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In Frankreich werden die Diskussion um das autoritäre neue „Sicherheitsgesetz“ immer heftiger. Dieses soll verbieten, Filmaufnahmen von Polizist:innen zu veröffentlichen, was einen enormen Angriff auf die Pressefreiheit darstellt. Spätestens seit den Protesten der Gilets Jaunes, sorgen Bilder heftiger Polizeigewalt auf Demonstrationen oder gegen Schwarze und People of Colour für Empörung. Dass Polizeigewalt aufgedeckt wird, ist eher eine Seltenheit. Noch seltener ist, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Durch den Korpsgeist innerhalb der Polizei und die Rückendeckung in der Politik, wird es nahezu unmöglich gemacht auf rechtlicher Ebene dagegen vorzugehen. Wir kennen dieses Phänomen nur allzu gut aus der BRD. Die Liste der „Einzelfälle“ ist lang – sehr lang. Nachfolgend zwei aktuelle Beispiele, die die Menschenfeindlichkeit und den tief verankerten Rassismus in der französischen Polizei verdeutlichen.

Vorfall I: 21. November 2020

Der 41-jährige Michel Zacler steht vor seinem Musikstudio. Er sieht eine Polizeistreife und da er keine obligatorische Atemschutzmaske trägt, entschließt er sich, zurück ins Studio zu gehen. Das Studio befindet sich in dem bourgeoisen 17. Arrondissement von Paris. Dass ein Schwarzer aus dem 92. Arrondissement (Bagneux), also aus den Pariser Banlieus, sich in diesem schicken Viertel von Paris aufhält, ist einigen Polizisten wohl schon zu viel. Die Message ist klar: DU gehörst hier nicht her!

Drei Polizisten, einer davon in zivil, folgen ihm ins Studio, packen ihn und versuchen ihn aus dem Laden zu ziehen. Er fragt die Polizisten, warum sie ihn festnehmen wollen und da beschimpft ihn einer der Polizisten als „sale nègre“ (Übersetzung: Drecks-N***er). Diese Beleidigung wird er einige Male hören, wie Michel sagt. Die Polizisten schlagen ihn mit dem Schlagstock und versuchen ihn auf den Boden zu ringen. Michel wehrt sich mit all seiner Kraft und ruft nach Hilfe. Das was in seinem Kopf in diesem Moment vorging schildert er so: „Ich darf nicht auf den Boden. Ich muss mit allen Mitteln verhindern auf den Boden gebracht zu werden, denn sonst stehe ich nie wieder auf.“

Michel öffnet die Tür zu den Kellerräumen des Studios und schreit weiter nach Hilfe. Dort sind weitere Menschen, die von dem, was oben vor sich geht, nichts mitbekommen haben. Darauf helfen die teils erst Jugendlichen Michel aus den Händen der Polizisten zu befreien. Die Polizisten werden aus dem Studio gedrängt, schmeißen danach jedoch eine Tränengasgranate in das Lokal und so schaffen sie es dann doch noch, Michel aus dem Laden zu bringen. Auf der Straße wird er dann weiter verprügelt. Nachdem ihn die Polizisten festgenommen haben, greifen sie sich die im Lokal Verbliebenen, die dann auch noch vor der Tür verprügelt werden.

Einer der Polizisten schreit „Kamera“, da die Szene von den Balkonen gefilmt wurde. Daraufhin wurden die Schläge sofort eingestellt. Was die Polizisten zu diesem Moment nicht wussten, ist, dass in dem Lokal eine Überwachungskamera die ganze Szene mitgefilmt hatte. Dieses Video veröffentlichte das Onlinemagazin Loopsider auf seiner Plattform. Michel wurde festgenommen und verbrachte u.A. wegen des Vorwurfs der Körperverletzung 48 Stunden auf der Polizeiwache. Alle anderen aus dem Studio wurden nach einer Personalienfeststellung freigelassen.

Vorfall II: 30. April 2019

Etwas über eine Woche nach dem brutalen Übergriff von Pariser Polizisten an den 41-jährigen Michel Z. und schon die nächste Enthüllung von Polizeigewalt durch eine Videoaufnahme. Das Video, datiert auf den 30. April 2019, wurde letzten Sonntag von Mediapart veröffentlicht.

Sechs Jugendliche im Alter von 16 bis 22 Jahren fahren in der Nacht vom 30. April 2019 mit dem Auto nach Hause. An einer roten Ampel werden sie dann von drei Fahrzeugen umzingelt. Acht Männer in Zivil, einige von Ihnen bewaffnet, steigen aus. Da die Jugendlichen glauben, dass es sich um einen Raub handelt, fährt der Fahrer zurück, doch sein Auto wird von einem der Fahrzeuge an der Rückseite angehalten. Einer der Männer gibt zwei Schüsse auf das Auto ab, wovon eine der Kugeln durch die Seitenscheibe nur einige Zentimeter neben dem Gesicht des Fahrers Paul vorbeischießt. Er sagte Mediapart, dass „die Kugel in der Karosserie ein paar Zentimeter neben meinem Kopf stecken blieb“ und dass er „dachte, ich würde sterben“.

Also nochmal von vorne. Drei Polizeiwagen in zivil, umzingeln das Fahrzeug ihres „Tatverdächtigen“ ohne eines der vorgeschriebenen Erkennungszeichen, wie Blaulicht oder Armbinden und schießen ohne Vorankündigung auf die Jugendlichen. Der Hintergrund des Einsatzes war ein Handtaschendiebstahl, der ohne Überzeugungsarbeit der selbigen Polizisten von der Betroffenen erst gar nicht zur Anzeige gebracht worden wäre. Die einzigen Informationen, die die Polizisten hatten, war ein Nummernschild wie sie sagen und dass einer der beiden Tatverdächtigen „afrikanischen Typs“ sei, so der major Patrick O.. Dass sich die Szene, wie im Fall Michel Z., in einem wohlhabenden Viertel von Paris abspielt, ist bestimmt kein Zufall. Das 16. Arrondissement zählt zu den teuersten und wohlhabendsten Residenzvierteln ganz Frankreichs. Auch hier will die Exekutive klar machen, wer in welchem Viertel willkommen ist und wer sich dort nicht aufhalten darf.

Gegen die Polizisten wurde zwar bereits im Mai 2019 eine Untersuchung eingeleitet, die übrigens noch im Gange ist, doch die Polizeipräfektur ist sich der Unschuld der Polizisten wohl sicher und teilte Mediapart mit, dass „die Staatsanwaltschaft zu dem Schluss kam, dass es sich um Notwehr handelte“.

Paul kam nicht so einfach davon. Zwar wurde seine Anzeige wegen Diebstahl relativ schnell eingestellt, er verbrachte jedoch sechs Monate in Haft wegen „vorsätzlicher Gewalt gegen eine Amtsperson“. Er wurde erst am 4. November mit einer Entschädigung von 1.000 Euro freigelassen.

„Ich wurde strafrechtlich verfolgt und erst im November letzten Jahres freigelassen“, sagte Paul, gegenüber den Online-Medien. „Der Polizist, der auf mich geschossen hat, läuft jedoch weiterhin mit seiner Waffe herum. Ich habe eine Beschwerde eingereicht, aber die Untersuchung dauert noch an“, während das Video nach mehrfachen Anfragen erst im Juni 2020 an den Anwalt des 22-Jährigen weitergeleitet wurde.

Auch die psyschischen Folgen für Paul sind drastisch. Er musste u.A. sein Studium wegen „impulsiver Explosionen“, „Weinkrämpfen“ und „den Gedanken, dass er hätte sterben können“ unterbrechen, sagte der psychiatrische Experte während der Untersuchung.

Das Sicherheitsgesetz

Somit zeigt sich wieder wie der Staatsapparat mit solchen Vorfällen umgeht. Man gewährt Polizist:innen vollkommene Narrenfreiheit, beschützt sie vor jeglichen kritischen Stimmen und denunziert die Betroffenen als „Kriminelle“, vor denen man sich „schützen“ müsse. Die rassistische Ideologie ist in den Polizeibehörden so tief verankert, dass die Polizisten wahrscheinlich selbst glauben, das „richtige“ und „gute“ zu tun.

Der Fall von Michel Zacler, die brutale Rämung eines Camps von Geflüchteten im Zentrum von Paris und der Vorfall der sechs Jugendlichen kommt für die Regierung reichlich ungelegen. Sie versucht gerade mit einem neuen Gesetz, dem „allgemeinen Sicherheitsgesetz“, Videoaufnahmen von Polizist:innen zu kriminalisieren. Denn zahllose Videos von brutaler Polizeigewalt haben in letzter Zeit das Image der Polizei näher an die tatsächliche Praxis dieser gerückt. Es ist offensichtlich, dass das neue Gesetz vor allem dazu dienen soll, dass die sowieso schon kaum zur Rechenschaft gezogenen Polizist:innen ihre Schmutzarbeit für den Staat ohne jegliche Kontrolle der Öffentlichkeit machen können sollen.

Nicht nur wegen dieser aktuellen Fälle gingen am Samstag, den 28. November in ganz Frankreich – trotz grassierender Corona-Pandemie – mehrere Hunderttausende auf die Straße um gegen das Gesetz zu demonstrieren. Am 30. November musste die Regierung dann doch etwas zurückrudern und sprach davon, den umstrittenen Artikel 24 des Gesetzentwurfes noch einmal umzuschreiben. Das es sich hier nicht um eine Streichung des Artikels geht, machte der Vorsitzende der Partei Macrons La République en Marche, Christophe Castaner, bei einer Pressekonferenz gestern klar – „Es handelt sich weder um eine Rücknahme noch um eine Aussetzung, sondern um eine völlige Neufassung des Textes“.

Auch schon in den Jahren zuvor haben die Regierungen versucht die Proteste durch solche Mittel zu befrieden, so z.B. bei dem Widerstand gegen die Arbeitsrechtsreform (loi El Khomri) im Jahr 2016 oder bei den „gilets jaunes“ (Gelbwesten) seit Ende 2018. Die Widerstandskultur der letzten Jahre in Frankreich hat jedoch gezeigt, dass ein Großteil der Bevölkerung sich nicht mit den heuchlerischen Versprechen der Regierenden abspeisen lässt. So können wir davon ausgehen, dass die Proteste auch nach dieser Ankündigung fortgesetzt werden.

# Titelbild: gemeinfrei, Demo in Rouen am 21. November 2020, „Wer beschützt uns vor der Polizei?“

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Zwei ehemalige Berliner Polizeischüler wurden am Freitag vom Landgreicht Berlin vom Vorwurf freigesprochen „Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen“ verwendet zu haben. Den beiden Angeklagten war vorgeworfen worden bei einem Basketballspiel in Berlin am 27. April 2018 „Sieg Heil“ gerufen zu haben, als sie dort privat einen Geburtstag feierten. In der ersten Instanz waren die beiden Angeklagten B. und W. noch zu Geldstrafen verurteilt worden. Ein dritter in der ersten Instanz Angeklagter hatte seine Berufung zurückgezogen und ist damit rechtskräftig verurteilt. Nach Angaben der B.Z. ist er auch seinen Job als Polizist los. Die beiden jetzt Freigesprochenen dürfen, sofern das Urteil rechtskräftig wird, ihren Job behalten.

Das Verfahren war zur Anklage gekommen, weil zwei Sozialarbeiter*innen, zusammen mit von ihnen betreuten Jugendlichen, im selben Block waren, wie die Angeklagten. Die Gruppe der Angeklagten war den beiden schon vor den von Ihnen beobachteten und gehörten „Sieg Heil“ Rufen unangenehm aufgefallen. Sie hätten bei Ballkontakten von Schwarzen Spielern „Affengeräusche“ gemacht und als Cheerleader auftraten „Ausziehen“ gebrüllt. Der Anwalt von B. bezeichnete das vor Gericht als „unflätiges Verhalten“. Teil der juristischen Auseinandersetzung war diese Zurschaustellung von rassistischem und chauvinistischen Gedankengut aber nicht. Der Angeklagte B. Habe dann, was er auch vor Gericht eingeräumte, „den Adler gemacht“, also die Arme ausgebreitet, und „Sieg“ gerufen. Die beiden Zeug*innen haben dann gesehen und gehört, wie die beiden anderen Angeklagten W. Und F. „Heil“ gerufen haben, was der Angeklagte W. im Verfahren vehement bestritt.

Die Sozialarbeiter*innen kontaktierten daraufhin den Sicherheitsdienst, damit die pöbelnde Gruppe der Halle verwiesen werden konnte was dann, nach Aufnahme einer Anzeige und Gegenüberstellung, auch geschah. Dass es sich bei den Angeklagten um angehende Polizisten handelte wurde erst im Laufe der ersten Gerichtsverhandlung klar.

Im Laufe des Prozesses wurden auch weitere Polizeischüler, die auf der Geburtstagsfeier waren, als Zeugen gehört. Diese gaben an weder „Sieg“ noch „Heil“ gehört zu haben. Einem von ihnen, H., hatte der in der ersten Instanz rechtskräftig verurteilte F. allerdings gestanden „Heil“ gerufen zu haben.

Ein in der jetzigen Verhandlung zentraler Punkt war die Frage, ob es denn in der Halle laut gewesen sei. Diese angenommene Laustärke war dann auch ausschlaggebend für den Freispruch. Der vorsitzende Richter und die beiden Schöffinnen sahen es nicht als erwiesen an, dass erstens der „Sieg“ brüllende Angeklagte B. die – trotz der zwei Zeug*innenaussagen – nicht als gesichert gewerteten „Heil“-Rufe der beiden neben ihm Sitzenden gehört habe. Zweitens müssten die „Heil“-Rufe, die das Gericht wie gesagt nicht als erwiesen ansah, so leise gewesen, dass der Vorsatz, diese an die Öffentlichkeit zu richten, nicht nachzuweisen sei.

Das Gericht ist damit wohl einem alten Trick aus der rechten Fußballfanszene auf den Leim gegangen. Zum einen sind „Sieg“- Rufe bei weitem nicht so üblich, wie vom Gericht angenommen, auch nicht beim Fußball. „Das war in den 90er Jahren in den Stadien vor allem in Ostdeutschland so, dass Leute „Sieg“ gerufen haben und die anderen im Wechsel dann „Heil“. So dass die Leute einzeln nicht belangt werden konnten. Später sind Fanszenen darauf umgestiegen, das nicht mehr ganz so eindeutig zu machen und nur noch „Sieg“ zu rufen“, erklärt Max Kulik, aktiver Fußballfan dem LCM. „Fanszenen die permanent „Sieg“ rufen sind aber auf jeden Fall verdächtig, der Nachweis ist natürlich schwierig. Im Verlauf der Zeit haben sich dann durch die Umpolitisierung von Ultras Fanszenen gebildet, die das nicht mehr ganz eindeutig herleiten, die das einfach rufen, weil das schon immer gerufen wurde.“

Der Zeuge und Polizeischüler H. hat übrigens wegen des Verfahrens den Kontakt zu allen Angeklagten abgebrochen. Er finde der Vorwurf sei „schwerwiegend“ und gehe nicht mit dem zusammengehe, wofür er stehe.

Rassismus, Chauvinismus und ein Hang zum laxen Umgang mit Nazis in den eigenen Reihen sind in der jüngeren Vergangenheit immer wieder an die Öffentlichkeit geraten. Nach den diversen Skandalen der letzten Zeit um Chatprotokolle und rechte Preppergruppen innerhalb des Polizeiapparats, ist der hier verhandelte Fall ein weiterer in in einer langen Reihe von sogenannten Einzelfällen.

Sollte H. Seine konsequente Haltung weiterhin durchziehen, wird er in Zukunft also wohl öfter Selbstgespräche führen müssen. Der in der ersten Instanz verurteilte F. wird sich hingegen wohl ärgern, dass er nicht auf die Milde und das Verständnis des Gerichts gewettet hat.

# Titelbild: Christian Zeiner, CC BY-SA 2.0, Symbolbild, Mercedes Benz Arena, Alba Berlin vs. BBC Bayreuth 2011

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Manchmal nimmt man sich einen Apfel aus der Obstschale und denkt: Na, der hat zwar drei, vier braune Stellen, aber essen kann man ihn schon noch. Wenn man dann reinbeißt, stellt man fest, dass das Fruchtfleisch fast durchweg braun und der Apfel mithin ungenießbar ist. Dieses Bild verdeutlicht vielleicht ganz gut, wie es sich mit der Polizei in diesem Land verhält. Auch wenn die Meldungen über rechte Polizisten nicht abreißen, werden diese Fälle gemessen an der Gesamtzahl von Polizeibeamten zwar noch eher als vereinzelte „braune Stellen“ wahrgenommen. Aber immer mehr drängt sich doch die Frage auf: Ist der „Apfel“, sprich: die Polizei, nicht von innen heraus schon längst braun, verfault, also von rechtem Gedankengut infiziert?

Es ist weniger die reine Zahl von Fällen, in denen rechte Polizeibeamte geoutet werden oder sich selbst outen, die dafür spricht, sondern mehr noch die Dimension der Skandale. Mitte September etwa flogen in Nordrhein-Westfalen rechte Chatgruppen von mindestens 30 Beamten auf. Sie hatten über WhatsApp Hakenkreuze und Bilder von Adolf Hitler getauscht, sich an der fiktiven Darstellung der Ermordung eines Flüchtlings in einer Gaskammer ergötzt. Beteiligt war eine komplette Dienstgruppe der Polizei in Mülheim an der Ruhr, die zum Polizeipräsidium Essen gehört. Dieses Präsidium scheint so etwas wie ein Epizentrum für die Ausbreitung rechten Gedankenguts in Polizeikreisen zu sein, wie sich inzwischen zeigte.

Nur wenige Tage nachdem der Skandal um die rechten Chatgruppen hochgekocht war, berichtete das Springerblatt Welt über ein vom Essener Polizeipräsidium herausgegebenes internes Papier zum Thema „Arabische Familienclans“. Wer dieses rassistische Machwerk, das man als zumindest protofaschistisch, wenn nicht im Kern schon faschistisch bezeichnen muss, gelesen hat, wird sich nicht mehr darüber wundern, dass im Bereich dieses Präsidiums rechte Chatgruppen gedeihen. Sogar die sonst der Polizei eher nahe stehende Welt konnte da offenbar nicht mehr mitgehen, bezeichnete die Schrift als „eine Mischung aus „Der Pate“ und „Expeditionen ins Tierreich“.

Angesichts der kritischen Berichte der Welt und dann auch weiterer Medien hat das Polizeipräsidium Essen, das von dem SPD-Mann Frank Richter geführt wird, die Broschüre inzwischen online gestellt, versehen mit einem Statement, so dass sich jede/r ein eigenes Bild machen kann. Weder aus dem Statement noch aus der Tatsache der Veröffentlichung der Broschüre lässt sich herauslesen, dass es bei den Verantwortlichen auch nur ansatzweise so etwas wie ein Problembewusstsein gibt. Im Gegenteil: Man klopft sich für das Machwerk auch noch auf die Schulter!

Es handle sich um eine „interne Kurzinformation für Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte“, heißt es da. Um „Hintergrundwissen zu erlangen und erfolgversprechende Arbeitsansätze bei der Bekämpfung“ sei es vor allem bei „neuen Kriminalitätsphänomenen“ durchaus „üblich, Fakten und Strukturen, beispielsweise in Form einer Broschüre oder auch Flyern zusammenzutragen, um die Handlungskompetenz operativ tätiger Polizeibeamter zu erhöhen“. Das Polizeipräsidium Essen habe sich als „eine der ersten Behörden im Land NRW der intensiven Bekämpfung krimineller Familienangehöriger von Clanfamilien“ angenommen. Ausführlich werden im Statement die Verdienste und Erfahrungen der Autorin der Broschüre herausgestrichen.

Bei dieser Autorin handelt es sich um Dorothee Dienstbühl, Professorin an der Fachhochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung (FHöV) NRW, und zwar an der Außenstelle Mülheim an der Ruhr, also just dort, wo die rechten Chatgruppen von Polizisten aufgeflogen sind. Gibt es da vielleicht einen genius loci, ein unguter Geist des Ortes? Dienstbühl ist jedenfalls schon mehrfach auffällig geworden, etwa im Juli, als sie im Mitgliedermagazin der Gewerkschaft der Polizei (GdP) in der Titelgeschichte unter der Überschrift „Linksextremismus: Die Erben der RAF – Verstörende Menschenbilder“ gegen Links austeilte. In einem Rundumschlag denunzierte sie radikale Linke sämtlich als unpolitische Kriminelle, „entlaufene Wohlstandskinder“, bemühte sämtliche Klischees, die über „Linksextremisten“ im Umlauf sind.

Diesem Stil des Zitierens von Klischees und der pauschalen Denunziation ganzer Bevölkerungsgruppen bleibt die Polizeiprofessorin auch in der Broschüre über „arabische Clans“ treu. Eine Schrift, die auf jedem Büchertisch der AfD gut aufgehoben und sicher auch als Beilage zu einem der Bestseller von Thilo Sarrazin geeignet wäre. Schon Überschrift und Foto auf der Vorderseite der Broschüre lassen den Inhalt erahnen. Unter der Überschrift „Arabische Familienclans. Historie. Analyse. Ansätze zur Bekämpfung.“ ist das Foto einer Shisha-Bar zu sehen, schön kitschig, wie sich Otto Normalverbraucher so eine Lokalität vorstellt. Im Zentrum des Fotos ist eine Polizistin zu sehen, flankiert durch einen Kollegen. Sie kontrolliert drei Gäste, die vor ihr auf Sofas sitzen.

Das Bild passt tatsächlich zum Inhalt. Dienstbühl rührt ein abstoßendes Gemisch von Klischees und Ressentiments an, das – gewollt oder ungewollt – all den Hetzern im Netz und anderswo, die in „arabischen Clans“ und einer „Islamisierung des Abendlandes“ die größte Gefahr sehen, Stichworte liefert. Sie beschreibt die „Familienclans“ als rückständige, in jahrhundertealten Wertevorstellungen gefangene Strukturen, die mit der von Dienstbühl apostrophierten modernen Demokratie westlicher Prägung in diesem Land auf Kriegsfuß stehen. Die „Clans“ werden in der Schrift durchweg als Feind präsentiert, die mit allen Mitteln zu bekämpfen seien.

