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Mordende und um sich schlagende Nazi-Skins in den 90ern – darüber wurde doch schon alles gesagt, höre ich Euch bei dieser Headline sagen, oder?

Es wurde viel gesagt, das stimmt. Aber so vieles schlummert noch in den Köpfen. In den Köpfen der Opfer, in den Köpfen der Angehörigen, in den Köpfen von uns Zeug*innen und hoffentlich auch in den Köpfen der Mörder*innen, die oft nur eine milde Haftstrafe bekamen oder einfach so davon kamen.

Mich bewegt diese Zeit auch noch 30 Jahre später. Deswegen möchte ich Euch meine Geschichte erzählen.

Mein Baseballschlägerjahr spielte sich eigentlich erst 1995 ab, aber ich kann mich noch gut daran erinnern, als Mutti und ich an einem Sommertag 1992 mit unserem Ford Fiesta in unseren Schrebergarten nach Lichtenstein/Sachsen fuhren. Ich wuchs in Westsachsen auf – zwischen Chemnitz und Zwickau – dem Sumpf in dem der NSU entstand. Ich war damals 14 und mein kleiner Bruder war 5 und nahm an diesem Tag auf dem Rücksitz Platz. Papa war nicht dabei und ich durfte den Beifahrer mimen.

An der Eisenbahnunterführung in Sankt Egidien fuhr unser Auto direkt in einen wütenden Mob grüner Bomberjacken und Mutti ging hart auf die Eisen. Es waren bestimmt 50 Boneheads mit Baseballschlägern. Ich wusste zwar um die Existenz dieser Nazisubkultur, die Pogrome in Hoyerswerda und Rostock Lichtenhagen waren präsent – aber in der Nähe unseres Dorfes? Mutti wurde sichtlich nervös, das merkte ich sofort. Wir bekamen Beachtung und ernteten böse Blicke, da Mutti, wie gesagt, beinahe in den Mob gebrettert war. Ich hatte Angst, checkte aber, dass deren tatsächliche Wut nicht uns galt, sondern wem anders. Ich löcherte Mutti den Rest des Tages mit Fragen. Sie antwortete, dass es in Sankt Egidien ein „Asylantenheim“ in unmittelbarer Nähe des Bahnhofs gab und dass scheinbar Nazis aus dem Umland mit dem Zug kamen, um das Camp anzugreifen. Sankt Egidien nahm damals Bürgerkriegsflüchtende aus dem ehemaligen Jugoslawien auf. Es kann sein, dass die Lokalzeitung „Freie Presse“ am Montag darauf in einer Randnotiz über den Überfall berichtete.

Wenige Monate später entdeckte ich Punk als Subkultur und begann mich darin zu verlieben. Meine Anwesenheit im Leipziger „Conne Island“ lehrte mich, dass es auch RASH und SHARPS in der Skinhead-Bewegung gab. Ich kleidete mich der linken Subkultur entsprechend. Ich sog Hardcore-Musik und Deutschpunk auf. In unserer Dorfdisko in Falken bekamen Freunde regelmäßig von Zwickauer Nazihools auf die Fresse, lagen zusammengeschlagen im Dorfbach und entkamen nur knapp dem Tod. Ich bekam auf dem Limbacher Stadtparkfest von der „Legion88“ „lediglich“ ’ne Ohrfeige. Irgendwie hatte ich immer Glück.

Ich lernte das „Café Taktlos“ in Glauchau und die „Alte Schule“ in Kändler mit den Punx vom „Autonomen Brenn-Kommando“ kennen. Westsächsische „Antifa-Brutstätten“ – direkt neben HooNaRa-Chemnitz (Hooligans-Nazis-Rassisten, die in sämtlichen Großraumdiskotheken als Firma „Haller Security“ Bouncer stehen hatten, oder das Pressefest der „Freien Presse“ sicherten. In den späteren 90ern dann gewährten sie dem NSU-Trio Unterschlupf) und der „Glatzenhochburg“ Meerane. Dieses Wort stand da jahrelang über dem Ortseingangsschild. Es gab Gerüchte, dass die Meeraner Faschos einen verrückten Blood & Honour Typen namens Billy aus UK bei sich hatten, der in der Nazidisco Remse immer mit Machete bewaffnet war.

Ich bewunderte den Mut von meinen Antifakumpels „Abbas“, „Fanta“ und „Van Gogh“ aus diesen Brutstätten. Ich ziehe noch heute meinen Hut vor ihnen, denn sie retteten Leben. Was Nazigewalt in dieser Zeit betrifft war man auf sich gestellt. Es gab keine Cops -vor allem nicht im sächsischen Hinterland. In der Übergangszeit 1990 bis 1992 gab es zwar noch den ein oder anderen ex-Abschnittsbevollmächtigten (ABV), der mit neuer Cop-Uniform auf altem Schwalben-Moped tagsüber für Sicherheit sorgte, aber sonst gab es nix.

In Städten wie Penig oder Chemnitz wurden bei RAC-Konzerten („Rock against Communism“) schon damals Gelder für den „Nationalsozialistischen Untergrund“ generiert, so wissen wir jetzt. Im beschaulichen Waldenburg fanden in den Wäldern Wehrsport-Übungen für Nazis statt. „Manole“ (Ralf Marschner) aus Zwickau spitzelte für den Verfassungsschutz und war Arbeitgeber für Mundlos und Zschäpe. Bandmitglieder von Nazibands wie Bomber tauchten auf unseren Konzerten auf. Es gab Diskussionen, Handgemenge und immer wieder auf die Fresse. Irgendwie ertrugen wir das alles. Wer Arsch in der Hose hatte, teilte aus.

Der 25. Mai 1995 aber war härter, traumatisierender und prägender. Es war einer „dieser 90er-Jahre-Männertage“ (Christi Himmelfahrt). Eigentlich wussten „wir“, dass wir bspw. Badestätten an diesem Sauf- und Rüpeltag mit garantierter Faschoglatzen-Präsenz meiden sollten. Aber das Wetter an dem Tag war so schön, dass auch ich mit meinen Hiphop-Kumpels auf einer Decke am Strand des Stausee Oberwald saß. Aus den Boxen lief leise 2Pac, die Birken blühten, ein warmer Wind wehte, die Sonne schien. Um uns herum waren Dutzend weitere Decken und glückliche Gesichter so weit das Auge reichte. Einige gingen baden. Wir alle kannten irgendwie einander. Fast unsere gesamte Schulklasse war auf diversen Decken verstreut. Es wurde laut gelacht.

Dann gegen Mittag gab es diesen Moment, den ich heute noch glasklar vor Augen habe. Wir saßen nicht weit von der Promenade entfernt und auf selbiger erblickte ich circa 30 Meter entfernt einen Typen mit Ganzkörper-Badeanzug in schwarz-weiß-rot und 20-Loch Doc Martens. Die Glatze spiegelglatt, eher muskelbepackt. Einen Baseballschläger in der Rechten. Er hatte locker ein Dutzend weitere Typen mit Baseballschlägern um sich herum. Sie schlenderten nicht, sondern gingen eher straight. Irgendwie schienen sie ein Ziel vor Augen zu haben. Um uns war es binnen zwei Sekunden totenstill. Wir vernahmen kein Windwehen mehr, 2Pac hörte auf mit Rappen. Das Lachen aller verstummte. Die Blicke aller auf den Decken Anwesenden wandten sich in Richtung Schlägertrupp. Alle ahnten, was uns blühen könnte.

Vorne an der Spitze ging ein weitaus jüngerer Typ und aus ihm schoss es auf sächsisch raus „Der wor’s!“. Er deutete mit seinem Zeigefinger auf eine Clique von circa drei Typen, die unweit von uns auf einer Decke saßen. Dann ging alles ganz schnell und das Dutzend rannte die verbliebenen 10 Meter auf selbige Clique zu.

Die Baseballschläger zeigten in Richtung Himmel. Ich erinnere mich nur noch, dass einer aus dem Dutzend in unsere Richtung rannte und uns wegscheuchte mit den Worten „Haut ab – hier gibt’s nüscht zu sehn!“. Im Nachhinein fiel mir auf, dass er so verdammt souverän war. Er lachte sogar irgendwie verschmitzt. Er hatte Null Panik. Er sah die Angst in unseren Augen -da bin ich mir sicher. Er machte dies auf alle Fälle nicht zum ersten Mal.

Meine Freund*innen und ich rannten in verschiedene Richtungen und von dem Zeitpunkt an erinnere ich mich an gar nichts mehr. Ich weiß nicht, wie ich nach Hause gekommen bin oder was ich in den nächsten Tagen erlebt habe.

Aus der angegriffenen Clique überlebte Peter T. diese Attacke nicht. Er wurde 24 Jahre alt, starb wenig später im Krankenhaus und hinterließ eine Partnerin und das gemeinsame Baby.

Peter wurde ermordet.

Wie wir später erfuhren, war er ein eher unpolitischer Typ und hatte wohl am Morgen „lediglich“ Zivilcourage gezeigt, als dieser erwähnte jüngere Typ Teppichhändler*innen mit Migrationsgeschichte auf der Promenade beschimpfte. Diese Widerworte wollte sich die Jungglatze wohl nicht gefallen lassen und holte wenige Stunden später Verstärkung.

Ich fahre heute noch an diesen Tatort und ich gedenke Peter. Es gibt keine Gedenktafel, aber viele Jahre später wurde der Mord von der Bundesregierung als „Todesopfer rechtsextremer Gewalt“ anerkannt.

Die Zeug*innen-Vernehmung in der Bullenwache Hohenstein-Ernstthal dauerte viele Monate. Wir waren locker über 150. Ich erinnere mich daran, dass ich mich durch eine Fotomappe von circa 100 Glatzen wälzte. Ich meinte, mich an die Schlägervisage des Badeanzug-Skins zu erinnern und so wurde ich dann als Zeuge zur Verhandlung geladen. Diese fand erst ein knappes Jahr später statt. Da es so viele Angeklagte mit Pflichtverteidiger*innen gab, fand die Verhandlung im Polizeikino Chemnitz statt. Unter den Angeklagte waren viele, die ich aus Antifarecherche kannte. Viele davon aus der „Glatzenhochburg“ Meerane. Viele meiner Freund*innen sagten auch aus. Keine*r von uns hatte gesehen, wer den letztendlich tödlichen Baseballkeulenschlag ausübte. Wir wurden trotzdem geladen.

Die Gerichtsdienerin bat mich bei Betreten des Gerichtssaals mein Basecap abzunehmen. Ich wollte meine Dreadlocks verstecken, um nicht als Zecke wahrgenommen werden. Ich hatte Angst. Unmittelbar neben mir saß UK Billy auf der Anklagebank. Er musste es sein. Er hatte diese Tattoos, die damals keine Kartoffel haben konnte.

Meine Anschrift wurde vom Richter verlesen. Sämtliche Anwält*innen schrieben mit. Ich hatte noch mehr Angst. Ich musste frontal auf der Kinobühne Patz nehmen, da ich bei meiner früheren Aussage ja zu Protokoll gegeben hatte, einen erkannt zu haben. Vor mir bauten sich nach und nach alle Angeklagten auf. Ich traute mich nicht, ihnen in die Augen zu schauen. Ich hatte unbeschreibliche Angst. Es zog sich über 15 Minuten. Ich erkannte niemanden, auch nicht den Badeanzug-Fascho. Der Richter entließ mich aus dem Zeug*innenstand. Mir zitterten die Knie. Da ich der letzte Zeuge vor der Mittagspause war, gab er noch durch das Mikro bekannt, dass jetzt 30 Minuten Mittagspause anstehe und die Verhandlung unterbrochen sei.

Alle standen zeitgleich auf und steuerten die einzige Ausgangstür an. Sie schienen Hunger zu haben. Ich suchte nach der Gerichtsdienerin. Ich bildete mir wahrscheinlich ein, dass sie in dem Moment meine Bezugsperson sei. Ich wusste nicht, was ich jetzt machen soll. Ich war wie gelähmt. Ich fragte eine random sächsisch-Person im Raum, was ich machen soll: „Nu mir ham jetze Mittogspause. Gehn könn se. Uff wiedorsehn“. Dann ging ich durch diese Ausgangstür und direkt davor fand ich mich inmitten des Mobs wieder. Sie umringten einen Bauchladen-Bockwurstmann. Kein Scheiß! Einer der Boneheads klopfte mir auf die Schulter und flüsterte leise „Gut gemocht Kleenor!“ in meine Richtung. Ich ging zu meinem Auto und weinte.

Billy musste drei Jahre und 10 Monate ins Gefängnis. Er hatte scheinbar Vorstrafen. Alle anderen wurden freigesprochen. Es wurde natürlich nicht ermittelt, wer den tödlichen Schlag verpasste. Eine damals angeklagte Person ist heute in der „Glatzenhochburg“ ein angesehener Mensch in der Zivilgesellschaft, so wurde mir zugetragen. Viele wissen um seine Vergangenheit. Er sei ein guter Arbeitgeber. Ich hoffe, dass auch er sich an den „Männertag 1995“ so glasklar erinnert wie meine Freund*innen und ich.

Auf einem Klassentreffen 2022 erzählten wir Zeug*innen einander unsere Wahrnehmung 30 Jahre nach dem Vorfall und es tat so gut zu reden. Eine Freundin sagte mir, dass sie jedes Mal, wenn sie das Kind von Peter sieht, an diesen Tag erinnert wird. Ich hoffe, dass Ihr Eure Wahrnehmung auch ein bisschen in meinen Zeilen wiederfindet? Denn ich habe diese Zeilen auch für Euch geschrieben.

Ruhe in Frieden Peter!

