EU-Kommisionspräsidentin Ursula von der Leyen, Lukaschenko Zynismus vorwirft?

Natürlich. Die EU macht ja selbst zynische Deals mit Diktatoren, nur um Geflüchtete von Europa fernzuhalten. Zum Beispiel der sogenannte Flüchtlingsdeal mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Oder der Deal mit der so genannten libyschen Küstenwache, das sind paramilitärische Gruppen, die von der EU finanziert werden, um Geflüchtete aufzuhalten. Das Muster ist immer dasselbe, man will null Asylbewerber in Europa. Aber das funktioniert einfach nicht, weil die Menschen aus Ländern kommen, in denen sie keinerlei Perspektive haben. Selbst wenn die Hoffnung für sie, ein sicheres Leben in Europa zu führen, noch so gering ist, ist das noch eine Hoffnung – in ihrer Heimat haben sie gar keine Hoffnung mehr. 

#Titelbild: Srishti Pandya on unsplash

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Was dem einen sein Sarrazin, ist dem anderen sein Palmer. So könnte man in leichter Abwandlung eines bekannten Sprichworts aktuelle Entwicklungen in der Parteienlandschaft der Republik kommentieren. In einer Zeit spätkapitalistischer Zerfallsprozesse und einer unübersehbaren Verrohung des Bürgertums nehmen zwangsläufig auch die Fliehkräfte in den bürgerlichen Parteien zu. Wobei die Linkspartei in diese Kategorie leider einzubeziehen ist, da sie – von lobenswerten Ausnahmen abgesehen – die Spielregeln der parlamentarischen Demokratie weitgehend akzeptiert hat und nicht wirklich daran arbeitet, das System zu überwinden. Folglich hat sie auch Anteil an den systemischen Defiziten und Krankheiten.

Vor dem Hintergrund der geschilderten gesellschaftlichen Prozesse ist es wohl kaum ein Zufall, dass sich fast zeitgleich drei der im Bundestag vertretenen Parteien mit prominenten Abweichlern in den eigenen Reihen herumärgern müssen: Bündnis 90/Die Grünen mit dem Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer, die CDU mit dem früheren Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen und Die Linke mit der früheren Fraktionschef der Partei im Bundestag, Sahra Wagenknecht. So unterschiedlich die drei Fälle im Detail sind, sind sie doch im Kern auf ein- und dieselbe Problematik, ein- und dasselbe Grundmotiv zurückzuführen. Während Emerson, Lake & Palmer in den 1970ern mit ihrem progressiven Rock den Hörer*innen neue musikalische Sphären erschlossen, heißt der Hit des Trios Wagenknecht, Maaßen & Palmer, bei dem all die reaktionären Angstbeißer, vor allem aus der Mittelschicht, lauthals mitsingen: „Das wird man wohl noch sagen dürfen“.


Im Kern geht es bei diesen Dreien und ihrem Vorläufer und Wegbereiter, dem früheren Sozialdemokraten Thilo Sarrazin, letztlich doch nur um Eines: die xenophobische Grundstimmung im Bürgertum zu bedienen und zu nähren. Alle vier sind in ihren jeweiligen Milieus Sprachrohr einer sich in der Regel missverstanden fühlenden Gruppe, die ihre Ressentiments gegen Geflüchtete und andere marginalisierte Menschen pflegen möchte, ohne dafür irgendwie moralisch in Frage gestellt oder gar beschuldigt zu werden, ohne „in die rechte Ecke gestellt zu werden“. Sarrazin, Wagenknecht, Maaßen und Palmer geben den Ressentiments vor allem der Mittelschicht, die sich letztlich aus deren Angst vor dem sozialen Abstieg und von ihr als bedrohlich empfundenen Dynamiken speist, in je eigener Prägung Ausdruck und sprechen sie pauschal von aller Kritik frei.

Sarrazin hat auf sehr plumpe und offen rassistische Art und Weise mit seinem Bestseller „Deutschland schafft sich ab“ schon 2010 den Aufschlag gemacht. Für die SPD hat das den unschätzbaren Vorteil, dass sie ihren Abweichler schon los geworden ist, auch wenn das Ausschlussverfahren etwas gedauert hat. CDU, Grüne und Linke müssen sich dagegen noch mindestens im gesamten Bundestagswahlkampf mit den Sarrazin-Epigonen herumärgern. Bei der Union und der Linken haben es Maaßen resp. Wagenknecht bekanntlich sogar geschafft, sich trotz ihrer Außenseiterpositionen für den Bundestag aufstellen zu lassen. Maaßen wurde im tiefschwarzen Südthüringen nominiert, Wagenknecht gar auf Platz 1 der Landesliste in Nordrhein-Westfalen gewählt. Gegen die beiden wird offenbar auch kein Ausschlussverfahren in den jeweiligen Parteien erwogen, während Palmer seit kurzem bei den Grünen eines am Hals hat, nachdem er es mit dem Provozieren etwas übertrieben hatte.

Wagenknecht, Maaßen & Palmer arbeiten nicht ganz so mit dem Holzhammer wie Sarrazin, am ehesten noch Maaßen. Seine Äußerungen sind kompatibel mit denen von AfD-Vertretern und anderen reaktionären Gestalten. Maaßen verkörpert den hetzerisch-paranoiden Typus, dessen verzerrte Wahrnehmung der gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht anders als pathologisch genannt werden muss. Er glaubt offensichtlich tatsächlich daran, dass die Republik von einer „links-grün-versifften“ Mafia regiert wird, die das Land ins Unglück stürzt und in der „aufrechte Bürger“ wie er, die sich tagtäglich um die Rettung des Abendlandes und seiner Werte bemühen, eine verfolgte Minderheit sind. Seine Bemerkungen sind oft unfreiwillig komisch, etwa als er einst „linksradikale Kräfte in der SPD“ ausgemacht haben wollte. Ob Maaßen wegen seiner verschrobenen politischen Positionen zum Chef des Inlandsgeheimdienst gemacht wurde oder erst durch die Tätigkeit in dem Laden durchgeknallt ist, lässt sich nicht sagen.

Der Tübinger Lockdown-Lockerer Boris Palmer, dem in dieser Kolumne bereits ein eigener Beitrag gewidmet war, würde wohl nie so holzschnittartig wie Maaßen argumentieren. Er steht eher für den grün lackierten Wohlstandsbürger, der es versteht, wortreich zu begründen, warum seine Ressentiments keine sind. Als typischen Anhänger Palmers kann man sich vielleicht, um ein Klischee zu zitieren, einen Oberstudienrat vorstellen, der gern als linksliberaler Intellektueller gesehen werden will, tatsächlich in vielem aber ein Reaktionär ist. Ein ähnliches Klientel dürfte Sahra Wagenknecht bespielen, wenn man sich dieses vielleicht auch insgesamt noch jünger und sich noch eher als links verstehend vorstellen muss.

Die rote Diva verbindet mit Maaßen, dass sie sich auch als verfolgte Unschuld sieht. Da es bei einer Linken natürlich noch viel weniger akzeptiert wird, gegen Geflüchtete oder andere Marginalisierte Stellung zu beziehen, ist der rhetorische Aufwand und das Maß an Verdrehtheit in der Argumentation von Wagenknecht noch mal erheblich größer als bei Sarrazin, Palmer und Maaßen. Sie hat bekanntlich kürzlich ein ganzes Buch geschrieben, um klar zu stellen, dass sie keine Rassistin ist, sondern tatsächlich ganz vorn an der Barrikade steht, Arm in Arm mit den revoltierenden Massen. Ihr Machwerk „Die Selbstgerechten“ ist selbstredend genauso ein Bestseller, wie es Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“ oder Palmers „Wir können nicht allen helfen“ waren. Von Maaßen gibt es übrigens bisher nur trockene juristische Fachliteratur, etwa über die „Stellung des Asylbewerbers im Völkerrecht“ – da kommt der Bestseller wohl noch.

Bedenklich ist an all dem vor allem, dass vier so defizitäre Charaktere mit politisch mehr als bedenklichen Positionen von den bürgerlichen Medien, voran den Talkshows im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, dermaßen gehypet werden. Das hat natürlich etwas mit den Funktionsweisen und Imperativen von Medien im Kapitalismus zu tun. Radau sorgt für Quote. Die öffentliche Präsenz der Drei hat aber auch damit zu tun, dass sie ein Thema repräsentieren, das trotz der seit 2015 zurückgehenden Zahlen bei den Asylbewerbern keineswegs verschwunden ist und unterschwellig auch den Bundestagswahlkampf mitbestimmt: die Angst vor den anderen, den Fremden. Das Thema an die AfD zu delegieren und aus den bürgerlichen Parteien herauszuhalten, funktioniert ganz offenbar nicht.