Zwischentöne und Differenzierungen oder gar so etwas wie eine soziologische Analyse zugrunde liegender Phänomene sind bei einer solchen Einstellung natürlich nicht zu erwarten. Dienstbühl geht es durchaus darum, „die Clans zu verstehen und zu begreifen, wie sie strukturiert sind“, aber eben doch nur um zu ermitteln, „was ihnen schadet“, wo die „Schwachstellen“ sind. Merke: „Vorläufige Festnahmen und Gerichtsprozesse haben sich häufig als wenig schädlich für das Familiengefüge erwiesen.“

Es handle sich um eine „notwendige Kollektivbetrachtung, die sich auf Mitglieder von Familienclans mit krimineller Neigung bezieht“, heißt es in der Broschüre weiter. Großzügig wird konstatiert, es seien „natürlich“ keineswegs alle „Mitglieder, die einem Clan zuzuordnen sind“, kriminell. Auf eine „stetige Abgrenzung zwischen Clanmitgliedern, die kriminell in Erscheinung getreten und solchen, die es nicht sind,“ müsse aber verzichtet werden. Zum einen, „weil grundlegende Denkmuster „häufig auch bei Familienmitgliedern verankert sind, die nicht kriminell auffällig sind“, zum anderen weil „auch bei Kenntnis über Kriminalität einzelner Familienmitglieder der Rest schweigt“. Hier wird also nach der Devise verfahren: Die haben doch alle Dreck am Stecken! Eine mehr als merkwürdige Rechtsauffassung für eine Polizeibehörde.

Über die „Lebenswelt arabischer Familienclans“ ist in der Broschüre zum Beispiel Folgendes zu lesen. Der Mann sei „der Stammhalter und Entscheidungsträger“. Er sei „zuständig für die Beschaffung von Geld und Ressourcen für die Familie, sowie die Vertretung nach außen“ und das „Bewahren der Familienehre“. Die Frau ist dagegen „Hüterin der Familie“, ihre Rolle beziehe sich „auf ihre Gebärfunktion zur Gewährleistung des Clanerhalts und die Erziehung der Nachkommen im Sinne der Tradition“. Und: „Je mehr Kinder eine Frau für den Clan gebärt, desto besser.“

Überhaupt das Ehrverständnis. Das sei in „stammesgeprägten Familien“ ein ganz anderes als in westlichen Vorstellungen. In westlichen Demokratien werde die Ehre „auf das eigene Verhalten bezogen“, weiß Dienstbühl. Nach dem „Verständnis im islamischen Kulturkreis“ werde der Mensch „und vor allem der Mann mit Ehre geboren“. Diese Ehre müsse er verteidigen, denn sie könne durch das Verhalten anderer Person verletzt werden. Die Schwelle für eine Ehrverletzung liege recht niedrig und begründe Misstrauen und einen hohen Kontrollbedarf untereinander.

„Kurdische Familienclans“ nimmt sich die Autorin noch einmal gesondert vor. Sie seien „patriarchalisch und darwinistisch geprägt und sie haben Jahrhunderte Jahre alte Stammesstrukturen und Regelwerke kultiviert“, erfahren die LeserInnen. Macht werde dort vor allem „durch Luxus demonstriert. Dieser sei „zum Teil allerdings Show“. Da würde mit Leihwagen oder „aufbereiteten Unfallautos geprotzt oder mit aufwendigen Brautkleidern, die tatsächlich aus minderwertigem Material gefertigt seien. „Betrug und Hochstapelei ist innerhalb der Clans und sogar den einzelnen Familien untereinander verbreitet“, heißt es wörtlich. Mit derartigen Sätzen wäre Dienstbühl auf jeder Versammlung von AfD-Mitgliedern oder bei den Demonstrationen von Pegida eine umjubelte Rednerin.

Das ist bis dahin alles schon widerlich genug, aber die rechte Polizeipopulistin setzt noch einen drauf. Sie erstellt allen Ernstes Tabellen unter den Überschriften: „Wovor haben sie Angst?“, „Was schwächt sie?“ und „Wo sind sie zu treffen?“. Da ist dann zu lesen, dass man in „kurdischen Clans“ nicht nur Angst vor Ehrverlust und Verlust von Geld hat, sondern auch vor einer Unterordnung unter „Ehrlose“ und eine „Aversion vor regulärer Arbeit“. Zu treffen seien Clanmitglieder, indem etwa „vorhandenes Misstrauen in die eigene Community“ geschwächt werde, durch „Schwächung der Männlichkeit“ oder indem man ihnen Geld und Luxusartikel nehme.

Der Skandal lässt sich aber immer noch toppen – und zwar mit Empfehlungen für den Einsatz, die auch in der Berichterstattung der Medien skandalisiert worden sind. Dienstbühl empfiehlt allen Ernstes den Einsatz von Hundestaffeln bei sämtlichen Maßnahmen von Polizei und Zoll gegen „Clans“. Beamte hätten immer wieder die Erfahrung gemacht, „dass aggressive Clanmitglieder ängstlich auf Hunde reagieren“. Die Angst vor Hunden habe ihren Ursprung im sunnitischen Islam, „in welchem diese als minderwertig und insbesondere ihr Speichel oder nasses Fell als unrein gelten“. Aber die Autorin hat noch einen Tipp in petto. Der Einsatz weiblicher Beamte habe „bei Clanmitgliedern ebenfalls eine Wirkung“. Denn „deren Rollenvorstellungen besagen, dass sich Frauen den Männern fügen müssen“. Insbesondere junge Polizistinnen stünden dem „gelebten Weltbild der Clans diametral entgegen“. Daraus folgt: „Treten Polizistinnen entsprechend aggressiv auf, setzen sich durch und dominieren den Mann (z.B. in der Festnahme), kann dies dessen Ehre verletzen.“
Man sieht sie förmlich vor sich: die junge blonde Polizistin mit dem deutschen Schäferhund an der Kette, die das „arabische Clanmitglied“ dominiert. Spätestens an dieser Stelle wird der Rassismus der Broschüre unerträglich.

Wie kann man ein derartiges Machwerk gut heißen in einem Jahr, in dem ein rechter Terrorist in Hanau Menschen erschossen hat, weil die Shisha-Bar für ihn der typische Ort war, an dem sich „kriminelle Ausländer“ aufhalten?! Wie ist es möglich, dass eine Dozentin, die in der Schulung von Polizeibeamten eine erhebliche Rolle spielt, solche Theorien ungestraft äußern und in einer offiziellen Schrift verbreiten darf?! Es sind offenbar doch mehr als nur ein paar braune Stellen am „Apfel“. Das Innere scheint schon ganz schön braun zu sein.

#Titelbild: RubyImages/APN
Hanau-Gedenkdemo in Berlin unter dem Motto „Kein Vergessen“, 19.08.2020

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„Ich dachte er wäre sicher im Gefängnis – und musste realisieren, dass niemand der in den Knast muss sicher ist…“ sagt Dahman Mayouf. Dahman ist Bruder von Ferhat Mayouf, der am 23. Juli bei einem Brand in seiner Zelle in der JVA Moabit starb. Die Todesumstände sind grausam, die Bedingungen unter denen er untergebracht war genauso. Drei Tage vor seinem Tod hatte er bei einem Haftprüfungstermin über Depressionen und Selbstverletzung geredet und gesagt, dass er in eine Haftklinik müsse. Dies sei in einem ihm vorliegenden Protokoll auch so vermerkt, ergänzt Dahman. Die Richterin sprach wohl auch eine Empfehlung zu ärztlicher Behandlung aus. Die Untersuchung durch den Anstaltsarzt erfolgte allerdings nie. Für den Dahman, ist damit die Vernachlässigung seines 38 jährigen Bruders bewiesen. Stattdessen benutzt die Vollzugsanstalt selbiges Protokoll um ihre Behauptung des Suizids zu untermauern. Nachforschungen von Criminals for Freedom zeichnen allerdings ein gänzlich anderes Bild.

Zusammen mit Ferhats Familie und über Berichte von Mitgefangenen konnten sie die Todesumstände von Ferhat rekonstruieren. Das Licht in den meisten Zellen war in den Abendstunden aus, als einige Gefangene einen Brandgeruch wahrnahmen. Es war ein dumpfes Wummern von Schlägen an einer Zellentür zu hören. Verzweifelte Hilferufe. Ein anderer Gefangener benachrichtigt die Wärter. „Die Insassen hörten, wie es 5 Minuten lang aus der Brandzelle Hilferufe gab und lautstark gegen die Zellentür wummerte. Ein Insasse sah durch ein Loch seiner Zellentür, wie zwei Schlusen (Gefängniswärter, Anm. d. Red.) im Gang standen und nichts unternahmen, obwohl er um Hilfe und immer wieder ‚Feuer‘ schrie. Bis es verstummte. Einer hörte auch, wie sich die Schlusen wohl berieten, aber nichts unternahmen. Sie standen die ganze Zeit vor seiner Zelle.“, so berichtet es ein Mitgefangener Criminals for Freedom. Als zwanzig Minuten später die Tür von der Feuerwehr geöffnet wird, ist Ferhat Mayouf bereits tot.

Todesfälle durch Brände in Gewahrsam sind keine Einzelfälle. Ferhat Mayoufs Geschichte weckt Erinnerungen an den Fall von Oury Jalloh, der vor 15 Jahren in Dessau gefesselt in seiner Zelle verbrannte, sein Tod und die Verwicklung von Polizeibeamten ist nie befriedigend aufgeklärt worden. Oder an den Fall von Amad Ahmad der am 17.09.2018 in der JVA Kleve durch einen Brand in seiner Zelle starb. Nicht nur sein Tod wirft Fragen auf, sondern auch der Umstand, dass er durch eine Verwechslung inhaftiert wurde. Zudem war die Verwechslung der Polizei bereits wochenlang vor dem Tod bekannt. Auch wenn dies erst nach dem Brand öffentlich gemacht wurde.

Immer wieder sterben Gefangene, vor allem People of Color und Schwarze Menschen, in den Knästen. Diese als Suizid zu bestimmen hilft dabei, die Verantwortung des Knastes auszublenden. Gefangene sind bei Vorkommnissen wie Brandausbrüche absolut wehrlos. „Du bist eingeschlossen und hast keine Chance“ so Dahman Mayouf. Aber tatsächlich sind sie aller Gewalt vollkommen ausgeliefert. Im Fall von Ferhat ;ayouf spricht Dahman von „Folterungen im Knast, durch Prügel aber auch Isolation“. Nach Berichtenvon Mitgefangenen war Ferhat Mayouf von Schließern vor seinem Tod zusammengeschlagen und zwei Tage im sogenannten „Bunker“ isoliert worden. Körperliche Verletzungen wie Rippenbrüche seien auch ärztlich dokumentiert.

Rassismus, rassistische Polizei- und Justizgewalt und Unterdrückung sind keine Phänomene, welche ausschließlich vor den Knasttoren zu finden sind, im Gegenteil. In Knästen sind die Verhältnisse im Vergleich zu draußen sogar verschärfter. Nicht nur rassistische Justizangestellte sind Teil des „Normalzustandes“ im Knast. Regelmäßig gibt es Fälle, wie eben den von Ferhat Mayouf, die das eindrücklich zeigen.

Gesellschaftlich ist das ein massives Problem. Knäste sind im Gegensatz zur Todesstrafe in breiten Teilen der Gesellschaft akzeptiert. Selbst unter radikalen Linken scheint die unbewusste Überzeugung verbreitet, dass es doch ein paar Menschen gibt, die da hingehören. Durch die Kategorisierung „kriminiell“, und das Wegsperren, befreien Knäste die Gesellschaft von der Verantwortung, sich mit den drängenden gesellschaftlichen Problemen auseinander zu setzen. Die Inhaftierung ist zur ersten Antwort auf viel zu viele der sozialen Probleme geworden, die Menschen in Armut belasten. Obdachlosigkeit, Arbeitslosigkeit, Drogenabhängigkeit, psychische Erkrankungen und vieles anderes. All das sind Probleme, von denen PoC wesentlich stärker betroffen sind, als Weiße, der rassistische Charakter dieser Gesellschaft zeigt sich am Ende auch in den Knästen.

Dort sind alle Gefangenen dem System Knast ausgesetzt. „Sie pushen die Leute sich selbst umzubringen. Nicht nur das sie ihnen Feuerzeuge und Seile in die Zelle geben, sie zerstören sie seelisch. Das ist falsch!“ meint Dahman Mayouf. Vereinzelung im Knast und die verschiedenen Formen von Gewalt machen die Gefangenen psychisch kaputt. Knäste isolieren Menschen von der Gesellschaft, sie foltern und töten. Unter Knastumständen kann niemals von einem sogenannten Selbstmord die Rede sein, auch nicht im Fall von Ferhat Mayouf.

# Text: Selma Ali-Sherwan von Sabot44

# Am 29.08.2020, 19 Uhr, U-Bahnhof Turmstraße findet eine Demo statt, um an Ferhat Mayouf und alle anderen im Knast ermordeten zu erinnern und sich an die Seite all jener zu stellen, die gefangen gehalten werden

# Titelbild: JVA Moabit, wikimedia commons, G.Elser, CC BY 3.0

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Anfang vergangener Woche machten auf Instagram Bilder eines jungen Mannes mit mehreren Kopfverletzungen die Runde. Zwei Brüder, Jecki und King_S, waren in der Nacht vom 16. auf den 17. August von Berliner Beamten festgenommen worden. Sie erheben schwere Vorwürfe gegen die Polizei, von Schlägen, Beschimpfungen und Misshandlungen ist die Rede.

Eine Pressemeldung der Berliner Polizei zu dem Vorgang gibt es nicht, eine schriftliche Anfrage von lower class magazine blieb bislang unbeantwortet. Wir haben uns mit den beiden jungen Männern getroffen und mit ihnen über den Vorfall gesprochen.

Ihr habt auf Instagram eure Begegnung mit der Berliner Polizei vom vorvergangenen Wochenende öffentlich gemacht. Was ist an diesem Abend geschehen?

Jecki: Wir waren zu zweit mit zwei Freundinnen im Mauerpark, haben Musik gehört und gechillt. Es war schon etwas später, ein bisschen dunkel und schon menschenleerer. Da kam so ein Typ vorbei, der Glasflaschen gesammelt hat. Der wollte eine halbvolle Flasche von uns nehmen, wir haben gesagt, er soll die nicht mitnehmen. Dann gab es eine verbale Auseinandersetzung, der Typ hat angefangen, uns zu beleidigen und so. Aber dann ist er zunächst wieder gegangen.

Nach zwanzig Minuten kam er wieder, aber nicht allein. Ein Kumpel von ihn, eine Frau waren dabei und sie hatten jetzt zwei Kampfhunde. Dann haben sie meine Bruder angegriffen und es kam zu einer Auseiandersetzung.

Gab es während des Angriffs rassistische Bemerkungen?

Jecki: Ja, die haben ihn auch N**** genannt und so.

King_S: Er hat seinen Hund auf mich gehetzt. Ich habe davon auch Bissverletzungen.

Was ist dann passiert?

Jecki: Wir sind dann weggegangen, zur Tram an der Bernauer. Wir sind losgefahren, ein paar Stationen später kam dann aber die Polizei rein. Einer der Beamten hat gesagt, wir sollen mitkommen. Ich habe gefragt, warum. Er hat nichts dazu gesagt, sondern mich nur aufgefordert, aufzustehen und mich umzudrehen. Ich habe wieder gefragt, warum. Auch da hat er nicht geantwortet, sondern direkt versucht, mich mit Gewalt festzunehmen. Dann hat er meinen Bruder am Nacken gepackt. Sie waren sehr grob zu ihm, sodass auch drei, vier Passantinnen sich beschwert haben und gefragt haben, warum die so mit ihm umgehen. Er hat nur gesagt, das gehe sie nichts an.

King_S: Dann hat er mich aus der Bahn rausgeholt. Und als ich draußen war, hat er mir ins Ohr gesagt: „Du Wichser, du wirst sehen, was ich mit Dir mache.“ Meine Handschellen waren sehr fest, man sieht ja immer noch die Narben. Ich sagte: Können Sie bitte meine Handschellen lockern? Aber ich wurde nur beschimpft, als Arschloch, als Affe. Und ich wurde bedroht. Er hat mich dann hinter das Auto mitgenommen, sein Bein war vor meinem und er hat zwischen den Handschellen nach oben gerissen. Er hat mich so auf den Boden geworfen und auf dem Boden war eine Bordsteinkante, da bin ich dann mit dem Kopf dagegen. Ich habe nur noch Blut gesehen und gesagt: Mein Kopf blutet. Und er antwortete nur: Halt deine Fresse, Halt dein Maul.

Du warst zu diesem Zeitpunkt auch schon festgenommen, Jecki?

Jecki: Ich war da noch in der Tram. Sie haben ihn zuerst rausgezogen. Und als sie mich rausgezogen haben, habe ich nur gesehen, wie er bewusstlos auf dem Boden lag.

King_S: Als ich da lag knieten sich ein Polizist auf meine Beine, einer auf meinen Nacken. Und ich habe dann irgendwann keine Luft mehr gekriegt. Auch als ich schon am Boden lag und blutete, haben sie nicht aufgehört, mich zu schlagen. Ich hatte ja viel Blut verloren und wurde einfach bewusstlos. Dann kam irgendwann ein Krankenwagen, ich kann mich noch erinnern, dass ich kurz aufgewacht wird und eine Krankenschwester meinen Kopf gestützt hat. Ich wurde dann ins Krankenhaus gebracht. Ich habe immer gefragt, wo sie meinen Bruder hinbringen, aber es hat niemand geantwortet.

Bei Dir ging es dann in die Gefangenensammelstelle?

Jecki: Mich haben sie in einen nahegelegnen Polizeiabschnitt gefahren. Von dort dann zu einem anderen Abschnitt. Dann wurde ich wieder entlassen. Ich habe die auch gefragt, was sie mit meinem Bruder gemacht haben. Einer hat mich angeguckt und meinte, er wäre gestolpert und dumm hingefallen. Er hatte ein Lächeln im Gesicht, als er das sagte. Ich habe die ganze Zeit Fragen gestellt, warum, wieso, dies und das, weil die uns keinen Grund genannt haben, warum sie uns festnehmen. Aber auch das Fragen hat denen anscheinend nicht gepasst, der eine hat mich dann als Arschloch bezeichnet. Und es gab immer wieder Übergriffe. Etwa bei der Fahrt von der Tramstation zum Abschnitt habe ich mit den Handschellen das Fenster ein wenig runtergemacht, weil mir warm war. Dann hat einer von denen die Handschellen verdreht, dass sie noch enger werden. Als wir auf dem Abschnitt waren, habe ich schon beim ersten Schritt aus dem Auto ein Knie abbekommen. Da waren fünf, sechs Beamte um mich rum. Ich hab ein paar Tritte bekommen und sie meinten, ich solle mein Maul halten, wenn ich auf dem Abschnitt bin und dass ich mich benehmen soll.

Hat man euch irgendeine Anzeige vorgelegt? Irgendeinen Grund, warum sie euch mitgenommen haben?

Jecki: Sie haben uns angezeigt wegen Widerstand und weil wir sie angeblich beleidigt hätten.

Das bezieht sich aber ja, wenn überhaupt, auf die Zeit nach der Verhaftung. Das Delikt, wegen dem man euch überhaupt erst mitgenommen hat, hat man euch nicht mitgeteilt?

Jecki: Nein. Wir haben vermutet, dass sie wegen dieser Auseinandersetzung davor gekommen sind. Aber gesagt haben sie uns nichts, also wissen wir es eigentlich auch nicht.

Du hast ja ein Attest vom Arzt bekommen, was für Verletzungen hast du davongetragen?

King_S: Vor allem die Wunden am Kopf. Zwei der Platzwunden mussten genäht werden. Aber ich hatte auch noch eine verletzte Schulter von der Festnahme. Und Bisswunden von dem Hund, aber das war ja vor der Festnahme.

Hattet ihr ähnlich schlechte Erfahrungen mit der Polizei schon zuvor?

King_S: Für mich ist es das erste Mal, dass ich so von Polizisten geschlagen wurde. Aber jetzt, da das passiert ist, will ich es auch öffentlich machen. Das kann ja jedem jederzeit passieren.

Jecki: Bei mir genauso. Derartige Gewalt von Beamten habe ich bisher noch nie erlebt, das war das erste Mal.

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Am 18. Juni diesen Jahres wurde der 54-Jährige Mohamed Idrissi in Bremen Gröpelingen von einem Polizisten ermordet. Der Fall wurde durch ein online veröffentlichtes Video der Tat medial bekannt. Unsere Autorin Leila Aadil hat Nadia und Aicha, Schwägerin und Tochter des Opfers zu dem Fall befragt. Die Gesprächspartnerinnen haben die Fragen gemeinsam beantwortet.

Nach den tödlichen Schüssen auf Mohamed Idrissi wurde bekannt, dass er an einer psychischen Erkrankung litt. Wie hat sich seine Krankheit ausgewirkt? Und wie behaltet ihr Mohamed in Erinnerung?

Mohamed war ein liebevoller, ruhiger und introvertierter Mann. Er lebte zurückgezogen, das heißt, er verließ seine Wohnung nur sehr selten und trotzdem hatte er ein gutes Verhältnis zu seinen Nachbarn. Diese berichteten nur Gutes über ihn. Er war sehr kinderlieb und hat den Nachbarskindern immer Bonbons oder einen Euro für Süßigkeiten gegeben. Leider litt Mohamed an psychischen Erkrankungen wie zum Beispiel einer paranoiden Schizophrenie. Er lebte in ständiger Angst, von irgendjemandem getötet zu werden. Außerdem entwickelte er im Zuge dessen einen Reinlichkeitsdrang, der sich durch ständiges Reinigen der Fenster und der kompletten Wohnung, inklusive Wände, deutlich machte. Des Weiteren machte sich seine Krankheit darin bemerkbar, dass er uns, seine eigene Tochter und Familie, des Öfteren nicht erkannte und sich vor uns erschrak.

Wir als Familie und seine, für ihn sprechenden, solidarischen Freunde, bleiben mit gebrochenem Herzen zurück.

Was hat sich am 18. Juni zugetragen?