Hupe (Februar 2023)

# Titelbild: Del Zomber

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Es ist erstaunlich ruhig geworden um den so genannten Neukölln-Komplex. Zeitweise berichteten die Medien in großer Aufmachung über die rechtsterroristischen Anschläge, die in dem Berliner Bezirk vor allem von 2016 bis 2019 für Angst und Schrecken sorgten. Dass vor dem Amtsgericht Tiergarten im August der Prozess gegen zwei mutmaßliche Haupttäter der Anschlagserie begonnen hat, die Neonazis Sebastian T. und Thilo P. (36 und 39 Jahre alt), sorgte zwar noch mal für Berichterstattung. Aber das Thema wurde eher pflichtgemäß abgehakt – zumindest bei den bürgerlichen Blättern und Sendern. Es waren, wie so oft, linke Zeitungen und Portale, die sich darum bemühten, die Hintergründe aufzuhellen. Etwa auf den Umstand hinzuweisen, dass sich die Ermittlungen zu der Anschlagsserie jahrelang hinzogen, während es bei linken Angeklagten oft sehr schnell geht.

Für etwas Aufregung sorgte der Umstand, dass das Amtsgericht Tiergarten zuerst Ferat Kocak, der für die Linkspartei im Abgeordnetenhaus sitzt und einer der Betroffenen der Anschlagserie ist, nicht als Nebenkläger zuließ. Gleich zweimal lehnte die Vorsitzende Richterin einen entsprechenden Antrag ab. Seltsame Begründung: Der Linke-Politiker habe „keine körperlichen und seelischen Schäden“ davongetragen. Offenbar hielt es die Richterin für nicht weiter gravierend, dass Kocaks Auto in der Nacht des 1. Februar 2018 direkt vor dem Haus seiner Familie in Flammen aufging und zeitweise die Gefahr bestand, dass das Feuer auf das Haus übergreift. Und wie sich herausstellte, hätte eine Gasleitung explodieren können.

Zum Glück hatte das Landgericht Berlin als höhere Instanz ein Einsehen. Am 26. August kassierte es den Beschluss des Amtsgerichts und entschied, dass Ferat Kocak im Prozess zur Anschlagsserie doch als Nebenkläger auftreten darf. Damit war ein erneuter Antrag des Linke-Politikers erfolgreich. Zur Begründung führte Kocaks Anwältin, Franziska Nedelmann, unter anderem an, dass den Angeklagten T. und P. im Falle der Brandstiftung zu Lasten ihres Mandanten möglicherweise ein versuchtes Tötungsdelikt vorzuwerfen sei. Es sei nur einem glücklichen Zufall zu verdanken gewesen, dass die Gasleitung an der nahegelegenen Garage der Kocaks nicht durch die Flammen erfasst worden sei.

Das Landgericht Berlin schloss sich dieser Argumentation in seinem Beschluss teilweise an. Eine Tötungsabsicht der Angeklagten, so heißt es in dem Beschluss laut dem Rundfunksender rbb, sei „nicht so fernliegend“, als das dem geschädigten Kocak der Zugang zum Prozess als Nebenkläger verwehrt werden könne. Drei Tage später begann vor dem Amtsgericht Tiergarten der Prozess gegen die beiden Hauptangeklagten aus der Neonaziszene. Der Berliner Generalstaatsanwaltschaft wirft T. und P. unter anderem Bedrohung, Brandstiftung beziehungsweise Beihilfe dazu sowie das Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen vor. Nach Überzeugung der Berliner Generalstaatsanwaltschaft sollen die beiden Angeklagten versucht haben, Menschen einzuschüchtern, die sich gegen Nazis engagieren.

Mitte September meldete die Deutsche Presse-Agentur, dass im Prozess das Verfahren gegen einen dritten Angeklagten abgetrennt worden. Im Fall des 38-Jährigen, dem Sachbeschädigung vorgeworfen wird, wolle das Amtsgericht bereits am diesem Mittwoch zu einem Urteil kommen. Gegen die beiden Hauptangeklagten werde die Verhandlung am 24. Oktober mit ersten Zeugen zu Brandanschlägen auf Autos von zwei Männern fortgesetzt. Geladen sei auch Kocak als einer der Betroffenen. Im Prozess habe sich das Gericht zunächst mit dem angeklagten Komplex zu Aufklebern und Zetteln sowie aufgesprühten Parolen mit „rechtsextremistischen Inhalten“ im Jahr 2017 befasst. Dem 38Jährigen, dessen Verfahren nun abgetrennt wurde, werde die Beteiligung an 17 solcher Vorfälle zur Last gelegt. Ursprünglich sei der Prozess gegen fünf Beschuldigte geplant gewesen, so die Agentur. Das Verfahren gegen einen 48Jährigen sei jedoch wegen Krankheit abgetrennt. Gegen einen 50 Jahre alten Mitangeklagten sei wegen Sachbeschädigung in zwei Fällen eine Geldstrafe von 900 Euro per Strafbefehl ergangen. Dagegen habe er allerdings Einspruch eingelegt. Für den Prozess gegen P. und T. seien vier weitere Tage bis Ende November vorgesehen.

Während also die mutmaßlich für die Anschlagsserie verantwortlichen Neonazis endlich vor Gericht stehen, befasst sich parallel ein Untersuchungsausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses mit dem Neukölln-Komplex. Am 16. September war Ferat Koçak geladen. Er schilderte vor dem Ausschuss, wie viel Glück seine Eltern und er hatten, dass sie noch rechtzeitig aus dem Haus gekommen waren. Koçak sprach vor dem Ausschuss auch von Todesangst in der Tatnacht, wie er gegenüber dem Lower Class Magazine berichtete. Die Flammen des brennenden Autos seien bereits bis zum Dach des Wohnhauses hochgeschlagen, als sich die Familie habe retten können.

Zu diesem Zeitpunkt habe er noch gar nichts von der Gasleitung in der Garage gewusst, die zu explodieren drohte. Nur fünf Minuten später, so habe ihm ein Feuerwehrmann gesagt, wären er und seine Familie nicht mehr so zügig aus dem Haus gelangt. Diese Bilder aber blieben. Stets wachsam und in Alarmbereitschaft sei er seit dem Anschlag. Er habe die Abgeordneten gefragt: „Wie würden Sie sich fühlen, wenn sie immer damit rechnen müssten, dass jemand einen Molotowcocktail durch die Scheibe wirft und die Eltern im eigenen Haus verbrennen?“ Dann habe er dem Ausschuss berichtet, dass er noch in der Tatnacht von einem Streifenbeamten nach „seinen Wurzeln“ befragt worden sei und ihm gesagt worden sei, dass der Brand auf einen „türkisch-kurdischen Konflikt“ zurückzuführen sein könnte. Kocak: „Dabei hätte ein Blinder mit Krückstock sehen müssen, dass der Anschlag auf mich und meine Familie einen rechten Hintergrund hatte.“

In Sicherheitsgesprächen mit dem Landeskriminalamt sei es aber fast nur um ihn selbst gegangen – sein politisches Engagement, seine „Kennverhältnisse“, seinen Tagesablauf. „Mir wurde vermittelt, dass keine unmittelbare Gefahr für mich bestehe“, erklärte Kocak gegenüber LCM: „Das war absolut widersinnig, denn auf der anderen Seite bekam ich vom LKA Verhaltenstipps, die genau das Gegenteil suggerierten: dass ich zum Beispiel Wegstrecken ändern oder den Schlafort regelmäßig wechseln sollte.“

Von Torsten Akmann, Staatssekretär der Senatsverwaltung für Inneres, sei er im Ausschuss „angemacht worden“, erklärte Kocak weiter. Auslöser war, dass Kocak zuvor konstatiert hatte, dass die Polizei ein „Nazi-Problem“ habe. „Akmann hat sich darüber aufgeregt, dass ich damit einen Vergleich mit der dunkelsten Zeit der deutschen Geschichte gezogen hätte“, sagte Kocak: „Ich werde aber weiterhin Nazis Nazis nennen. Davon hält mich keiner ab.“ Noch unangenehmer als Akmanns Empörung sei für ihn bei der Befragung im Ausschuss aber das Vorgehen des AfD-Vertreters Antonin Brousek gewesen. Der ist – interessantes Detail am Rande – übrigens Richter am Amtsgericht a. D., wie es auf der Homepage des Abgeordnetenhaus heißt.

„Armselig“ nannte Kocak den Auftritt des Mannes in der Befragung. Dieser habe sich ereifert, dass er ihm doch den Namen seiner Eltern zu nennen habe, damit sie als Zeugen geladen werden könnten. „Ich bin natürlich nicht darauf eingegangen“, so Kocak, „daraufhin hat der AfD-Vertreter versucht, ein Ordnungsgeld zu erwirken, was aber durch den Ausschussvorsitzenden zurückgewiesen wurde.“ Der AfD-Mann habe natürlich provozieren wollen, er habe sich aber nicht aus der Reserve locken lassen, so Kocak gegenüber LCM.

Als weiterer Zeuge trat der Gewerkschafter Detlef Fendt in der Ausschusssitzung vom 16. September auf, der ein Jahr vor dem Anschlag auf Kocak bereits vom rechten Terror betroffen war. Er und seine Frau leben bis heute in der Neuköllner Hufeisensiedlung. In ruhigen, knappen Worten, beschrieb Fendt seine Erfahrungen. Sein Auto stand am 23. Januar 2017 auf der Straße in der Nähe des Wohnhauses in Flammen. Ein Nachbar habe ihn damals mit den Worten geweckt: „Du komm mal, dein Auto brennt.“ Kurz zuvor hatte das Auto der Neuköllner Bezirksstadträtin Mirjam Blumenthal von der SPD gebrannt. Fendt habe daraus geschlossen: „Ach, jetzt bist du dran.“ Schon zuvor waren neben seinem Gartentor Aufkleber der NPD und der Identitären Bewegung aufgetaucht. Fendt macht deutlich, was der Anschlag mit ihm gemacht hat: Seine Kinder trauten sich nicht mehr, bei ihm zu übernachten. Die Nazis beobachteten ihn weiter, erinnerten ihn regelmäßig daran, dass es sie noch gebe. Er lebe heute nicht mehr so unbefangen.

Im Mai 2022 brannte das Auto einer jüdischen Nachbarsfamilie. Diese war bereits am 9. November 2021 durch ein Hakenkreuz auf dem Gartentor „markiert“ worden. Fendt ist sich sicher, dass der rechte Terror schlicht weitergehe. Er berichtete dem Ausschuss, dass er des öfteren Anrufe auf dem Festnetz erhalte, wo sich niemand melde und dann einfach auflege: „Wer ist so hart, dass er das alles so durchzieht? Das gibt schon irgendwo nen Knick“, erklärte Fendt.

Wie Kocak berichtete auch der Gewerkschafter über sein mangelndes Vertrauen in die Behörden. Ihm sei vom Staatssekretär Akmann immer signalisiert worden, dass alles „ganz kurz vor der Aufklärung sei“ – doch bis heute ist nichts aufgeklärt. Fendt bemängelte, dass den Worten der politisch Verantwortlichen nichts Substanzielles folge: „Der Staatssekretär war bei uns, um zu sagen, dass die Staatsanwaltschaft die Fälle zusammenlegt. Da geht man zweimal hin, ein drittes Mal und dann kann man das nicht mehr hören“, sagte er im Ausschuss.

# Titelbild: Kim Winkler, 7. November 2020 – Demonstration „Rechte & rassistische Strukturen in Staat & Gesellschaft bekämpfen!“ in Berlin

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Am 13. November steht die nächste bundesweite Mobilisierung der Neonazis von der Kleinstpartei „Der III. Weg“ ins bayerische Wunsiedel an. Entgegen des schwachen Trends bei antifaschistischen Gegenprotesten zeichnet sicht bei Veranstaltungen des „III. Wegs ein anderes Bild, zuletzt am 03. Oktober 2020: Viele Teile der radikalen Linken kamen zusammen, um einen bundesweiten Aufmarsch der Neonazis zu verhindern. Mit einer der größten antifaschistischen Protestaktionen in Berlin seit Jahren konnte der Aufmarsch teilweise militant begleitet und letztendlich auf wenige hundert Meter verkürzt werden. Der „III. Weg“ ist für viele Antifaschist:innen ein rotes Tuch.
Dabei stellt sich die Frage: Wie gefährlich ist die Kleinstpartei? Auf welche Strukturen können die Neonazis zurückgreifen und was kann ihnen entgegengesetzt werden?

Inszenierte Medienaktionen

Ein wichtiger Aspekt der Parteiarbeit von „Der III. Weg“ ist der Wunsch nach medialer Aufmerksamkeit. Deswegen sind viele ihrer Aktivitäten notdürftig inszenierte PR-Spektakel, die auf der eigenen Homepage aufgeblasen werden – teilweise mit Erfolg. Im Kontext der Bundestagswahl 2021 etwa lieferten ihre Plakate mit der Aufschrift „Hängt die Grünen“ den gewünschten Schockeffekt. Die anschließende öffentliche Empörung brachte die Partei bundesweit in die Medien; ein durchaus wohlwollender juristischer Umgang tat sein Übriges. So urteilte beispielsweise das Amtsgericht Chemnitz, dass die Plakate nicht grundsätzlich strafbar seien. Sie müssten nur im Abstand von 100 Metern zu Grünen-Plakaten aufgehängt werden.

Diese Strategie der inszenierten Medienaktion ist nicht neu. Bereits zur Europawahl 2019 erzielte die Partei mit der Plakatekampagne „Reserviert für Volksverräter“ ein ähnliches Echo. Medien und Justiz machen sich so zu willkommenen Wahlkampfgehilfen einer strukturschwachen Kleinstpartei, die beispielsweise 2021 nur sehr eingeschränkt zur Wahl antrat. In Berlin reichte sie nicht einmal einen Wahlvorschlag ein.