Wagenknecht, Maaßen & Palmer bleiben weiter in den Charts und wir werden sicher noch manchen „Hit“ von ihnen hören.

# Titelbild: Emerson, Lake & Palmer, Gorupdebesanez CC BY-SA 3.0, Boris Palmer © Superbass / CC-BY-SA-4.0 (via Wikimedia Commons)“, Maaßen, Bundesministerium des Innern/Sandy Thieme CC BY-SA 3.0, Wagenknecht © Superbass / CC-BY-SA-4.0 (via Wikimedia Commons), Collage: LCM

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Die Massenproteste gegen die Zwangsräumungen von Palästinenser:innen in Sheikh Jarrah und die weltweiten Solidaritätsdemonstrationen haben auch im internationalen Diskurs eine Verschiebung eingeleitet – nur Deutschland und Österreich hinken hinterher, meint unser Gastautor Marik Ratoun.

Viel läuft schief in der hiesigen Diskussion über die aktuellen Entwicklungen in Palästina-Israel: In den letzten Wochen hat das hochgerüstete israelische Militär in Gaza gezielt dichtbevölkerte Wohnviertel bombardiert, kritische Infrastruktur zerstört (darunter das einzige Corona Testzentrum in Gaza, Mediengebäude, Schulen, Straßen, die zu Krankenhäusern führten etc.) und 219 Menschen, darunter 63 Kinder, ermordet. In deutschen Medien – zwischen linken und bürgerlichen Medien waren hier oft kaum Unterschiede zu verzeichnen – standen allerdings nicht diese Kriegsverbrechen im Vordergrund, sondern der Raketenbeschuss des bewaffneten Arms der Hamas auf israelische Städte, bei dem 28 Menschen ums Leben gekommen sind. Daneben waren antisemitische Geschehnisse vor Synagogen Thema sowie die vielen Demonstrationen gegen die koloniale Gewalt in Palästina am Tag der Nakba (15.05). Gezielt wurden die fortschrittlichen Demonstrationen, deren Organisator*innen sich zuvor eindeutig von Antisemitismus und Faschismus distanziert hatten, unter die antisemitischen Geschehnisse subsumiert.

Was wir in der deutschen Berichterstattung und den apologetischen Reflexen der meisten bürgerlichen Politiker*innen beobachten können, ist eine Weigerung die Realität der Apartheid und der siedlerkolonialen Gewalt in Palästina-Israel anzuerkennen. Die bedingungslose „Solidarität mit Israel“ scheint ein verzweifeltes Aufbäumen zu sein gegen diese Realität und gegen den fortschreitenden Wandel im weltweiten Blick auf die Situation, der sich verschiebt. Überall hat es große Demonstrationen in Solidarität mit den Palästinenser*innen gegeben. In Berlin waren mehr als 15.000 auf der Straße, in London waren es gar 180.000 Menschen. Und sogar in den US-amerikanischen Leitmedien kamen Aktivist*innen zu Wort, die vor laufender Kamera sagen können, was ist. So erklärte der palästinensische Aktivist Mohammed El-Kurd bei einem Interview beim MSNBC am 11. Mai über die Entwicklungen im Jerusalemer Stadtviertel Sheikh Jarrah: „Das ist ethnische Säuberung“. Ein MSNBC Kolumnist analysierte: „Wir müssen in der Lage sein zu sagen, dass Israels Behandlung der Palästinenser Apartheid ist. Punkt.“ Dies war bei den früheren Gewaltausbrüchen unvorstellbar. Auch einige Politiker*innen der demokratischen Partei verurteilten die israelischen Angriffe weit schärfer, als es bisher toleriert wurde. Diese Sag- und Hörbarkeit palästinensischer antikolonaler Perspektiven ist eine Folge der jahrelangen Organisierung palästinensischer und solidarischer jüdischer Aktivist*innen in den USA.

In Deutschland sind wir scheinbar noch weit entfernt, einen derartigen Wandel in der allgemeinen und linken Berichterstattung zu spüren. Der Verlust der Überzeugungskraft des israelischen Regierungsnarrativs, wonach Israel sich stets angemessen gegen Angriffe von außen selbst verteidige und „beide Seiten an der Eskalation schuld seien“ ist nach wie vor dominant.

Deshalb sollten wir daran arbeiten, dass sich das ändert. Gerade aus linksradikaler Sicht ist es unsere Aufgabe, die Analyse der Palästinenser*innen populär zu machen und nach außen zu tragen. Denn sie haben vor allem in Deutschland keine großen Lobbyorganisationen oder kraftvollen politischen Kanäle, die ihre Sicht auf die Dinge hörbar machen könnten. Aber sie haben die Bewegung, sie haben uns. Umso wichtiger ist es, dass wir ihre Stimmen verstärken und unterstützen: Es ist Zeit, dass wir beginnen, das anhaltende Schweigen der deutschen Linken im Angesicht der mehr als 70 Jahre andauernden Unterdrückung der Palästinenser*innen zu beenden. Es ist Zeit, dass wir uns eine kritische und sachkundige Analyse und Beschreibung von den Entwicklungen in Palästina-Israel aneignen, statt untätig im Paradigma der „beiden Streithähne aus Nahost“ und der „Selbstverteidigung Israels“ zu verharren. Die Wörter, die wir benutzen, um die Entwicklungen zu beschreiben, haben in diesem Befreiungskampf eine herausgehobene Stellung: Weil die Palästinenser*innen sich angesichts der israelischen Gegenmacht nicht selbst befreien können, appellieren sie an die Welt, sie nicht im Stich zu lassen. Und hierzu gehört auch, sich vehement gegen die fabrizierte Verteidigung der andauernden Kolonisierung palästinensischen Lands zu stellen.

Nicht erst der Bericht von Human-Rights-Watch vom 27. April 2021 hat gezeigt, dass es in Palästina-Israel nicht einfach um ein bisschen Diskriminierung, sondern glasklare Apartheid, d.h. strukturelle ethnische Separation, geht. Seit Jahrzehnten sprechen palästinensische Aktivist*innen im Angesicht von Mauern, Checkpoints, ethnischer Säuberung und Vertreibung, rassistischen Gesetzesregimes (für Palästinenser*innen in Israel gilt israelisches Zivilrecht, für Palästinenser*innen unter Besatzung Militärrecht) und der Einkreisung der arabischen Städte in der Westbank von Apartheid, ohne jedoch Gehör zu finden. Genauso ist inzwischen den meisten progressiven Kreisen (außerhalb von Deutschland und Österreich) klar, dass die Natur des Konflikts keine religiöse, sondern eine siedlerkoloniale ist. Die Pogrome gegen Palästinenser*innen innerhalb von Israel durch zionistische Siedler*innen, mit Rückendeckung der Polizei, die regelmäßigen Angriffskriege auf Gaza, die Militärgewalt in der Westbank, all das ist Teil der siedlerkolonialen Gewalt. Diese Gewalt hat die Funktion, den Zugriff auf Land und Territorium für die Siedlergesellschaft zu ermöglichen, indem das Land von der indigenen Bevölkerung zur Siedlergesellschaft übergeht („ethnische Säuberung“).

Und schließlich wird es Zeit, dass wir die Tragweite der letzten Wochen für die palästinensische Befreiungsbewegung anerkennen. Sowohl die palästinensischen Fraktionen als auch die Israelis und internationale Beobachter*innen waren vor allem überrascht von einem Aspekt: der Einheit der Palästinenser*innen. Auch nach mehr als 100 Jahren „teile und herrsche“ und nach jahrelanger politischer Separation demonstrierten Menschen in Gaza für Sheikh Jarrah (Jerusalem) und Menschen in Haifa für Gaza. Die Palästinenser*innen organisierten Demonstrationen unabhängig von den korrupten politischen Eliten und riefen zu einem massiven Generalstreik im ganzen historischen Palästina am 18.05 auf.

Diese Proteste, die vereinzelt und womöglich verfrüht als „Intifada der Einheit“ beschrieben werden, sind eine historische Zäsur. Die neue Generation der Palästinenser*innen, die nur die Stagnation seit Oslo und die brutale Zerschlagung der palästinensischen Gesellschaft während der zweiten Intifada kennt, diese Generation, die nur das regelmäßige vernichtende Bombardement von Gaza und die zerstörten Flüchtlingslager kennt, beginnt sich vom Jordan bis zum Mittelmeer zu erheben gegen ihre koloniale Unterdrückung und für die Dekolonisierung in Palästina-Israel zu kämpfen. Und wir sollten uns endlich konsequent an ihre Seite stellen. Denn wie der berühmte palästinensische Schriftsteller und Revolutionär Ghassan Kanafani einmal gesagt hat: “Die palästinensische Sache ist nicht nur eine Sache für Palästinenser, sondern eine Sache für jeden Revolutionär, wo immer er sich befindet, als Sache der ausgebeuteten und unterdrückten Massen in unserer Zeit.”