Am Donnerstag, den 18. Juni 2020, wurde Mohamed, am helllichten Tag vor seiner Wohnung in Bremen, Gröpelingen bei einem fehleingeschätzten Polizeieinsatz erschossen. Ursprünglich sollte eine Kellerräumung stattfinden, da sich durch seinen Reinlichkeitsdrang Schäden in diesem zugetragen haben. Allerdings waren vier bewaffnete Beamte vor Ort, die ihre Waffen schon auf ihn gerichtet haben noch bevor er auf irgendeine Weise bedrohlich wirkte. Es war der Polizei bekannt, dass Mohamed psychisch krank war und trotzdem war keiner seiner Betreuer oder der sozialpsychiatrische Dienst vor Ort. Bei der Polizei entstand der unnötige Wille zur unmittelbaren und eigenständigen Lösung der Situation und diese schien einzig und allein der Griff zur Waffe zu sein. Nachdem er von den Beamten provoziert und mit Pfefferspray besprüht wurde, floh er aus Angst in Richtung eines Beamten und wurde von ihm zwei Mal in die Brust geschossen, woraufhin er starb.

Inwiefern glaubt ihr hat das Verhalten der Vermietungsgesellschaft Espabau zu Mohameds Tod beigetragen?

Der Vermietungsgesellschaft war Mohameds psychischer Zustand bekannt. Inwieweit diese mit zur Verantwortung gezogen werden können, bleibt erst einmal fraglich. Dies hätten wir gerne lückenlos aufgeklärt. Leider fehlen uns dazu jegliche Informationen. Die Firma Espabau ist weder auf uns zugekommen, noch haben sie sich unseren Wissens nach zur ganzen Angelegenheit geäußert.

Wie bewertet ihr den Einsatz der Polizei?

Der komplette Einsatz war eine einzige Katastrophe. Ein sogenannter Fehleinsatz. Man hat einen psychisch kranken Mann mit Pfefferspray besprüht und zu viert in einem hysterischen Ton auf ihn eingeredet. Man hat eine Eskalationssituation provoziert. Was erwartet man von einem psychisch kranken Menschen nach so einem Verhalten?

Jeder der schon einmal in Kontakt mit Pfefferspray gekommen ist, weiß dass dieses sehr starke Auswirkungen hat und man die Sicht verliert. In unseren Augen hat er niemanden attackiert, er ist geflohen. Geflohen vor einer für ihn bedrohlichen Situation. Außerdem waren die dort anwesenden Polizisten mit der kompletten Situation überfordert. Sie waren, wie man augenscheinlich in dem Video erkennen kann, kein Team. Zu jung, zu unerfahren und überhaupt nicht zuständig.

Wie hätte die Tat verhindert werden können?

Die Anwesenheit der Polizei war völlig falsch koordiniert, diese hätten unserer Meinung nach gar nicht da sein dürfen. Zunächst hätten primär die Betreuer vor Ort sein müssen. Menschen, die ihn verstehen und mit ihm umgehen können. Dazu hätte der sozialpsychiatrische Dienst vor Ort sein sollen. Diese hätten die Situation anständig bewältigen können, da sie speziell für solche Menschen und Fälle ausgebildet wurden. Da aber die Polizei schon vor Ort war, hätten sie großen Abstand wahren, in einem ruhigen, gemäßigten Ton mit ihm sprechen und auf die oben genannten Fachleute warten müssen.

Nach diesen Verhaltensmustern, wäre die Situation gar nicht erst eskaliert, vielmehr wäre diese dann deeskaliert. Aufgrund des Fehlverhaltens der Beamten war Mohamed aber schon aufgewühlt und selbst danach hätte man andere Mittel wie simple Hilfe der Nachbarn annehmen können, welche vergeblich versucht haben, die Beamten davon zu überzeugen, dass sie ihn verstehen und beruhigen könnten. Doch dieses Vorhaben wurde maßlos ignoriert, stattdessen reagierte man mit Gewalt. Zuletzt hätte man im absoluten Notfall andere Mittel wie z.B. den Einsatz von Schildern oder Netzen zur Überwältigung nutzen können.

Seht ihr im Tathergang Parallelen zu anderen Fällen, in denen Menschen von der Polizei ermordet wurden?

Wir sehen Parallelen zu so unendlich vielen (über 160) von der deutschen Polizei getöteten psychisch kranken und/oder Menschen of Colour. An dieser Stelle erinnern wir an Laya-Alama Condé, der mittels Brechmitteleinsatz von der Polizei getötet wurde. Das war Mord! Oury Jalloh, welcher in seiner Zelle fixiert und angezündet wurde. Das war Mord! Maria B., eine ebenfalls psychisch kranke Frau wurde in Berlin-Friedrichshain von einem Polizisten erschossen. Auch das war Mord! Dies waren nur ein paar Beispiele, um deutlich zu machen, dass Mohameds Fall leider nicht der erste war.

Wofür kämpft Justice for Mohamed?

Das Bündnis JusticeForMohamed, setzt sich aus der Familie von Mohamed und sozial engagierten Gruppen und Menschen zusammen. Zusätzlich haben wir als Familie Dr. Jan von Lengerich als Rechtsbeistand hinzugezogen. Dieser kämpft mit uns auf rechtlicher Ebene. Wir wollen in erster Linie Gerechtigkeit für Mohamed, das heißt wir fordern eine lückenlose Aufklärung seines Falls.

Wir fordern, dass Verantwortung übernommen wird und Schuldeingeständnisse seitens der Polizei bzw. der Verantwortlichen folgen. Der strukturelle Rassismus innerhalb der Polizei muss erkannt und thematisiert werden. Außerdem fordern wir eine höhere Sensibilisierung im Umgang mit psychisch Erkrankten seitens der Polizei. Diese sollte viel mehr auf die Thematik in Aus- und Fortbildungen eingehen, da bekanntlich ein deutliches Defizit besteht. Unsere Kampagne richtet sich zunächst an die Öffentlichkeit. Uns ist bewusst, dass solche Fälle des Öfteren unter den Tisch gekehrt werden, weshalb wir mittels unserer Medienpräsenz, den Demonstrationen und Kundgebungen Aufmerksamkeit erregen, damit auch der letzte Verantwortliche mitbekommt, dass wir nicht schweigen werden. Statistisch gesehen werden Fälle, in denen Polizisten zu Unrecht morden zum größten Teil als Notwehrhandlungen dargestellt, weshalb die Anklagen relativ schnell fallen gelassen werden. Wir haben uns allerdings zum Kampf gerüstet und werden weder schweigen noch aufgeben bis wir Gerechtigkeit erfahren.

Wie kann man euch unterstützen?

Wir benötigen die Unterstützung von jedem, der nicht mehr länger bereit ist wegzuschauen. Menschen, die es leid sind, immer wieder mit anzusehen, wie psychisch kranke Menschen of colour oder Schwarze Menschen von der Polizei, den vermeintlichen „Freunden und Helfern“, aufgrund ihrer Hautfarbe erschossen werden.

Wir wünschen uns Solidarität. Seid mit uns laut, schaut nicht weg und kommt mit uns auf die Straßen. Teilt und folgt uns auf unseren Social Media Accounts, welche alle unter dem Namen @justiceformohamed zu finden sind, damit auch der letzte der Verantwortlichen, die Angelegenheit eben nicht unter den Tisch kehren kann.

Wir sind vom System allein gelassen worden. Wir stehen mit unglaublich hohen, aus dem Mord resultierenden Kosten da. Diese ergeben sich unter anderem aus den Beerdigungskosten, Kosten für eine unabhängige Obduktion und Rechtsanwaltskosten. Wir haben ein Spendenkonto eingerichtet und hoffen, dass ihr uns auch bei diesem Kampf zur Seite steht.

# Bildquelle: Initiative JusticeForMohamed

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Vorweg lass mich Axiome streuen. Einfach so.

1. Es reicht nicht nicht-rassistisch zu sein, du musst antirassistisch sein.

2. Antifaschismus ist kein „Extrem“ einer radikalen Linken, sondern das Mindestmaß an demokratischer Vernunft.

3. Sexismus, Rassismus, Homo- und Transfeindlichkeit, Ableismus sind dieser kapitalistischen, nationalstaatlichen Grundordnung inhärent und notwendig, um sie aufrechtzuerhalten.

4. Die Polizei dient als Apparat der Interessen des Nationalstaates und es ist ihre Aufgabe, diese mit Gewalt durchzusetzen.

Deutschland, die Ausgeburt der Stammbaumforschung.

Ausgehend von den USA entzündete sich wegen mordenden Polizisten eine weltweite Bewegung gegen rassistische Polizei Gewalt –

Parallel dazu randalieren, frustriert von anhaltender Polizei-Schikane, hunderte Jugendliche in Stuttgart.

Der entpolitisierende Terminus „Partyszene“ geistert durch die Medien, die Antwort der Stuttgarter Polizei lautet: Stammbaumforschung.

Derweil sieht Horst „Migration ist die Mutter aller Probleme“ Seehofer keinen Grund für eine Studie zum Vorkommen des sog. „racial profiling“ bei seinen Beamt*innen.

Let that sink in. Oury Jalloh, „Dönermorde“, Nsu.2.0., Stammbaumforschung.

Ich habe ja nicht Geschichte studiert und vielleicht irre ich mich, aber als das letzte Mal versucht wurde, in Deutschland nationale Interessen mit Stammbaumforschung durchzusetzen, führte es zur maschinellen Ermordung von mehreren Millionen Menschen.

Wenn nun also deine „Herkunft“ irgendwas darüber aussagen soll, wie du dich warum verhältst, dann wäre für mich eine „Stammbaumforschung“ anderer Art interessanter. Wie viele Polizist*innen sind wohl aus rechten Milieus? Wie viele verkehren mit Neonazis?

Der Witz ist, dass die Polizei sich permanent als Opfer stilisiert. Es fehle, speziell der migrantischen Jugend, der grundsätzliche Respekt vor ihrer Autorität. Mit Schlachtrufen wie dem der „Stammbaumforschung“ will auch davon abgelenkt werden, wie schlecht es um das Ansehen ihres Berufes wirklich steht.

Aber das ist vor allem selbst verschuldet.

Noch so eine Behauptung von mir, die ich einfach nicht belegen werde, such doch selber nach den „Einzelfällen“ und „Fehltritten“ und liste sie auf.

Und dann such gleich nach Statistiken zu internen Ermittlungen und Konsequenzen, die daraus gezogen worden. (Spoiler1: Verbotenes ist verboten und passiert deshalb nicht; Spoiler2: wenn du erst gar nicht ermittelst, kannst du nichts feststellen)

Dass es noch immer kein externes Untersuchungsorgan für den Polizeiapparat gibt, ist der echte Skandal. In wessen geistiger Tradition steht der absurde Gedanke einer „sauberen“ unfehlbaren Polizei eigentlich?

Es ist pure Ironie wie der liberale Mittejournalismus die letzten Wochen parierte, als es zum Beispiel um eine Satire gegen die Polizei ging. Den Begriff Korpsgeist hätte ich nie auf Zivilist*innen übertragen, aber da steckt ein erschreckend williger Glaube an „die Guten“ in dem einem Stefan oder der anderen Gabi.

Dabei ist das alte „Dein Freund und Helfer“ nichts als semantische Manipulation, ein offenbar bis heute tief in den Köpfen festsitzendes Erbe des Faschismus.

Ursprünglich ein Ausdruck in der Weimarer Republik hatte Heinrich Himmler die Idee, ihn für die Polizei unter Hitler zu nutzen. Bis heute wird die Polizei zum Beispiel zynischer Weise auf der AnkommenApp.de unter diesem Motto vorgestellt.

Wie sieht es eigentlich mit historischer Strukturforschung aus? Die Rolle der Polizei im Hitler-Faschismus scheint bis heute nicht klar aufgearbeitet zu sein und ich vermisse Transparenz, wenn es um die neu gegründeten Polizeistrukturen nach 1945 geht.

Man könnte, statt sich an Menschen rassistisch abzuarbeiten, sich kritisch mit der dritten Gewalt auseinandersetzten, ganz als ob wir in einer Demokratie leben würden. Stattdessen aber lieber die Stammbäume. Auf Stammbaumforschung folgte damals Sippenhaft, what’s next Deutschland?

# Bildquelle: wikimedia.commons

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Von der Kampagne Shut Down Schweinesystem

Die Corona-Krise ist vorbei. Diesen Eindruck kann man zumindest gewinnen, wenn man sich anschaut in welchem Tempo eine Maßnahme nach der anderen gelockert wird. Insbesondere Nordrhein-Westfalen nimmt hierbei unter Ministerpräsident Armin Laschet eine Vorreiterrolle ein. Dass breite Teile der Bevölkerung wieder die Einkaufsstraßen fluten, ihre sozialen Kontakte reaktivieren, dicht an dicht gedrängt in öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs sind, ist kaum verwunderlich.

Denn der staatlicherseits angestrebte Spagat zwischen fortlaufendem Zwang zur Arbeit und den sogenannten Social Distancing Maßnahmen im Privaten war schwer nachvollziehbar. Die großen Corona-Partys fanden schließlich staatlich angeordnet in Großbetrieben, wie Amazon-Fulfillment-Centern, dem Bausektor oder Schlachtbetrieben statt und auch überall sonst, wo man auf Saisonarbeiter*innen aus dem (EU-)Ausland angewiesen ist. Diejenigen die nicht weiter arbeiten durften, sahen sich aus dem Nichts mit existenziellen Fragen konfrontiert, auf die der Staat mit Tropfen auf den heissen Stein, wie etwa einem viel zu gering ausfallenden Kurzarbeiter*innengeld, keine angemessene Antwort gab.

Die haarsträubenden Arbeits- und Wohnbedingungen tausender Saisonarbeiter*innen, die, einzig zum Wohl des deutschen Wirtschaftsstandorts und gegen jede Corona-Schutzverordnung, tausendfach eingeflogen wurden, sprechen Bände über die Prioritäten, die während der Pandemie gesetzt werden. Es geht hierbei nicht um den Schutz von Menschenleben, sondern um die Sicherung von Kapitalinteressen und die Fortführung des kapitalistischen Normalvollzugs.

Was die Kampagne #LeaveNoOneBehind schon zu Beginn der Pandemie voraussagte, wird spätestens jetzt Realität: Die Marginalisierten und Prekarisierten trifft die Krise – die auch ohne Corona-Pandemie zu erwarten gewesen wäre und jetzt noch verschärft zu Tage tritt – am stärksten. Die Beispiele aus Ernte- und Schlachtbetrieben wie in Bornheim oder Gütersloh, zahlreichen Geflüchtetenlagern (bspw. in Bremen, Suhl und Ellwangen), aus den Wohnkomplexen Maschmühlenweg und Groner Landstraße in Göttingen und zuletzt aus den Landkreisen Coesfeld und Oldenburg weisen trotz lokaler Besonderheiten viele Gemeinsamkeiten auf.

All diese Orte wurden während der noch immer grassierenden Pandemie zu Corona-Hotspots. Betroffen sind zum Großteil migrantische und prekarisierte Arbeiter*innen. Schon vor der Corona-Krise von der gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen, bis zur Unsichtbarkeit marginalisiert und nun von den implementierten Corona-Schutzmaßnahmen fast schon mehr betroffen als geschützt: Wo man dazu gezwungen ist, auf engstem Raum nebeneinander zu wohnen und zu arbeiten, sich mit hunderten oder gar tausenden Anderen eine prekäre Lebensrealität teilt und es gleichzeitig am Nötigsten für einen effektiven Infektionsschutz fehlt, ist Armut der Grund für Krankheit oder sogar Tod.

Der Fall des am Virus verstorbenen Feldarbeiters in Bad Krozingen, wie auch die unzähligen Ausbrüche in Göttingen oder im Schlachtbetrieb Tönnies strafen die vielzitierte Phrase „Vor dem Virus sind wir alle gleich“ mit frappierender Evidenz Lügen. Die Corona-Krise zeigt überdeutlich auf, dass soziale Lage und Gesundheit unmittelbar miteinander verbunden sind und, dass man für Kohle bereit ist, über Leichen zu gehen.

Als wäre das für sich noch nicht genug, befeuern Politik und Medien eine rassistische Mobilisierung gegen die am schlimmsten von der Pandemie Getroffenen. So sprach etwa der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet vor dem Hintergrund der jüngsten Ausbrüche in den Schlachtbetrieben davon, dass das Virus aus Rumänien oder Bulgarien eingeschleppt worden sei, während die von ihm forcierte Lockerung der Maßnahmen in keinem Zusammenhang damit stünde. Gleichermaßen bediente etwa die bundesweite Presse rassistische Motive, wonach migrantische Großfamilien für die steigenden Infektionszahlen in Göttingen verantwortlich seien und fütterten somit jenes rassistische Narrativ, welches dem Terroranschlag von Hanau am 19. Februar 2020 den Nährboden bereitete.

Im Rahmen des jüngsten Skandals trifft es also wieder eine Produktionsstätte, in der mehrheitlich osteuropäische Saisonarbeiter*innen unter prekären Bedingungen beschäftigt und untergebracht sind: Wochenlang werden die Arbeiter*innen in die Schlachthöfe gekarrt, arbeiten und leben auf engstem Raum und sind so einem unverantwortlichen Infektionsrisiko ausgesetzt. Die öffentlich gewordenen Bilder zeigen überfüllte Kantinen, mangelhafte Schutzausrüstung und bereitgestellte Unterkünfte, die eher den Ställen der geschlachteten Tiere ähneln, als einer menschenwürdigen Wohnsituation. Den Arbeiter*innen werden mitunter 7-Bett-Zimmer zu horrenden Preisen bereitgestellt, deren Kosten bereits vom ohnehin unwürdig geringen Lohn abgezogen werden. Die Lebensmittelversorgung während des Lockdowns, die von Tönnies übernommen werden sollte, ist unzureichend und hat bereits zu massiven Versorgungsengpässen gesorgt.

Die rigorose Durchsetzung des Lockdowns in den betroffenen Landkreisen durch massive Polizeipräsenz an den Unterkünften der Belegschaft macht auch hier wieder den rassistischen Charakter der staatlichen Institutionen deutlich. Nirgendwo sonst wurde in solch einer repressiven Weise das Leben der Menschen während der Pandemie kontrolliert und durchleuchtet wie bei den betroffenen, meist osteuropäischen Saisonarbeiter*innen.

Ausgestattet mit Werk- und Leiharbeitsverträgen von Sub-Subunternehmen, ist es den Arbeiter*innen kaum möglich ihre Arbeitsrechte wahrzunehmen und gegen die miserablen Arbeitsbedingungen vorzugehen. Drohender Lohnausfall stellt die Betroffenen von einem Tag auf den anderen vor existenzielle Bedrohungen. Die Angst in Armut und Obdachlosigkeit abzurutschen und die neuerlich verabschiedeten Maßnahmen verschärfen die Abhängigkeit von diesem Schweinesystem und verhindern eine solidarische Praxis der Belegschaft untereinander.

Die Beschäftigung über Subunternehmen in Werksverträgen, menschenunwürdige Unterbringung, schlechte Verpflegung und der ausbleibende Seuchenschutz in Zeiten der Pandemie sind keine Einzelfälle, sondern haben System. Der deutsche Wirtschaftsstandort im Allgemeinen, das einzelne Unternehmen im Besonderen, profitieren hier von der ökonomischen Abgeschlagenheit osteuropäischer Nachbarstaaten. In Zeiten eines globalisierten Arbeitsmarktes wird hier ein internationaler Klassenwiderspruch deutlich: Es wurde eine Armee billiger Arbeitskräfte geschaffen, deren prekäre Situation sie dazu nötigt, unter widrigsten Bedingungen als Arbeitsmigrant*innen in der Reproduktion, auf Spargelfeldern oder in Schlachtbetrieben diejenigen Tätigkeiten zu verrichten, für die sich Deutsche noch zu schade sind und müssen dann auch noch froh darüber sein, damit ihre Familien ernähren zu können.

Dennoch zeigt der Arbeitskampf der Feldarbeiter*innen in Bornheim, dass sich, zumindest im Ansatz, gegen solche Zustände gewehrt werden kann. Sie legten die Arbeit nieder und organisierten sich, nachdem ihnen ihre Lohnzahlungen vorenthalten wurden. Die Folge waren acht Tage wilde Streiks, die es den Arbeiter*innen am Ende ermöglichten zumindest einen Teil ihrer rechtmäßig zustehenden Kohle zu erkämpfen. Es wurde deutlich, dass durch Organisierung und Solidarisierung gegen die Arbeitsbedingungen die Arbeiter*innen eine Selbstermächtigung herbeigeführt haben, das welche die strukturelle Benachteiligung der ausländischen Arbeiter*innen aufbrechen konnte.

Wir rufen dazu auf, die negative mediale Öffentlichkeit, die Tönnies gerade hat, nicht abbrechen zu lassen und sich mit den Arbeiter*innen sichtbar und praktisch zu solidarisieren. Das ist auf vielfältige Art und Weise möglich! Als anlassbezogenes Bündnis „Shut Down Schweinesystem“ werden wir in den nächsten Tagen und Wochen weiterhin Imageschaden gegen Tönnies und dem Schweinesystem als solchem betreiben und dabei Solidarität mit den Beschäftigten ausdrücken. Dementsprechend wollen wir auch alles tun, den Arbeiter*innen das zur Verfügung zu stellen, was praktisch gebraucht wird; seien es materielle Hilfsgüter oder Kanäle, um ihre Stimmen Widerhall zu verleihen. Als radikale Linke können wir die Geschehnisse mit skandalisieren, aber was benötigt wird, das wissen die Arbeiter*innen am Ende noch immer am besten.

#Titelbild: shut down schweinesystem, twitter, Aktion von Shut Down Schweinesystem, bei Besselmann, einem Subunternehmen von Tönnies

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Gut eine Woche ist der Riot in der Nacht vom 20. auf den 21. Juni in Stuttgart her. LCM konnte mit Leuten sprechen, die Samstagnacht vor Ort waren. Wir sprachen darüber, was sie dort erlebt haben, wie die Polizei im Stuttgarter Zentrum agiert und was die Ursachen für die Riots sein könnten.

Du warst eine Woche vor der Krawallnacht am Eckensee. Kannst du beschreiben, was da los war? Was da für Leute waren und was sie dort gemacht haben?