Erst vor wenigen Wochen landete „Der III. Weg“ erneut in den Schlagzeilen. Anlass war ein sogenannter „Grenzgang“ am 23. Oktober. Die Neonazis wollten so die öffentliche Diskussion um die steigenden Zahlen von Geflüchteten, die über Polen versuchen in die Bundesrepublik zu gelangen, für sich nutzen. Sie riefen dazu auf, mit Nachtsichtgeräten und Taschenlampen an der polnischen Grenze von Brandenburg Geflüchtete abzufangen. Vorbild hierfür dürften einerseits die Demonstrationen der österreichischen Identitären in Spielberg 2015 gewesen sein, bei denen sie sich als „menschliche Grenze“ inszenierten. Andererseits erinnert die Aktion an die von faschistischen Bürgerwehren in Bulgarien organisierten Grenzpatrouillen. Allerdings hat der „III.Weg“ weder die Mobilisierungskraft der Identitären noch die paramilitärische Erfahrung der Bürgerwehren. Die Brandenburger Polizei stellte in der Nacht trotzdem 50 Personen fest, die dem Aufruf gefolgt waren. Laut Medienberichten hatten die Neonazis Pfefferspray, Schlagstöcke und sogar eine Machete und ein Bajonett dabei. Hinter den PR-Aktionen der Partei steht also ein reales Gewaltpotential. Doch das ist nicht erst seit diesem Jahr bekannt.

Der III. Weg“ – von der Gründung bis heute

Die Gründung der Partei vor acht Jahren war eine Reaktion auf die Verbote vieler Neonazikameradschaften. Parteien sind, wie das immer wieder gescheiterte Verbot der NPD zeigt, wesentlich schwieriger zu verbieten, als Vereine oder inoffizielle Vereinigungen. Seit Beginn versteht sich „Der III. Weg“ explizit als „Bewegungspartei“ und damit als Alternative zur NPD, deren Entwicklung zur Wahlpartei szeneintern kritisiert wurde. Ehemalige NPD-Funktionäre gehörten ebenso zu den Gründungsmitgliedern, wie Personen aus dem mittlerweile verbotenen Kameradschaftsnetzwerk „Freies Netz Süd“.

Kennzeichnend für die politische Arbeit vom „III. Weg“ sind die strengen Hierarchien, sowie ein betont soldatisches Selbstverständnis. So fordert die Partei von ihren Mitgliedern in Parteikontexten auf Alkohol und andere Drogen zu verzichten. Öffentlichen Auftritte sind geprägt von geordneten Fahnenreihen und Marschtrommeln. Zudem strebt die Partei eine weitestgehende Uniformierung der Anwesenden in der offiziellen Parteikleidung an.

Ein weiterer wichtiger Teil der Parteiarbeit sind Sportangebote. Vor allem im Bereich des Vollkontaktkampfsportes ist „der III. Weg“ mit faschistischen Sportler:innen und Vereinen gut vernetzt. Mitglieder vom „III. Weg“ treten regelmäßig auf Neonazi-Kampfsportveranstaltungen in der Bundesrepublik und darüber hinaus an.

Insgesamt hat „Der III. Weg“ in der gesamten Bundesrepublik aber nur wenige hundert Mitglieder, die vor allem bei bundesweiten Aufmärschen zusammenkommen. Regionale und lokale Aktivitäten sind weitaus schlechter besucht. Organisatorische Zentren sind das sächsische Vogtland und das Siegerland in Nordrhein-Westfalen. In Plauen und Siegen betreibt die Partei eigene Räumlichkeiten, in denen zwar Hausaufgabenhilfen oder Sportangebote stattfinden. Eine nennenswerte Anschlussfähigkeit über die lokalen Rechtsradikalen hinaus ist jedoch nicht zu erkennen. Insgesamt herrscht an vielen Standorten der Partei vor allem ein Mangel an Räumen und aktiven Mitgliedern. So beschränken sich die öffentlichen Aktivitäten der Partei oft auf das großflächige Verteilen von Propaganda. Regelmäßig treffen sich beispielsweise Mitglieder der Berliner und Brandenburger „Stützpunkte“ zum Flyern. Bekannte Hotspots der Aktivitäten sind vor allem die Wohnorte einzelner Partei-Kader, wie in Berlin der Lichtenberger Weitlingkiez oder Hellersdorf. International ist die Partei bei aller Schwäche von Basisarbeit trotzdem gut vernetzt. Sie unterhält beispielsweise Kontakte zu der politischen Bewegung, die dem ukrainischen Neonazi-Regiment ASOV nahesteht.

Eine Reihe von Anschlägen in Neukölln und gewaltbereite Neonazis

Die öffentlich bekannten Aktivitäten sind jedoch angesichts dessen, was die bekannten Mitglieder der Partei treiben, harmlos. Denn im III. Weg sammeln sich vor allem gewaltbereite Neonazis aus ehemaligen Kameradschaften, die in der NPD keine Perspektive mehr sehen. Ein Beispiel ist der ehemalige NPD-Aktivist Sebastian Thom aus Berlin. Er war bereits in den 2000ern Hauptakteur beim „Nationalen Widerstand Berlin“. Das „NW Berlin“ genannte Netzwerk führte u.a. Aktionen und Outings gegen politische Gegner:innen durch. Mit seinem im letzten Jahr bekannt gewordenen Wechsel zum „III. Weg“ reiht sich Thom in eine langen Liste (Ost-)Berliner Neonazis vom „NW Berlin“ ein.

In den vergangenen Jahren gerieten Thom und sein Umfeld immer wieder durch Brandanschläge und andere Angriffe auf politische Gegner:innen ins Visier der Ermittlungsbehörden. So auch am 1. Februar 2018, als das Auto des LINKEN-Politikers Ferat Kocak in Neukölln in Brand gesetzt wurde. Die Flammen schlugen von der Garage fast in das Wohnhaus über, in dem Ferat Kocak und seine Eltern schliefen. Doch sie hatten Glück, bemerkten den Brand rechtzeitig und überlebten.

Der Brandanschlag schlug erheblich Wellen, denn er hätte verhindert werden können: Die Berliner Polizei wusste von den Brandvorbereitungen. Bereits seit Januar 2017 wurde Thoms Handy vom Verfassungsschutz abgehört. Sie hörten mit, wie er mit seinem Komplizen Tilo Paulenz – damals noch Funktionär der AfD Berlin-Neukölln – Ferat Kocak ausspionierte. Knapp zwei Wochen vor der Tat informierte der Verfassungsschutz die Berliner Polizei von den Planungen. Diese reagierte nicht. Im Nachhinein behauptete die Behörde, Ferat Kocak nicht gewarnt zu haben, da die Schreibweise des Namens nicht bekannt gewesen sei. Deshalb hätten sie ihn nicht in ihren Datenbanken gefunden. Trotz zahlreicher Indizien, die auf Thom und Paulenz als Täter in dieser Sache hinweisen, wurde ihnen bisher nicht der Prozess gemacht. Zwischenzeitlich wurde sogar der ermittelnde Staatsanwalt vom Fall abgezogen, weil eine ideologische Nähe zu den Verdächtigen vermutet wird. Es scheint letztendlich so, als sei vor allem Thom ein regelrechtes Justizwunder und könnte unbeirrt mit Angriffen fortfahren. Sein Bewegungswissen stellt er nun dem „III. Weg“ zur Verfügung.

Ungeklärte Brandanschläge in Spandau

Weitere mögliche Verknüpfungen zwischen militanten Angriffen auf linke Strukturen und dem Spektrum vom „III. Weg“ sind die Vorfälle rund um das alternative Hausprojekte Jagow 15 in Berlin-Spandau. Im April 2021 kam es dort zu zwei Brandanschlägen. Kurz darauf folgte eine Bombendrohung gegen das Haus. Schon seit Januar 2021 mehrten sich Naziparolen und -symbole an der Hausfassade. Zudem berichteten Bewohner:innen von zunehmenden Problemen mit Neonazis im Kiez. Eine von ihnen ist Lilith E.. Sie lebt in Spandau und blickt auf eine lange Laufbahn in der Berliner Neonazi-Szene zurück. Bereits vor Jahren fiel sie bei der Reichsbürgergruppe „Gelbe Westen Berlin“ auf. Inzwischen ist sie auf jeder Aktivität des „III. Weg“ in Berlin anzutreffen. Doch auch internationale Neonazi-Events werden von ihr besucht. Sie nahm u.a. am extrem rechten „Ausbruch-Marsch“, einer extrem rechten „Gedenkveranstaltung“ an die „Schlacht um Budapest“, teil. Um der Wehrmacht zu huldigen laufen dabei jedes Jahr hunderte Neonazis aus ganz Europa – vermummt und überwiegend in Tarnfleck gekleidet – über 60 Kilometer durch die Nacht.

Lilith E. ist ein fester Teil vom „III. Weg“. Sie scheint vor allem in der Jugendarbeit der Partei aktiv zu sein und ist regelmäßig mit jugendlichen Anwärtern unterwegs, wie der Neonazi-Jugendgruppe Division MOL. E. lebt nicht weit weg von der Jagow 15 und war bereits in der Vergangenheit gegenüber einer Hausbewohnerin aggressiv. Zudem tauchten vor und nach den Brandanschlägen immer wieder Sticker des „III. Wegs“ rund um das Haus auf. Das zeigt zumindest, dass E. und ihre Kameraden nach dem Brandanschlag vorbeikamen, um die Gegend zu markieren. Trotz dieser Hinweise und der vielen Anhaltspunkte für ein rechtes Motiv der Anschläge, verdächtigte die Polizei zunächst einen Hausbewohner, was sich im Nachhinein als vollkommen haltlos herausstellte.Gegen E. nun eine mögliche Beteiligung von Neonazis des „III. Weg“ wurde hingegen nicht ermittelt.

Der „III. Weg“ als Deckmantel eines militanten Faschismus?

Wie gefährlich ist also „Der III. Weg“? Die oftmals stümperhafte Medienarbeit darf nicht darüber hinweg täuschen, dass er vielleicht die wichtigste überregionale Neonazi-Struktur in der Bundesrepublik ist. Die Kleinstpartei braucht keine Wahlerfolge. Gemäß dem Selbstverständnis als „Bewegungspartei“ eines „revolutionären nationalen Sozialismus“ steht die lokale Organisierung und überregionale Vernetzung von faschistischen Akteur:innen im Vordergrund ihrer Politik. Für eine gelingende Parteiarbeit trotz vergleichsweise geringer Mitgliederzahlen, sowie der Schwäche zahlreicher Parteistützpunkte braucht „Der III. Weg“ vor allem öffentliche Aufmerksamkeit. Diese soll durch gezielte PR-Aktionen sowie die Präsentation jeder noch so kleinen Aktivität der lokalen Strukturen hergestellt werden. Dabei spielen Medien, Justiz, aber auch antifaschistische Strukturen allzu oft das Spiel der Faschist:innen mit.

Das wahrscheinlich wichtigste Standbein der politischen Arbeit vom „III. Weg“ sind aber die bundesweiten Demonstrationen. Neben der Außenwirkung dienen diese vor allem dazu, den wenigen hundert Parteimitgliedern bundesweit das Gefühl zu geben, zu einer neonazistischen „Kampfgemeinschaft“ zu gehören. Die ein bis zwei bundesweiten Demonstrationen pro Jahr sind aber alles, was „Der III. Weg“ in diesem Bereich organisatorisch leisten kann und die erfolgreiche Brechung dieser Selbstdarstellung durch Antifaschist:innen macht diese Anstrengungen zunichte.

Trotz allem finden bekannte Kader sowie oftmals militante Aktivist:innen aus Kameradschaften, NPD und sonstigen Neonazistrukturen in der Partei einen Anlaufpunkt. Mit ihren Kontakten in die bundesdeutsche wie internationale Neonaziszene sowie einem über die Jahre erworbenen Wissen und entsprechenden Fähigkeiten bilden diese Kader das Rückgrat der Partei. Im Moment ist die Partei ein Deckmantel, hinter dem sich ein militanter Faschismus organisieren kann, insbesondere die Anschlagsserien von Berlin-Neukölln und Spandau, deren Spuren direkt in die Parteistrukturen führen, zeigen das. Dieses Potential und die Gefahr, die vom III. Weg ausgeht, darf nicht unterschätzt werden. Deshalb sind frühzeitige antifaschistische Interventionen gegen den „III. Weg“, seine Akteur:innen und Aktivitäten weiterhin notwendig.

# Titelbild: © Tim Mönch, Aufmarsch vom „III. Weg“ am 1. Mai 2019 in Plauen

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Ihre Anführer scheuen oft das Licht der Öffentlichkeit, doch sie besitzen immense Macht. Konten gefüllt mit Milliarden aus Geschäften, die in aller Herren Länder verrichtet werden; tausende Untergebene, die auf Gedeih und Verderb dem Richterspruch der Männer und Frauen an der Spitze ausgeliefert sind; sie blicken oft auf eine mehr als hundertjährige Geschichte krimineller Machenschaften zurück, sind für Millionen Tote mitverantwortlich: Deutsche Kapitalisten-Clans.

Diese Reihe widmet sich den Superreichen der Bundesrepublik, die den traditionsreichen „Familienunternehmen“ vorstehen, von der Politik jeder Couleur hofiert werden und so gut wie nie zum Gegenstand wutbürgerlichen Aufbegehrens werden. Teil eins der Serie widmete sich der Familie Quandt/Klatten, Teil zwei drehte sich um das Schaeffler-Imperium; in Teil drei ging es um die Brose Fahrzeugteile SE & Co. KG; Teil vier widmete sich den Reimanns.