#Bildquelle: Pixabay

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Seit etwas mehr als zwei Jahren existieren die Black Socialists in America (BSA) und machen mit einer klassenorientierten, strömungsübergreifenden Propaganda von sich reden. Unser Autor Paul Sommer hat in einem ausführlichen Gespräch mit Demetrius, Mitlied der BSA und Co-Host des Podcasts „1000 cuts“, über die Lage in den USA, die Notwendigkeit einer Schwarzen Organisierung und die Perspektiven der Revolutionär:innen im Herz der Bestie gesprochen. (Teil 1 von 3)

Ihr habt euch erst kürzlich, im Jahr 2018, gegründet, obwohl es ja bereits zahlreiche linke Organisationen gibt. Was waren die Gründe, eine neue und auch eine spezifisch Schwarze Organisation zu gründen?

Ich war zwar nicht unter den Gründer*innen, aber es ging wohl darum, eine Leerstelle in der Schwarzen Linken zu füllen. Es gibt bereits zahlreiche linke Organisationen, aber ihnen fehlt oft ein klares Programm und sie machen ihre komplexen Konzepte, welche nicht zugänglich und verständlich für die Menschen sind. Genau das versuchen wir, beispielsweise mit unserer Leseliste oder unseren Infografiken über verschiedene theoretische und historische Themen wie Soziale Ökologie, Paternalismus oder die Funktionsweise von Arbeiter*innen-Kooperativen und Betrieben unter Arbeiterselbstverwaltung. Und dafür bekommen wir großartige Rückmeldungen.

Ein Weiterer Grund ist, dass wir in einer Zeit leben, in der der Anblick des Todes Schwarzer Menschen, beispielsweise der Mord an George Floyd, wie ein Stich in ein Wespennest war. Daraufhin haben wir extrem viel Unterstützung bekommen, weil es Menschen gibt, die auf der Suche nach spezifisch Schwarzen Organisationen wie der unseren sind.

Und ich denke, dass das sogar gefährlich sein kann. Natürlich nicht, sich mit anderen Menschen zusammenzutun und sich zu organisieren. Sondern der paternalistische Instinkt, der Leute dazu bringt, autoritären Kaderparteien beizutreten, die den Menschen sagen, was zu tun ist. Manche Menschen wollen lieber einer solchen Partei beitreten, als einer Organisation beizutreten, die Autonomie und direkte Demokratie in den Mittelpunkt stellt und sie dazu ermutigt rauszugehen und sich gegen die Herrschafts- und Ausbeutungssysteme zu wehren. Aber ich denke, die meisten Leute suchen einfach nur nach Orten mit neuen Perspektiven, um sich dort zu informieren.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass die Menschen nach Organisationen suchen, die ein Programm, Strategien und Taktiken anbieten, um die Systeme der Beherrschung und der Ausbeutung zu verstehen und zu untergraben. Ich denke, viele sind zur Zeit hungrig nach Antworten. Sie schauen auf die Gesamtheit dieser Ausbeutungs- und Herrschaftssysteme, des Rassismus, des Patriarchats, der Altersdiskriminierung, der Art und Weise in der wir versuchen, die nicht-menschliche Natur zu beherrschen, und sie sagen sich: »Was zum Teufel können wir tun? Wir werden an den Rand des Abgrunds getrieben!« Und wir bieten ihnen echte, praktische Vorschläge an. Wir sprechen über den Aufbau neuer Strukturen wie Arbeiter*innen-Kooperativen und Community-Land-Trusts. Außerdem betonen wir, dass wir nicht nur neue Strukturen aufbauen müssen, sondern dass wir auch die sozialen Beziehungen zwischen uns Menschen im Hier und Jetzt ändern müssen.

Ein Aspekt, um den es mir mit der ersten Frage auch ging, war, dass BSA eine spezifisch Schwarze Organisation ist. Hier in Deutschland haben sich, vor allem im vergangenen Jahr nach dem Anschlag in Hanau, viele Migrantifa-Gruppen gegründet. Das sind radikale migrantische Selbstorganisierungen, die gegründet wurden, weil ihre Stimmen in der Linken zu oft nicht gehört wurden. Gab es ähnliche Gründe für die BSA als spezifisch Schwarze Organisation?

Absolut! Es muss Raum für speziell Schwarze oder BIPoC Organisationen geben, weil wir es auch in linken Räumen noch immer mit den Problemen der weißen Vorherrschaft und der White Power zu tun haben. In dem Essay „Autoritäre Linke: Bringt den Bullen in eurem Kopf um!“ von Lorenzo Komboa Ervin, das auch auf unserer Leseliste steht, spricht er von diesen speziellen rassistischen Dynamiken in linken Bewegungen, insbesondere zwischen weißen und Schwarzen Linken. Dadurch kommt es zu diesen merkwürdigen klassenreduktionistischen Ideologien, die sich ausschließlich mit Klasse beschäftigen wollen. Sie wollen sich nicht mit Identitätsfragen beschäftigen, weil Identitätspolitik sei dies und das und überhaupt. Aber viele weiße Linke verstehen nicht, dass diese Denke in Wirklichkeit ein Trojanisches Pferd für weiße Vorherrschaft ist. Sie haben sich einfach noch nicht damit auseinandergesetzt und sich noch nicht von ihrem Weißsein befreit.

Ich denke also, dass diese Räume notwendig sind. Es sollte Asiatische linke Organisationen geben, gerade derzeit, wo Asiat*innenfeindlichkeit und Anti-Asiatische Ressentiments und Gewalt in den USA zunehmen. Unsere Asiatischen Brüder, Schwestern und Älteren werden angegriffen! Und ich denke, dass auch Latinxs eine linke Organisation brauchen. Die Menschen sehnen sich danach!

Als wir unseren Podcast 1000 Cuts gestartet haben, haben wir sehr viel Unterstützung und Lob bekommen, weil er speziell auf Schwarze und PoCs ausgerichtet ist und die Leute sich damit viel wohler fühlen. Wir reden über unsere spezifischen Probleme, während wir gleichzeitig allgemeine linke Theorien und Ideen vorstellen. Wir versuchen dabei, diese Konzepte auf das Wesentliche zu reduzieren und sie BIPoC zu vermitteln, die links sind oder sich für linke Ideen interessieren. Und sie sind hungrig danach! Aber wenn man sich linke Podcasts mal wirklich ansieht, sind sie vollgestopft mit weißen Männern, die lächerliches Zeug sagen. Wenn man kurz schüttelt, fallen überall Autoritäre raus. Natürlich gibt es auch gute linke Podcasts von weißen Podcaster*innen, deren Prinzipien und Praxis solide sind. Aber vieles ist auch einfach lächerlicher Bullshit.

Aber das betrifft nicht nur Podcasts, sondern auch die breitere linke Medienwelt. Ein großer Teil davon ist autoritär, bestärkt linke weiße Vorherrschaft und Klassenreduktionismus durch die Delegitimierung von Konzepten wie Intersektionalität und fördert Narrative, die die brutalen Hinterlassenschaften staatskapitalistischer Regime, wie zum Beispiel in China, weißwaschen. Und das ist gefährlich, weil Medien ein extrem mächtiges Werkzeug für politische Bildung aller Art sind.

Deshalb wollen wir in unserem Podcast praxisnah sein und über Lösungen sprechen, anstatt uns nur immer wieder um die Probleme zu drehen. Außerdem versuchen wir, Positivität und echte Hoffnung in den Podcast zu bringen. Und das sind alles Dinge, die es in vielen linken Podcasts einfach nicht gibt. Sie geben keine Antworten.

Ich habe beim Hören des Podcasts auf jeden Fall auch oft gelacht, was bei linken Podcasts sonst eher nicht passiert. Ein Punkt, den du schon angesprochen hattest ist, dass ihr Leute anderer Ethnien dazu aufruft, ähnliche Organisationen zu gründen, um eine Rainbow-Coalition zu bilden. Warum habt ihr diesen Ansatz anstelle, sagen wir, einer großen Organisation für alle gewählt?