Es waren richtig viele Leute um den Eckensee im Park, überwiegend Jugendliche, in größeren Gruppen mit 5-20 Personen. Die haben dort gechillt, getrunken und Musik gehört. Es waren eher Jugendliche, die nicht unbedingt das haben Geld haben, jeden Abend in eine Shishabar zu gehen, wo ein Cocktail um 7-10 Euro kostet.

Wie ist die Polizeipräsenz am Eckensee generell? Gibt es oft Kontrollen?

Ja, die Bullen kontrollieren regelmäßig Leute. Sie habe auch kleine Kessel gemacht, Leute an die Wand gestellt und gefilzt. Natürlich kann es auch sein, dass Deutsche kontrolliert wurden und so viele Kontrollen habe ich auch nicht gesehen, aber die Beispiele, die ich gesehen habe, waren alles MigrantInnen. Am Wochenende, an dem auch die Black Lives Matter Proteste waren, war die Polizeipräsenz enorm. Die Cops waren sicher mit über 20 Wannen da. Sie hatte sich aber wieder zurückgezogen, als sie gemerkt haben, dass es da eine Dynamik gegen sie gibt.

Es gab ja auch schon eine Woche vor den Riots Situationen, wo sich Leute bei Kontrollen solidarisiert haben. Zum Beispiel haben die Bullen Jugendliche auf der Treppe neben dem Königsbau vertrieben und es wurden Flaschen geworfen. Und etwas später gab es eine ähnliche Situation bei der Theodor-Heuss-Straße. Da hat angeblich jemand behauptet, dass einer abgestochen wurde und dann kamen Bullen und haben einen Schwarzen sehr brutal festgenommen. Leute, die dort waren haben dann angefangen, ‚ACAB‘ zu rufen und es sind Flasche geflogen. Die Lage hat sich dann aber wieder entspannt und ist nicht weiter hochgekocht.

Du warst ja auch an dem Samstag vor Ort, an dem die Lage dann eskalierte. Wie hast du die Leute und die Stimmung wahrgenommen?

Als ich ankam waren schon hunderte von Leuten auf dem Schlossplatz versammelt. Einige waren betrunken und die Stimmung war aufgeheizt. Die Cops waren auch schon da, in voller Montur mit Schutzschildern usw. Sie haben eine Riesenkette vor der Köningsstraße gemacht und es flogen immer wieder Sachen auf die. Mir wurde bei der Ankunft direkt klar, um was es geht. Die Leute haben Parolen gerufen wie ‚No Justice, No Peace‘ und ‚ACAB‘. Die Stimmung wurde immer emotionaler und auch kämpferischer. Man hat gemerkt, dass alle Wut auf die Polizei haben. Und die kommt natürlich nicht von irgendwo her.

Nachdem man da eine Weile stand, Parolen gerufen hat und Flaschen auf die Cops geflogen sind, wurde es plötzlich hektisch. Alle Leute sind losgerannt, weil die Bullen von oben kamen. Das war der Punkt, an dem ich eigentlich dachte, jetzt gehen die Leute nach Hause. Aber die Leute sind nicht gegangen. Mit einem Bauzaun wurde versucht, den Bullen den Weg zu versperren, man hat weiter Flaschen geworfen. Die Leute waren voll entschlossen, sich zu wehren, sich die Stadt zu erkämpfen.

Wie nimmst die mediale Darstellung der Ereignisse wahr?

Die Politik gesteht sich ihre eigenen Fehler nicht ein. Sie haben jetzt gesehen, dass ihre repressive Politik zu so was führen kann, aber das können sie natürlich nicht sagen, weil das eine Bankrotterklärung wäre. Sie versuchen den Unruhen nun die politische Dimension zu nehmen und behaupten, es waren Leute, die Bock auf Randale hatten. Das hat vielleicht mitgeschwungen, aber das ist nicht die Ursache, die liegt viel tiefer. Man hat das auch schon bei G20 gesehen, da wurde auch gesagt, das sind RandaliererInnen, obwohl es konkret politisch war. Sobald Proteste die Autorität des Staates in Frage stellen und in einem Rahmen stattfinden, der auch nur im Ansatz eine Bedrohung darstellen könnte, werden sie entpolitisiert. Woran man das gerade gut erkennen kann, ist das vor allem der geplünderte 1€-Laden als Symbol für die Krawalle dargestellt wird und deshalb kann es ja nicht politisch sein. Was völlig außer Acht gelassen wird, ist, dass auch Banken angegriffen wurden oder „Das Gerber“ (Einkaufszentrum in Stuttgart, Anm. d. Red.), was für Aufwertung steht. Ich glaube das wurde bewusst weniger in den Zeitungen erwähnt, da sonst fast jeder Laden benannt wurde. Natürlichen waren das keine geplanten Aktionen aus einem politischen Bewusstsein heraus. Wenn solche Dynamiken entstehen und sich Wut unkontrolliert auf der Straße entlädt, dann erwischt es auch Ziele, die nicht unbedingt sinnvoll sind anzugreifen.

Nach der der Ereignissen begann gleich am nächsten Tag die Suche nach der Ursachen für die Riots. Über Alkohol und „das sind alles Kriminelle“ gehen die Analysen kaum. Was sind aus deiner Sicht Faktoren, die zu dieser Situation geführt haben?

Erstmal kann man sagen, dass die Jugendlichen so etwas nicht gemacht hätten, wenn sie mit den Verhältnissen, in denen sie leben, zufrieden wären. Corona hat sicher auch was damit zu tun. Die Leute hatte mehrere Monate wenig bis keine sozialen Kontakte. In der Corona-Phase gab es außerdem eine sehr starke Bullenpräsenz in der Stadt. Immer wieder wurden unverhältnismäßige Bußgelder verteilt und die Cops haben sich bei jeder Verhaltensweise eingemischt. Man konnte nicht selbstbestimmt draußen sein und das erzeugt natürlich Unmut gegenüber der Polizei.

Das andere sind die Ereignisse in den USA, die für die MigratInnen und Schwarze hier ein Bewusstsein geschaffen haben. Für sie war es Alltag, nichts besonders, andauernd von den Cops kontrolliert zu werden, weil sie angeblich kriminell aussehen. Jetzt hinterfragen sie das Vorgehen der Cops und wissen, dass sie das nicht verdient haben und das sie nicht schlechter sind, nur weil sie eine andere Hautfarbe haben. Sie haben gesehen, das man sich gemeinsam dagegen wehren kann und das nicht nur mit Worten.

Und unabhängig von der rassistischen Polizei wurden die Leute auch auf allgemeine Benachteiligung sensibilisiert. Sei es bei der Wohnungs- oder Jobsuche. Leute mit ausländischem Namen oder Aussehen haben es immer schwerer. Die Cops stehen als Repräsentant für diese Benachteiligung. Das erzeugt zusätzlich berechtigte Wut. Ich glaube die Jugendlichen dachten sich dann einfach, es reicht, wir lassen uns nicht mehr alles gefallen.

#Titelbild: Jens Volle, Ein bei den Riots entglastes Polizeiauto wird der Presse präsentiert.

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Die 2019 gegründete Kampagne Death in Custody (Tod in Gewahrsam) recherchiert und arbeitet zu in Gewahrsam um‘s Leben gekommenen POC und Schwarzen. Das LCM sprach mit Niko von der Kampagne über Ihre Rechercheergebnisse, strukturellen Rassismus und wie man gegen rassistische Polizeigewalt vorgehen kann.

LCM: Ihr habt ja mit eurer Kampagne vor kurzem eure Rechercheergebnisse veröffentlicht. Kannst du diese kurz zusammenfassen?

Niko: Seit 1990 sind mindestens 159 POC und Schwarze in Gewahrsam umgekommen. Angesichts der Öffentlichkeit, die rassistische Polizeigewalt gerade hat, wolten wir unsere Ergebnisse so schnell wie möglich veröffentlichen. Wir haben bis jetzt nur Namen und Todesdaten veröffentlicht, unsere Daten sind aber noch umfangreicher was Einzelfälle betrifft, mit den Todesumständen und beispielsweise dem gerichtlichen Nachspiel.

Die Kampagne kam durch Todesfälle in den letzten Jahren auf, wie Amad Ahmad in Kleve, der in der Zelle verbrannt ist, oder Rooble Warsame der in Schweinfurt in Gewahrsam starb – angeblich durch Suizid. Bei der Recherche haben wir gemerkt, dass es Sinn macht den Begriff von Gewahrsam zu erweitern. Unsere Definition ist, dass Menschen durch Polizei oder andere staatliche Institutionen in eine Situation gebracht werden, aus der sie aus eigener Kraft nicht mehr rauskommen. Das kann eben auch sein, dass die Polizei Schusswaffen einsetzen, und die Person nicht mehr aus dem Schussfeld rauskommt, oder dass die Polizei Leute hetzt, die dann einen „Unfall“ haben und dabei ums Leben kommen. Oder auch Todesfälle in Gewahrsam, die als Suizid gelabelt werden. Aus zwei Gründen: Im Knast kann es keinen Freitod geben, weil in dieser Situation Leute so zermürbt werden, dass man nicht mehr von einer Freiwilligkeit sprechen kann. Außerdem kann man den Behördenangeben einfach nicht trauen. Wenn behauptet wird es sei Suizid, wird das nicht wirklich überprüft. Wie beim Fall von Oury Jalloh, wo ganz klar ist, dass das kein Suizid war, dieser aber die ganze Zeit als solcher bezeichnet wurde.

Was waren denn eure Probleme bei der Recherche? Weil von offiziellen Stellen werden solche Fälle ja nicht systematisch erfasst.

Eben! Es gibt keine systematische Erfassung. Man muss davon ausgehen, dass die Dunkelziffer noch viel höher ist, als diese 159, die wir jetzt gerade haben. Wir rufen auch dazu auf, dass Leute uns Fälle, die wir nicht kennen zuschicken. Es werden auf jeden Fall noch einige Fälle dazu kommen.

Die Recherche war generell nicht immer einfach. Es gibt generell wenig Informationen und zum anderen wird auch selten erfasst, ob die Person POC oder Schwarz war. Zum Teil konnten wir das indirekt rausfinden, in einem Fall z.B. über einen Polizisten, der zitiert wird und eine rassistische Aussage macht. Es gibt auf jeden Fall Unschärfe.

Es fällt auch auf, dass es bestimmte Jahre gibt, in denen unglaublich viele Fälle dokumentiert sind, z.B. 1994/1995 oder 2019. 2003 haben wir hingegen keinen einzigen Fall. Das ist relativ unwahrscheinlich und weist darauf hin, dass die Datenlage mittelmäßig ist. Die Recherche ist der Versuch zumindest herauszufinden, wie groß das Problem eigentlich sein könnte. Und es ist deutlich größer, als es in der breiten Öffentlichkeit wahrgenommen wird und erst recht als es von den Behörden beschrieben wird.

Wieso geht Ihr davon aus, dass POC und Schwarze stärker von Tod in Gewahrsam betroffen sind?

Eine Schwierigkeit ist, dass es ja keine Zahlen gibt, wie groß der Bevölkerungsanteil von POC und Schwarzenin Deutschland ist. Einen statistischen Vergleich anzustellen, wie die Betroffenheit von Schwarzen und POC, die in Gewahrsam ums Leben gekommen sind, versus weiße, können wir gar nicht machen

Viele Todesfälle entstehen aber aus Situationen, die für Schwarze und POC deutlich häufiger auftreten. Das sind dann beispielsweise sogenannte „anlasslose Kontrollen“, bei denen offensichtlich Schwarze und POC mehr und ständig kontrolliert werden. Diese Situationen eskalieren dann manchmal bis zum Tod. Dann sind es noch Situationen wie Abschiebehaft. Das ist ja eine Situation in die Deutsche gar nicht kommen können. Deswegen müssen wir davon ausgehen, dass die Gruppe stärker betroffen ist.

Dass es in der Polizei in Deutschland Rassismus geben könnte, wird ja gerade von Polizeifunktionären und Politikern aller Parteien vehement geleugnet.

Das zu leugnen ist offensichtlich totaler Quatsch. Was wir mit dieser Recherche zusammengestellt haben, sind ja nur die Todesfälle. Und das ist ja nur das extremste Ergebnis, das durch Polizeigewalt entstehen kann. Aber auch die nicht-tödliche rassistische Polizeigewalt ist leider alltäglich. Alle möglichen Stellen wie Reach-out oder KOP können das aus ihrer Arbeit bestätigen. Gerade zu Corona-Zeiten ist das wesentich mehr geworden. Wir denken, dass das daran liegt, dass die Polizei auf der Straße weniger gesehen wird und sie deswegen machen was sie wollen. Es ist aber in jedem Fall offensichtlich, dass Rassimus in der Polizei ein Problem ist. Man muss zwar nicht unbedingt davon ausgehen, dass alle Polizisten Nazis sind, auch wenn es Fälle gibt, wo das offensichtlich der Fall ist. Es sind aber eher Alltagsrassismus und Klischees, wie „Drogendealer haben diese und jene Hautfarbe“, die zeigen, dass das alltäglich in der Polizei ist.

Was auch ganz interessant ist, ist dass das neue Antidiskriminierungsgesetz in Berlin von der Polizei sehr kritisch kommentiert wurde. Das ist ziemlich entlarvend, weil sie ja im Prinzip sagen, dass sie mit diesem Gesetz ihrer Arbeit nicht mehr nachgehen könnten. Und eigentlich sagen sie damit ja selbst, dass sie rassistisch vorgehen und nicht mehr arbeiten könnten, wenn sie es nicht mehr dürften. Letztendlich ist es doch so, dass wenn man sich ein bisschen damit beschäftigt, es total offensichtlich ist, dass es Rassismus in der Polizei gibt. Ich hoffe, dass durch die Debatte die Polizei und auch Politiker*innen es sich weniger leisten können, das komplett zu leugnen. Weil so wie es jetzt gerade ist, wird einfach gesagt, „Rassismus in der Polizei gibt es nicht, darf es nicht geben“. Und Fälle die aus rassistischen Situationen entstehen, müssen im Nachhinein dann anders legitimiert werden. Dadurch gibt es eben das Problem, dass Betroffene von Polizeigewalt – auch tödlicher – im Nachhinein kriminalisiert werden. Dass sie, wenn sie überleben, sofort Anzeigen bekommen, und wenn sie nicht überleben im Nachhinein konstruiert wird sie seien gefährlich.

Wie im Fall von Hussam Fadl.

Ja genau, der Fall von Hussam Fadl 2016 in Moabit. Da wurde von Polizeiseite behauptet, er habe ein Messer gehabt. Von den Augenzeugen hat aber niemand ein Messer gesehen. Irgendwann tauchte dann ein Messer auf, auf dem aber nicht mal DNA-Spuren, geschweigen denn Fingerabdrücke von Hussam Fadl gefunden. Dieses Vorgehen ist Folge von dieser Herangehensweise, dass es keinen Rassismus gebe. Und wenn es keine Rassismus gibt, dann müssen eben andere Vorgehensweisen herangezogen werden. Die Täter*innen kommen dann in den meisten Fällen ungestraft davon.

Abseits von der Sichtbarmachung, was erhofft Ihr euch von der Veröffentlichung von der Recherche?

Ein großes Ziel ist, dass bisherige Fälle aufgeklärt werden. Wir wollen auch die Betroffenen- und Angehörigeninitiativen und anderen Gruppen die zu dem Thema arbeiten vernetzen, damit ein Wissensaustausch stattfinden kann. Und dass so vielleicht sogar selber Ermittlungen angestellt werden können und damit Fälle anders bewertet werden. Das hat ja im Fall der Oury-Jalloh-initiative ziemlich erfolgreich geklappt.

Unser Forderung ist natürlich, dass es mit diesen Toden und Morden aufhören muss. Deswegen fordern wir auch die Einrichtung von effektiven und unabhängigen Beschwerde- und Ermittlungsstellen. Es gibt da kleiner Pilotprojekte in Deutschland, in Hamburg und NRW und in anderen Orten. Die Projekte die es gibt, können aber in keinem Maße arbeiten, dass das effektiv wäre. Zum einen sind sie nicht ausreichend unabhängig von Justiz- und Polizeibehörden, sie haben nicht die ausreichende Ausstattung mit Befugnissen und Personal, dass sie ermitteln können. Die Polizei muss einfach kontrolliert werden, weil bisher kontrolliert sie sich selbst. Polizisten ermitteln gegen Polizisten in Fällen von Polizeigewalt und da kommt seltenst was bei raus.

Wie kann man verhindern, dass so eine Stelle nicht nur ein Feigenblatt wird?

Ja, das ist eine unserer Befürchtungen. Eine ineffektiv aufgebaute Stelle kann eine negative Auswirkung haben. Weil dann wird halt gesagt „Wir haben hier doch diese unabhängige Beschwerdestelle, was wollt ihr denn?“ Damit wird jeglicher Kritik der Wind aus den Segeln genommen.

Ich denke da müsste es eine viel klareren Bezug zur und eine Rechenschaft vor der Zivilgesellschaft geben. In den USA gibt es ein paar ganz spannende Projekte wo independent police monitoring betrieben wird. In New Orleans z.B. hat diese Ombudsperson relativ viele Befugnisse, kann in die Daten der Polizei Einsicht nehmen und diese dann auch Organisationen zur Verfügugn stellen. Und dort hat die Zahl polizeilicher Todesschüsse stark abgenommen.

Eure Forderungen richten sich ja vor allem an den Staat.

Wir wollen auf jeden Fall, dass die Gesellschaft auch involviert ist, insbesondere rufen wir zu Solidarität mit Betroffenen von Polizeigewalt auf, um dieses Narrativ zu brechen. Und wir wollen, dass die Verantworlichen zur Rechenschaft gebracht werden.

Es gibt aber ja auch wesentlich radikalere Ansätze, wie die der Black Panthers, die selber auf Streife gegangen sind und die Polizei kontrolliert haben. Denkst du dass so etwas in Deutschland möglich oder nötig ist?

Prinzipiell ist es immer wichtig der Polizei und den Behörden auf die Finger zu schauen bei dem was sie machen. Wenn das nicht passiert, hat das zur Folge, dass sie noch mehr Mist bauen. Wie eben der Anstieg von racial profiling in Corona-Zeiten. Die Polizei selbst zu kontrollieren macht natürlich total Sinn, weil die Kontrolle durch andere staatliche Instanzen nie ausreichend ist. Eine permanente Wachsamkeit der Zivilgesellschaft ist total wichtig!

# Titelbild: miss_millions, CC BY 2.0, Gefängniszellen in Alcatraz (Symbolbild)

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Seit #Blacklivesmatter Millionen Menschen weltweit auf die Straßen mobilisiert, versprechen diverse Regierungen die ein oder andere „Verbesserung“ und Reform. Doch reicht das? Oder sind Rassismus und Polizeigewalt nur zu überwinden, wenn man gegen den Kapitalismus insgesamt angeht? Wir veröffentlichen einen Gastbeitrag des Musikers Disarstar.

Am 25. Mai 2020 wurde George Floyd im US-Bundesstaat Minnesota von Polizisten gemeinschaftlich ermordet. Der Mord wurde gefilmt und das Video ist viral gegangen. Als Reaktion auf die Tat entstand eine globale Bewegung gegen Rassismus und Polizeigewalt. Demonstrationen fanden und finden in allen US-Bundesstaaten, sowie in 18 weiteren Ländern statt.

Ich habe mich bis auf einen Storypost bislang nicht zu alledem geäußert und das ist vor allem dem Umstand geschuldet, dass mich die momentane globale Situation total trifft und überfordert. Klar, die Welt ist kompliziert, das ist nichts Neues. Nur habe ich das Gefühl, dass sie in Zeiten von Corona, (gefährlichen) Spinnern wie Attila Hildmann und einem gefilmten Polizeimord, der Proteste von globalem Ausmaß verursacht, von Tag zu Tag unübersichtlicher wird und auch ich will von diesem ganzen Wahnsinn manchmal nichts wissen. Doch Bertolt Brecht hatte Recht als er sagte: „Was sind das für Zeiten, wo ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist, weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!“

Und darum ist es mir wichtig auch nochmal ein paar Worte zu verlieren. Zum einen weil ich – so sehr ich mich auch über die Proteste und die Tatsache, dass sich so viele positionieren freue – Sorge habe, dass das alles schnell in Vergessenheit geraten wird und die Dinge im Anschluss weiter den gewohnten Gang gehen; zum anderen, weil ich befürchte, dass der Kampf gegen Rassismus ein oberflächlicher bleibt.

Denn den kapitalistischen bürgerlichen Staat der liberalen „Demokratie“, seine Strukturen und die Polizei als eine seiner Institutionen abfeiern, aber gleichzeitig Rassismus bekämpfen wollen wird perspektivisch höchstens temporär Erfolge hervorbringen. Um dem Rassismus zu bekämpfen und hoffentlich eines Tages zu überwinden, müssen wir das System, die Strukturen angreifen (und überwinden), die ihn produzieren und reproduzieren. Schon Malcolm X wusste: „Es gibt keinen Kapitalismus ohne Rassismus.“

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Der Tod von George Floyd hat eine Bewegung und eine mit ihr verbundene Diskussion über Rassismus hervorgerufen bzw. flächendeckend neu entflammt. Rassistische Polizeigewalt ist für Nicht-Weiße in den USA alltäglich. Diesmal wurde ein Fall auf Video festgehalten, ging zuerst durch die sozialen und dann durch die „offiziellen“ Medien. Ein Mord vor laufender Kamera weckt mehr Empathie als eine Statistik über Tote durch Polizeigewalt.

Hinzu kommt, dass die USA von der Coronakrise schwer getroffen sind. Darunter leidet vor allem die schwarze Bevölkerung. Im Südstaat Louisiana bilden Schwarze 33 Prozent der Bevölkerung, aber 70 Prozent der Corona bedingten Todesfälle. In Illinois, wo der Bevölkerungsanteil von Afroamerikanern 14 Prozent beträgt, sind 42 Prozent der Toten Schwarze. Ähnlich sind die Werte für Inhaftierte und auch Statistiken über die Verteilung von Vermögen passen dazu. Auch wenn die Sklaverei seit Jahrhunderten offiziell vorbei ist, bleibt die ökonomische Unterdrückung der schwarzen Bevölkerung real. Sie wohnt überproportional in Elendsvierteln, verdient deutlich weniger und landet um ein vielfaches häufiger im Gefängnis. Auch wenn Schwarze vereinzelt, vor allem durch die Musikindustrie oder Popkultur (auch in Form von Sport) gesellschaftlich aufsteigen können, ändert sich an der Lage des Großteils nichts.