In Bielefeld steht die Rudolf-Oetker-Halle. Die ortansässigen Philharmoniker spielen dort auf, es finden Lesungen statt, die Halle ist denkmalgeschützt. Die Stadt bewirbt den „viel geschätzten Veranstaltungsort“ unter anderem wegen seiner „hervorragenden Akustik“. Der Namenspatron des Konzerthauses, Rudolf Oetker, war Sohn von August Oetker, dem Gründer des Pudding-Imperiums der heutigen Oetker-Gruppe. Als Erbe stand Rudolf dem 1891 gegründeten Familienkonzern vor, der bis heute eins der größten deutschen Traditionsunternehmen ist. Den Grundstein des heutigen Milliardenkonzerns bildete Backpulver, das sich, vermarktet mit dem professionellen Anstrich durch Doktortitel des Unternehmensgründers, bestens verkaufte. Sohnemann Rudolf Oetker starb 1916 während des Ersten Weltkrieges bei Verdun, nur kurz nachdem er in das Unternehmen eingetreten war. Die Familie stiftete die Bielefelder Konzerthalle, 1930 wurde sie eröffnet.

In der Heimatstadt des Multis, Bielefeld, steht – in Laufnähe zur Rudolf-Oetker-Halle – eine weitere Halle: die Bielefelder Kunsthalle. 1968 eröffnet und durch die Familie Oetker gestiftet hieß sie bis 1998 Richard-Kaselowsky-Haus. Richard Kaselowsky, den Rudolf Oetkers Witwe Ida Oetker nach dessen Tod geheiratet hatte, war glühender Nazi, Mitglied der NSDAP (wie auch Ida Oetker) und ab 1941 der Waffen-SS – und von 1920 bis zu seinem Tod 1944 Geschäftsführer des Konzerns. Der Oetker-Chef gehörte darüber hinaus auch dem „Freundeskreis Reichsführer SS“ an, in dem sich etliche deutsche Industrielle zusammengetan hatten und der unter anderem viele Millionen Reichsmark an den SS-Chef spendete.

Dass die Kunsthalle den Namen des bekennenden Nazis Kaselowsky trug, war keineswegs unumstritten. 1968 tobte um die Namensgebung der sogenannte „Bielefelder Kunsthallenstreit“, die lokale 68er-Bewegung mobilisierte sich darum herum, die Eröffnung war von Protesten begleitet. Denn dass Kaselowsky ein Nazi gewesen war, wusste man in der Stadt sehr wohl. „Nach dem Kaselowsky-Haus die Himmler-Uni?“, stand beispielsweise auf den damaligen Protestplakaten.

Über die Grenzen der Stadt hinaus hingegen war der Öffentlichkeit lange nur wenig über die Verstrickungen des Oetker-Clans in den deutschen Faschismus bekannt. Kaselowskys Stiefsohn Rudolf-August Oetker, der 1944 die Konzernleitung übernommen hatte, verhinderte zeitlebens jede Aufklärung. Deswegen stand Oetker lange nur für reaktionär-heimelige Nachkriegs-Pudding-Werbung, Kuchenrezepte oder die Ristorante-Fertigpizza und nicht für die gegenseitige Unterstützung von NS und deutschem Kapital

Zumindest im Kleinen änderte sich das vor wenigen Jahren, als auch größere Medien über die braune Vergangenheit des Konzerns berichteten. Anlass war, dass die Oetker-Familie den Historiker Andreas Wirsching mit einer Studie zu diesem Thema beauftragt hatte, die 2013 publiziert wurde. Noch später als viele andere Konzerne betrieb Oetker damit das, was in Deutschland „Aufarbeitung“ genannt wird. Nicht nur Rudolf-August Oetker war da bereits seit sieben Jahren tot, sondern auch die meisten Überlebenden der Zwangsarbeit, von der auch Oetker profitiert hatte.

Kein Blatt Papier“, Arisierungsprofiteure & Zwangsarbeit

In einem Interview mit dem Spiegel im Jahr 2013 anlässlich der Veröffentlichung dieser 400-seitigen Studie fasste es Wirsching so zusammen: „Zwischen Oetker und das NS-Regime passte kein Blatt Papier. Das gilt für die Familie wie für das Unternehmen. Wir haben keinen einzigen Beleg für eine Abgrenzung gefunden.“ Bemerkenswert ist dabei, dass die Oetkers in der Studie als in keiner Weise außergewöhnlich beschrieben werden: Kaselowsky sei zwar kein reiner Opportunist, sondern überzeugter Nazi gewesen, doch sei er damit laut Wirsching „ein typisches Beispiel für den fließenden Übergang von national-liberalem Bürgertum zu den Nationalsozialisten“. Wie viele andere habe er sich „von einem eher nationalliberalen Standpunkt aus nach rechts orientiert (…), die nationalsozialistische Alternative erschien als Chance“.

Diese „Chance“ wussten Konzernleitung und Familie zu nutzen, um Profitinteressen zu befriedigen, aber auch das eigene Sozialprestige zu steigern. So war Oetker ab 1933 mehrfach Nutznießer von sogenannten Arisierungen, am Beginn des Einstiegs ins Brauereibusiness etwa – bis heute ein Oetker-Geschäftsbereich – stand der Erwerb der Brauerei Groterjan, deren jüdische Besitzer brutal enteignet worden waren. Oetker war zudem in großem Stil oder auch mit kleineren Aktienpaketen an diversen Firmen beteiligt, die erheblich von Zwangsarbeit profitierten – wie an der Nähmaschinenfabrik Kochs Adler oder der Chemischen Fabrik Budenheim – ebenso wie an Firmen, die – wie der Schuhhersteller Salamander mit seinen „Schuhläufer-Kommandos“ – KZ-Häftlinge foltern ließen. Im Jahr 1937 war Oetker eines der ersten Unternehmen, das als „Nationalsozialistischer Musterbetrieb“ ausgezeichnet wurde. Kaselowsky, der als Oetker-Geschäftsführer auch über die im Familienbesitz befindlichen „Westfälischen Neuesten Nachrichten“ verfügte, war laut der Wirsching-Studie „sofort bereit“, die einflussreiche bürgerliche Zeitung auf Bitte des Gauleiters hin „an die Partei abzutreten“.

Eine besondere „Chance“ ergab sich überdies für das Kerngeschäft der Oetkers – die Lebensmittelproduktion – durch die Aufrüstung und den 1939 begonnenen Krieg: „Bei Dr. August Oetker erkannte man, dass sich hier ein vielversprechendes Geschäftsfeld eröffnete“ – gemeint ist die Verpflegung der Wehrmacht, für die Oetker eng mit dem Heeresverpflegungsamt kooperierte. 1943 gründeten die SS, Oetker und die Hamburger Phrix-Werke gemeinsam die Hunsa-Forschungs-GmbH in Hamburg zur Entwicklung und Herstellung unter anderem von Nährhefe. Die Phrix war eines der ersten privatwirtschaftlichen Unternehmen, das – in Neuengamme – über ein eigenes KZ-Außenlager verfügte. Kaselowsky wusste – da ist sich der Historiker Wirsching sicher – genau, dass für das gemeinsame Unternehmen Zwangsarbeiter*innen und KZ-Häftlinge ausgebeutet wurden.

In Litauen und Dachau

Auch Kaselowskys Stiefsohn Rudolf-August Oetker, Jahrgang 1916, war ein überzeugter Nazi. Er war Mitglied der NSDAP und folgte Kaselowsky 1942 in die Waffen-SS. Mit der Wehrmacht war Oetker im Herbst 1941 längere Zeit in dem kleinen Städtchen Varėna in Litauen stationiert, kurz nachdem dort 831 Juden, darunter 149 Kinder, ermordet worden waren. In der Wirsching-Studie heißt es, es sei sehr unwahrscheinlich, dass Oetker während seines Aufenthalts in Varėna nichts von diesem Massenmord erfahren habe. Nach seiner Rückkehr und dem Ausscheiden aus der Wehrmacht machte Oetker eine kleine Karriere in der Waffen-SS, unter anderem besuchte er die SS-Verwaltungsführerschule, die zur SS-Kaserne des Konzentrationslagers Dachau gehörte. 1944, nach Kaselowsys Tod, stieg er an der Firmenspitze auf und konnte seine Tätigkeit dort – nach einer kurzzeitigen Internierung nach Kriegsende und offizieller „Entlastung“ durch einen Entnazifizierungsausschuss im Jahr 1947 – fortsetzen. Gegen die Firma war zudem eine Vermögenskontrolle verhängt und ein bis 1947 tätiger Treuhänder eingesetzt worden, der allerdings sehr eng und offenbar teilweise auch entgegen seiner von der britischen Militärverwaltung vorgesehenen Rolle mit Oetker zu dessen Gunsten zusammengearbeitet haben soll.

Richard Kaselowsky und Rudolf-August Oetker sind nur zwei Angehörige des großen Oetker-Clans. Auch andere – etwa die eingangs erwähnte Ida Oetker sowie deren Tochter, Rudolf-Augusts Schwester Ursula Oetker, waren NSDAP-Mitglieder. Die beschriebenen Unternehmungen sind ebenfalls nur ein Ausschnitt der tiefen geschäftlichen Verstrickungen des weiterverzweigten Familienkonzerns in den deutschen Faschismus. Auch nach dem Krieg bestand ein Teil der in der NS-Zeit geknüpften Netzwerke für Oetker fort.

Aufarbeitung zur Imagepflege

Warum wurde dennoch, auch nach dem Tod des Patriarchen Rudolf-August Oetker, noch zwei Jahre lang im Kreise der Familie kontrovers diskutiert, ob man eine historische Studie zur Vergangenheit überhaupt in Auftrag geben sollte? Warum hat niemand der acht Kinder Rudolf-August Oetkers bereits vor dessen Tod eine solche vehement und öffentlich eingefordert und unabhängigen Historiker*innen Zugang zu den Archiven gewährt? Oftmals heißt es, die Firmenpatriarchen seien in vielen der traditionellen deutschen Industriellen-Familien nun einmal die Verhinderer der Aufklärung gewesen (Subtext: da kann man nix machen), die nachfolgenden Generationen hingegen offen für eine solche. Am Ende aber sind es die viel zu selten thematisierten ökonomischen Interessen und öffentlicher Druck, die – gegeneinander abgewogen – viel eher zu solchen späten Studien geführt haben dürften wie jene, die die Oetker Familie 2009 schließlich in Auftrag gab. Denn für ernsthafte Entschädigungszahlungen war es da in aller Regel längst zu spät. Der Imagepflege indes (und damit auch wieder dem Profitstreben) ist eine solche firmenfinanzierte Studie dann doch zuträglich.

Apropos Entschädigungen: Wegen der vielen da schon nachgewiesenen Beteiligungen an Firmen, die Zwangsarbeiter*innen und KZ-Häftlinge ausgebeutet hatten, zahlte auch Oetker im Jahr 2000 in den seinerzeit von Bundesregierung und einer Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft aufgesetzten gemeinschaftlichen Entschädigungsfonds ein: Er umfasste insgesamt zehn Milliarden DM, fünf Milliarden DM davon hatten die Unternehmen eingezahlt. Ein Klacks im Vergleich zu den Vermögen, die die beteiligten Familien besitzen. Und ein Klacks im Vergleich zu den 180 Milliarden DM vorenthaltenen Löhnen, die deutsche Industrielle einer Rechnung des Wirtschaftshistorikers Thomas Kuczynski zufolge Zwangsarbeiter*innen schuldeten. Entschädigungen waren wohlgemerkt in der Rechnung Kuczynskis noch gar nicht enthalten.

Den Oetkers geht es heute wirtschaftlich sehr gut – und ihre „Aufarbeitung“ wurde in der Tat vielfach anerkennend rezipiert. In verschiedenen Rankings der reichsten Deutschen landet die Oetker-Familie mit einem Vermögen von geschätzten sieben Milliarden Euro stets auf einem der vorderen Plätze. Die Oetker-Gruppe erzielt Unternehmensangaben zufolge zudem einen Jahresumsatz von 7,4 Milliarden Euro, 34.000 Menschen arbeiten für den Konzern. Dass dieser wirtschaftliche Erfolg nicht zuletzt auf der engen Zusammenarbeit mit dem NS aufbaut, gerät vor lauter Pudding und Verklärung zum Traditionsunternehmen allzu oft in Vergessenheit.

Zuletzt geriet Oetker – in Wirtschaftsblättern – in die Schlagzeilen mit einem Mega-Deal in der Getränkelieferdienstbranche. Und bei gewerkschaftlich interessierten durch die damit verbundenen Lohndumping-Methoden: Das Unternehmen Durstexpress, das zur Oetker-Familie gehört, hatte Ende Januar Hunderten Fahrer*innen und Lagerarbeiter*innen gekündigt und ihnen nahegelegt, sich nach der Kündigung beim Lieferdienst Flaschenpost neu zu bewerben – einem ehemaligen Konkurrenten, der mittlerweile auch zu Oetker gehört, aber seine Angestellten zu deutlich ungünstigeren Arbeitsbedingungen und niedrigeren Löhnen beschäftigt.

Und Bielefeld? Dort ist der Streit um den Einfluss der Oetkers und den Umgang der Stadt mit deren Nazi-Vergangenheit nie wirklich abgeebbt. Noch drei Jahre nachdem das Kunsthaus den Beinamen Richard-Kaselowsky-Haus verlor, wurde – 2001 – auf Wunsch des damals noch lebenden Rudolf-August Oetker eine Bielefelder Straße nach Kaselowsky benannt. Es war ein Geburtstagsgeschenk der Stadt an ihren wohl (einfluss)reichsten Sohn. Erst 2017 wurde der Straßenname wieder gestrichen – da war die Wirsching-Studie schon lange publiziert.

# Titelbild: Richard Kaselowsky und Hermann Göring 1937;
Foto: Walter Chales de Beaulieu; Logo Gemeinfrei; Montage LCM

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Ihre Anführer scheuen oft das Licht der Öffentlichkeit, doch sie besitzen immense Macht. Konten gefüllt mit Milliarden aus Geschäften, die in aller Herren Länder verrichtet werden; tausende Untergebene, die auf Gedeih und Verderb dem Richterspruch der Männer und Frauen an der Spitze ausgeliefert sind; sie blicken oft auf eine mehr als hundertjährige Geschichte krimineller Machenschaften zurück, sind für Millionen Tote mitverantwortlich: Deutsche Kapitalisten-Clans.