Ich denke, dass Gruppen dieser Art besser angehen können, was im spezifischen Kontext ihrer Community wichtig ist. Was sind beispielsweise die speziellen Probleme der Asiatischen oder der Latinx Communities? Deshalb ist es wirklich sehr wichtig, derartige Organisationen zu haben. Wenn wir die globalen Ausbeutungs- und Herrschaftssysteme zurückdrängen wollen, müssen wir uns am Ende aber die Hände reichen und gemeinsam auf das Monster losgehen. Das ist die wichtige und notwendige Herangehensweise, die die Black Panther Party hatte. Auch sie haben Menschen aus anderen Gruppen dazu ermutigt, sich zu organisieren. Und das ist passiert! Es gab radikale Gruppen, die wie die Black Panthers strukturiert waren: Arabischstämmige Gruppen, White Panthers, queere Organisationen und die Young Lords, eine Puertoricanische revolutionäre Gruppe. Daher kommt dieser Ansatz. Weil wir eigene Räume brauchen, aber ein Systemwandel am Ende des Tages eine internationale Anstrengung sein muss.

Wir sind zur Zeit in einer dynamischen Situation. Wir sind mit einer Pandemie, einer ökonomischen und ökologischen Katastrophe und vielen weiteren Problemen konfrontiert. Aber gleichzeitig sind weltweit zahlreiche soziale Bewegungen im Aufwind. Ich habe neulich das folgende Zitat gelesen: »Wenn die 1970er von zu viel Optimismus gekennzeichnet waren, ist die Gegenwart von zu viel Pessismismus gekennzeichnet.« Was denkst du dazu?

Ich denke, dass wir in einer Zeit leben, in der das Menschsein außerordentlich deprimierend sein kann, wenn man es zulässt. Wenn man diesen unglücklichen, deprimierten und negativen Gemütszustand hat, führt das dazu, dass man sich nur auf die weniger schönen Aspekte des Lebens fokussiert. Und das passiert mit der Linken. Außerdem fördert die Tatsache, dass wir das System analysieren diese Art von Verzweiflung. Selbstverständlich ist Systemanalyse eine unserer zentralen Arbeitsweisen. Aber wenn man die globalen Systeme und Ideologien, mit denen wir es zu tun haben, nicht aus einer bestimmten Perspektive betrachtet, fragt man sich schon: »Verdammt, wie sollen wir das alles jemals überwinden?«

Aber wir sind gleichzeitig darauf ausgerichtet zu überleben. Murray Bookchin schreibt in Ökologie der Freiheit, wie sich Leben aus Leben entwickelt, wie Leben Leben nach sich zieht. Und dass es nicht nur nach Überleben, sondern nach seiner eigenen Selbstverwirklichung strebt. Nicht nur auf der individuellen, sondern auch auf der gesellschaftlichen Ebene. Und natürlich greifen diese beiden Sphären auch ineinander.

Außerdem brauchen die Herrschaftsstrukturen eine unglaubliche Menge an Energie, um die Menschen unterdrückt zu halten. Viel Geld, Zeit und Hirnschmalz werden aufgewendet, um immer neue Wege zu finden, Bewegungen zu infiltrieren und abzuhören. Weil die Menschen am oberen Ende unserer konstruierten Hierarchie genau wissen, dass die Menschen sich zusammenschließen und sich organisieren würden, wenn die ganzen Hindernisse nicht mehr da wären. Denn das haben wir schon immer getan. Und selbst im Angesicht dieser Strukturen tun wir es weiterhin. Denn wo immer es Autorität und Herrschaft gibt, gibt es Widerstand. Es wird immer diese entgegengesetzten Kräfte geben. Wir sehen sie ständig die Geschichte vorantreiben. Das ist wirklich eine Art wissenschaftliche und spirituelle Wahrheit. Und das sollte uns hoffnungsvoll stimmen!

Letztes Jahr sind die #BlackLivesMatter-Proteste gegen den Mord an George Floyd und gegen Polizeigewalt im Allgemeinen ausgebrochen und hatten weltweit große Auswirkungen. Wie können wir aus diesen wichtigen, aber spontanen Aufständen eine nachhaltige politische Bewegung aufbauen?

Zur Zeit haben die Menschen das Gefühl, dass sie nicht weiter schweigen können. Und ich denke, dass wir diese Energie als Linke nutzen sollten, indem wir Organisation und Kooperation befördern. Denn wir sollten uns wirklich darum kümmern, vom Kurzfristigen zum Langfristigen zu kommen. Und das ist Organisierung. Daher müssen wir einen Aktionsplan vorlegen, wie wir diese Ungerechtigkeiten und dieses korrupte System loswerden können. Und deshalb sind Organisationen wie BSA so wesentlich: Wir geben den Leuten einen solchen Plan. Und es ist wirklich wichtig, dass er für Menschen außerhalb der Linken verständlich gemacht wird und nicht nur für verdammte Theorieköpfe, die den ganzen Tag lang das Kapital lesen. Denn echte Macht und wirkliche Veränderung wird nicht von Akademiker*innen kommen, so wichtig sie auch sind. Sie kommt von den Menschen aus der Arbeiterklasse vor Ort. Von einer Mutter von drei Kindern, die an der Tankstelle arbeitet, von einem Koch in der Küche. Von den Arbeiter*innen, die die Schnauze voll haben, nach Antworten suchen und die dazu bereit sind, sich mit anderen zusammenzutun, um gemeinsam etwas zu erreichen. Und ich denke, dass wir genau das nach dem Tod an George Floyd gesehen haben. Menschen, die vorher bereits progressiv waren, rücken weiter nach links, schließen sich uns an und fangen wirklich damit an, sich zu organisieren.

Beispielsweise hatten wir hier in Texas vor kurzem einen Kälteeinbruch, bei dem es sogar geschneit hat. Das Stromnetz ist zusammengebrochen, Rohre sind durch die Kälte geplatzt und die Menschen waren ohne Strom und Wasser. Es gab Vorfälle wie den einer Großmutter und ihrer drei Enkelkinder, die in ihrem eigenen Haus verbrannten, weil sie versuchten, sich am Ofen warm zu halten. Aber was hier passiert, so schmerzhaft es auch für mich und meine eigene Familie war, ist ein weiterer Beweis für das Versagen nicht nur des Kapitalismus, sondern auch des Staates. Die Menschen haben genug! Es ist schwer für sie, sich und ihre Kinder zu ernähren. Und das aufgrund von systemischem Versagen, das letztlich vermeidbar war. Und das ist genug, um Menschen zu radikalisieren. Zum Beispiel organisieren wir derzeit mit Menschen in einem Appartementkomplex einen Mietstreik. Es ist wie die große Abolitionistin Mariame Kaba sagte: »Lasst euch von diesem Moment radikalisieren!« Wir als Linke müssen also flink sein, auf die Leute vor Ort achten und sagen: »Okay, schaut her: Ihr seid wütend und angepisst und das hier machen wir jetzt kurzfristig. Aber so und so können wir die Dinge langfristig ändern!« Wir müssen also einen Weg finden, zu längerfristigen Zielen überzugehen.

Habt ihr als Organsiation staatliche Repression erfahren seit ihr BSA gegründet habt und angefangen habt, euch zu organisieren?

Oh, wir werden definitiv überwacht. Sie haben uns im Auge. Das allgemeine Level von Überwachung in diesem Land und speziell in Bezug auf Befreiungsbewegungen ist wahnsinnig. Insbesondere, wenn du Schwarz bist. Unter der Trump-Administration wurde die Kategorie »Black Identity Extremists« vom FBI eingeführt. Sie beobachten also jede Schwarze Befreiungsbewegung hier. Erst vor kurzem wurden ein Genosse und seine Familie direkt vom FBI kontaktiert. Das ist ein Beweis dafür, dass sie uns beobachten. Und als jemand, der relativ neu dabei ist, ist das furchteinflößend und unheimlich. Aber am Ende des Tages haben wir uns als Linke, die sich ernsthaft zur Wehr setzen wollen, darauf eingelassen.

Und das soll nicht heißen, dass man keine Angst haben sollte. Aber man muss im Angesicht dieser Angst weitermachen und dagegenhalten. Denn man ist auf der richtigen Seite und tut, was richtig ist! Und natürlich bin auch ich ein Mensch wie jeder andere auch und es gibt Zeiten, in denen ich mir Sorgen mache. Ich habe Beziehungen und Familie und Freunde, um die ich mehr Angst habe als um mich selbst. Aber wir müssen eben vorwärts gehen und weiterhin sagen, was wir sagen. Wir werden nicht aufhören dagegenzuhalten und Dual Power zu bewerben und zu fördern. Obwohl unsere Vorfahren nicht einmal als Menschen, sondern als menschliches Eigentum angesehen wurden, haben sie sich gewehrt! Ich habe also keine Ausreden.