Einzelne Schwarze werden Führungspositionen dieses Systems integriert und dennoch bleibt für die Mehrheit alles gleich. Der Kapitalismus ist eben sehr flexibel und kann sich durch Integration Einzelner anpassen. Das hat Obama extrem verdeutlicht. Teile der antirassistischen Bewegung wurden ins Establishment aufgenommen und verändert hat sich quasi nichts. Was bringen Schwarze Polizisten oder Bürgermeister, wenn die Unterdrückung bleibt?

Zudem ist es ein Trugschluss zu glauben, dass das Problem des Rassismus ein US-Amerikanisches wäre. Auch hier in Deutschland sterben Menschen durch rassistische Polizeigewalt. Oury Jalloh ist in der Zelle eines Dessauer Polizeireviers verbrannt. Im Sommer 2018 verbrannte der 26-jährige syrische Kurde Amad Ahmad in seiner Zelle in Kleve. Er war angeblich mit einem gesuchten Malier verwechselt worden, obwohl beide lediglich ihr Geburtsdatum gemeinsam hatten. Sieben Wochen vor seinem Tod informierte die Staatsanwaltschaft die Polizei über den Irrtum, Ahmad blieb trotzdem in Haft. Zu den Toten in Haft muss auch Yaya Jabbi gerechnet werden. Der 21-Jährige aus Gambia nahm sich im Februar 2016 in einer Hamburger Haftanstalt das Leben. Er war mit weniger als zwei Gramm Marihuana erwischt worden, einer geringen Menge, auf die normalerweise keine Strafe folgt. Jabbi kam dennoch ins Gefängnis. Das sind nur einige Beispiele. Von 2000 Anzeigen gegen Polizisten pro Jahr kommen 2-3% zur Anklage. Die NSU-Akten bleiben unter Verschluss.

Der Rassismus geht bei der Betrachtung der Menschen davon aus, dass sich die Menschheit in verschiedene „Rassen“, welche alle über ihre eigenen genetischen wie historisch gewachsenen Merkmale verfügen, unterteilen lässt. Bei den angeblich historisch gewachsenen Merkmalen sind besonders nationale, religiöse und kulturelle Herkunft von entscheidender Bedeutung. Diese Einteilung der Menschen durch den Rassismus führt dann zu einer Bewertung der verschiedenen „Rassen“ und schafft so die Grundlage für die Herabwürdigung anderer, während die eigene Identität als Zugehöriger zu einer bestimmten „Rasse“ gestärkt wird. Für den Kapitalismus ist dieser Umstand äußerst nützlich. Der Rassismus als eine Form der Konkurrenz innerhalb der Arbeiterklasse vergrößert dessen Spaltung.

Verwertbare Menschen werden im Ausland abgeworben, dadurch werden die jeweiligen Herkunftsländer indirekt in Unterentwicklung gehalten, auf der anderen Seite wird dann in Deutschland nicht mehr ausreichend in Bildung investiert, weil sich das Kapital sein Menschenbedarf wo anders beschafft. MigrantInnen dienen auf verschiedenste Weise so als Sündenböcke für gesellschaftliche Probleme. Der Zorn der Arbeiterklasse kanalisiert sich so von der herrschenden Klasse auf eine rassistisch definierte Minderheit. Rassismus spaltet also Menschen, die eigentlich die gleichen Bedürfnisse und Interessen haben, in verschiedene, sich feindlich gesinnte Lager. Natürlich versuchen Menschen, sich aus dem vom Imperialismus geschaffenem Elend der „Dritten Welt“ zu retten und machen sich auf den Weg in die westlichen Metropolen. Falls sie es bis hierhin schaffen, werden sie in Lager gesperrt und durch den institutionellen Rassismus terrorisiert.

Geflüchtete werden in eine Situation gedrängt, in der ihnen weder die Almosen des Staates reichen noch legale Zuverdienstmöglichkeiten bleiben. Praktisch in die Kriminalität gezwungen, werden sie so zu Sündenböcken für alle möglichen Probleme der Mehrheitsgesellschaft. Medial aufgeheizt können Neofaschist*innen ihre Taten mit der Stimmung in der Bevölkerung legitimieren. Dadurch glauben sie, dass sie im Interesse „ihres“ Volkes handeln. Diese Grundstimmung wurde vom Rassismus der Mitte, auch durch etablierte Parteien, geschaffen und institutionalisiert. Somit nähren sie den Boden, auf dem die Faschist*innen und Rechtspopulist*innen gedeihen können. Rassismus ist schon lange kein Randphänomen und somit wird der Kampf dagegen auch immer elementarer, denn nur, wenn jede Form der Diskriminierung und Kategorisierung der Menschen in Wertigkeit überwunden wird, ist eine Welt frei von Ausbeutung und Unterdrückung möglich. Aktive Solidarität mit den Betroffenen und das Benennen der Verhältnisse, die den Nährboden für Rassismus schaffen und derer, die von ihm profitieren, sind daher notwendig.

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Immer wenn man sich abfällig über die Polizei äußert heißt es, man würde von den Handlungen einiger weniger Cops auf alle schließen. Das ist falsch. Ich glaube nicht, dass alle Polizist*innen wegen der Handlungen einiger weniger schlecht sind. Ich weiß, dass alle Bullen schlecht sind, weil alle Bullen als Grundvoraussetzung für ihre Arbeit schwören, alle geltenden Gesetze durchzusetzen, einschließlich der Gesetze, die ganz offensichtlich ungerecht und/oder grausam sind. Nicht der*die Polizist*in ist der bestimmende Faktor in der Gleichung, sondern die Aufgabe, die ein jede*r Polizist*in geschworen hat, zu erfüllen. Es ist moralisch vollkommen inakzeptabel, als selbstverständlich hinzunehmen, dass Polizist*innen beim Ausüben ihrer Arbeit Moral und Vernunft ausschalten, um den Willen einiger (in Form von geltendem Recht) gegen alle in der Nachbarschaft durchzusetzen.

Alle Polizist*innen in diesem System sind schlecht, aber nicht wegen der Handlungen einiger weniger. Es gibt gute Leute. Und es gibt Polizis*innten, die sonst gute Leute sind, aber sie sind keine „guten“ Polizist*innen. Die gibt es hier nicht. Die Disbalance zwischen geltendem Recht und Gerechtigkeit liegt alltäglich auf der Hand. Die Aufgabe der Polizei ist es, mit Gewalt durchzusetzen, dass die gegenwärtigen Verhältnisse fortbestehen. Verhältnisse die (insbesondere global betrachtet) für einige wenige nützlich sind, die große Masse der Bevölkerung jedoch an der dauerhaften Befriedigung ihrer Bedürfnisse hindern. Die Aufgabe der Polizei ist es, den Armen zu bestrafen, der sich durch Diebstahl das Nötige beschafft, das er durch Kauf nicht erwerben kann. Ihre Aufgabe ist es, Arbeiter*innen auf die Straße zu jagen, der die von ihren Vermieter*innen (Erpresser*innen) geforderten Summen nicht mehr aufbringen kann. Ihre Aufgabe ist es, den Obdachlosen zu vertreiben und zu bestrafen, der in eine leerstehende Spekulationswohnung einbricht, um sich zu wärmen. Ihre Aufgabe ist es, jene Flüchtlingsfamilie zum Flughafen zu prügeln und in Elend und Tod zu deportieren, die die politischen Vertreter der Bourgeoisie als volkswirtschaftlich überflüssig eingeschätzt haben.

Die Aufgabe der Polizei ist es, den den Rotstift ansetzenden Manager*innen vor der Wut der von ihm entlassenen Arbeiter*innen zu schützen. Ihre Aufgabe ist es, demonstrierende Linke zu drangsalieren und einzuschüchtern, die für die Überwindung dieses per se schlechten, per se ungerechten, per se grausamen Systems werben. Ihre Aufgabe ist der notfalls gewaltsame Schutz eines Systems, in dem eine parasitäre Minderheit über die von ihr ausgebeutete arbeitende Mehrheit herrscht. Die Bullen sind Leibgarde der Bonzen, nicht in dem Sinne, dass sie die Interessen des konkreten Kapitalisten A oder B vertreten, sondern indem sie die universelle Gültigkeit der Regeln erzwingen, unter denen Kapitalist*in A und B reich sein und die Arbeiter*in X und Y auf dem Arbeitsamt und in der Gosse landen müssen. Und ja, die Polizei rettet Kätzchen von Bäumen.

Der aktuelle Diskurs ist immens wichtig. Er darf nicht oberflächlich sein. Er muss die Strukturen angreifen. Unser Widerspruch und Widerstand darf nicht gelegentlich bleiben. Er muss permanent werden.

# Titelbild: https://twitter.com/Nabalzbhf_anon/status/1268867188074729473/photo/1

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Folgender Text ist in eine leicht bearbeite Übersetzung eines im Original auf französisch bei ACTA erschienen Textes. ACTA ist eine autonome Pariser Online-Zeitung, die 2019 mit dem Ziel Brücken zwischen den unterschiedlichen Akteur*innen der letzten Kampfzyklen zu schlagen. Der folgende Bericht wurde am 3. Juni, sprich einem Tag nach der in Paris stattgefundenen Demonstration gegen Polizeigewalt, die mehr als 30.000 Menschen zusammenbrachte, veröffentlicht.

Der 2. Juni 2020 war einer jener Tage, die den Auftakt eines neuen politischen Abschnitts eröffnen können. Erstens wegen der massiven Mobilisierung, die er erfahren hat, mit mindestens 30.000 anwesenden Demonstrant*innen. Zweitens aufgrund seiner Zusammensetzung, da es mehrheitlich Nicht-Weiße Menschen waren, die sich am Dienstag die Pariser boulevards zu eigen gemacht haben, was die Hauptstadt seit den Unruhen für Gaza im Jahr 2014 nicht mehr erlebt hatte. Und drittens durch die Entschlossenheit, die an den Tag gelegt wurde und in einem extrem offensiven und konfrontativen Kampftag mündete.

Auf der anderen Seite erlebten der französische Staat, das Innenministerium und die Pariser Polizeipräfektur eine große Demütigung. Der Pariser Polizeipräsident Didier Lallement ist seinem üblich provokanten Handeln treu geblieben und hatte nur wenige Stunden vor Beginn der Demonstration das Verbot der Versammlung angekündigt. Außerdem beauftragte er seine Polizei, in das Haus von Assa Traoré, einer antirassistischen Aktivistin und Schwester des 2016 von Polizist*innen ermordeten Adama Traoré, einzubrechen, in einem schändlichen und schlussendlich auch vergeblichen Versuch, die Bewegung einzuschüchtern, deren Ikone sie seit mehreren Jahren ist. Nichts Neues für einen erzkonservativen Politiker, der in der Pariser Polizei erst seit dem 19. Akt der Gelbwesten das Zepter schwingt und gerade wegen seinem eisernen Durchgreifen von Macron und Konsorten nach Paris verlegt wurde.

Bereits um 17.00 Uhr platzierten sich um das Zivilgericht von Porte de Clichy unzählige dunkelblaue Polizeiwagen der Spezialeinsatzkräfte, Wasserwerfer und mobile Einheiten, die seit der Bewegung der Gelbwesten mit ihren Schlagstöcken wedelnd durch die Straßen rasen. Je näher jedoch die Stunde der Kundgebung rückte, desto mehr Menschen flossen von überall her in Richtung des Platzes. Schlussendlich musste die Polizei die Kundgebung doch stattfinden lassen, da innerhalb kürzester Zeit das gesamte Gebiet um der Porte de Clichy von einer extrem dichten Flut von Menschen eingenommen war. Die U-Bahn-Haltestelle „Porte de Clichy“ liegt genau zwischen dem stark migrantisch geprägten département Seine Saint-Denis und Paris und hatte lange die höchste Anzahl an Coronavirus-Infektionen in ganz Frankreich

Viele Jugendliche aus den Pariser banlieus füllten den Platz. Letztere sind zweifelsohne keine Stammgäste der sozialen Bewegungen der letzten Jahre, obwohl deren Teilnahme stetig gewachsen ist. Die endlose Verbissenheit der französischen Justiz gegen die Familie Traoré, die seit dem rassistischen Polizeimord an Adama Traoré gegen die Straflosigkeit des Mörders von Adama kämpfen, sowie das starke Echo des anhaltenden Aufstands in den USA haben zum Ausbruch dieser Woche beigetragen. Der Hashtag #BlackLivesMatter war allgegenwärtig, genauso wie die Slogans #JusticeForAdama und #JusticeForGeorgeFloyd. Partei- und Gewerkschaftsflaggen, die es in den letzten vier Jahren immer schwieriger hatten, ihren Weg zu den Demonstrationen zu finden, waren weit und breit nicht zu sehen.

Während die Versammlung von Stunde zu Stunde größer wurde, erschienen die Ergebnisse der neusten unabhängigen Gutachten über die Todesursache von Adama Traoré. Der Bericht bestätigt, was das „Kommitee für Wahrheit und Gerechtigkeit für Adama“ seit Jahren sagt und zwar, dass der kleine Bruder von Assa Traoré durch „Erstickung“ gestorben ist. Zwei erstellte Gutachten des Gerichts hatten diese These zuvor angefochten und beide Male sind die verantwortlichen Polizisten unbestraft davongekommen. Die Parallelen zum Mord von George Floyd liegen offen auf der Hand: beide erstickten unter dem Gewicht von drei Polizist*innen und in beiden Fällen haben die offiziellen Gutachten Atemprobleme der Opfer als Todesursache festgehalten.

Diese Verbrechen sind sich so schrecklich ähnlich, weil sie Teil einer gemeinsamen Geschichte sind. Und zwar jener des Rassismus, einer der Eckpfeiler der westlichen Gesellschaften . Diese Mordgeschichte ist jedoch zugleich eine Geschichte des Aufstands. Die wiederholt von der Menschenmasse skandierten Parolen „tout le monde déteste la police“ (Die ganze Welt hasst die Polizei, Anm. d. Red.) und „Revolution! Revolution!“ (letztere ist ebenfalls ein Erbe der Gelbwesten) zeugen für die Entschlossenheit, ein neues Kapitel in dieser Geschichte zu schreiben.

Jene Teile der Gewerkschaften, die sich seit Jahren in antirassistischen Bündnissen organisieren, waren ebenfalls anwesend. Insbesondere die Teilnahme von Arbeiter*innen des Krankenhauspersonals des „Hopital Robert Debré“ zeigt die bereits reifen und starken Verbindungen, die für die bevorstehenden Kämpfe in unsicheren Zeiten ausschlaggebend sein werden.


(Rassismus erstickt: solidarische Pflegekräfte)

Nach den Redebeiträgen waren die Entschlossenheit und der Unmut aller Anwesenden immer spürbarer und es kam sehr schnell zu Auseinandersetzungen mit der Polizei und gezielten Angriffen gegen Supermärkte und Polizeiwachen. Wie während der schönsten Kampftage der letzten vier Jahre war die Stimmung aufbrausend und der festliche Zorn der banlieus brachte Paris zum Knistern. Nach den unendlich tristen Wochen der Quarantäne floss eine kollektive Kraft wieder durch die Straßen, und zwar die der migrantischen Arbeiter*innenviertel des Pariser Nordens.

Wenige Tage nach einer konfrontativen Demonstration für das Bleiberecht von illegalisierten Migrant*innen am 30. Mai und eine Woche nach der Kundgebung für Gabriel, einem 14-jährigen Teenager, welcher in Bondy von Polizisten zusammengeschlagen wurde, ist die rassistische Staatsgewalt zum Dreh- und Angelpunkt im Wiederaufflammen der sozialen Auseinandersetzung geworden. Dieser politischer Knotenpunkt ist vor dem Hintergrund auseinanderklaffender Klassenverhältnisse durch die Folgen der Coronakrise umso wichtiger. Die Krise trifft nicht alle gleich und die Pariser Arbeiter*innenkinder haben Hunger.

Die Stoßwelle ist global. Es liegt an uns, aus dem letzten Dienstag den Ausgangspunkt für eine neue Phase der Selbstorganisierung zu machen, um unsere politischen Bündnisse weiter zu festigen und ein Lager revolutionärer Kräfte aufzubauen. Die für den 16. Juni vorhergesehene Demonstration der Pflegekräfte bietet hierfür eine wertvolle Gelegenheit.

Von Minneapolis bis nach Paris, Make Racists Afraid Again !


(Die während der Quarantäne entstandenen „Solidaritätsbrigaden“ waren auch anwesend.“Ein Land ohne Gerechtigkeit ist ein Land, das zur Revolte aufruft“ Assa Traoré)

# alle Bilder: ACTA

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Unsere Genossin Narges Nassimi ist gestern in München erst Zeugin einer aggressiven Polizeikontrolle eines migrantischen Mannes gewesen und dann selber Ziel von Polizeigewalt geworden. Die Polizisten nahmen ihre Daten auf und werfen ihr nun „rassistische Beleidigung“ und „Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte“ vor.

Was ist passiert?

Narges kam gestern um kurz nach 16 Uhr von ihrem Arbeitsplatz in der Münchner Innenstadt. Drei weiße Polizisten und eine weiße Polizistin waren dabei, einen jungen migrantischen Mann an seinem Fahrzeug zu kontrollieren. „Der Mann suchte im Auto nach etwas. Er war ganz jung und in Panik“, erzählt Narges. Eine Szene, wie wir sie täglich aus deutschen Großstädten kennen. „Verdachtsunabhängige Kontrollen“ im Straßenverkehr treffen meist Braune und Schwarze Autofahrer. Narges näherte sich der Szene und fragte im Vorbeigehen: „Warum kontrollieren Sie eigentlich immer nur uns Kanaken?“ Zwei Beamte drehten sich sofort zu ihr um und sagten, dies sei eine rassistische Beleidigung gegen den Mann. Narges konnte ihren Ohren nicht trauen. Sofort forderten sie sie auf, sich auszuweisen. Narges verweigerte dies und erklärte, dass es völliger Unsinn sei, ihr jetzt Rassismus vorzuwerfen, wo sie doch gerade bei dieser rassistischen Polizeikontrolle interveniert habe. Die Beamten meinten, dass den Mann auch indirekt („uns Kanaken“) „Kanake“ zu nennen, rassistisch sei. Narges sprach die Beamten daraufhin auf einen kürzlich in der Süddeutschen Zeitung erschienenen Artikel an, nachdem 67 bayerische Polizisten aktuell suspendiert seien. Es geht um Drogenbesitz, Kinderpornografie und Zugehörigkeit zu sogenannten Reichsbürgern. Das war den Beamten dann zu viel. Brutal warfen sie Narges zu Boden und schleiften sie von der einen Straßenseite bis zur Polizeiwanne. Sie verdrehten ihr minutenlang durch brachiale Gewalt die Hände und die Polizistin durchsuchte ihren Rucksack. Zwei deutsche Kolleg_innen aus ihrem Betrieb beobachteten die Szene reglos. Nur eine nicht-weiße Kollegin setzte sich für Narges ein und protestierte gegen die Polizeigewalt. Die Beamten nahmen ihre Personaldaten auf und teilten ihr mit, dass sie wegen „rassistischer Beleidigung“ und „Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte“ angezeigt würde. Als sich die Beamten von ihr abwandten fragten sie die beiden weiß-deutschen Zeuge_innen, ob sie ihre Personalien als Zeug_innen aufnehmen könnten, damit sie bezeugen, dass sie freundlich waren und keine Gewalt angewandt hätten. Beide bejahten. „Freundlich? Ernsthaft? Muss unbedingt jemanden ermordet werden, dann bedeutet es erst Gewalt für euch?” erwiderte Narges. Die beiden antworteten „Die Polizisten müssen ihre Pflicht erledigen und manchmal müssen sie auch so reagieren”. Von Solidarität unter Arbeiter_innen eines Betriebes war keine Spur.

Rassismus und Kapitalismus

Rassismus ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen, welcher in seiner jetzigen Form der kapitalistischen Produktionsweise und ihrer bürgerlichen Demokratie entspringt. Die kapitalistische Gesellschaft lädt so ihre eigenen Widersprüche auf die migrantischen bzw. (je nach konkretem historischen Verhältnis) nicht-weißen Teile der Arbeiterklasse ab, die, durch den niedrigeren Wert ihrer Arbeitskraft, in direkter Konkurrenz mit „deutscher” Arbeit tritt und so als Sündenbock für die Konkurrenzsituation um vermeintlich knappe Resourcen verantwortlich gemacht wird. Der Rassismus unterbindet so unter anderem die Solidarität und das gemeinsame Kämpfen innerhalb der Arbeiterklasse gegen die herrschende Klasse der Kapitalisten, und dient der gewaltvollen körperlichen Kontrolle der migrantischen bzw. nicht-weißen Teile der Arbeiterklasse, welche sich sowohl durch Gesetze als auch durch alltäglichen, interpersonellen Rassismus ausdrückt.

Rassistische Polizeigewalt

Dass Rassismus also strukturell auch in deutschen Polizeibehörden tief verankert ist, liegt auf der Hand. Aber auch individuelle Menschen mit rassistischer Weltanschauung, also der Idee von „arischer” Vorherrschaft und der „Überlegenheit der arischen Rasse,” sowie Alltags-Rassisten werden in Deutschland Polizeibeamte. Immer wieder werden rassistische und rechte Polizeinetzwerke aufgedeckt, wie z.B. 2012, als zwei damals noch aktive schwäbische Polizisten der Mitgliedschaft im Ku-Klux-Klan überführt wurden, dessen Prinzipien der „Überlegenheit der weißen Rasse“ Hand in Hand mit der systematischen Auslöschung von Schwarzen geht. Im gleichen Artikel wird beleuchtet, wie Verfassungsschützer den rassistischen Geheimbund in Baden-Württemberg gedeckt haben sollen. Zudem war einer der beschuldigten Beamten Chef der von der NSU erschossenen Polizistin Kiesewetter.