Diese Reihe widmet sich den Superreichen der Bundesrepublik, die den traditionsreichen „Familienunternehmen“ vorstehen, von der Politik jeder Couleur hofiert werden und so gut wie nie zum Gegenstand wutbürgerlichen Aufbegehrens werden. Teil eins der Serie widmete sich der Familie Quandt/Klatten, Teil zwei drehte sich um das Schaeffler-Imperium; in Teil drei ging es um die Brose Fahrzeugteile SE & Co. KG.

Wer sich auf Spurensuche nach den reichsten Deutschen begibt, der muss ein paar Klippen umschiffen. Die Reimanns haben in diesem Jahr mit einem Familienvermögen von 32 Milliarden Euro die Spitzenposition im Milliardärs-Ranking des Manager-Magazins erobert und sind trotzdem nur schwer zu finden. Keine Fotos. Keine Videos. Keine näheren Angaben zu den Personen hinter den Milliarden. Stattdessen „Die Reimanns“ eine deutsche Auswandererfamilie in Texas und Personal einer Vorabendserie auf RTL II. Was? Das sollen die reichsten Deutschen sein? Natürlich nicht. Erst mit dem Zusatz „Unternehmerfamilie“ kommt man der Sache näher und stößt in diesem Zusammenhang dann auch auf die JAB Holding Company s.à r.l., die laut Wikipedia die Vermögenswerte der deutschen Unternehmerfamilie Reimann verwaltet.

Zu diesem Firmenkonglomerat gehören unter anderem Mehrheitsbeteiligungen am Parfümhaus Coty und dem Kaffeehersteller Jacobs Douwe Egberts, Anteile an Reckitt Benckiser – einem Großkonzern, der Reinigungsmittel herstellt -, sowie zahlreiche weitere Beteiligungen, die so gut wie alles umfassen, was man in einer gut sortierten Drogerieabteilung so kaufen kann plus noch mehr Kaffee – und Teemarken.

Gegründet wurde das Unternehmen, aus dem die spätere Holding hervorgegangen ist, im Jahr 1851 als sich der Salmiakhüttenbesitzer Joh. A. Benckiser mit dem Chemiker Ludwig Reimann zusammentat und beide eine gemeinsame GmbH mit Sitz in Ludwigshafen aus der Taufe hoben.

Mit Hitler zur Marktmacht

Richtig Fahrt aufgenommen hat die Firma allerdings erst in den 1930 Jahren als Albert Reimann senior, der Enkel von Ludwig Reimann, die Leitung des mittelständischen Chemieunternehmens übernahm. Er und sein Sohn Albert Reimann junior waren bekennende Nationalsozialisten und stellten ihr Unternehmen schon im Jahr 1933, direkt nach Hitlers Machtübernahme, als NS-Musterbetrieb auf. Durch den Einsatz von mehreren hundert Zwangsarbeiter:innen gelang der Firma ein wirtschaftlicher Aufstieg, der selbstverständlich in die junge Bundesrepublik hinüber gerettet werden konnte.

Albert Reimann junior, der für seine Grausamkeit insbesondere gegenüber Zwangsarbeiterinnen bekannt war, gelang sogar das Kunststück, sich als Opfer des Nationalsozialismus auszugeben, obwohl er nach Angaben der New York Times gute Kontakte zu den Größen des Nazi-Regimes unterhielt. So schrieb er im Jahr 1937 an Heinrich Himmler persönlich: „Wir sind ein über hundertjähriges, rein arisches Familienunternehmen. Die Inhaber sind unbedingte Anhänger der Rassenlehre.“

Darüber hinaus war der Jurist und Richter Reimann senior von 1937 bis 1941 Präsident der Industrie- und Handelskammer für die Pfalz, die ebenfalls ihren Anteil an der Arisierung von jüdischem Eigentum hatte, was einer späteren Mitgliedschaft im Beirat der Wirtschaftskammer Ludwigshafen nicht im Wege stand – plus zahlreicher Ehrungen für seinen Sohn. Dieser erhielt zum Beispiel im Jahr 1963 das große Bundesverdienstkreuz und im Jahr 1973 das große Bundesverdienstkreuz mit Stern.

Nach all dem muss man allerdings ein bisschen graben, denn was an Artikeln über die Reimanns auf den Seiten der Wirtschaftsjournaille zu finden ist, strotzt nur so vor Bewunderung gegenüber der unfassbaren Kapital-Akkumulation. Und selbst das Mainstream-Magazin Galileo ist sich nicht zu schade, ein Propagandavideo über die Reimanns zu produzieren, in dem die unternehmerische Spitzenleistung der Chemiefabrikanten aus der Pfalz gewürdigt wird, die selbstredend allesamt natürlich gar nicht mehr in der Pfalz wohnen – doch dazu später mehr.

Kein Wort in diesem Schmierenstück der Hofberichterstattung über die Zwangsarbeiter:innen oder arische Musterbetriebslösungen. Kein Wort zu den ganz persönlichen Ausrastern von Opa und seinen Lügen, stattdessen das Märchen vom ehrbaren, deutschen, mittelständischen Betrieb, der Anfang der 1980er Jahre fast pleite gegangen wäre und beinahe von der internationalen Konkurrenz von Nestlé, Unilever, Procter Gamble und Konsorten geschluckt worden wäre.

Peter ohne Socken und Sakko

Doch dann tritt er auf, der Mann, der seit den 1980ern die Reimanns in der Öffentlichkeit repräsentiert. Das Gesicht der Familie. Der Manager. Der Retter. Peter Harf betritt die Bildfläche oder wie er den Reporter von Galileo wissen lässt: „Sie können ruhig Peter zu mir sagen.“

Soviel Ungezwungenheit beeindruckt die bürgerliche Presse und auch die Wirtschaftswoche kriegt sich in einem Portrait über den Topmanager ob dessen unkonventioneller Lockerheit kaum ein: „Kein Sakko, keine Socken: Der oberste Reimann-Vermögensverwalter Harf pfeift auf Konventionen. Der Kunststoffboden vor dem Aufzug wirkt blass und abgetreten. Das Büro im Londoner Stadtteil Belgravia ist offen wie ein Loft, das Parkett stammt aus dem Baumarkt, und die langen Schreibtischplatten aus weißem Acryl sehen aus wie vom Möbeldiscounter Ikea. Wenn dann der Chef zur Begrüßung Sakko-frei und in Slippern ohne Socken daherkommt und persönlich den Kaffee holt, ginge JAB glatt als junge Internet-Bude durch.“ Hach, wenn man da nicht mitmachen will.

Schaut man sich das Geschäftsgebaren des Peter Harf allerdings näher an, so erkennt man schnell, dass dieser Typ keine Gefangenen macht, oder wie die Welt im Jahr 2014 voller Bewunderung schreibt: „Derzeit ist der 68-Jährige dabei, mit der von ihm geführten JAB Holding einen der größten Kaffeekonzerne der Welt aus dem Boden zu stampfen. Jacobs Douwe Egberts, so der Name der neuen globalen Nummer zwei nach Nestlé, wird vom Start weg mehr als fünf Milliarden Euro umsetzen. Mit Senseo gehört der Erfinder von Kaffeepads dazu, mit Tassimo einer der schärfsten Rivalen von Nestlé im Kapselgeschäft.“ Müll hat einen Namen – Nestlé; und seit ein paar Jahren eben auch Jakobs Douwe Egberts.

Da das Kaffeegeschäft zum damaligen Zeitpunkt keinen Marktführer hatte, auf der anderen Seite aber ein Markt ist, der nicht von heute auf morgen einbricht, hat sich JAB, verstärkt durch Milliardenkredite, daran gemacht das Feld aufzurollen. Denn, das weiß ja schließlich jeder – mit der größeren Marktmacht kriegt man auch die besseren Konditionen und man kann billiger einkaufen. Die Kaffeebauern und Bäuerinnen werden Luftsprünge gemacht haben, als sie das gehört haben.

Und so geht das mit jedem Markt, den der Peter ins Visier nimmt. Ob Luxusgüter wie die Schuhmarke Jimmy Choo, den Parfumhersteller Coty oder auch pharmazeutische Produkte. Das Prinzip ist immer das gleiche. JAB mischt mit, steigt ein, kauft auf und konsolidiert.

Kein Wunder deshalb, dass die Holding mit ihrem Stammhaus Reckitt Benckiser auch in den US-amerikanischen Opioid-Skandal verwickelt war. Eine Meldung, die man übrigens nicht unbedingt in den einschlägigen Wirtschaftsblättern finden konnte, sondern lediglich in der Tageszeitung junge welt. Am 25.10.2019 schrieb das Blatt: „Der britische Konsumgüterkonzern »Reckitt Benckiser«, zu dem bis 2014 laut Handelsblatt (Donnerstagausgabe) die Pharmafirma »Indivior« gehörte, hat sich im Streit mit US-Bundesstaaten um das unsachgemäß vermarktete opioidhaltige Medikament »Suboxone« auf einen Vergleich geeinigt. Das Unternehmen habe im Rahmen des Kompromisses eine Zahlung von 700 Millionen Dollar (629 Millionen Euro) akzeptiert, teilte New Yorks Generalstaatsanwältin Letitia James am Mittwoch mit. In den USA sind zwischen 1999 und 2017 fast 400.000 Menschen an den Folgen von Opioidmissbrauch gestorben.“

Zu Corona-Zeiten verdienen die Reimanns übrigens auch prächtig an ihren diversen Hygiene Artikeln wie Sagrotan und darüber hinaus wird gerade in den Bereich Tierkliniken und Tiermedizin investiert. Ein Markt, der Analysten zufolge jährlich um vier bis fünf Prozent wächst und zudem weniger reguliert ist als andere Segmente des Gesundheitsbereichs. Den Dienstleistungen und damit auch den Einnahmen von Privatkliniken und Privatärzten sind kaum Grenzen gesetzt, der Forschung ebenfalls. Große Konzerne wollen davon profitieren und können den Markt zudem als Testfeld für weitere Expansionen in Richtung Humanmedizin nutzen. Mal schauen, was da noch auf uns zukommt.

Überraschend bei diesen ganzen, weltumspannenden Transaktionen ist eigentlich nur, dass man die Leute, die dahinter stecken tatsächlich kaum kennt und dass sie es geschafft haben, die Fassade des kleinbürgerlichen Familienunternehmens aufrecht zu erhalten. Auch Peter Harf wird im nationalen Ranking der Supermanager auf einige Hundert Millionen geschätzt, schließlich ist er Teilhaber an den von ihm geleiteten Unternehmen. Im Gespräch mit der Welt antwortet er auf die Frage, ob das Vermögen der Reimanns richtig eingeschätzt wird, aber ganz bescheiden: „Es geht uns gut.“

Diese vor sich her getragene Bodenständigkeit ist es wahrscheinlich, was die Reimanns so unsichtbar erscheinen lässt. Dabei lässt Harf keinen Zweifel daran, dass sein großes Vorbild weder der „ehrliche Kaufmann“ noch die Tüftlerin aus dem deutschen Mittelstand ist. Sein Vorbild heißt Warren Buffet, den er bei der „Schlacht um Avon“ kennen gelernt hat, wie sich „die Welt“ auszudrücken pflegt. „Warren Buffett ist für mich ein Vorbild“, sagt Harf, „der sich durch die Wucht seines enormen Vermögens nicht verbiegen hat lassen und es dennoch – oder gerade deswegen – stetig vermehre.“ Der Mann, der den „Klassenkampf von oben“ führt, als unbeugsamer und charakterfester Geldvermehrer mit Augenmaß – damit identifizieren sie sich gern, die Reimanns und Peters dieser Welt.

Günstig aufgearbeitet

Dass es mit der vermeintliche Bodenständigkeit aber gar nicht so weit her ist, versteht sich in diesem Universum fast von selbst. Entgegen der Legende der heimatverbundenen Chemiefabrikant:innen aus der Pfalz leben die Erben heute in der Schweiz, in Österreich oder Italien. Warum? Na weil sich dort Erbschaft- und Unternehmenssteuern besser optimieren lassen als hierzulande – normaler Move.

Ebenso normal in diesem Zusammenhang erscheint dann letztendlich auch, dass sich Familie Reimann sage und schreibe ganze 70 Jahre lang Zeit gelassen hat, um die eigene Familiengeschichte aufzuarbeiten. Doch auch hier sucht der Clan den Schulterschluss mit der deutschen Otto-Normal-Familie. Wie andere Unternehmerdynastien auch, die ebenfalls von Sklavensystem der Zwangsarbeit im NS-Regime profitiert haben, behauptet man ganz einfach, dass man von nichts gewusst habe und lässt die berufenen Akademiker:innen balsamische Worte finden. So sagt der von der Unternehmerfamilie Quandt beauftragte Historiker Joachim Scholtyseck in einem Beitrag des Deutschlandfunks: „Man kann sich eben vorstellen, in einer Familie ist es schmerzhaft, sich von so einem Bild zu lösen, dass der Großvater eben doch ein ganz großer Held gewesen sei. Und ein solcher Ablösungsprozess ist niemals ganz einfach und kann auch nicht ganz einfach sein. Ich weiß das aus meiner eigenen Familie. Und es gibt eben sicherlich genügend andere Beispiele.“ Verständnis für die Täter, selbst wenn diese als Fabrikbesitzer Zwangsarbeiterinnen nackt vor ihren Baracken haben stramm stehen lassen, sie bei Widerstand sexuell missbrauchten, sie in ihren eigenen Privatvillen misshandelt haben oder Kriegsgefangene während der Bombennächte aus den Bunkern jagen haben lassen. Dass der Opa dann auch noch nach oder während dem Krieg eine Affäre mit einer jungen Frau beginnen konnte, deren Vater als Jude deportiert und vermutlich in einem KZ ermordet wurde und aus dieser Verbindung dann auch noch drei uneheliche Kinder hervorgingen, macht die Geschichte in den Augen der bürgerlichen Presse zu einer „besonders tragischen Geschichte“, weil sich da Opfer und Täter vermischen. Dass Opa Albert auch noch Jahrzehnte später erzählen konnte, die französischen und belgischen Zwangsarbeiter hätten bei ihm immer Wein bekommen und geweint, als sie gegen Kriegsende die Firma verlassen mussten – das ist eine Farce.