# Titelbild: BSA

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Dieser Text ist ein Versuch, verschiedene linke Positionen und Kritiken zum Thema Identitätspolitik zu diskutieren. Es ist weniger ein Text für oder gegen Identitätspolitik, als vielmehr ein Schritt, Missverständnisse und falsche Annäherungen an das Thema aus dem Weg zu schaffen, damit die Debatte sich nicht mehr ständig im Kreis dreht. Durch eine antikapitalistische, antirassistische und feministische Linse sollen einige Grundlagen bestimmt werden, auf der Basis dessen zukünftig vielleicht sinnvoller darüber diskutiert werden kann, inwiefern Identitätspolitik für linke Kämpfe brauchbar oder unbrauchbar ist.

Während sich viele in letzter Zeit auch um differenziertere Auseinandersetzung mit dem Thema bemühen, scheint es in linken Kontexten bezüglich dieser Frage grob betrachtet zwei dominante Pole zu geben, und um es vorweg zu nehmen: Beide enthalten einige problematische und verkürzte Sichtweisen, die aus dem Weg geräumt werden müssen, damit wir in unserer Praxis weiterkommen. Die eine Seite besteht wohlgemerkt zu gefühlt 90 Prozent aus Männern mittleren Alters. Manchmal sind sie links, in dem Fall lautet ihr Argument in etwa so: Leute wollen nur ein bisschen rumopfern, spalten die Linke und lenken mit ihrem Identitätsgelaber vom Klassenkampf ab. Dem anderen Pol liegt der Irrglaube zugrunde, dass bestimmten Identitäten schon an und für sich irgendwas „Radikales“ innewohnen würde. Das kann im Fall von Deutschland gelegentlich mal dazu führen, dass in Kontexten antirassistischer Arbeit türkische Faschos gepusht werden, weil „die sind ja PoC“ und alles andere (wie zum Beispiel linke politische Grundhaltung oder Rückgrat zu besitzen) ist dann nicht mehr von Belang.

Bei genauerer Auseinandersetzung mit diesen verschiedenen Positionen und Kritiken lassen sich jedoch trotzdem einige gemeinsame Grundlagen bestimmen, auf deren Basis wir linke Praxis weiterdenken und weiterbringen könnten.

Zunächst zu denjenigen, die sich über Identitätspolitik aufregen, weil sie um die „Einheit“ der Linken bangen: Linke sind und waren nie eine starre Einheit, die nun erst durch „sektiererische“ Identitätspolitik zu zerbrechen droht. Im Gegenteil bestanden Spaltungen innerhalb der Linken eigentlich schon immer und zwar mitunteranderem auch darin, dass z.B. Frauen, Migrant*innen, Schwarze Menschen, PoC, queere Menschen, Geflüchtete usw. in vielen linken Strukturen jahrzehntelang ausgeschlossen, rausgemobbt, ignoriert, mundtot gemacht, belächelt oder nicht ernst genommen wurden. Hier stellt sich die Frage: Was genau wird hier „gespalten“, was genau wird hier gestört? Ist es wirklich „die Linke“ oder vielleicht doch einfach ein gemütlicher Status Quo, in welchem niemand über Macht, Mackertum und übers Kartoffelsein nachdenken musste? So betrachtet stand hinter Identitätspolitik ursprünglich ein sehr simpler Grundgedanke. Wenn es z. B. um internationalistische antifaschistische Kämpfe geht, ist es nicht in Ordnung, dass nur weiße Männer zu Wort kommen und dass über die Köpfe von Betroffenen hinweg gearbeitet wird – bis hierhin sind wir uns doch bestimmt alle erstmal einig. Diese Grundidee ist vielleicht auch gar nicht das Problem – das Problem ist vielleicht viel eher, was heute aus Identitätspolitik gemacht wird, aber dazu später.

Davor noch zurück zur Annahme, Identitätspolitik würde vom Klassenkampf ablenken: Vielleicht ist es an dieser Stelle hilfreich, unseren Begriff von Klasse zu hinterfragen bzw. weiterzudenken. Denn wenn wir von der unterdrückten Klasse sprechen, sollten alle ausgebeuteten Gruppen gemeint sein. Arbeiter*innen, Menschen im globalen Süden, rassifizierte Menschen, (ehemals) Kolonisierte, Frauen usw. wurden im Laufe der Geschichte systematisch unterworfen und in einen Zustand der Gewalt und Ausbeutung gedrängt. Sie müssen in diesen Klassenbegriff aufgenommen werden, ohne dass ihre Unterdrückung als bloßer Nebenwiderspruch behandelt wird. Kapitalismus, Rassismus, Kolonialismus und Patriarchat gingen historisch gesehen Hand in Hand und diese Tatsache müssen wir in unsere Praxis einbetten. Wenn diese Praxis „von unten“ wachsen soll, muss denjenigen Platz gemacht werden, die am meisten unter diesen Unterdrückungssystemen leiden und gelitten haben. Das heißt nicht, dass bestimmte Identitäten glorifiziert und mit Allwissenheit assoziiert werden. Wie wir wissen, können Leute diskriminiert und unterdrückt werden, aber trotzdem scheiße sein: So gibt es z.B. weibliche Cops, korrupte Politiker*innen of Color oder queere Menschen, die rassistisch sein können. Es geht hier aber vielmehr darum, dass diejenigen, die am meisten unter dem System leiden und vielleicht genau deshalb potenziell die radikalsten Bekämpfer*innen des Systems sein könnten, sich endlich Raum nehmen müssen, der ihnen vorher versperrt wurde.

Das Combahee River Collective, ein Kollektiv Schwarzer Feministinnen, formulierte es 1977 in seinem Statement folgendermaßen: „Wir glauben, dass eine tiefgehende und möglicherweise die radikalste politische Haltung direkt aus unserer eigenen Identität heraus entsteht“. Die Idee, die eigene Identität für den politischen Kampf hervorzuheben, entstand für das Kollektiv aus der Erkenntnis heraus, dass „keine andere vermeintlich progressive Bewegung unsere spezielle Unterdrückung jemals als Priorität gesehen hat oder sich ernsthaft damit beschäftigt hätte, sie zu beenden“ [aus Natasha A. Kelly (Hg.): Schwarzer Feminismus. Unrast, 2019. S. 53). Und genau das trifft auf viele marginalisierte und diskriminierte Menschen zu, die aus linken Kontexten immer wieder ausgeschlossen oder nur geduldet wurden, solange sie ihre spezifische Unterdrückung nicht zum Thema machten. Kein Wunder also, dass heute so ein starkes Bedürfnis danach besteht, sich durch kollektive Identitätsbildung selbst zu ermächtigen und so einen würdigen Platz im Kampf gegen das System einzunehmen.

An diesem Punkt scheinen heute jedoch sowohl viele Kritiker*innen als auch Befürworter*innen das Konzept der Identitätspolitik falsch zu verstehen. Vielleicht liegt das eigentliche Problem mit Identitätspolitik aktuell vor allem darin, dass der Ansatz sich von seinen radikalen Inhalten und Ursprüngen entfernt und somit immer weniger mit revolutionärer Praxis zu tun hat. Manche Angehörige unterdrückter Gruppen haben angefangen, mit Neoliberalismus zu liebäugeln, anstatt die kollektive Selbstermächtigung in Aktion und Widerstand umzuwandeln.

Die kurdische Frauenbewegung (auch wenn sie sich an der Stelle nicht auf Identitätspolitik bezieht) kritisiert z.B. an westlichen Feminismen, dass sie, obwohl gerade Feminismus eine der radikalsten Bewegungen gegen das System sein müsste, es nicht geschafft haben, akkurat auf gesellschaftliche Probleme zu reagieren und einen radikalen Widerstand zu organisieren. Damit Feminismus wieder zum radikalen Ursprung zurückkehrt, muss er sich von den Einflüssen der kapitalistischen Moderne loslösen. Vielleicht ist das ein nützlicher Ausgangspunkt für die weitere Diskussion um Identitätspolitik: Konzepte für politische Kämpfe sollten daran beurteilt werden, inwiefern sie einen Beitrag zur Befreiung der Gesellschaft leisten und reell Veränderung bewirken. Wie wirksam sind z.B. elitäre Diskurse, die sich nicht über die akademische Sphäre hinausbewegen oder Ansätze wie sog. „Girlboss feminism“? Kaum – denn sie bewegen sich oft in geschlossenen Kreisen und erreichen nicht die Straßen. Bestimmte Konzepte, die ursprünglich aus revolutionären Ideen entstanden, werden in solchen Zusammenhängen aus dem Kontext gerissen und zweckentfremdet. Auch der Neoliberalismus bedient sich heute etwa Konzepten wie Diversity und Feminismus. Besonders schlimm wird’s dann, wenn das auch noch abgefeiert wird: Es werden diejenigen von uns gepriesen, die es „nach ganz oben“ geschafft haben und es scheint irgendwie egal zu sein, wenn es sich dabei z.B. um stinkreiche Celebrities handelt. Klasse und Kapitalismus werden nicht mehr problematisiert, sondern vielmehr hingenommen. Identifikation findet hier mit den falschen Leuten statt; sie dient nicht mehr dem kollektiven Bewusstwerdungsprozess, um gegen die Verhältnisse zu kämpfen, sondern es scheint immer mehr darum zu gehen, sich als Angehörige*r einer unterdrückten Gruppe einen Weg nach „oben“ bzw. einen Platz innerhalb des ausbeuterischen Systems zu verschaffen. Dabei kümmert es viele nicht, dass sich Ungleichheit und Gewalt dadurch nicht vermindert, denn egal, wieviel „Diversität“ oben herrscht – es sind und bleiben die Massen, auf deren Schultern die Last kapitalistischer, rassistischer und sexistischer Ausbeutung und Ausgrenzung sitzt.