Auch wenn bürgerliche Medien kaum davon berichten, sterben in Deutschland regelmäßig meist migrantische Menschen durch Polizeigewalt oder in Gewahrsam. Die Todesfälle der letzten Zeit – Hussam Fadl, Amad Ahmad, Matiullah Jabarkhil, Rooble Warsame, William Tonou-Mbobda, Aman Alizada – weisen indes auf Morde durch von Rassismus durchzogene staatliche Institutionen hin. Sollte ein Fall doch mehr Aufmerksamkeit erregen, geben die staatlichen Behörden ihr Äußerstes, um die Verstrickung der Polizei oder anderer staatlicher Behörden unter den Teppich zu kehren. Zu einer juristischen Aufarbeitung kommt es fast nie, die Angehörigen sind oft gezwungen, ein Klageerzwingungsverfahren einzuleiten, damit es überhaupt zu einer Anklage durch die Staatsanwaltschaft kommt. Die Täter:innen können einfach weitermachen wie zuvor und werden nicht zur Verantwortung gezogen. An den Haaren herbeigezogene Schutzbehauptungen von Notwehr werden selbst dann noch geglaubt, wenn ihnen die gesamte Beweislage widerspricht.

Erklärungs- und Relativierungsversuche

Die aufgedeckte rassistische Polizeigewalt wird regelmäßig damit relativiert, dass rassistische Polizist_innen Einzelfälle seien und behördenintern verfolgt würden. Es wird angeführt, die Polizei sei nicht rassistischer als andere Berufsgruppen oder die Gesamtgesellschaft. Sie sei daher nicht besser und nicht schlechter als die Gesellschaft selbst. Einige gehen sogar so weit, den Rassismus in der Polizei als Konstrukt der Medien darzustellen, die dazu diene, die Polizei als Ganzes zu diffamieren. Die Thesen sind jedoch schnell widerlegt. Entgegen der Vorstellung von Einzeltäter_innen spricht selbst ein liberaler Kriminologe wie Tobias Singelstein von einem strukturellen Problem. Die Behauptung, die Polizei sei lediglich ein Spiegelbild der Gesellschaft, vor dem Hintergrund ihrer Entstehungsgeschichte, ist schlichtweg falsch und wird durch Skandale von rechten Netzwerken in der Polizei der letzten Jahre immer wieder entkräftet. Erklärungs- und Relativierungsversuche, um die Polizei als Behörde nicht grundlegend in Frage zu stellen, sondern sie als reformierbares Organ der bürgerlichen Demokratie zu verkaufen, sind nichts weiter als institutionelle Selbstentlastung und Täter_innenschutz.

8. Mai – Tag des Zorns

Heute am 8. Mai, dem Tag der Befreiung vom Faschismus, versuchen migrantische Aktivist_innen deutschlandweit unter der Kampagne „Tag des Zorns”, als Tag gegen Rassismus und rechte Hetze und Gewalt zu etablieren. Gerade jetzt zu Zeiten migrantischer Selbstorganisierung – von den Lagern bis zu den Universitäten – ist es besonders wichtig, auf die strukturellen Dimensionen von Racial Profiling und rassistischer Polizeigewalt mit vertieften Analysen zu weisen. Das, was Narges erlebt hat, ist kein Einzelfall. Polizei und Verfassungsschutz sind bekanntlich nicht nur durchsetzt von Rassismus auf institutioneller Ebene, sondern es befinden sich auch organisierte faschistische Netzwerke innerhalb der Polizei, Armee, im Verfassungsschutz und dem Rest des tiefen Staates.

Deswegen müssen wir heute Antworten suchen auf die Zerstreutheit und den Defätismus der deutschen Linken und uns wieder organisieren: in unseren Betrieben, an unseren Ausbildungsorten und unter Nachbar_innen. Wir können nicht zulassen, dass uns rassistische Gewalt als Klasse spaltet und den dahinter liegenden Konflikt als „ein weiteres Machtverhältnis” abtun. Kapitalismus ist kein Nebenprodukt, neben einem rassistischen System. Es ist die kapitalistische Produktionsweise und die sie schützende bürgerlichen Demokratien, die diese Form der Spaltung unserer Klasse in deutsche und migrantische Arbeitskraft, in Weiße und Nicht-Weiße, erst durch spezifische Gesetze institutionalisiert und somit rassistische Überausbeutung und rassistische Gewalt legitimiert. Und es ist diese Produktionsweise, die es umzustürzen gilt.

Nehmt teil an den heutigen #Migrantifa Aktionen und zeigt: Wenn sie eine_n angreifen, dann greifen sie uns alle an!

# Von Lea Dalmazia, Debora Darabi, Ramsis Kilani, Nadia Rohi und Eleonora Roldán Mendívil

Die Autor_innen sind aktiv in antiimperialistischen, klassenkämpferischen Kreisen in NRW, München und Berlin.

# Titelbild: pixabay

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Am 04. und 05.02.2020 findet in Berliner Congress Center (bcc) am Alexanderplatz der 23. Europäische Polizeikongress statt – allerdings nicht ohne Widerstand. Vom 01.02-02.02.20 wird der Gegenkongress „Entsichern“ und am 31.01.20 eine Demonstration gegen den Polizeikongress stattfinden. Wir sprachen mit zwei Organisator*innen über den Polizeikongress und aktuelle staatliche Entwicklungen, die Motivation für eine Gegendemonstration und einen Gegenkongress und über Perspektiven, welche über die Demo und den Kongress hinausgehen.

Der Europäische Polizeikongress findet jährlich statt, ist aber vielen gar nicht bekannt. Könnt ihr erklären, was dort genau passiert?

Z.: Auf dem Europäischen Polizeikongress trifft sich das ‚Who is Who‘ der reaktionärsten Bereiche der Gesellschaft: der Verfassungsschutz, die Waffenlobby, Forensiker*innen, Grenzsicherungsfirmen, Mitglieder des Bundestages und die Polizei. Sie alle tauschen sich über neue Sicherheitskonzepte aus, planen die Investition in digitalisierte Überwachung, den Ausbau des europäischen Grenzregimes oder auch die Begründung neuer Waffen und Zugriffsrechte der Behörden. Hier legen Sicherheitsindustrie, Politiker*innen und Polizei-Behörden die Weichen ihrer engen Zusammenarbeit.

Schon im letzten Jahr wurde gegen den Kongress eine Demonstration und einige Veranstaltungen organisiert, dieses Jahr soll zusätzlich noch der Gegenkongress „Entsichern“ stattfinden. Welche Ziele verfolgt ihr mit der Demo und dem Kongress?

Z.: Nachdem es einige Jahre vergleichsweise ruhig war, was die Proteste gegen den jährlich stattfinden Europäischen Polizeikongress anging, konnte gegen das Treffen mit der Demonstration und den Veranstaltungen im vergangenen Jahr Protest wieder sichtbar und anschlussfähig gemacht werden. Daran wollen wir mit der Demonstration und dem Kongress in diesem Jahr anknüpfen.

Beide Veranstaltungen, also Demonstration und Kongress, sollen dabei ein Zeichen setzen gegen das widerwärtige Treffen. Die Demonstration dient u.a. als gemeinsamer Start in das Kongresswochenende. Mit der Demonstration können wir unsere Kritik an dem reaktionären Treffen und den bestehenden Verhältnissen sichtbar machen und unsere Wut darüber auf die Straßen tragen. Dadurch, dass die Demonstration aber nicht für sich allein steht, sondern im Entsichern Kongress mündet, kann die aktive Politik auf der Straße mit konkreten Inhalten verknüpft werden. Mit dem Kongress soll dann ein zweitägiger Raum für Informationen, Diskussionen, Vernetzung und Austausch geschaffen werden.

G.: Unser Anspruch ist also allen Vorran eine stärkere Zusammenarbeit der Strukturen, die eigentlich inhaltlich aber auch praktisch miteinander zu tun haben, sich aber in dieser Großstadt nicht vernetzen oder gemeinsam Perspektiven erarbeiten. Das wollen wir mit der Demonstration und dem Entsichern Kongress versuchen zu ändern. Es geht uns also vor allem auch darum, Solidarität praktisch werden zu lassen. Denn es kann schlicht und ergreifend nicht sein, dass dieses Treffen aus Waffenlobbyist*innen, reaktionären Gewerkschafter*innen, Geheimdiensten Europas usw, nicht auf Widerstand stößt. Vieles, mit dem wir in den letzten Jahren zu kämpfen hatten und in den kommenden zu kämpfen haben werden, wird genau dort beschlossen!

Mit was haben wir denn zu kämpfen, was wird uns in der Zukunft noch beschäftigen?

G.: Auf dem Polizeikongress werden sie u.a. darüber sprechen, wie die digitale Kontrolle, zum Beispiel durch eine elektronische Strafakte, die Auswertung von Massendaten durch Künstliche Intelligenz oder digitale Spuren, ausgebaut werden kann, wie Grenzen noch mehr abgeschottet werden, wie die Polizei noch mehr aufrüsten kann. Der Rahmen, innerhalb dessen diskutiert wird, ist auch gesetzt: „Parallelgesellschaften, Clans, Rechtsextremismus und -terrorismus sowie illegale Handelsplattformen im Darknet“, so schreiben sie selbst auf ihrer Homepage. Zum einen geht es also um die digitale Kontrolle unserer Alltags, zum anderen um den Ausbau des faschistischen autoritären Staates. Und damit haben wir schon seit Jahren zu kämpfen und werden es auch weiterhin müssen.

Z.: Um konkrete Beispiele zu nennen: die Politiker*innen und Behörden haben zum Beispiel Angst, dass ihre schmutzigen Waffendeals und ihre blutige Außenpolitik auf sie zurückfällt, deswegen sind sie interessiert an einer undurchdringbaren Festung Europa. Damit müssen wir uns heute und in Zukunft auseinandersetzen. Um Solidarität zwischen den Menschen zu verhindern, wird ein eh in der Gesellschaft vorhandener Rassismus, Sexismus und Klassismus befördert und angefacht. Gleichzeitig werden reaktionäre Gruppen und Zusammenhänge wie der NSU gefördert und jegliche Beweise vernichtet. Dies sind keine Einzelfälle, wie gerne dargestellt wird und deswegen ist es noch einmal wichtiger, diese Entwicklung ernst zu nehmen und sich dagegen zu wehren.

G.: Und auch, wenn in ihrem offiziellen Programm dazu nichts zu finden ist, sind es auch die Momente der Unkontrollierbarkeit, wie bei den Protesten gegen den G20, welche den Staat und seinen Repressionsorganen schwer zu schaffen machen. Ihre Antwort darauf ist eine möglichst breite Repression, um den Widerstand in „gut“ und „böse“ zu spalten. Über allem steht die totale Überwachung und der Gedanke, durch präventive Maßnahmen die Menschen in Angst und Schrecken zu versetzen und so jegliche widerständige Aktionen im Keim zu ersticken. Was uns also auch konkret beschäftigen sollte, zeigt u.a. die vorherrschende Repression auf, denn sie ist ein Spiegelbild dafür, an welchen Punkten sich der Staat angreifbar fühlt und mit welchen Mitteln er sich dann versucht zu verteidigen. Mit diesen Mittel sollten wir uns ebenfalls auseinandersetzen. Antirepressionsarbeit darf aber kein Teilbereichskampf darstellen. Um die Isolation und Vereinzelung, die der Staat damit erreichen will, zu durchbrechen, müssen wir gemeinsame Strategien entwickeln.

Ihr habt jetzt schon einige Themen gesetzt. Inwiefern soll die Demonstration und der Entsichern Kongress daran anknüpfen?

G.: Dass die Demonstration dieses Jahr in Neukölln stattfindet, liegt u.a. auch an den wöchentlichen Razzien in Shisha Bars, Spätis und Läden im Kiez, sprich der Repression und Stigmatisierung der Menschen, die damit konfrontiert sind. Neukölln ist zur Zeit ein Beispiel von vielen, wenn es um die Zusammenhänge von strukturellen und institutionellen Rassismus, die Rolle von staatlichen Funktionär*innen, Gentrifizierung und Repression geht.

Z.: Genau auf diesen Zusammenhang soll dann auf dem Entsichern Kongress noch einmal vertieft eingegangen werden. Der Kongress wird eine Gegenposition zum Europäischen Polizeikongress einnehmen, weiterhin aber auch aktuelle Diskurse aus der radikalen Linken vertiefen. Wir haben uns deshalb entschieden, Themenschwerpunkte zu wählen, die auf dem Polizeikongress vorkommen – zum Beispiel die fortschreitende Digitalisierung und Überwachung der Gesellschaft, die Grenzsicherheit sowie die Militarisierung der Repressionsorgane. Die Bekämpfung emanzipatorischer Bewegungen spielt in diesem Jahr laut Programm, wie schon erwähnt, keine wirklich große Rolle auf dem Kongress. Dennoch findet sie tagtäglich statt, sei es durch angebliche Verstöße gegen das Vereinsgesetz, was überwiegend kurdische und türkische Linke betrifft, die Einstufung als Gefährder*innen, Strukturverfahren wie nach dem G20 oder die Einführung und Umsetzung der neuen Polizeiaufgabengesetze, beispielsweise der § 113 „Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte“.

G.: Und zusätzlich wird es auch noch einen praktischen Teil geben, bei dem Workshops zum Thema Computer und Smartphone- Sicherheit, Aussageverweigerung sowie Deals und Einlassungen angeboten werden. Es wird möglich sein, eine persönliche Datenabfrage bei sämtlichen Behörden vor Ort zu erstellen und auszudrucken.

Welche langfristige Perspektive seht ihr in der Organisierung der Demonstration und im Entsichern Kongress?

G.: Es geht das ganze Jahr darum, handlungsfähige Strukturen aufzubauen, solidarisch miteinander umzugehen und gemeinsame Strategien entwickeln. Der Kongress und die Demo sind nur zwei Handlungsvorschläge, sich gegen diesen Staat und seinen Verteidiger*innen zu organisieren.

Z.: Natürlich wird nicht alles sofort klappen, was wir uns vorgenommen haben und viele Dinge können womöglich verbessert werden. Wir wünschen uns, dass dieses Wochenende ein Auftakt, zu mehr Solidarität untereinander ist. Demonstration und Kongress können dafür ein erster Schritt sein, aber es darf nicht bei diesen 3 Tagen im Jahr bleiben! Der Kampf gegen Repression und die Solidarität untereinander müssen wieder vermehrt in unseren Alltag eingebunden werden. Deswegen soll dies ein Appell sein, sich mehr aufeinander zu beziehen, sich gegenseitig ernst zunehmen, zuzuhören und voneinander zu lernen!

# alle Informationen zur Demonstration und zum Entsichern Kongress sind hier zu finden und bei Twitter

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Ich saß vor kurzem im ICE neben einem Polizeibeamten in Uniform, der „Scherze“ darüber machte, dass er, seit es das Antidiskriminierungsgesetz gibt, nicht mehr machen könne was er wolle. Er stammelte, nachdem er die erschrockenen Gesichter sah, hinterher, dass das natürlich nicht heißt, dass er es vorher konnte, aber es war zu spät. Alle um ihn herum schauten peinlich berührt weg. Alle haben den „Scherz“ verstanden. Diese Art von Humor ist nicht selten bei Polizist_innen und lässt tief blicken. Erst vor kurzem machte sich die Polizei Berlin in einem Twitterkommentar über Polizeigewalt lustig. Das verursachte viel Empörung, zu Recht. Aber allein Empörung über dergleichen Witze reicht nicht aus. Das Problem liegt nicht am unsensiblen Umgang mit Polizeigewalt, sondern eben an der Gewalt und ihren Ermöglichungsbedingungen selbst.

Die Schenkelklopfer der Cops sind mehr als markaberer Humor. Die Polizei ist vor allem in der Lage, sich über Polizeigewalt lustig zu machen, weil es für sie in der Regel keinerlei Konsequenzen gibt. So wie wir eben Witze darüber machen, bei rot über die Straße zu gehen. Betroffene von Polizeigewalt haben kaum Aussicht auf Ahndung des Unrechts. Die Polizei hat einen unvergleichlichen Korpsgeist: Kolleg_innen sagen meistens nicht gegeneinander aus oder ermitteln nicht gegen andere Polizist_innen. Unabhängige Beschwerde- und Ermittlungsstellen gibt es bislang auch keine. Was Gewaltopfer in der Regel bekommen ist eine Gegenanzeige, meistens Widerstand gegen die Polizeigewalt, wenn sie es wagen der Polizei auf die Uniform zu bluten, manchmal noch Sachbeschädigung von Staatseigentum.

Gerade die Polizei Berlin tut sich durch Rassismus immer wieder hervor. Das liegt vor allem daran, dass sie sogenannte „kriminalitätsbelastete Orte“ geschaffen hat, die der Polizei die Möglichkeit geben wahllos (vor allem nicht-weiße) Menschen zu kontrollieren, ohne dass sie die Kontrollen rechtfertigen müssen. Das wird natürlich voll ausgenutzt.

Polizeigewalt ist kein Problem individueller Polizist_innen und es ist auch kein Problem mangelnder Reflektion. Sie wissen was sie tun und sie tun es, weil sie es können. Also muss man dafür sorgen, dass sie es nicht mehr können, indem ihnen die Befugnisse entzogen werden und ernsthafte Konsequenzen im Raum stehen. Die eigene Gewalt wird für die Polizei erst dann aufhören, ein Witz zu sein, wenn die Konsequenzen für sie ernst sind.

#Titelbild, Quelle: https://www.flickr.com/photos/rczajka/6427732389

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Deutschland hat ein existenzbedrohendes Problem. Kriminelle Ausländerclans. Libanesische, arabische, türkische und kurdische Großfamilien halten das Land im festen Würgegriff ihrer orientalischen Hände. Sie kassieren Hartz-IV, während sie in Luxuskarossen durch die Gegend protzen, die sie mit Drogengeschäften und Einbrüchen finanzieren. Sie gehen mit Messern und Schusswaffen aufeinander los, um ihre Reviere abzustecken. Ganze Bezirke kontrollieren sie, machen Teile deutscher Großstädte zu No-Go-Areas. Sie nutzen die Gutmütigkeit der Deutschen, die ihnen Asyl gewährten, schamlos aus, um sich endlos zu bereichern. Hierarchisch gegliedert, gleichen sie einer durchorganisierten Armee, die den Behörden immer und immer wieder durch die Lappen geht. Sie bedrohen unser friedliches Zusammenleben. Sie erpressen, plündern und morden. Wer ihrer Herr werden will, muss Stärke zeigen. Es braucht Law&Order. Es braucht die Abschaffung von Asylgesetzen. Es braucht die Außerkraftsetzung der Unschuldsvermutung. Und es braucht starke deutsche Jungs wie Herbert Reul und Martin Hikel.

So geht jene Erzählung, die seit Jahren gebetsmühlenartig in den Zeitungsartikeln der Leitmedien, in Dokumentarfilmen, Action-Serien, Büchern, politischen Reden und Lageeinschätzungen der Polizei wiederholt wird. Wöchentlich stürmen schwer bewaffnete Polizeieinheiten Shisha-Bars und andere migrantische Gewerbebetriebe – begleitet von den Reporterteams einer sensationalistischen Hauptstadtpresse, deren Berichterstattung zum Thema sich kaum noch von der auf Nazi-Hetzseiten unterscheidet. Frei nach der Devise: Was man sich über den Ausländer schlechthin nicht mehr zu sagen traut, über das Clan-Mitglied darf es gesagt werden.

Der so geschaffene Diskurs verfehlt seine Wirkung nicht: Je weiter man von „Brennpunkten“ wie Berlin-Neukölln oder Dusiburg-Marxloh entfernt lebt, desto eher bekommt man den Eindruck, dort gehe es zu wie in Medellin zur Zeit Pablo Escobars. Wer aber genauer hinsieht, den Stimmen Gehör schenkt, die wirklich in Neukölln leben und von den dutzenden Razzien, den willkürlichen Kontrollen, den rassistischen Zuschreibungen und der medialen Hetze betroffen sind, dem ergibt sich ein anderes Bild.

Wir sind tausend Leute. Natürlich kennen sich da nicht alle“

Einer der Anwohner, die derzeit gegen die Stigmatisierung der Shisha-Bars in Neukölln angehen, ist Mohammed. Zusammen mit anderen Einzelpersonen organisierte er Veranstaltungen, auch einen Flash-Mob zum Shisha-Rauchen. Warum er aktiv wird? Weil er es sich gar nicht so richtig aussuchen kann. „Ich habe eine sehr persönliche Motivation“, sagt er im Gespräch mit lower class magazine. „Ich heiße Mohammed Ali Chahrour. Ich habe einen Nachnamen, der als Clan-Name geführt wird.“

Wenn in den Medien von den „Clans“ die Rede ist, sind es immer dieselben Namen, die auftauchen: Remmo, Al-Zein, Abou-Chaker, Miri – und eben auch Chahrour. Man wird nicht falsch liegen, wenn man behauptet, es gibt kaum libanesische oder palästinensiche Namen, die dem Durchschnittsdeutschen geläufiger sind als diese. Mit Sicherheit würde eine Umfrage ergeben, dass unter den Deutschen ein – sagen wir – Arafat Abou-Chaker deutlich prominenter ist als die libanesische Nationalikone Fayruz oder der palästinensische Dichter Mahmud Darwisch.

Wenn man einen dieser prominenten Nachnamen trägt, begleitet das ein Leben lang. „Als ich noch in der Schule war hatten wir einmal so eine Woche zur Berufsorientierung“, erinnert sich Mohammed. „Ich habe mich bei der Polizei angemeldet. Ich war 15 und dachte, das wäre irgendwie lustig. Ich habe dort dann bei den Eignungstests als Bester abgeschnitten. Dann kamen zwei Polizeioffiziere zu mir und sagten: ‚Das hast du echt super gemacht, Mohammed. Als wir die Namensliste bekommen haben, dachten wir nur: Was kommt da auf uns zu. Wenn du eine Zukunft bei uns einschlagen willst, wir helfen dir. Aber du musst deinen Namen ändern, wenn du bei der Polizei in Berlin anfangen willst.‘ Also bei all dem Lob: Eigentlich bist du raus, es sei denn du verleugnest deine Identität.“ Die Vorurteile haben sich bis heute nicht geändert: „Wenn ich beruflich mit der Polizei telefoniere und meinen Nachnamen nenne, gibt es auf der anderen Seite der Leitung diese kurze Pause, wo du die Verwunderung merkst. Ich nehme das mit Humor“, scherzt er.