„Wir waren sprachlos und weiß wie eine Wand“, so schildert Peter Harf in einem Stern-Interview die Situation, als die von der Familie bestellten Historiker:innen 2019 die Ergebnisse der Ahnenforschung präsentierten. Nicht ohne anzumerken, dass man dann nun doch sehr erleichtert sei, „dass es jetzt raus ist.“ Umgehend wurde dann auch angekündigt, dass man 10 Millionen Euro an eine entsprechende Organisation spenden wolle, um ehemalige Zwangsarbeiter zu entschädigen und außerdem hat man die familieneigene Benckiser Stiftung in Alfred Landecker Stiftung umbenannt, nach dem verschwundenen jüdischen Vater von Emilie Landecker, der Geliebten von Albert Reimann junior. Diese soll sich der Erforschung von Ursachen und Folgen der Shoa widmen sowie dem Kampf für liberale, demokratische Grundwerte und in den nächsten 10 Jahren mit jährlich 25 Millionen Euro aus dem Familienvermögen ausgestattet werden. Das ist immerhin mehr als die fünf Millionen, die die Quandts und Flicks dieser Welt für ihre Whitewashing-Kampagnen ausgegeben haben, angesichts des Riesenvermögens aber immer noch Peantus.

Zur Verdeutlichung des Wahnsinns an Reichtum, den Peter Harf im Namen der Familie Reimann angehäuft hat, muss man sich nur vorstellen, was unsereiner in der Regel an Vermögen besitzt. Die meisten von uns so gut wie nichts, aber angenommen wir hätten 1.000 Euro zur freien Verfügung und das würde einer Edelstahlfolie mit 0,1 mm Dicke entsprechen, dann hätte ein Mensch mit dem Vermögen von einer Million einen Turm in der Höhe von zehn Metern. Das entspricht einem zwei- bis dreistöckiges Haus. Mit drei Millionen kommen wir in die Region eines Berliner Mietshauses und bei 10 Million sind wir schon bei einem Hochhaus von 100 Metern. Bei 33 Milliarden allerdings bewegen wir uns in einer Höhe von 330 Kilometern. Wir befinden und dann in der sogenannten Thermosphäre und die Erde unter uns ist nur noch ein kleiner blauer Ball. Die Einmalzahlung von 10 Millionen ist aus dieser Entfernung überhaupt nicht zu sehen und die 250 Millionen in der Höhe eines Berges von 2.500 Metern vielleicht.

Hervorgebracht wird dieser Reichtum heute, wie könnte es anders sein, durch eine Armee von Arbeiter:innen verteilt auf dem ganzen Globus. Wer ein Durex-Kondom kauft, beschert den Reimanns Profit, die Marke ist Teil von Reckitt Benckiser. Der Rohstoff – bei Durex dezidiert kein Fair-Trade-Naturkautschuk, sondern der billige Industriekautschuk – ist berüchtigt für seine für Mensch und Natur katastrophalen Herstellungsbedingungen. Dann geht‘s ab in die Megafabrik im chinesischen Qingdao. Und von da aus in den Handel und zum Konsumenten. Billiglohn und Missachtung der Natur sind integraler Teil dieser Produktionskette – und ähnlich könnte man das für dutzende andere Produkte aus dem Hause Reimann auflisten.

Social Business

Kein Wunder, dass für Harf und Konsorten das soziale Engagement in diesem Zusammenhang dann auch nur noch ein „Business“ wie jedes andere ist. In dem Gespräch mit der Wirtschaftswoche, das allerdings noch vor der Aufdeckung der Nazivergangenheit stattgefunden hat, erklärt er den Ansatz und Ablauf für karitative Projekte im Hause Reimann folgendermaßen. Da sitzt die Familie bei ihren wechselnden Familientreffen in irgendwelchen Hotels in Italien, London, Luxemburg oder Amsterdam zusammen und macht sich Gedanken, wie man mit dem Geld auch mal was Gutes tun kann. Der Peter, dem man vertraut, geht dann los und setzt um, worüber man am Kamin so sinniert hat und so machte er zum Beispiel aus der Deutschen Knochenmarkspenderdatei (DKMS) eine der effizientesten Hilfsorganisationen.

„Nach den gleichen unternehmerischen Prinzipien erneuert er nun die karitative Arbeit der Reimanns“, heißt es in der Wirtschaftswoche und weiter: „Wir nennen es nicht Wohltätigkeit, sondern Social Business, weil wir wie ein Unternehmen mit unseren Mitteln größtmöglichen Erfolg haben wollen.“ Dabei verknüpft die Organisation Reimann-Gelder mit Mitteln der öffentlichen Hand und anderen Wohltätern, „Denn so wichtig Effizienz im Geschäftsleben ist“, sagt Harf, „im sozialen Bereich ist sie am Ende noch viel wichtiger.“

Wenn dein ganzes Leben nur aus Gewinnstreben besteht, dann ist das wohl so. Ein Leben ohne Skandale und Luxusyachten im ganz normalen kapitalistischen Exzess, aufgebaut auf Zwangsarbeit und Verbrechen. Dass man damit durchkommt, das ist das eigentlich Erschreckende an diesen Reimanns. Und den zahlreichen anderen.

#Titelbild: Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit/diverse Gemeinfreilizensen/ Montage LCM

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Dass die deutsche Justiz rechte Straftäter oft mit Samthandschuhen anfasst, auch gern laufen lässt oder ihre politische Motivation leugnet, ist eine traurige Tatsache. Manchmal verstößt sie dabei Hand in Hand mit der Polizei so massiv gegen alle Grundsätze einer sauberen Ermittlungsarbeit und auch gegen jede Logik, dass man sich als Beobachter nur noch die Haare raufen kann. Ein solcher Fall ist der Brandanschlag auf eine Asylbewerberunterkunft an der Lübecker Hafenstraße in der Nacht zum 18. Januar 1996, der sich an diesem Montag zum 25. Mal jährt – ein trauriger Höhepunkt rechter Gewalt in den 90ern und ein bleibender Justizskandal.

Zehn Menschen starben damals in den Flammen, sie kamen aus Zaire, Angola, Togo und dem Libanon. Es gab 39 Verletzte. Die mutmaßlichen Täter, drei Neonazis aus dem mecklenburgischen Städtchen Grevesmühlen in der Nähe von Lübeck, wurden den Ermittler*innen quasi auf dem Silbertablett serviert, aber sie durften es nicht gewesen sein. Stattdessen schob man die Tat einem Hausbewohner in die Schuhe. In der Chronik rechtsterroristischer Anschläge in der BRD gibt es wohl kaum einen anderen Fall, in dem so viel auf die Täterschaft von Neonazis hindeutete – und so wenig getan wurde, um sie zur Rechenschaft zu ziehen.

Zum Zeitpunkt der Brandstiftung hatten sich 48 Menschen in der von der Diakonie betriebenen Unterkunft nahe der Trave aufgehalten. In ihrer Wohnung starben die 29 Jahre alte Françoise Makudila und ihre fünf Kinder Christine (17), Miya (14), Christelle (8), Legrand (5) und Jean-Daniel (3). Monique Maiamba Bunga (27) und ihre Tochter Nsuzana (7) hatten noch versucht, wie die meisten anderen Bewohner, dem Feuer übers Dach zu entkommen, stürzten dabei ab und erlitten tödliche Verletzungen. In seinem Zimmer erstickte Rabia El Omari (17). Im Vorbau fand man noch die stark verbrannte Leiche von Sylvio Amoussou.

Erst fünf Tage später wurde in der Gerichtsmedizin festgestellt, dass die Ursache seines Todes keine Rauchgasvergiftung gewesen war. Der Gerichtsmediziner, der ihn obduzierte, stellte unter anderem einen Schädelbruch fest und schloss nicht aus, dass dieser durch äußere Gewalteinwirkung verursacht worden war. Er empfahl, einen weiteren Spezialisten heranzuziehen. Die Staatsanwaltschaft kam dem nicht nach, sondern gab Amoussous Leiche zur Einäscherung frei – eines der vielen haarsträubenden Versäumnisse in diesem Fall.

Über die zehn Menschen, die bei dem Brand starben, heißt es auf der Homepage der Initiative Hafenstraße ’96, die zum 25. Jahrestag des Anschlags eine Erinnerungswoche organisierte, sie seien nach Deutschland gekommen, „um ein sicheres Zuhause zu finden“ – und weiter: „Sie kamen als Geflüchtete nach Deutschland und wurden von deutschen Täter*innen ermordet.“ Tatsächlich gibt es wenig Zweifel an der Täterschaft der drei Neonazis Maik W., Dirk T. und René B., die am Morgen nach dem Anschlag in Grevesmühlen festgenommen wurden. Schon die Tatsache, dass Zeugen sie noch vor Eintreffen der Feuerwehr in der Nähe des brennenden Hauses neben ihrem Wartburg stehend gesehen hatten, war ein deutliches Indiz.

Dann wurden bei allen dreien auch noch versengte Wimpern, Augenbrauen und Haare festgestellt. Laut Gerichtsmedizin waren diese Spuren nicht älter als 24 Stunden und „typisch für Brandstifter“. Die drei Neonazis lieferten völlig absurde und unglaubwürdige Erklärungen für ihre Versengungen. W. wollte einen Hund mit Haarspray eingesprüht und angezündet haben. René B. behauptete ernsthaft, er habe im Dunkeln Benzin aus seinem Mofa abgezapft, habe dabei, um etwas zu sehen, ein Feuerzeug angezündet und habe sich die Haare in der entstehenden Stichflamme versengt.

Angesichts der Spuren und der Absurdität dieser Erklärungen hätte ein Haftbefehl und eine Anklage die logische Folge sein müssen. Eine solche Spurenlage hätte jeden Linken, selbst bei einem weniger folgenreichen Brandanschlag für Jahre in den Knast gebracht. Doch die Lübecker Staatsanwaltschaft ließ das Trio wieder laufen, aufgrund eines dubiosen Alibis. Sie waren etwa zur Tatzeit in einer Tankstelle in der Nähe gesehen worden. Nur war diese Tankstelle lediglich etwa sechs Kilometer vom Haus an der Hafenstraße entfernt und die Brandermittler konnten den Beginn des Brandes nicht sicher auf einen genauen Zeitpunkt festlegen. Das spielte aber alles keine Rolle, ebenso wenig spätere Geständnisse der Neonazis gegenüber Dritten.

Neonazis durften es nicht gewesen sein. Die Ermittler*innen hatten sich bereits auf eine Variante eingeschossen, die offenbar ihrer politischen Prägung und den Erwartungen der um den Ruf Lübecks besorgten Verantwortlichen besser entsprach. Sie konzentrierten sich auf einen der Hausbewohner, den jungen Libanesen Safwan E.. Ein Rettungssanitäter tauchte wie Kai aus der Kiste auf und behauptete, dass dieser die Tat auf der Fahrt zum Krankenhaus gestanden habe. Das reichte der Staatsanwaltschaft, um E. zeitweise in Untersuchungshaft zu stecken und ihn vor Gericht zu zerren. Die Jugendkammer des Lübecker Landgerichts eröffnete im September 1996 den Prozess und führte ihn bis zum 30. Juni 1997. In dem Verfahren wurde klar, dass die Vorwürfe gegen den Geflüchteten nichts als ein haltloses Konstrukt waren. Es endete mit einem Freispruch für E., den am Ende selbst die Staatsanwaltschaft gefordert hatte.

Bisher hat die Justiz alle Versuche, das Verfahren neu aufzurollen, zunichte gemacht. Darum setzt die Initiative Hafenstraße ’96 ihre Hoffnungen auf eine Online-Petition, die zu Beginn der Erinnerungswoche gestartet wurde (hafenstrasse96.org). Mit dieser Petition soll versucht werden, einen Untersuchungsausschuss im schleswig-holsteinischen Landtag zur Aufklärung des Lübecker Brandanschlags zu erwirken. Die Petition wird von der Hamburger Anwältin Gabriele Heinecke unterstützt, die Verteidigerin von Safwan Eid war. Gegenüber junge Welt sagte sie, die überlebenden Hausbewohner und die Öffentlichkeit hätten „einen Anspruch auf Verfolgung der wirklich Tatverdächtigen“. Die Vorgänge, die zur „Vertuschung zugunsten der rechtsradikalen Beschuldigten“ geführt hätten, müssten offengelegt werden. Die Staatsanwaltschaft Lübeck habe bewiesen, dass von ihrer Seite ein Bemühen um Aufklärung nicht zu erwarten sei. Nur ein „mit allen prozessualen Rechten ausgestatteter Untersuchungsausschuss“ könne Licht ins Dunkel bringen. Mord verjährt bekanntlich nicht.

# Titelbild: Stephan Grimm, Das Haus nach dem Anschlag, CC BY-SA 4.0

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Diese Kolumne heißt Anger Management und meist pöbele ich wütend vor mich hin, aber diesmal nimmt ein anderes Gefühl so sehr Raum ein, dass ich darüber schreiben will. Ich kann es nur beschreiben, denn bisher fand ich kein Wort, das dem entspricht.