Um nun zurück auf Identitätspolitik zu kommen: Das Konzept in dieser jetzigen, zweckentfremdeten Form wird bestimmt keine Antwort auf die Gewalt, Unterdrückung und Ungerechtigkeit in der Welt sein. Das heißt jedoch nicht, dass die Relevanz von Identität einfach ausradiert werden darf. Die Rolle von Identität im Kampf gegen Kapitalismus, Rassismus und Patriarchat muss neu gedacht werden und zwar als die direkteste, radikalste Form, sich den Missständen bewusst zu werden und dementsprechend kollektiven Widerstand zu organisieren. Aufwertung der eigenen, unterdrückten Identität kann dabei ein erster wichtiger Schritt, aber nicht Selbstzweck sein. Sie sollte dazu dienen, den Kampf für Befreiung voranzutreiben, anstatt sich von diesem zu entfremden.

#Titelbild: ROAR Magazine/P2P Attribution-ConditionalNonCommercial-ShareAlikeLicense

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Die traditionelle Revolutionäre 1. Mai Demonstration in Berlin stellt sich dieses Jahr neu auf. Ein breites migrantisches Bündnis will die Demo revitalisieren. Peter Schaber sprach mit Aicha Jamal, Pressesprecherin des Revolutionären 1. Mai Bündnisses und Mitglied von Migrantifa Berlin, über den Kampftag der Weltarbeiterklasse und wie man ihn dieses Jahr in Berlin begehen möchte.

Migrantifa ist aus einer Massenmoblisierung gegen rechten Terror, racial Profiling, Rassismus entstanden. Jetzt werdet ihr dieses Jahr zu einer der Hauptorganisatorinnen des Revolutionären 1. Mai. Warum? Was sind die inhaltlichen Gründe dafür, sich diese schwer handhabbare Demo aufzubürden?

Es ist uns vor allem wichtig, dass der Klassenkampf migrantischer wird – und dass überhaupt Klassenkampf in diesem Land stattfindet. Es geht uns auch darum, aufzuzeigen, dass liberaler Antirassismus nichts bringt. Die Idee, dass mehr Repräsentation in der herrschenden Klasse Verbesserungen für den Großteil der migrantischen Bevölkerung oder den Globalen Süden hervorbringen wird, ist eine Illusion. Die Produktionsweise muss geändert werden. Der Kapitalismus trägt den Rassismus in sich wie die Wolke den Regen, könnte man in Abwandlung eines Zitats von Jean Jaures sagen. Das einzige wirksame Mittel gegen Rassismus ist Klassenkampf.

Andererseits nehmen wir auch wahr, dass die radikale Linke in Deutschland sich in den vergangenen Jahren sehr isoliert war von der Bevölkerung. Wir glauben aber, dass radikale Politik nicht in Szenen oder Blasen gemacht werden kann, sondern dass man eine breite Massenbewegung aufbauen muss, die weit über das Szene- und Akademikermilieu hinausgeht. Man muss die Arbeitenden, Erwerbslosen, die Menschen ohne Papiere, Frauen und die Jugend abholen.

Die Demo führt dieses Jahr durch Berlin-Neukölln. Was war ausschlaggebend für die Wahl der Route?

Neukölln ist einerseits der Ort, in dem wir als Migrantifa schon viele Verbindungen zu Nachbar:innen haben. Wir sind sehr präsent hier. Und es ist ein Ort, an dem sich viele politische Entwicklungen aufzeigen lassen: Der rechte Terror, die massive Polizeipräsenz, die Kriminalisierung der Communities durch die rassistische Clan-Debatte, die Gewerbekontrollen und Razzien. Diese Faschisierungstendenzen sind vom kapitalistischen System nicht zu trennen und deshalb ist es wichtig, sie auch am Tag der Weltarbeiterklasse zum Thema zu machen.

Neukölln ist auch ein migrantischer und Arbeiterbezirk. Weil unser Ziel ist, am 1. Mai unsere Klassengeschwister einzuladen, mit uns auf die Straße zu gehen, fanden wir, dass das der richtige Kiez ist.

Wir wollen die historische Bedeutung von Kreuzberg für den 1. Mai zwar mitaufnehmen – deshalb laufen wir am Ende auch rein-, aber gleichzeitig ist in Kreuzberg schon sehr viel von der früheren Kultur und dem früheren Kiezleben durch die Gentrifizierung zerstört worden.

Jenseits der neuköllnspezifischen Themen, welche bundesweiten oder globalen Anliegen stehen dieses Jahr im Mittelpunkt?

Es geht vor allem um die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Arbeiter:innenklasse, die Erwerbslosen und Armen. Die herrschende Klasse zeigt auf die Bevölkerung und tut so, als ob diese an der Pandemie Schuld wäre. Aber in Wahrheit steht in der offiziellen Corona-Politik ja nicht irgendein Gemeinwohl im Zentrum, sondern Kapitalinteressen. Diese Krise hat Profiteure, die sich immens an ihr bereichern, während es für uns stetig bergab geht. Wir haben immer weniger Geld, verlieren unsere Jobs und sind einem deutlich höheren Infektionsrisiko ausgesetzt als die Bonzen, obwohl wir unser Privatleben komplett einschränken müssen.

Ein weiteres Thema ist der Ausverkauf der Stadt, die Spekulation auf dem Wohnungsmarkt. Die komplette Stadt gehört Investoren. Da wollen wir vor allem das Thema Enteignung aufgreifen, weswegen es auch eine Enteignungs-Block auf der Demo geben wird.

Natürlich spielen auch die Kämpfe in den Herkunftsländern unserer Freund:innen eine große Rolle, in denen ja oft genug der deutsche Imperialismus mitmischt: Kurdische Genoss:innen werden mitlaufen, Solidarität mit den indischen Bauernaufständen wird es geben, aus den Philippinen beteiligen sich Genoss:innen, Palästina und der Sudan werden eine Rolle spielen. Geflüchtete und die Kämpfe gegen das mörderische Grenzregime werden ebenfalls vertreten sein.

Ihr schreibt in eurer Pressemitteilung, dass es euch wichtig ist, dass die Demo „nicht entfremdend“ auf die Menschen in Neukölln wirkt. Welches Auftreten schwebt euch da vor?

Bei unserer Demonstration zu Hanau haben wir gesehen, dass sich sehr viele migrantische Menschen der Demo angeschlossen haben und mitgelaufen sind, weil sie sich angesprochen gefühlt haben. Ich glaube, schon durch das breite migrantische Bündnis, das dieses Jahr zum ersten Mal mit aufruft, können wir einladend auf unsere Geschwister wirken. Dadurch dass wir unsere Themen und unsere politische Kultur miteinbringen, schaffen wir einen Identifikationspunkt.

Gleichzeitig wollen wir einen Anknüpfungspunkt schaffen, weil der 1. Mai auch in vielen unserer Herkunftsländer eine lange Tradition hat. Wir haben uns zudem entschieden, die Demo dieses Jahr anzumelden, das heisst, wir können auch mehr Redebeiträge und kulturelle Beiträge stattfinden lassen. Wir wollen eine Atmosphäre schaffen, die Leute ermutigt, sich in die Demo einzureihen.

Dadurch, dass viele migrantische Gruppen aufrufen, wird auch von Anfang an ein breiterer Schnitt durch die Gesellschaft anwesend sein, ältere Genoss:innen, Familien mit Kindern und so weiter. Wir bitten auch alle Teilnehmenden darum, die Demonstration als kämpferische politische Veranstaltung und nicht als Outdoor-Party zum Biertrinken zu sehen.