Auch im Gespräch merkt man Mohammed an, wie die Debatte auf ihn wirkt. Er betont wieder und wieder, er sei gegen Kriminalität. Und für einen starken Staat – solange auf Grundlage von Rechtstaatlichkeit gehandelt werde. Aber das derzeit gängige Vorgehen gegen die „Clans“ sei weder rechtsstaatlich, noch Teil einer funktionierenden Strafverfolgung. „Es geht um Sippenhaft“, kritisiert Mohammed. „Wovon sprechen wir denn eigentlich, wenn wir von Großfamilien sprechen? Meine Familie, wenn wir alle nach dem Nachnamen nehmen, sind in Berlin um die tausend Leute. Da zu erwarten, dass sich alle kennen, ist Blödsinn“, so Chahrour. Auch dieses Bild von einem Paten, der wie ein König über die Familie herrscht, sei eine Erfindung. Was hier vielmehr gemacht werde, sei eine Umkehr der Beweislast der Strafverfolgung. Nicht kriminelle Handlungen würden verfolgt, sondern Menschen, weil sie Mitglied einer Familie sind – und damit per se als potentielle Kriminelle gelten.

Die offiziellen Papiere deutscher Behörden geben Mohammed Ali Chahrour recht. Der Begriff des Clans bleibt schwammig, das Phänomen wird unter dem abstrusen Titel „ethnisch abgeschottete Subkulturen“ beschrieben. Suggeriert werden soll: Die hängen alle miteinander zusammen. Die „Großfamilie“ ist die kriminelle Organisation. Dieser Narrativ hat Auswirkungen. Er bereitet Familien wie der von Mohammed Ali Chahrour Sorgen. Wenn man, wie Mohammed, im Alter von sechs Monaten das erste Mal einen Abschiebebescheid zugestellt bekommen hat, ist es nicht einfach nur eine Phrase, wenn die Mutter wieder anfängt, zu sagen: Wir sitzen auf gepackten Koffern.

Ähnlich wie er selbst, so sagt Mohammed, sehen das viele in Neukölln. Die andauernden schwer bewaffneten Razzien der Polizei seien für viele eine Demütigung. Für die Barbetreiber, sagt der Neuköllner, sei es sowieso einschüchternd. Aber auch für die Gäste: „Ich habe kürzlich mit jungen Syrern gesprochen, die haben gesagt: Wir sind hier her vor dem Krieg geflüchtet und wir werden hier jeden Freitag, Samstag mit Maschinengewehren durchsucht.“

Abgesehen von den sozialen Auswirkungen sei so ohnehin keine Strafverfolgung zu machen, meint Chahrour. „Um es mal so zu sagen: Ich glaube nicht, dass irgendwer kriminelle Geschäfte in den Bars der Sonnenallee und Karl-Marx-Straße organisiert, wenn man weiß, dass da jeden Freitag Abend die Polizei einreitet. Und dann findet ihr unverzollten Tabak? Sorry Leute, aber dann seid ihr genauso blöd, wie die Bullen aus 4Blocks.“

Die medial inszenierten Razzien, der Generalverdacht gegen ganze Bevölkerungsgruppen – das ist für Mohammed nicht mehr als ein „Spiel mit dem Rassismus“ – gerade auch seitens jener Partei, in der Mohammed Ali Chahrour eigentlich Mitglied ist: Der SPD. Die stellt mit Martin Hikel den Bezirksbürgermeister in Neukölln. Und der möchte sich gerne als der große Saubermann gegen die kriminellen Ausländerclans inszenieren. Tradition hat das in der Neuköllner Sozialdemokratie: Schon Hikels Amtsvorgänger Heinz Buschkowsky nutzte gerne rassistische Ressentiments, um am rechten Rand zu fischen.

Da kommen Stimmen wie die Mohammeds wenig gelegen: „Man versucht, auf mich einzuwirken und mir meine Meinung zu verbieten. Ich finde das schamlos. Die, die mich da angreifen, verstehen nicht, dass da auch meine Nächsten angegriffen werden.“

Maschinengewehre gegen Ordnungswidrigkeiten

Ähnlich wie Mohammed spricht sich auch Melissa König* gegen die Clan-Hetze aus. Die 22-jährige arbeitete in einer Wilmersdorfer Shisha-Bar, hat eine der Razzien miterlebt. Und: in ihrem Freundeskreis sind viele, die „bekannte Nachnamen“ tragen, wie sie sagt. Für die Jungs mit den klingenden Namen bedeutet das aber in den seltensten Fällen eine Eintrittskarte in ein sorgenloses Leben aus Crime&Glamour. Sondern Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt, komische Fragen bei Job-Bewerbungen und racial profiling durch die Polizei. „Einmal war ich mit einem dieser Freunde im Auto unterwegs und wir kamen in eine normale Verkehrskontrolle“, erinnert sich Melissa. „Alle anderen durften nach kurzer Kontrolle weiter, uns haben sie komplett durchsucht und das Auto auseinandergenommen– auch mich als Beifahrerin. Ich habe ja nachgefragt bei der Polizei, warum das jetzt so ist. Aber man konnte mir keine logische Begründung geben.“

Die Stelle in der Shisha-Bar hatte Melissa eigentlich nur als Zweitjob – um nach dem Umzug nach Berlin ein bisschen was dazu zu verdienen. Aber auch sie merkte, wie im Bekanntenkreis die mediale Dauerbeschallung ankommt. „Ich habe irgendwann nur noch gesagt, ich kellnere, wenn mich jemand gefragt hat. Sonst glauben immer gleich alle, man macht etwas mit Geldwäsche.“ Die meisten Klischees über die Shisha-Bars kann Melissa nicht bestätigen. Weder sei ihr Chef kriminell gewesen, noch habe sie sich als Frau unwohl gefühlt. Im Gegenteil, in der „deutschen Gastro, wo ich auch gearbeitet habe, habe ich viel mehr übergriffiges Verhalten erlebt. Und da ist im Unterschied zur Shisha-Bar niemand eingeschritten.“

Auch nachdem sie ihren Nebenjob aufgegeben hatte, war Melissa öfter an ihrem ehemaligen Arbeitsplatz – als Gast. Einmal, als sie mit einer Freundin dort war, wurde sie auch Zeugin der gängigen Berliner Polizeipraxis. „Die sind mit Maschinengewehren reingekommen und haben die Leute da drei oder vier Stunden festgehalten. Meine Freundin wollte aufs Klo, durfte aber nicht. Die Beamten waren sehr unfreundlich. Viele Gäste waren sehr verängstigt“, erzählt König. Das Szenario hinterlässt, auch wenn keine inkriminierenden Gegenstände gefunden werden, Eindruck. „Würde ich meinen Chef nicht kennen und wüsste nicht, was er für ein Mensch ist – ich hätte selber gedacht, der muss ja ein Schwerkrimineller sein, wenn da 70, 80 schwer bewaffnete Polizisten reinstürmen.“

In den meisten Fällen führen die martialisch durchgeführten Polizeieinsätze zu nichts. Gefunden wird unverzollter Tabak oder es werden Ordnungswidrigkeiten festgestellt, wie zum Beispiel erhöhte CO-Messwerte. Wenn kleine Mengen an Drogen auftauchen, über die jeder Berghain-Türsteher milde lächeln würde, gilt schon das als Erfolg. Richtige Funde wie Waffen sind eine äußerste Seltenheit.

Eine Kleine Anfrage der Linken-Politiker Niklas Schrader und Anne Helm dokumentiert die Dimensionen der Show-Razzien eindrucksvoll. Alleine zwischen dem 27. Mai und dem 6. September 2019 rückte in Neukölln 14 Mal eine Armada von Polizisten „im behördenübergreifenden Verbund“ aus, um sich diverse Kleingewerbetreibende vorzunehmen. Dabei waren insgesamt 772 Dienstkräfte im Einsatz, die 4398,5 Einsatzkräftestunden ableisteten. Beteiligt waren neben der Bundespolizei und Berliner Dienststellen der Polizei das Finanzamt, das Ordnungsamt sowie verschiedene Stellen des Zollamts. Im Rahmen der Einsätze wurden „wurden insgesamt 978 Personen, 72 Lokale, 385 Kraftfahrzeuge und 22 sonstige Objekte kontrolliert beziehungsweise aufgesucht.“ Das Ergebnis: 197 Ordnungswidrigen, also Dinge wie „Verstoß gegen ordnungsgemäße Kassenführung“, Verstöße gegen das Nichtraucherschutzgesetz, Jugendliche, die sich in der Bar aufhalten oder Verstöße gegen die Pfandverordnung. Und 56 Mal der Verdacht auf eine Straftat: Darunter entweder der geringe Besitz von Betäubungsmitteln und Delikte wie „Fahren ohne Fahrerlaubnis“ oder Beleidigung – ein Delikt also, der ohne den martialischen Einsatz gar nicht zustande gekommen wären.

Der große Durchbruch bleibt bei den Massenrazzien – erwartungsgemäß – aus. Weder die geklaute Goldmünze aus dem Bode-Museum, noch Drogendepots oder die zur Verurteilung realer oder imaginierter „Clan-Chefs“ so gierig herbeigesehnten Beweise werden sich in Neuköllner Bars finden lassen. Das wissen alle Beteiligten.

Die Wirkung des Vorgehens ist aber eine andere, weiß Melissa König. „Auch mein ehemaliger Chef klagt, dass ihm die Kunden wegbleiben nach der Razzia. Und ich kenne viele andere Shisha-Bar-Betreiber, denen es ähnlich geht.“ Warum die Behörden das machen? Auch darauf hat Melissa eine plausible Antwort: „Der Kiez verändert sich. Die, die jetzt nach Neukölln ziehen, die wollen keine Sishabars oder Männercafes. Mit Kriminalität hat das gar nicht so viel zu tun. Die wollen ja auch keine türkischen und arabischen Gemüsehändler.“

Bankster welcome!

Dass es sich bei der Offensive gegen die „kriminellen Clans“ um einen Teil des Saubermachens für Investoren, Touristen und betuchte Zugezogene handelt, vermutet auch Alia Kutlu. Die Neuköllnerin engagiert sich in verschiedenen Initiativen gegen Gentrifizierung in Neukölln – zum Beispiel gegen den Mega-Neubau am zentralen Hermannplatz. Und auch Kutlu hat an Veranstaltungen gegen den Clan-Generalverdacht mitgearbeitet. „Beides hängt zusammen“, so Kutlu gegenüber lcm. „Das Projekt am Hermannplatz wird das Leben in der Nachbarschaft komplett verändern.“ Für Alia und ihre WG ist es ohnehin schon so, dass sie nicht darauf rechnen, in Neukölln langfristig bleiben zu können. „Wenn wir jetzt aus unser Wohnung raus müssten, würden wir in Neukölln nichts mehr finden. Aber es sind eben nicht nur Mieter betroffen, sondern auch die Gewerbetreibenden. Die passen langfristig nicht zu dem, was hier im Bezirk geplant ist. Gewerbemieten steigen, die kleinen migrantischen Läden, die wir hier haben, werden so nicht weiter hier sein“, befürchtete die Mittzwanzigerin. Gerade in den migrantisch geprägten Teilen Neuköllns spüre die Bevölkerung das. „Die Leute merken ja, dass die Bevölkerung ausgetauscht wird. Sie sehen, dass die neuen Läden, die aufmachen, nicht für sie sind. Ich meine, wer sitzt denn in diesen ganzen Hipster-Läden? Die Leute merken natürlich: Wir sind hier nicht mehr willkommen“, so Kutlu.

Die Razzien seien ein „politisches Muskelspiel“: „Vorreiter war da ja der CDU-Politiker Herbert Reul mit seiner sogenannten Taktik der tausend Nadelstiche. Da wird dann eben jede Kleinigkeit zum Fall für die Kavallerie. Flaschen ohne Pfand, erhöhte Messwerte – und das wird mit Maschinengewehren gemacht.“ Das Vorgehen findet Alia Kutlu rassistisch: „Es reicht, dass du Türke, Kurde, Araber bist. So wird dieser Generalverdacht ausgeweitet.“ Ausgeblendet werde dabei, wo eigentlich die Ursachen von Kriminalität liegen. „Die hat ja Gründe: eine enorme Prekarität. Wo wächst Kriminalität? Wo Leute arm sind, wo keine Perspektive ist.“ Man habe sich viele Jahre überhaupt nicht um Neuköllnerinnen und Neuköllner gekümmert. „Aber jetzt hat man ein Interesse an der Aufwertung des Viertels. Und da erfüllt die ganze Debatte um Clans einen Zweck. So ein Martin Hickel, der freut sich, wenn ein René Benko kommt und Milliarden investiert. Und wenn Leute verdrängt werden, die ärmer sind, damit reichere herziehen können. Kapitalinteressen und Politik verfolgen hier eine gemeinsame Agenda.“

Da übrigens dreht man dann nicht jeden Cent zweimal um auf der peniblen Suche nach dubiosem Geschäftsgebahren. Der Name des österreichischen Immobilienspekulanten Benko, der den Hermannplatz aufhübschen soll, fällt aktuell immer wieder im Spendenskandal um die faschistische Partei FPÖ und ihren geschassten Chef Heinz-Christian Strache. Und Benko ist vorbestraft – wegen Korruption.

*Name von der Redaktion geändert

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Etwas mehr als hundert Jahre ist es her, da endete der Erste Weltkrieg. Die heimkehrenden Proletarier*innen und Soldat*innen hatten genug von jenen, die sie auf die imperialistische Schlachtbank des Völkermordens geführt hatten, und so begann eine Zeit, in der die Königshäuser und Adelsgeschlechter einen – vorsichtig ausgedrückt – schweren Stand in der Bevölkerung hatten.

Doch die soziale Revolution in Deutschland blieb unvollendet, eine informelle Koalition von monarchistischen, rechten, bürgerlichen und sozialdemokratischen Politikern presste den Aufbruch zurück in klassengesellschaftliche Bahnen. Dank ihnen gibt es sie bis heute, die von Geburt her Vornehmen. Und bis heute bereichern sie sich standesgemäß – mit freundlicher Unterstützung deutscher Regierungen. Grund genug für unser neue Boulevardreihe über Deutschlands edelste Abzocker. Folge eins beschäftigte sich mit dem Wittelsbacher Ausgleichsfonds, Folge zwei mit den altehrwürdigen Nazi-Förderern des Hauses Hohenzollern.

Episode 3: Rassistin mit viel Wald – Der Thurn-und-Taxis-Clan

Wer als 8-jähriger Knirps das erste Mal auf der berühmten Milliardärsliste des Forbes-Magazins auftaucht, kann zumindest danach nicht mehr jenen Sermon aller reich Geborenen beten, man habe sich doch alles durch eigene Mühen verdient. Das Vermögen von Albert Maria Lamoral Miguel Johannes von Thurn und Taxis wurde 2014 – der Fürst zählte da schon 31 Jahre – auf 1,6 Milliarden US-Dollar geschätzt.

Woher er die ganze Kohle hat, ist nicht schwer zu erraten. Geerbt. Denn das Geschlecht, das ihn als Stammhalter warf, gilt als der größte private Grundeigentümer Deutschlands. Wie viel der Clan sein eigen nennt, ist gar nicht so einfach zu sagen. Im Jahr 1990 berichtete die ZEIT, das Imperium umfasse rund 90 000 Hektar im In- und Ausland, also mehr als sechs Mal die Fläche Liechtensteins. Dazu komme „eine Reihe mittelständischer Unternehmen“, natürlich ein Haufen Schlösser und Häuser sowie eine Privatbibliothek mit 225 000 Bänden. 2015 schreibt die Welt immerhin noch von 36 000 Hektar Grund und 20 000 Hektar Wald in Deutschland. Und zumindest 1989 waren noch 60 000 Hektar in Brasilien im Familienbesitz. Auf wie viel Hektar man die Sippe auch immer schätzt, es gelang den Blaublütern jedenfalls eine Menge Eigentum über den Zusammenbruch des Kaiserreichs und zwei Weltkriege hinweg zu retten.

Die eigentliche Verwalterin dieses Vermögens ist allerdings nicht der Hausherr Albert, sondern seine Mutter, Gloria von Thurn und Taxis. Die kennt man ein wenig, denn sie ist nicht öffentlichkeitsscheu: Als Rassistin, Schwulenhasserin, fundamentalistische Abtreibungsgegnerin hat sie sich einen Namen gemacht.

Als von jeder Notwendigkeit, einer geregelten Arbeit nachzugehen, befreite Schlossherrin bleibt der katholischen Adligen zudem jede Menge Zeit, ihre erzreaktionären politischen Ansichten in die Welt zu posaunen. Schon angesichts der Zunahme von Geflüchteten im Jahr 2015 halluzinierte sie eine „Völkerwanderung“, die zum „Dritten Weltkrieg“ führen werde herbei, aktuell ergeht sie sich im Interview mit der prominenten AfD-Funktionärin Beatrix von Storch in einer Ode an Franz-Josef-Strauß. Von Thurn und Taxis steht dem US-amerikanischen Faschisten Steve Bannon nahe, mit AfD-Kandidaten zusammen besucht sie rechte Demonstrationen.

Wer sich die zahllosen Auftritte der reichen Rassistin ansieht, bekommt einen kleinen Einblick in eine völlig durchgeknallte Parallelgesellschaft. So tourte die Fürstin kürzlich mit dem erzreaktionären Kleriker Gerhard Ludwig Kardinal Müller durch die Gegend und erging sich in Missionierungstipps für Afrika. Gespickt ist das grotesk anzusehende Theater mit steilen Thesen wie der, dass das Bruttosozialprodukt afrikanischer Staaten niedrig bleibt, weil dort „der Glaube an Hexerei so stark ist“.

Wie könnte es bei dieser Reputation anders sein, ist Gloria von Thurn und Taxis natürlich Trägerin der Bayerischen Staatsmedaille für soziale Verdienste. Wie schon die Wittelsbacher können auch die Thurn und Taxis im Übrigen jederzeit auf Unterstützung aus dem Freistaat rechnen. Als Gloria nach dem Tod ihres Mannes Johannes von Thurn und Taxis gerade eines der größten deutschen Vermögen geerbt hatte, gelang es ihr, der Bayerischen Regierung die arme Kirchenmaus vorzuspielen. Die auf den Nachlass fälligen Abgaben könne man der Dame nicht zumuten.

Bayern ließ sich großmütig auf einen Deal ein, den die Wirtschaftswoche Jahre später so zusammenfasste: „Als der Freistaat Bayern rund 70 Millionen Mark Erbschaftsteuer von der Fürstin und den Ihren forderte, übertrug ihm die gebürtige Schwäbin Gloria stattdessen kostbare Staubfänger von den fürstlichen Dachböden. Historische Möbel, Bilder, Geschirr und Schmuck im Schätzwert von rund 45 Millionen Mark senkten die Steuerlast. Weit hatte es das fürstliche Sammelsurium nicht: Der Freistaat mietete einen Flügel des riesigen Schlosses und stellt seine Beute dort aus – auf eigene Kosten als Außenstelle des Nationalmuseums.“ Wohl bekomms. Solange es sich nicht um Geflüchtete handelt, sondern um reiche Rassist*innen, hat man in Bayern eben Spendierhosen an.

#Titelbild: wikimedia commons

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After Europe, ein Festival der Sophiensaele Berlin, fand vom 9.-13. Oktober statt. Unsere Autorin Chandrika Yogarajah über gelungene und missglüchte Perfomances und welchen Anspruch De-kolonisierung erheben sollte.

De-kolonisierung der performativen Kunst war der große Fokus dieses Festivals. Kolonialität mit all seinen menschenverachtenden rassistischen und kapitalistisch ausbeuterischen Charakterzügen ist in allen gesellschaftlichen und kulturellen Bereichen fest verankert und beeinflusst stark die Grundstrukturen unserer Handlungen und Denkweisen. In Performances, Installationen, Podiumsdiskussionen von marginalisierten Künstler*innen, Akademiker*innen und Kulturschaffenden soll die universal kolonial geprägte Kunstwelt aufgebrochen, eurozentrische Geschichte neu geschrieben und eine vielfältige de-koloniale Perspektive angeboten werden.

Postkolonialität wird dabei nicht als ein Bruch und Ende des Kolonialismus verstanden, sondern als Kontinuität von Strukturen und Prozessen, die aus Verhältnissen des Kolonialismus hervorgehen. De-koloniales Denken bedeutet dementsprechend, sich von postkolonialen Denkweisen und Handlungen in jeder Alltagsinteraktion zu lösen.

Bei After Europe soll es jedoch nicht allein darum gehen, marginalisierte Künstler*innen und ihre Erfahrungen, ihr Wissen, ihre Positionen auf die Bühne zu bringen. Zudem soll auch herausgefunden werden, was genau Marginalisierung herbeiführt, sodass diese bekämpft werden können.

Dies ist in einigen starken Performances sehr gut gelungen. So zum Beispiel „Azimut Dekolonial/Remix“ von dem transnationalen Ensemble Hajusom aus Hamburg. Nicht-weiße Performer*innen erzählten Kolonialgeschichten aus ihren Herkunftsländern und ließen das Publikum an ihren Erinnerungen und ihrer kollektiven Geschichtsschreibung teilhaben. Azimut kommt aus dem Arabischen, as-sumūt, und bedeutet „die Wege“.

Die Installation „Untoured“ von *Foundationclass ist eine Audiotour, die ausgewählte Artefakte aus dem Pergamonmuseum und dem Deutschen Historischen Museum Berlin hinterfragt und Geschichte mit alternativen Erzählungen neu schreibt. Untoured dekonstruiert so die imperialistischen Praktiken westlicher Museen. Auch der nigerianische-britische Performer Igbálè entkoppelt sich mit seiner Sound-Performance „Zü“ von universaler Geschichtsschreibung.