Am Samstag, dem 29.08. hatte ich dieses Gefühl. Irgendwo zwischen Fassungslosigkeit, Ekel und Angst, irgendwas zwischen, stechend, juckend und piksend. Etwas das wie die Haut auf der Milch, die dir plötzlich triefend und schleimig aus dem Mund hängt und am Kinn klebt. Und sie ist aus Salpetersäure. DIE Demo in Berlin.

Es ist alles so kaputt. Ich will Springer beleidigen und enteignen, dem Chef des Verfassungsschutzes Inkompetenz vorwerfen, den Verfassungsschutz auflösen, will tausend Seiten darüber schreiben, was alles falsch läuft bei der Polizei. Wie kann es sein, dass jedes Schanzenfest personell und strategisch besser bearbeitet wird, als der größte Naziaufmarsch Deutschlands in diesem Jahrtausend? Ich will wissen, wie es sein kann, dass tausendfach Mütter Nachrichten voller Sorge an ihre Kinder schicken, mit der Bitte das Haus nicht zu verlassen, warum Freund*innen sich nicht mehr alleine raustrauen, warum niemad das Terror nennt, was da passiert.

3 vs. 9

Witzig, bitter witzig, oder einfach nur kurzsichtig, wie Shahak Shapira sinngemäß geschrieben hat, dass du mit hunderten den Reichstag stürmen kannst und dort nur drei Cops stehen, die kaum etwas machen, während ein Junge auf einem E-Roller, wie kurze Zeit vorher in Hamburg gefilmt, von neun Cops misshandelt wird. Aber er liegt falsch mit dem Vergleich der Vorfälle, wenn er außer Acht lässt, dass, wäre der Junge auf dem E-Roller blond gewesen, die Cops sich eventuell anders verhalten hätten und hätten ein paar hundert migrantische Teenager angekündigt, mit Waffengewalt den Reichstag zu stürmen, sich die Cops eventuell anders verhalten hätten. Seht ihr das Problem?

2020, wir sind bei Reichsflaggen vor dem Reichstag und die Rote Armee hilft diesmal nicht. Die Gedenkfeier für den rassistischen Massenmord in Hanau wurde aus Seuchenschutzgründen abgesagt, das wurde medial mit Verständnis hingenommen, weil Sicherheit geht nun mal vor. Die Gedenkfeier wurde so kurzfristig verboten, dass es juristisch keine realistische Möglichkeit gab zu intervenieren. Hier wird nicht getrauert, Ende.

Der Aufmarsch der rechten Masse sollte auch erst verboten werden. Aber wir wären nicht in Deutschland, würde man nicht, 75 Jahre nach der Shoah, über das Recht auf Demokratie für Faschist*innen debattieren. Die Veranstalter*innen bekamen genug Zeit gerichtlich gegen das Verbot vorzugehen, die Medien, insbesondere die Springer Presse, unterstützen das Vorhaben: Ein Verbot sei ein „inakzeptabler Angriff auf unsere Grundrechte“. Alle gaben sich Mühe diese Veranstaltung zu einem demokratischen Akt treuer Demokrat*innen zu frisieren. Der Chef des Verfassungsschutzes, Thomas Haldenwang erklärte im Vorfeld, dass die Demos gegen die Corona-Auflagen NICHT von Rechtsextremist*innen unterwandert sei. LMAO

Und dann kam die Demo. Familien mit Kindern, die Kleidung mit eindeutigen Codes der rechten Szene trugen (Kinder die später als Schutzschilde vor die Polizei geschoben wurden), Eso-Hippies, Völkische Ökos und andere Wissenschaftsverweigerer*innen tummelten sich zwischen Faschohools, Kadern rechter Organisationen: NPD, AFD, Identitäre aus dem In- und Ausland, Verschwörungsmystiker*innen. Es gab auch süddeutsche Polizeibeamte als Redner auf einer Bühne. Antisemit*innen, Reichsbürger*innen, Q-Anon und andere Sektenanhänger*innen, Neonazis, Rechtsextreme, unzählige Dokumentationen von Hitlergrüßen usw usf. Ja, das war eine „breite und bunte Mischung.“

Muss man differenzieren

Dieses zu Tode diffenzieren soll die bürgerliche Mitte zelebrieren, bis sie zu Staub wird. Ich habe noch nie so viele Reichsflaggen, noch nie so viele Faschos auf einmal gesehen. Sämtliche Expert*innen hatten vor diesem Szenario gewarnt. Die Polizei in Berlin war so schwach aufgestellt, ich hatte fast Mitleid, schließlich werden hier Leute von ihrem Arbeitgeber grausam verheizt, aber den Job wollten sie ja und dann erinner ich mich wieder daran, wie sich die Polizei während des G20 Gipfels verhalten hatte. Oder bei der Stürmung einer linken Kneipe vor ein paar Wochen oder einfach auf JEDER LINKEN DEMO. Ständig wird gegen links mit massivster Brachialgewalt gehandelt und Samstag gab es Unterbesetzung und Samt- statt Quarzsandhandschuhen. Wasserfereinsatz? Ich weiß es nicht. Ich habe eine Videoszene gesehen, wo Cops eine Person aggressiv aus einem Demoblock gefischt haben, aber das war bei einer linken Gegendemo. Das soll alles Zufall sein, oder bloße Unfähigkeit.

Vergleiche ich das Titelblatt der Bild, nach dem G20 Gipfel in Hamburg mit dem Titelblatt der Bild, nach den Vorkommnissen des Wochenendes in Berlin, lache ich laut vor mich hin. Das ist schon ein sehr irres Lachen, weil damals stand da irgendwas von RAF und ich dachte, ich sitze in einer Zeitmaschine. Heute erklärte die Bild die drei alleingelassenen Cops vorm Reichstag zu Helden. Keine öffentliche Fahndung der Übeltäter*innen mit schnittigen Überschriften auf dem Titelblatt. Sachbeschädigung und Eigentumsdelikte scheinen mehr zu stören, als rechter Terror vor dem Reichstag. Hat sich da eigentlich schon irgendwer gemeldet, um die Treppen zu putzen?

An diesem Wochenende hatten eine Menge sehr schlechter Menschen die Möglichkeit, sich sehr gut zu vernetzen und das rechte Selbstbewusstsein insgesamt wurde enorm gestärkt. Die Folgen des eklatanten Fehlverhaltens, seitens der Politik und der polizeilichen Führung wird die migrantisierte Bevölkerung tragen müssen. Es ist sehr kalt geworden in Deutschland und es wird noch kälter werden.

# Titelbild: PM Cheung

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In Magedeburg steht der Nazi Stephan Balliet wegen des Anschlags vom 9. Oktober 2019 in Halle vor Gericht, in Frankfurt am Main zeitgleich der Nazi Stephan Ernst, der Anfang Juni 2019 den hessischen CDU-Politiker Walter Lübcke erschoss. In Hanau tötete vor einem halben Jahr der Nazi Tobias Rathjen neun Menschen aus rassistischen Motiven. Faschistische Terroristen ziehen eine Blutspur durchs Land. Die Öffentlichkeit debattiert währenddessen über rechte Netzwerke in Polizei und Bundeswehr, über zunehmende Polizeigewalt und Racial Profiling. Dass all das Leuten nicht gefällt, die seit Jahren die Gefahr von links beschwören und vor allem nach dem G-20-Gipfel im Juli 2017 in Hamburg Oberwasser hatten, liegt auf der Hand.

Regelmäßig versuchen Polizeibehörden, die beiden großen Polizeigewerkschaften und die Verfassungsschutzämter im Verein mit ihnen verbundenen Konzernmedien, das Thema „linke Gewalt“ – gern wird auch von „linkem Terror“ gesprochen – wieder auf die Agenda zu setzen. Einen neuen Versuch dieser Art konnte man Anfang August beobachten. Das Nachrichtenmagazin Spiegel berichtete von einem „vertraulichen Lagebild“ des Bundeskriminalamtes, das vor einer zunehmenden Gewaltbereitschaft von „Linksextremisten“ gegen politische Gegner warne.

In der Analyse sei von einer „neuen Qualität“ die Rede. Autonome trieben ihre Aktionen so „kompromisslos“ voran, dass in Einzelfällen auch „von einem bedingten Tötungsvorsatz“ auszugehen sein dürfte. Insbesondere die Leipziger Szene, die neben Berlin und Hamburg als Hochburg gelte, radikalisiere sich immer mehr. Offensichtlich wärmt der Spiegel diese Schauermärchen jetzt im Halb-Jahres-Abstand auf. Bereits Anfang Februar fabulierten die Lohnschreiber aus Hamburg unter der Dachzeile „Linksextreme Gewalt in Deutschland“, für die „militante Linke“ seien Angriffe auf Menschen wie in Leipzig und Hamburg „kein Tabu mehr“. Nachsatz: „Die Politik wirkt hilflos.“

Die „neue Qualität der Gewalt“ wird, wie Christoph Kleine von der Interventionistischen Linken in Hamburg in junge Welt süffisant bemerkte, „alle paar Monate neu entdeckt“. Das habe nichts mit der Realität zu tun, sondern sei „ganz einfach rechte Stimmungsmache“. Zur Unterfütterung der gewagten These vom „bedingten Tötungsvorsatz“ wird vom BKA laut Spiegel unter anderem der Überfall von rund 20 Angreifern auf drei Vertreter der neofaschistischen Arbeitnehmervertretung „Zentrum Automobil“ im Mai in Stuttgart erwähnt. Einer der Überfallenen soll dabei so schwer verletzt worden sein, dass er nach Angaben von Medien bleibende Schäden davon tragen werde. Inzwischen sind linke Aktivisten als tatverdächtig festgenommen worden. Selbst wenn dieser Angriff tatsächlich von Linken ausgeführt wurde, wäre das ein Ausnahmefall und aus solchen Fällen eine zunehmende Gewaltbereitschaft Linker abzuleiten, ist reine Kaffeesatzleserei.

Vor allem aber ist es grotesk, ausgerechnet in dieser Zeit, in der rechte Terroristen Angst und Schrecken verbreiten, das Thema „linke Gewalt“ hochzuziehen. Ulla Jelpke, innenpolitische Sprecherin der Linke-Fraktion im Bundestag, hat das in junge Welt zutreffend eingeordnet. Das Lagebild des BKA scheine ein „durchschaubares Ablenkungsmanöver“ zu sein. Während „faschistische Zellen bis hinein in Spezialeinheiten der Bundeswehr und Polizei auffliegen“, Waffen gebunkert und Todeslisten angelegt würden, schwadroniere das BKA von einer zunehmenden Gewaltbereitschaft von Linken. Angesichts der Tatsache, dass etwa das „Massaker“ an den Besuchern von Shisha-Bars in Hanau gerade mal ein halbes Jahr zurückliege, sei es absurd, wenn die Behörden von einem „bedingten Tötungsvorsatz“ Linker sprächen. „Nazis töten – und zwar nicht nur mit ‚bedingtem Vorsatz‘ sondern kaltblütig und gezielt“, sagte die Linke-Politikerin.

Völlig ins Absurde kippte übrigens der Focus ab, das reaktionäre Magazin für die ganz Schlichten. Im Gefolge des Spiegel fantasierte das Blatt, die „linksextremische Antifa“ bereite sich nach Kenntnis von Sicherheitsbehörden auf „Angriffe gegen Polizisten, politische Gegner und vermeintliche Rechtsextremisten“ vor. Bei „der Antifa und ihren 50 regionalen Unterstützergruppen“ gebe es eine „Professionalisierung der Gewaltausübung“. Laut Berliner Verfassungsschutz seien „gezielte Tötungen“ denkbar. Westlichen Nachrichtendiensten lägen Hinweise vor, dass deutsche „Antifa-Mitglieder“ bei der kurdischen YPG in Syrien ein Kampftraining absolvierten. Blöder geht es wirklich kaum! Ulla Jelpke gab dem Focus in junge Welt kostenlos Nachhilfeunterricht: „Es ist kein Geheimnis, dass auch deutsche Antifaschisten heute in Nordsyrien in den Reihen der kurdischen YPG aktiv sind. Der Kampf gegen den IS und andere Dschihadisten ist ein Teil des weltweiten antifaschistischen Kampfes.“

Durchaus aufschlussreich an der ganzen Sache ist auch, dass BKA, Verfassungsschutz und Konzernmedien en passant das auch von US-Präsident Donald Trump fleißig gepflegte Narrativ von „der Antifa“ als homogener Organisation mit bösen Absichten verbreiteten. Diesen Mythos will man offenbar weiter nach Kräften befördern.

Übrigens schwadronieren auch die Polizeigewerkschaften regelmäßig über die Gewalt von links, der die „Kollegen auf der Straße“ zunehmend ausgesetzt seien. Dabei bemüht sich die Gewerkschaft der Polizei (GdP) offenbar immer mehr, mit der reaktionären kleinen Schwester, der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG) in puncto Hetze gegen Links gleichzuziehen. Das Berliner Schundblatt BZ war nur zu gern bereit, bei der Berichterstattung über die Räumung der Kiezkneipe Syndikat in Neukölln Anfang August eine Tirade des Berliner GdP-Vize Stephan Kelm abzudrucken. „Die militante, linksautonome Szene geht zurzeit offensiv und strukturiert gegen meine Kollegen bei Demos und Protesten vor“, fabulierte der Mann und beklagte die Verletzung eines Beamten bei den Auseinandersetzungen in Neukölln. Da werde sogar „der Tod von Menschen in Kauf genommen“. Und: „Wir haben es mit Personengruppen zu tun, die ohne jedes Zögern auch Molotow-Cocktails werfen würden.“

Vielleicht sollte dem Herrn mal jemand erklären, dass Molotow-Cocktails bereits länger in Gebrauch sind, und das durchaus auch bei Straßenschlachten. Und dass für die Eskalation auf der Straße nicht Autonome oder andere Linke verantwortlich sind, sondern erstens die Polizei, die immer mehr aufrüstet und immer brutaler vorgeht, und zweitens die kapitalistische Ausbeutung und Ausgrenzung, die bei immer mehr Menschen nichts als Wut und Hass erzeugt. Dabei gibt es natürlich auch Verletzte, auf beiden Seiten. „Wir sind der Prellbock auf der Straße“, klagte der Herr Kelm noch. Jawohl, da hat er recht! Aber das ist noch nicht die Schuld der radikalen Linken. Die Herrschenden verheizen Euch, liebe Leute in Uniform! Also: Augen auf bei der Berufswahl.