Die Corona-Zahlen steigen. Wie ist unter diesen Bedingungen die Demo sicher durchzuführen?

Wir nehmen das Virus sehr ernst und wollen auch bei der Demonstration das Infektionsrisiko so gering wie möglich halten. Mindestabstände sollen eingehalten werden, Masken sind Pflicht. Gleichzeitig fordern wir die Polizei dazu auf, sich von der Demo fernzuhalten, denn es ist unmöglich, das durchzusetzen, wenn ein Mob von Cops auf die Demo einprügelt.

Die Gefahr einer im Freien, mit Abstand und Maske durchgeführten Demonstration ist unserer Einschätzung nach geringer als das Ansteckungsrisiko, dem wir jeden Tag auf der Arbeit ausgesetzt sind. Solange das nicht beendet wird, lassen wir es uns auch nicht nehmen, für unsere Interessen auf die Straße zu gehen.

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Kristian Stemmler

Es war ein heißer Sommertag in den späten 80ern, ich kann mich noch gut erinnern. Die Heidefläche vor dem Haus meiner Oma in der Lüneburger Heide war knochentrocken. Wie es genau zu dem Feuer kam, weiß ich nicht mehr genau. Ich meine, mein Bruder und ich wollten die trockenen Pflanzen kontrolliert abfackeln, was natürlich extrem leichtsinnig war. Jedenfalls stand eine Ecke der Fläche plötzlich in Flammen und ein Feuerring breitete sich in rasender Geschwindigkeit in alle Richtungen aus. Wir, mein Bruder, ein herbeigeeilter Freund und ich, versuchten das Feuer auszutreten oder mit Decken auszuschlagen – doch wenn es an einer Stelle eingedämmt war, flammte es an einer anderen Stelle wieder auf.

Warum ich das erzähle? Weil mir diese Episode aus jungen Jahren in den Sinn kam, als ich zum Jahreswechsel – bekanntlich die Zeit, in der man gern Bilanz zieht und leicht ins Philosophieren kommt – über die Lage der Linken nachdachte. Wenn ich mir das Fortschreiten der unterschiedlichen Kämpfe im abgelaufenen Jahr 2020 ansehe, dann erscheinen mir unsere verzweifelten Versuche von damals, das Feuer einzufangen, als eine passende Analogie. Wo man heutzutage auch hinschaut, in allen gesellschaftlichen Bereichen schlagen Flammen hoch oder sind zumindest Glutnester auszumachen. Wenn man meint, man habe das Feuer an einer Stelle eingedämmt, flammt es anderer Stelle wieder auf. Es ist ein Flächenbrand.

Kaum verwunderlich ist daher, dass viele radikale Linke an einer gewissen Überforderung leiden. Schon die Beurteilung der Frage, wo es am meisten brennt, wirft Probleme auf. Und von der Antwort hängt nicht zuletzt ab, worauf man seinen Blick richtet und für welches Engagement man die begrenzte Zeit und Kraft einsetzt.

Unterstütze ich zum Beispiel Seebrücke, weil ich was gegen die katastrophale Situation der Geflüchteten auf den griechischen Inseln tun will und gegen das Ertrinken auf dem Mittelmeer? Oder blockiere ich mit einer Friedensgruppe die Zufahrt zu einem Werk von Rheinmetall? Oder solidarisiere ich mich mit Baumbesetzern? Oder schließe ich mich doch einer Antifa-Gruppe an, um Nazistrukturen aufzudecken und Nazis zu bekämpfen?

Natürlich ist das jetzt etwas konstruiert, da eine solche rationale Abwägung auch im Leben von Linken eher selten vorkommt. Man kommt doch oft eher durch Freunde oder Bekannte zu einer politischen Gruppe und damit auch zu einem Thema oder auch durch ein bestimmtes Ereignis, das einen umtreibt. Nichtsdestotrotz interessiert man sich als politischer Mensch ja auch für andere Themenbereiche und versucht sich ein Bild von der Gesamtlage zu machen. Dabei kommt man leicht zu der Frage, wo die Probleme und Gefahren die größten sind, wo es „am meisten brennt“.

Das ist, kaum überraschend, nicht endgültig zu beantworten. Jede Bewegung, jeder Kampf beansprucht für sich wichtig zu sein – und das durchaus zu recht. Die Friedensbewegung kann darauf verweisen, dass von der Zivilisation nicht viel übrig bleiben wird, wenn der Frieden nicht bewahrt wird. Die Klimabewegung kann wiederum konstatieren, dass wir vom Frieden nicht viel haben, wenn die Natur zum Teufel geht. Die Antifa kann argumentieren, dass der Frieden und eine gerettete Umwelt wenig bringen, wenn die Faschisten wieder ans Ruder kommen. Und wer sich gegen Repression engagiert, kann allen drei Bewegungen entgegenhalten, dass sie eines Tages nicht mehr effektiv gegen Krieg, den Klimawandel und Nazis protestieren und kämpfen können, wenn das Versammlungsrecht weiter eingeschränkt wird und immer mehr radikale Linke im Knast sitzen.

Mit anderen Worten: Jeder Kampf hat seine Berechtigung und jeder ist wichtig. Das gilt auch für die Kämpfe, die hier noch gar nicht erwähnt wurden, also etwa in den Betrieben, gegen Rassismus, gegen den Mietenwahnsinn und die Gentrifizierung, für Hartz-IV-Empfänger*innen, Drogensüchtige, Obdachlose. Für radikale Linke gibt es alle Hände voll zu tun, es wird nicht weniger und es ist letztlich egal, an welcher Stelle sie versuchen, Flammen auszutreten, um an die Analogie vom Anfang anzuschließen. Es gibt aber folglich auch keinen Grund, die eigene Bewegung, den eigenen Kampf für bedeutsamer zu halten als andere.

Vielleicht kann man das als Wunsch fürs neue Jahr formulieren: dass sich diese Einsicht noch mehr durchsetzt. Denn noch zu oft sind die Kämpfe der Linken zu unverbunden, geradezu isoliert voneinander. Es kann und muss hier noch viel mehr zusammengeführt werden.

Eine gelingende Verbindung von Kämpfen kann aber nur da stattfinden, wo sich die Einsicht durchgesetzt hat, dass es in dieser Gesellschaft zwar viele Brandnester gibt, aber nur einen Brandherd, nur eine Brandursache: den Kapitalismus. Alle in diesem Beitrag geschilderten Krisenphänomene sind auf dieses System zurückzuführen und ein gemeinsamer Kampf setzt voraus, dass man sich zuerst auf eine Agenda einig:
Der Kapitalismus muss weg, mit Stumpf und Stiel!

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In Frankreich werden die Diskussion um das autoritäre neue „Sicherheitsgesetz“ immer heftiger. Dieses soll verbieten, Filmaufnahmen von Polizist:innen zu veröffentlichen, was einen enormen Angriff auf die Pressefreiheit darstellt. Spätestens seit den Protesten der Gilets Jaunes, sorgen Bilder heftiger Polizeigewalt auf Demonstrationen oder gegen Schwarze und People of Colour für Empörung. Dass Polizeigewalt aufgedeckt wird, ist eher eine Seltenheit. Noch seltener ist, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Durch den Korpsgeist innerhalb der Polizei und die Rückendeckung in der Politik, wird es nahezu unmöglich gemacht auf rechtlicher Ebene dagegen vorzugehen. Wir kennen dieses Phänomen nur allzu gut aus der BRD. Die Liste der „Einzelfälle“ ist lang – sehr lang. Nachfolgend zwei aktuelle Beispiele, die die Menschenfeindlichkeit und den tief verankerten Rassismus in der französischen Polizei verdeutlichen.

Vorfall I: 21. November 2020

Der 41-jährige Michel Zacler steht vor seinem Musikstudio. Er sieht eine Polizeistreife und da er keine obligatorische Atemschutzmaske trägt, entschließt er sich, zurück ins Studio zu gehen. Das Studio befindet sich in dem bourgeoisen 17. Arrondissement von Paris. Dass ein Schwarzer aus dem 92. Arrondissement (Bagneux), also aus den Pariser Banlieus, sich in diesem schicken Viertel von Paris aufhält, ist einigen Polizisten wohl schon zu viel. Die Message ist klar: DU gehörst hier nicht her!