„Fractured Memory“ von Ogutu Muraya fing mit einem starken Statement des Künstlers an. Er selbst war bei der Kunstperformance nicht anwesend. Er lebt auf dem afrikanischen Kontinent und benötigt für den Eintritt nach Europa ein Visa. Seine Abwesenheit begründete er damit, einen Kontinent oder ein Land nicht betreten zu wollen, welches ihm Rechte verwehrt und ihn so nicht willkommen heißt. Er unterstützt dieses System der Staatsbürgerschaft und der damit verbundenen Privilegien und Mobilität nicht. Er fühle sich in Europa mit all seinen rassistischen und faschistischen Zügen nicht willkommen und würde von nun an nur in Länder reisen, die er ohne Visa und ohne Papiernachweise problemlos betreten kann. Muraya stellt in seiner Performance „Fractured Memory“ die Gewalt in Kenia während seiner Jugend dar. Dabei entwirft er eine Zusammenstellung von persönlichen Geschichten bzw. Erinnerungen, historischen Film- und Fotoaufnahmen und literarischen Texten.

Einer der beeindruckendsten und auch sehr bewegenden Stücke dieses Festivals war „Cuckoo“ von Jaha Koo. Cuckoo ist einer der beliebtesten und erfolgreichsten südkoreanischen Marken für einen Reiskocher, welcher unter Druck Reis kocht. Dies sollte wahrscheinlich den Kapitalismus in der Performance symbolisieren. Jaha Koo erzählt zusammen mit drei Reiskochern -Hana, Seri und Duri- die Geschichte Südkoreas in den letzten zwanzig Jahren, als einer der wichtigsten Nationalökonomien der Welt. Jaha Koo kritisierte das Internationale Währungsfond (IWF), das Südkorea 1997 in der Wirtschaftskrise mit einem 58-Billionen Rettungsschirm angeblich „unterstützte“, tatsächlich aber gezwungen hatte, radikale Kürzungspolitiken durchzuführen. Das Land hat unter dem kapitalistischen Leistungsdruck der Aufstiegsgesellschaft weltweit einer der höchsten Suizidrate. Jaha Koo sieht dies als Konsequenzen des Rettungsschirmes 1997 und macht dabei überwiegend den IWF und die Machenschaften von US-Finanzminister Robert Rubin dafür verantwortlich. Die Kunstperformance war autobiografisch. Er erzählte von der Depression und Selbstmord seines verschuldeten Freundes, der mit Frau und Kind sehr prekär lebte, schließlich unter dem Druck der kapitalistischen Gesellschaft zusammenbrach und sich aus seinem Balkon hinunterstürzte. Auch ein weiterer Tod wird in der Performance behandelt. Ein völlig überarbeiteter 19-jähriger Mechaniker versuchte die Sicherheitstüren in Seoul, -Hauptstadt Südkoreas-, zu reparieren. Diese wurden konstruiert, um Menschen davon abzuhalten, sich vor Zügen zu werfen, was die herkömmlichste Art des Selbstmordes war. Er selbst kam dabei um, da er es unter dem Zeit- und Leistungsdruck nicht schaffte, rechtzeitig aus der Gefahrenzone zu kommen. Auch er starb unter dem Druck der Gesellschaft- „A society under pressure“ wie es Jaha Koo in seinem Stück öfters bezeichnet hatte. Zum Schluss presste er den Reis, den einer dieser Cuckoos kochte, in eine kleine Tupperbox und formte so rechteckige Blöcke, die er aufeinander stapelte. Dann knetete er ein kleines Männchen aus Reis und ließ es von dem aufgestapelten Block herunterstürzen. Das Licht erlosch, Dunkelheit. Die Performance war vorbei. Jaha Koo drehte sich kurz um, bevor er sich vor dem Publikum mehrfach verbeugte. An seiner Brille sah man, dass er sich noch schnell die Tränen abgewischt hatte. Das Publikum war sehr gerührt von der gesamten emotionalen Performance.

Doch „After Europe“ bot auch Performances an, die nichts mit De-kolonisierung zu tun hatten. Im Gegenteil, koloniale Praktiken und koloniale Wissensvermittlungen wurden bestärkt. Beispielsweise Pop-Up-Restaurant ToskaChina von Leone Contini, ein italienischer Künstler aus der Toskana. Er präsentierte Gemüse von chinesischen Einwanderern in der Toskana. Die italienische Bevölkerung in der Toskana fühlte sich von den chinesischen Einwanderern und ihrem Gemüseanbau bedroht. Beim Erstarken der rechtspolitischen Regierung in Toskana wurde dieses Gemüse von den rechten Politikern misstrauisch beachtet: „Das sieht so aus wie Spinat, aber ist das tatsächlich Spinat?“. Die Felder und Gemüse der Chinesen wurden zerstört, sie mussten für das weitere Anbauen von ihrem Gemüse hohe Gebühren für die Felder zahlen. Dies war der Moment für Leone Contini, dem weißen Retter. Er sprach über und für die chinesischen Einwanderer und über ihre Probleme. Das Publikum saß u-förmig vor ihm und schaute sich seine Präsentation und seine Fotos an, die ihn oft lächelnd mit einem chinesischer Einwanderer mit Gemüse in der Hand zeigten. Contini brachte stolz das Gemüse in seinem Koffer mit, frisch von der Toskana und ließ es im Publikum herumgeben, mit der Aufforderung, daran zu riechen und es anzufassen. Die Zuschauer*innen, vor allem die nicht-weißen Menschen im Publikum, schmunzelten, waren empört oder intervenierten: Zusätzlich zum Gemüse, das im Publikum herumgereicht wurde, gab einer der nicht-weißen Zuschauer*innen ein Brötchen und einen angebissenen Apfel herum, ebenfalls mit der Aufforderung, daran zu schnüffeln und es anzufassen. Andere zeigten ihren Protest, indem sie demonstrativ Desinteresse an der gesamten Performance zeigten und sich mit ihrem Smartphone beschäftigten. Während Contini redete, kochte außerdem eine Person aus dem Orga-Team des Festivals mit dem selben Gemüse Suppe, welche dem Publikum abschließend angeboten wurde. Die überwiegend weißen Zuschauer*innen stürmten los, um die Suppe mit diesem tollen Gemüse zu probieren. Die meisten nicht-weißen Zuschauer*innen blieben sitzen und betrachteten dieses traurige Schauspiel. Eine der Zuschauer*innen meinte hinterher: „Ich konnte das nicht essen. Es ist so widerlich. Ich hatte einen inneren Widerstand, diese Suppe zu essen. Das Kochen dieser Suppe und anschließende gemeinsame Essen war der Höhepunkt dieser exotisierenden Darstellung von Essen.“ Das i-Pünktchen dieses Elends war jedoch, dass der italienische Künstler Contini Gemüse an einen interessierten weißen Menschen verkaufte und sich dabei lächelnd einen 10 Euro-Schein einsteckte. Diese Performance reproduzierte aktiv koloniale Exotisierungen und Ausbeutungen von Körper, Sprache, Essen und Kleidung mit einem weißen Held im Zentrum. Es war ein Schock, eine große Enttäuschung und sehr verletzend für einige Zuschauer*innen.

De-kolonisierung wurde zudem auch als Trend von Julian Warner, Kurator des Festivals, kritisiert. Institutionen der Kunst und Bildung wollen sich angeblich de-kolonisieren, um sich einer diversen Öffentlichkeit zu öffnen. Damit also mehr Menschen teilnehmen können, wollen Institutionen das Bild von Akteur*innen und Zuschauer*innen diverser gestalten. Dabei missbrauchen Theaterhäuser allerdings nicht-weiße Künstler*innen als Vorhängeschild der de-kolonialen Praxis und betonen dabei die angebliche Chancengleichheit, dass diese sich ebenso ethnisch repräsentieren könnten. Ein diverses Bild von Akteur*innen und Zuschauer*innen zu gestalten ist notwendig, jedoch nicht ausreichend für die De-kolonisierung in einem weißen bürgerlichen deutschen Theater. Zusätzlich müssen Praktiken und Wirkweisen des weißen deutschen Theaters kritisch analysiert werden. Der erste Schritt dabei ist die grundsätzliche Kolonialität, -also Praktiken und Strukturen, die aus kolonialen Verhältnissen hervorgegangen sind und bis in die Gegenwart fortbestehen- in den performativen Künsten anzuerkennen. Das heißt, dass De-kolonisierung kein Projekt der Marginalisierten um Chancengleichheit ist. Die Chancengleichheit ist ein Teil des de-kolonialen Kampfes. Doch De-kolonisierung ist ebenfalls ein Aufruf, sich zu dekonstruieren, das heißt koloniale Handlungen und Denkweisen kritisch zu betrachten und zu verändern. „After Europe“ soll dabei als Aufruf, als Angebot, als Zustand und ebenso als Kritik der De-kolonisierung als aktuellen Trend verstanden werden.

#Titelbild: Chandrika Yogarajah

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Der faschistische, antisemitische, rassistische und patriarchale Anschlag auf eine Synagoge und einen Dönerladen in Halle kommt nicht aus dem Nichts. Unsere Autorin Theresa Bauer kennt den alltäglichen Wahnsinn der Stadt in Sachsen-Anhalt und kommentiert den Terror und die hallensischen Verhältnisse.

Was am Mittwoch geschah ist schrecklich. Ein Tag, an dem nicht nur die faschistischen Schergen von Erdogan Kurdistan bombadierten, sondern auch ein gewisser Stefan durch die kleine Saalestadt Halle rannte und „Juden und Kanaken“ umbringen wollte. Wenn das nicht klappen würde, es keine Moschee gäbe oder die Synagoge gut bewacht sei, dann müssten halt Linke oder Frauen dran glauben, oder einfach Irgendwer. So kam es dann auch. Es wurden keine Jüd*innen oder „Kanaken“ umgebracht, auch keine „Antifas“, sondern Kevin S., ein 20-jähriger Fußballfan, der das Pech hatte in einem Dönerladen zu sein und Jana L., eine 40-jährige Autogrammsammlerin, die in der Nähe der Synagoge zur Tramhaltestelle wollte. Beide waren zufällig an den besagten Orten und wurden traurigerweise zu den Opfern. Und dann kommen Seehofer und Stahlknecht, ihres Zeichens Innenminister, um vor der Kamera tief betroffen zu sein – eine offene Provokation. Seehofer und Stahlknecht, die beide aktiv den rassistischen und faschistischen Diskurs vorantreiben, den Nährboden für all jene düngen, für die faschistische und faschistoide Gewalt mehr als nur eine Fantasie ist.

Halle zählt etwa 230.000 Einwohner*innen, 30.000 davon sind Studis und der Innenstadtkern wirkt auf den ersten Blick auch eher beschaulich, als bedrohlich. Wären da nicht all diese Dinge, die immer wieder passieren, all diese Fascholäden, die sich zum Teil mitten in der Innenstadt befinden, das Haus der Identitären, Sven Liebig, der damals Blood and Honour und Combat 18 in Deutschland mitgründete. All die Faschos, die sich in den 90er Jahren organisierten, wie zum Beispiel Thomas Richter, besser bekannt als V-Mann Corelli aus dem NSU-Komplex, Beate Zschäpe, die in Halle zum Arzt ging und kurz vor Ihrer Verhaftung nach Halle kam – warum weiß keiner. Wären da nicht all die rassistischen Übergriffe, die rechte Staatsanwaltschaft, die immer wieder Faschos freispricht oder mit milden Strafen politische Statements setzt, die antisemitischen Verschwörungsheinis, die HFC-Hooligans, der Alltagsrassismus, den man als weiß gelesene Person gerne mal übersieht, die Burschenschaftshäuser, die Naziaufmärsche, der Übergriff vom 1. Mai letzten Jahres, wo Faschos mit Autos vermeintlich linke gejagt haben und mit Eisenstangen auf eine Wandergruppe eindroschen. Wäre da nicht die AFD, die gerne mal 23 Prozent der Wahlstimmen bekommt, wäre da nicht der alte Opa, der einen volllabert von den blöden Ausländern, wären da nicht Schüsse auf den Dönerladen in Halle Ost letzten März gewesen, wäre da nicht Halgida und die Proteste gegen Asylunterkünfte, wären da nicht die antifeministischen Übergriffe, die „Lesben-Fotze“ Rufe in der Tram, wären da nicht die Prepper und ganzen Altfaschos, die sich mehr und auch weniger ins Private zurückgezogen haben, wäre da nicht der sachsen-anhaltische Innenminister Stahlknecht, der an rassistischer Stimmungsmache und Jargon kaum noch Nebenbuhler findet, wäre da nicht Horst Seehofer, wären da nicht die Medien, die den rechten Diskurs aktiv fördern, wie die Mitteldeutsche Zeitung, DubistHalle und Sven Liebigs Verschwörungsblatt. Wäre da nicht die Polizei, die einen Fascho schützt während er neben einer Trauerkundgebung für die Opfer seine rechten Parolen schreit und gegen linke Gewalt wettert. Ja, wäre da nicht die deutsche Realität, wäre da nicht der Mittwoch gewesen, die jüdische Gemeinde gefangen in der Synagoge, der Dönerladen. Ja, wäre all die Scheiße nicht.

Es gibt sie aber, all diese Scheiße, und es gibt sie schon lange oder besser gesagt schon immer. Und es wurde auch schon immer darauf aufmerksam gemacht, es gibt schon lange Antifagruppen und es gibt schon lange den Kampf gegen diesen Wahnsinn. Nur wurde dieser Kampf bis jetzt immer belächelt, in Halle und überall und faschistische Strukturen totgeschwiegen oder einfach kleingeredet. Die letzten Jahre haben die Notwendigkeit einer antifaschistischen Organisierung überall in Deutschland, Europa und der Welt so deutlich gemacht, dass Passivität fast schon Unterstützung dieser ganzen Scheiße ist.

Und dann ist es immer noch „nur“ Halle. In Halle gibt es alternative Räume, eine migrantische Community, eine Synagoge, Menschen die sich engagieren. Das gibt es an vielen anderen Orten nicht. Nicht umsonst kommen viele Menschen, die eigentlich ihrer Auflagen wegen in den kleineren Orten außenrum leben müssten, wie etwa Naumbrug, Wittenberg, Eisleben usw. nach Halle, weil es hier erträglicher ist. Bei allen politischen Streitigkeiten wird die Phrase „Antifa ist Landarbeit“ und „Alle zusammen gegen den Faschismus“ immer wichtiger. Halle ist ein Moment in einer langen Reihe an Ereignissen, überall. Macht euer Maul auf, organisiert euch und an die anderen: All diejenigen, die diesen faschistischen Diskurs aktiv und passiv befeuern, – und das geht vom Messermann-Sprech zu der Forderung, Asylunterkünfte in Herkunftsländern einzurichten, von den Ankerzentren, zu den CDU Wählenden – all die, die sagen, es ist ja gar nicht so schlimm, die nicht auf die Idee kommen, mal eine jüdische Person oder eine person of color zu fragen, wie es sich hier so anfühlt zu leben: Fuck you!

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Vom 5. Oktober bis zum 15. November findet in Berlin der erste Antikoloniale Monat statt. Unter dem Motto „Widerstand ist Leben“ werden am 12. Oktober um 15 Uhr am Hermannplatz, der Tag an dem 1492 die brutale europäische Kolonisierung auf dem amerikanischen Kontinenten begann, viele zu einer großen Antikolonialen Demo zusammenkommen. Der 15. November markiert den Beginn der Berliner Kongo Konferenz im Jahr 1884, bei der von europäischen Kolonialmächten der afrikanische Kontinent aufgeteilt wurde.

Kämpfe im Globalem Süden sollen im Antikolonialen Monat mit den Widerständen gegen Grenzregime und Rassismus von migrantischen Gemeinschaften im Globalen Norden verbunden werden. Der Antikoloniale Monat bietet einen Rahmen für eine Vielzahl von Veranstaltungen, die von politischen Diskussionen über Tanzworkshops, musikalische Jam-Sessions bis zu Theateraufführungen reichen. Während des Antikolonialen Forums am vergangenem Samstag und Sonntag fanden dazu im Kreuzberger linksalternativem Projekt New Yorck Bethanien vier Podiumsdiskussionen, drei Workshops, eine Party und zahlreiche Gespräche am Rande statt.

Beim Podium zu Rassismus und Anti-Rassismus am Samstagmorgen wurde sich mit den materiellen Grundlagen und konkreten Folgen von drei Schlüsselformen von Rassismen in Deutschland auseinandergesetzt: anti-muslimischer, anti-Schwarzer und anti-jüdischer Rassismus. Dabei wurde mehrfach betont wie wichtig es ist, als rassistisch markierte Minderheiten in Deutschland, sich nicht voneinander trennen zu lassen und Perspektiven gemeinsamer Kämpfe zu fokussieren.

Bei dem Parallelpodium zur Verteidigung des Landes und der Umwelt erzählte Abel, Mitglied der Nationalen Indigenen Organisation Kolumbiens, über die Verteidigung des Territoriums im Norden der Cauca Region. Abel, der noch diese Woche zurück nach Kolumbien reist, erwartet eine harte Zukunft: „Ich weiß, dass ich sterben werde. Ich habe gesagt, was gesagt werden muss. Das ist die Realität von unserem Land und ich bin nur ein kleiner Teil davon“. Indigene und Schwarze Aktivist*innen werden in Kolumbien am laufendem Band unter der rechten Regierung Iván Duques ermordet, ohne irgendwelche Konsequenzen. Ferhat, von YXK, Dachverband der Studierenden aus Kurdistan in Europa, sprach über die Kontrolle des Wassers als Machtmittel in der Türkei um den Widerstand in Kurdistan zu zerschlagen. Bischof Ablon von der unabhängigen Philipponischen Kirche erläuterte, wie der Kampf der Lumad um ihr Territorium mit ökologischen Fragen zusammenhängt.

Der Workshop zu Imperialismus, Patriarchat und Natur behandelte im Zuge der aktuellen ökologischen Krise, wie beispielsweise im Hinblick auf die kriminell gelegten Waldbrände im brasilianischen Amazonasgebiet, das Verhältnis zwischen Kapitalismus, Imperialismus und Extraaktivismus zu verstehen ist. Erfrischend waren die klaren Imperialismusanalysen, sowie die Zentralität feministischer Kämpfe für ökologische Fragen, die in der Deutschen Debatte um die Klimakatastrophe wenn überhaupt nur am Rande behandelt werden.

Bei der abendlichen Diskussion zu Antikolonialen und anti-patriarchale Kämpfen kamen fünf Aktivistinnen aus Brasilien, Kaschmir, Kurdistan, Palästina und dem Sudan zusammen. Die politischen und wirtschaftlichen Interessen von Deutschland in den jeweiligen Regionen wurden genauso betrachtet, wie die Frage der politischen Zusammenarbeit. „Der Genozid an der Schwarzen und an der indigenen Bevölkerung findet jetzt in der Aktualität statt. Es ist die Kontinuität der Kolonie“ so die brasilianische Aktivistin Sandra Bello von QuilomboAllee. Auch Salma Ashraf erklärte, dass die Unterdrückung in Kaschmir nicht neu sei, sondern seit Jahrhunderten andauert – dass aber auch der Widerstand der Bevölkerung mindestens genauso alt ist. „Wenn Israel Gaza bombardiert, dann fragt es nicht ob sich da eine Frau oder eine LGBT Person in dem Gebäude aufhält. Palästinensische Frauen und LGBT sind genauso von den Bomben Israel betroffen wie alle anderen“ so Fidaa Zaanin, Aktivistin aus Gaza. Deswegen ist „Palästina eine feministische Angelegenheit“, so die Aktivistin. Die zeitgleiche Podiumsdiskussion zur Wirtschaftsordnung des gegenwärtigen Imperialismus behandelte die Beziehungen zwischen Imperialismus und Kolonialismus in den Philippinen, in Argentinien und in Deutschland.

Am Sonntag Vormittag drängten über 80 Menschen zum Internationalismus Workshop. Hier wurde die Solidarität mit der palästinensischen Befreiungsbewegungen in Deutschland verhandelt. In vier Kleingruppen wurden sehr offen die Grundlagen der Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen Kampagne, wie dessen internationalistische und intersektionale Ausrichtung, sowie Kritiken von links diskutiert. Es wurde klargestellt, dass die gängige Gleichsetzung von Anti-Zionismus mit Antisemitismus eine der größten Probleme für eine ernsthafte Debatte zu Palästina/Israel darstellen. Kritiken von links richteten sich an die individuelle Konsumkritik in der BDS oft mündet, sowie daran, dass sich BDS oft liberaler Argumente („Gewaltfreiheit“) berufe, auch wenn in Palästina eine koloniale Situation mit gewaltvoller kolonialer Unterdrückung herrsche. Linke, antikoloniale Palästina-Solidarität zeigt sich in verschiedensten Formen. Zum Beispiel drückt sie sich in Kämpfen palästinensischer Frauen, Queers und/oder Arbeiterinnen und Arbeiter, auch gegen die eigene herrschende Klasse in Palästina, aus.

Den Abschluss des zweitägigen Forums bildete eine offene Abschlussversammlung, die über weitere Zusammenarbeit und Vernetzung antikolonialer Kräfte in Berlin, Deutschland und weltweit sprach. Konkret soll eine Kampagne gegen die Deutsche Beteiligung an den Strukturanpassungsprogrammen des Internationalen Währungsfonds ins Leben gerufen werden, welche abhängige Staaten dazu zwingt, radikale Kürzungspolitiken durchzuführen, die zum Beispiel subventionierte Lebensmittel, aber auch das Mindesmaß an Krankenversicherung etc. angreifen – genau diese Politiken bringen aktuell Hunderttausende von Ecuador, über Haiti und Irak auf die Straßen.

Deutlich wurde, dass Gemeinschaften des Globalen Südens, sowie der europäischen Peripherie, unterschiedlichste Geschichten von Kolonialisierung, Versklavung und Genozid teilen. Gerade weil in linken politischen Diskussionen in Deutschland migrantische Kämpfe und antikoloniale Perspektiven vernachlässigt werden, ist der Antikoloniale Monat auch eine kritische Intervention in eine doch recht homogene linke Landschaft, die selten die Lebens- und Kampfrealitäten migrantischer und diasporischer Menschen in Deutschland zentriert.

# Eleonora Roldán Mendívil und Chandrika Yogarajah

# Titelbild: Daniela Carvajal, Instagram @aves_azules, Workshop im Bethanien

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