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Die an vermeintlichen „Ermittlungspannen“ reiche Geschichte der Serie von rechten Brandanschlägen, Sachbeschädigungen und Drohungen in Neukölln bewegt sich einem weiteren Höhepunkt entgegen: Wie die Berliner Generalstaatsanwaltschaft verlautbaren ließ, gebe es Anhaltspunkte für die Befangenheit eines Staatsanwalts, der nun zusammen mit einem weiteren Kollegen versetzt worden sei.

Der Sachverhalt ist brisant: Durch die Auswertung von Chatnachrichten eines der Verdächtigen in der rechtsterroristischen Anschlagsserie, des AfD-Mitglieds Thilo P., wussten die Behörden seit längerem, dass P. den Oberstaatsanwalt Matthias F. nach einem Vernehmungstermin bei F. für einen Verbündeten hielt. Matthias F. habe durchblicken lassen, auf der Seite der Rechten zu stehen, prahlte P. einem weiteren damaligen AfD-Mitglied gegenüber. Die Information wurde von einem zweiten Staatsanwalt weder weitergegeben, noch verwendet, verschwand also einfach im Verfahrensverlauf.

Dass jetzt überhaupt etwas geschieht, dürfte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eher daran liegen, dass die Verantwortlichen einem öffentlichen Desaster zuvor kommen wollte, als dass irgendwelche ohnehin kaum existenten Kontrollmechanismen gegriffen haben. Informationen dieses Magazins zufolge liegt der Sachverhalt nämlich seit einiger Zeit Journalist*innen zweier Tageszeitungen vor, die an dem Fall recherchierten. Man kann vermuten, dass die Generalstaatsanwaltschaft davon Wind bekommen haben muss, woraufhin sie die Flucht nach vorne antrat, um „jedem Anschein einer nicht sachgerechten Bearbeitung“, wie es in der Pressemitteilung der Behörde heißt, entgegenzuwirken.

Nun ist Matthias F. nicht irgendein Staatanwalt – was skandalös genug wäre. Der Oberstaatsanwalt leitete die Abteilung Staatsschutzdelikte und war in dieser Funktion mit zahlreichen Strafverfahren gegen Linke betraut. In der Szene hat man ihn in guter Erinnerung. Er gilt als Scharfmacher, Hardliner, einer, der aus Gesinnung handelt. Auch unter Anwält*innen, so erfuhr lower class magazine, galt F. als stramm rechts.

Im Lichte der jetzigen Erkenntnisse stellen sich zahlreiche Fragen im Fall der Anschlagsserie neu: Warum wurde, nachdem die Ausspähung eines der späteren Opfer vom Verfassungsschutz an die Polizei und von selbiger an die Staatsanwaltschaft weitergegeben wurde, keine Anklage eröffnet? Warum gab es für Thilo P. und Sebastian T. nie Untersuchungshaft – obwohl beide Wiederholungstäter sind und klar eine Gefahr für weitere Opfer ausging? Und warum wurde das Verfahren gegen einen LKA-Beamten, der sich mit Thilo P. in einer einschlägig bekannten Kneipe privat getroffen haben soll, so schnell eingestellt?

Das Problem, dass sich im Fall des Matthias F. zeigt, ist dabei keineswegs eines, das mit zwei Versetzungen behoben werden kann. Die jetzt bekannt gewordenen Informationen legen zwar Nahe, dass sich der Staatschutzchef und der Faschist zumindest vor ihrem Plausch nicht kannten, aber das macht die Sache nicht weniger beängstigend. Denn es zeigt sich, dass in Justiz- und Polizeiapparat neben denen, die sowieso schon organisierte Neonazis sind, auch an sehr hohen Stellen Leute sitzen, die im Fall des Falles durchaus Sympathien für diejenigen hegen, die dem Tag X entgegenfiebern. Gerade in Berlin hätte man das auch vorher wissen können: Hier wirkte bis zu seiner Wahl in den Bundestag für die AfD der damals schon offene Rassist Oberstaatsanwalt Roman Reusch.

Die Reaktionen aus der sich als „mitte-links“ vermarktenden Koalition sind angesichts dieser Problematik verstörend. Anstelle wirklicher Maßnahmen tritt das Bedürfnis alles rasch für erledigt zu erklären, bevor es öffentliche Empörung verursachen kann. So kommentierte als einer der ersten der Grüne Justizsenator Dirk Behrend auf Twitter: „Ich danke der Generalstaatsanwältin für diesen konsequenten Schritt. Es darf keinen Zweifel daran geben, dass die Strafverfolgungsbehörden rechtsextreme Straftaten verfolgen.“ Der Sound der Nachricht trifft den generellen Umgang mit der „Pannenserie“ in Neukölln. Man soll nicht zweifeln und rasch weitergehen. Es gibt hier nichts zu sehen.

#Titelbild: Rasande Tyskar/CC BY-NC 2.0

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Eigentlich ist zu den Ereignissen im Leipziger Stadtteil Connewitz in der Silvesternacht schon alles gesagt worden. Die bürgerlichen Medien haben ausufernd berichtet, in den „sozialen Netzwerken“ wurde das Thema rauf und runter diskutiert. Erst lief die Empörungsmaschinerie auf Hochtouren, zuletzt rückte immer mehr – zumindest in den Medien, die ihren journalistischen Anspruch noch nicht ganz aufgegeben haben – die Rolle der polizeilichen Öffentlichkeitsarbeit in den Fokus. Immerhin.

Die Geschehnisse in der Silvesternacht an sich sind nicht groß von Belang, ein paar Scharmützel zwischen Polizei und Feiernden, nichts wirklich Besonderes. Spannend ist an dem Vorgang eigentlich nur, was daraus geworden oder besser gemacht worden ist. Gleich zu Jahresbeginn wurde exemplarisch vorgeführt, wie einfach es ist, mit Fake-News einen reaktionären Hype zu erzeugen. Dies war eine Eskalation mit Ansage – es war die Stunde der Scharfmacher.

„Einen Einsatz zur Aufrechterhaltung der Öffentlichen Sicherheit und Ordnung“ nannte die Staatsmacht selbst, was sie zum Jahreswechsel in Leipzig veranstaltete. So wie sie auftrat, erzeugte sie das Gegenteil. Ab mittags kreiste ein Hubschrauber über dem Viertel, Wannen rasten hin und her. Abends griffen die Cops aggressiv ins Geschehen ein, schubsten etwa unbeteiligte Feiernde. Die Polizei wollte offenbar zeigen, wer in Connewitz das Sagen hat.

Kurz nach dem Jahreswechsel kam es dann am Connewitzer Kreuz zu dem Vorfall, der hinterher im Zentrum des Hypes stand. Die Polizeidirektion Leipzig haute noch in der Nacht eine Pressemitteilung raus, die innerhalb weniger Tage von vorn bis hinten als Fake-News entlarvt wurde. Eine „Gruppe von Gewalttätern“ habe einen brennenden Einkaufwagen „mitten in eine Einheit der Bereitschaftspolizei zu schieben“ versucht, fabulierte die Polizei, und diese „massiv mit Pyrotechnik beschossen“. Ein Beamter sei dabei so schwer verletzt worden, dass er „das Bewusstsein verlor und im Krankenhaus notoperiert werden musste“. Leipzigs Polizeipräsident Torsten Schultze delirierte: „Es ist erschreckend, wie skrupellos Personen in der Silvesternacht am Connewitzer Kreuz durch offensichtlich organisierte Angriffe schwerste Verletzungen von Menschen verursachen.“

Linke Krawalle, schwer verletzter Polizist, Not-OP – das kam den bürgerlichen Leitmedien am traditionell nachrichtenarmen Neujahrstag wie gerufen. Das klang nach brutalen Autonomen, nach Lebensgefahr und Koma. Von Spiegel über Focus bis Handelsblatt und Zeit stiegen alle auf die Geschichte ein, übernahmen die Mitteilung der Polizei kritiklos und ungeprüft. Dabei war zu diesem Zeitpunkt schon verdächtig, warum über die Verletzung des Polizisten nicht Konkreteres verlautbart wurde. Recht schnell stellte sich heraus, dass es keine Not-OP gegeben hatte und von einer schweren Verletzung nicht wirklich die Rede sein konnte. Der Beamte war wegen eines Risses am Ohr im Krankenhaus behandelt und nach zwei, drei Tagen bereits wieder entlassen worden. Auch die Behauptung, ein brennender Einkaufswagen sei „mitten in eine Einheit“ geschoben worden, brach in sich zusammen.

Politiker aller Couleur hatten da aber ihre Statements schon längst abgesondert. Mit Abscheu und Entsetzen reagierten sie allesamt auf den bösen „linksextremistischen“ Überfall, von Innenminister Hotte Seehofer (CSU) über FDP-Chef Christian Lindner bis zu Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch, dessen Gedanken bei dem verletzten Beamten waren. Den Vogel schoss mal wieder Rainer Wendt ab, Chef der reaktionären Deutschen Polizeigewerkschaft, der in der Bild von einer neuen RAF faselte.

Da wollte der Chef des Hamburger Verfassungsschutzes, Torsten Voß, nicht nachstehen und warnte wenig später vor einem sich abzeichnenden neuen „Linksterrorismus“. „Taten der linksextremen Szene zeichnet eine neue Eskalationsstufe aus, weil sie sich nicht mehr nur gegen Sachen wie Wohnungen, Parteibüros oder Fahrzeuge richten, sondern mittlerweile auch direkt gegen das Leben und die Gesundheit von Menschen“, behauptete er dreist in der Welt am Sonntag und verwies auf die Vorfälle in Connewitz. Das Hamburger Abendblatt untermauerte den Vorstoß von Voss mit Angaben des Landeskriminalamtes Hamburg, das von 36 „herausragenden Farb-, Stein- oder Brandanschläge“ wusste, die der „linksextremen Szene“ zuzuordnen seien. Anschläge gegen Gebäude, Fahrzeuge et cetera wohlgemerkt, nicht gegen das Leben und die Gesundheit von Menschen.

In den „sozialen Netzwerken“ wurde zu recht vielfach darauf hingewiesen, wie grotesk es ist, von linkem Terrorismus zu schwafeln, während in den vergangenen Monaten und Jahren die Taten rechter Terroristen für Angst und Schrecken gesorgt haben – da gab es bekanntlich tatsächlich Tote. Radikale Linke sollten sich aber fragen, ob es wirklich Sinn macht, sich mit obskuren Vorstößen von Leuten wie Wendt oder Voß überhaupt sachlich zu befassen. Die Ereignisse von Connewitz und die Debatte danach, sollten eher Anlass sein, sich das Vorgehen der bürgerlichen Hetzer in Politik und Medien, Polizei und Diensten mit gesunder Distanz anzusehen und daraus zu lernen.

Hier ist offensichtlich die Gelegenheit genutzt worden, gleich zum Jahresbeginn ein Thema zu setzen und eine bestimmte Lesart durchzusetzen – und es ist erschütternd wie leicht das war. Natürlich lässt sich die Verletzung eines Polizisten nicht planen, aber dass bei Krawallen mal ein Bulle was abbekommt, liegt auf der Hand. Jedenfalls kam die Verletzung des Beamten in der Silvesternacht der Polizeidirektion Leipzig sehr gelegen. In der Pressemitteilung der Silvesternacht spricht die heimliche Genugtuung, mal wieder ordentlich gegen die Linken vom Leder ziehen zu können, aus jeder Zeile. Und natürlich hat der Pressesprecher der Direktion genau die Reizwörter verwendet, von denen er weiß, dass die Journaille auf sie anspringt.

Von schlampiger Pressearbeit zu sprechen, ist hier also komplett verfehlt, ebenso verfehlt wie die Appelle an die Redaktionen, doch gegenüber Pressemitteilungen der Polizei misstrauischer zu sein. Die Mitteilung der Polizei sollte so sein, wie sie war, und in den meisten Redaktionen ist man nur allzu bereit, solche Köder zu schlucken. Ich denke, man kann angesichts des Vorgangs davon sprechen, dass hier ein Stein ins Wasser geworfen wurde, um sich anzuschauen, welche Kreise er zieht. Wir werden in diesem Jahr sicher noch mehr derartige Inszenierungen erleben.

Auf diese Weise lässt sich nämlich prima von den Faschisierungstendenzen in den Apparaten ablenken. Und dazu sind solche Debatten auch eine Art „Beschäftigungstherapie“ für viele Linke, die sich immer wieder aufs Neue in Abwehrschlachten um die Deutungshoheit verstricken lassen, ihre Energie mit endlosen Diskussionen bei Twitter und Co oder anderswo vergeuden. Natürlich müssen bestimmte Diskurse geführt werden, auch wenn ihr Sinn nicht immer zu erkennen ist. Entscheidend ist aber, sich dabei immer wieder klar zu machen, dass von dieser Polizei, diesen Geheimdiensten und diesen Medien gar nichts anderes zu erwarten ist als Lüge, Repression und der Abbau von demokratischen Rechten und Räumen. Motto auch für 2020 sollte also sein: Erwarte nichts, analysiere alles und kämpfe weiter ums Ganze!

# Titelbild: Streetballplatz in Connewitz, Quelle: wikimedia.commons

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1. September 2020 | Jane

Scheiße, scheiße, scheiße

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