Drei Polizisten, einer davon in zivil, folgen ihm ins Studio, packen ihn und versuchen ihn aus dem Laden zu ziehen. Er fragt die Polizisten, warum sie ihn festnehmen wollen und da beschimpft ihn einer der Polizisten als „sale nègre“ (Übersetzung: Drecks-N***er). Diese Beleidigung wird er einige Male hören, wie Michel sagt. Die Polizisten schlagen ihn mit dem Schlagstock und versuchen ihn auf den Boden zu ringen. Michel wehrt sich mit all seiner Kraft und ruft nach Hilfe. Das was in seinem Kopf in diesem Moment vorging schildert er so: „Ich darf nicht auf den Boden. Ich muss mit allen Mitteln verhindern auf den Boden gebracht zu werden, denn sonst stehe ich nie wieder auf.“

Michel öffnet die Tür zu den Kellerräumen des Studios und schreit weiter nach Hilfe. Dort sind weitere Menschen, die von dem, was oben vor sich geht, nichts mitbekommen haben. Darauf helfen die teils erst Jugendlichen Michel aus den Händen der Polizisten zu befreien. Die Polizisten werden aus dem Studio gedrängt, schmeißen danach jedoch eine Tränengasgranate in das Lokal und so schaffen sie es dann doch noch, Michel aus dem Laden zu bringen. Auf der Straße wird er dann weiter verprügelt. Nachdem ihn die Polizisten festgenommen haben, greifen sie sich die im Lokal Verbliebenen, die dann auch noch vor der Tür verprügelt werden.

Einer der Polizisten schreit „Kamera“, da die Szene von den Balkonen gefilmt wurde. Daraufhin wurden die Schläge sofort eingestellt. Was die Polizisten zu diesem Moment nicht wussten, ist, dass in dem Lokal eine Überwachungskamera die ganze Szene mitgefilmt hatte. Dieses Video veröffentlichte das Onlinemagazin Loopsider auf seiner Plattform. Michel wurde festgenommen und verbrachte u.A. wegen des Vorwurfs der Körperverletzung 48 Stunden auf der Polizeiwache. Alle anderen aus dem Studio wurden nach einer Personalienfeststellung freigelassen.

Vorfall II: 30. April 2019

Etwas über eine Woche nach dem brutalen Übergriff von Pariser Polizisten an den 41-jährigen Michel Z. und schon die nächste Enthüllung von Polizeigewalt durch eine Videoaufnahme. Das Video, datiert auf den 30. April 2019, wurde letzten Sonntag von Mediapart veröffentlicht.

Sechs Jugendliche im Alter von 16 bis 22 Jahren fahren in der Nacht vom 30. April 2019 mit dem Auto nach Hause. An einer roten Ampel werden sie dann von drei Fahrzeugen umzingelt. Acht Männer in Zivil, einige von Ihnen bewaffnet, steigen aus. Da die Jugendlichen glauben, dass es sich um einen Raub handelt, fährt der Fahrer zurück, doch sein Auto wird von einem der Fahrzeuge an der Rückseite angehalten. Einer der Männer gibt zwei Schüsse auf das Auto ab, wovon eine der Kugeln durch die Seitenscheibe nur einige Zentimeter neben dem Gesicht des Fahrers Paul vorbeischießt. Er sagte Mediapart, dass „die Kugel in der Karosserie ein paar Zentimeter neben meinem Kopf stecken blieb“ und dass er „dachte, ich würde sterben“.

Also nochmal von vorne. Drei Polizeiwagen in zivil, umzingeln das Fahrzeug ihres „Tatverdächtigen“ ohne eines der vorgeschriebenen Erkennungszeichen, wie Blaulicht oder Armbinden und schießen ohne Vorankündigung auf die Jugendlichen. Der Hintergrund des Einsatzes war ein Handtaschendiebstahl, der ohne Überzeugungsarbeit der selbigen Polizisten von der Betroffenen erst gar nicht zur Anzeige gebracht worden wäre. Die einzigen Informationen, die die Polizisten hatten, war ein Nummernschild wie sie sagen und dass einer der beiden Tatverdächtigen „afrikanischen Typs“ sei, so der major Patrick O.. Dass sich die Szene, wie im Fall Michel Z., in einem wohlhabenden Viertel von Paris abspielt, ist bestimmt kein Zufall. Das 16. Arrondissement zählt zu den teuersten und wohlhabendsten Residenzvierteln ganz Frankreichs. Auch hier will die Exekutive klar machen, wer in welchem Viertel willkommen ist und wer sich dort nicht aufhalten darf.

Gegen die Polizisten wurde zwar bereits im Mai 2019 eine Untersuchung eingeleitet, die übrigens noch im Gange ist, doch die Polizeipräfektur ist sich der Unschuld der Polizisten wohl sicher und teilte Mediapart mit, dass „die Staatsanwaltschaft zu dem Schluss kam, dass es sich um Notwehr handelte“.

Paul kam nicht so einfach davon. Zwar wurde seine Anzeige wegen Diebstahl relativ schnell eingestellt, er verbrachte jedoch sechs Monate in Haft wegen „vorsätzlicher Gewalt gegen eine Amtsperson“. Er wurde erst am 4. November mit einer Entschädigung von 1.000 Euro freigelassen.

„Ich wurde strafrechtlich verfolgt und erst im November letzten Jahres freigelassen“, sagte Paul, gegenüber den Online-Medien. „Der Polizist, der auf mich geschossen hat, läuft jedoch weiterhin mit seiner Waffe herum. Ich habe eine Beschwerde eingereicht, aber die Untersuchung dauert noch an“, während das Video nach mehrfachen Anfragen erst im Juni 2020 an den Anwalt des 22-Jährigen weitergeleitet wurde.

Auch die psyschischen Folgen für Paul sind drastisch. Er musste u.A. sein Studium wegen „impulsiver Explosionen“, „Weinkrämpfen“ und „den Gedanken, dass er hätte sterben können“ unterbrechen, sagte der psychiatrische Experte während der Untersuchung.

Das Sicherheitsgesetz

Somit zeigt sich wieder wie der Staatsapparat mit solchen Vorfällen umgeht. Man gewährt Polizist:innen vollkommene Narrenfreiheit, beschützt sie vor jeglichen kritischen Stimmen und denunziert die Betroffenen als „Kriminelle“, vor denen man sich „schützen“ müsse. Die rassistische Ideologie ist in den Polizeibehörden so tief verankert, dass die Polizisten wahrscheinlich selbst glauben, das „richtige“ und „gute“ zu tun.

Der Fall von Michel Zacler, die brutale Rämung eines Camps von Geflüchteten im Zentrum von Paris und der Vorfall der sechs Jugendlichen kommt für die Regierung reichlich ungelegen. Sie versucht gerade mit einem neuen Gesetz, dem „allgemeinen Sicherheitsgesetz“, Videoaufnahmen von Polizist:innen zu kriminalisieren. Denn zahllose Videos von brutaler Polizeigewalt haben in letzter Zeit das Image der Polizei näher an die tatsächliche Praxis dieser gerückt. Es ist offensichtlich, dass das neue Gesetz vor allem dazu dienen soll, dass die sowieso schon kaum zur Rechenschaft gezogenen Polizist:innen ihre Schmutzarbeit für den Staat ohne jegliche Kontrolle der Öffentlichkeit machen können sollen.

Nicht nur wegen dieser aktuellen Fälle gingen am Samstag, den 28. November in ganz Frankreich – trotz grassierender Corona-Pandemie – mehrere Hunderttausende auf die Straße um gegen das Gesetz zu demonstrieren. Am 30. November musste die Regierung dann doch etwas zurückrudern und sprach davon, den umstrittenen Artikel 24 des Gesetzentwurfes noch einmal umzuschreiben. Das es sich hier nicht um eine Streichung des Artikels geht, machte der Vorsitzende der Partei Macrons La République en Marche, Christophe Castaner, bei einer Pressekonferenz gestern klar – „Es handelt sich weder um eine Rücknahme noch um eine Aussetzung, sondern um eine völlige Neufassung des Textes“.

Auch schon in den Jahren zuvor haben die Regierungen versucht die Proteste durch solche Mittel zu befrieden, so z.B. bei dem Widerstand gegen die Arbeitsrechtsreform (loi El Khomri) im Jahr 2016 oder bei den „gilets jaunes“ (Gelbwesten) seit Ende 2018. Die Widerstandskultur der letzten Jahre in Frankreich hat jedoch gezeigt, dass ein Großteil der Bevölkerung sich nicht mit den heuchlerischen Versprechen der Regierenden abspeisen lässt. So können wir davon ausgehen, dass die Proteste auch nach dieser Ankündigung fortgesetzt werden.

# Titelbild: gemeinfrei, Demo in Rouen am 21. November 2020, „Wer beschützt uns vor der Polizei?“

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