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Eigentlich wollte Ibrahim Bilmez gar nicht Jura studieren, mittlerweile ist er seit 18 Jahren Öcalans Verteidiger. Wir haben Bilmez zusammen mit Genoss*innen von ANF und der VVN/BdA München in Athen getroffen, am Rande der Eröffnungsveranstaltung einer Delegation aus Journalist:innen, Politiker:innen, Künstler:innen, Philosoph:innen und Aktivist:innen, die auf einem Schiff von Griechenland nach Italien reiste. Die Delegation lehnt sich symbolisch an das Jahr 1998 an. Damals reiste Öcalan – auch per Schiff – nach Neapel, wo er ebenfalls am 12. November an kam. Die mehrmonatige Flucht durch verschiedene Länder, auf der er sich damals befand, endete schließlich mit seiner Entführung durch den türkischen Geheimdienst MIT vor der griechischen Botschaft in Kenia, zu deren Verlassen er zuvor von der griechischen Regierung praktisch gezwungen wurde. Seitdem wird Abdullah Öcalan, Anführer der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei (PKK), auf der Gefängnisinsel Imrali festgehalten. Einen großen Teil der Zeit verbrachte er dort bisher in Isolationshaft und auch von seiner Familie und der Öffentlichkeit wird er immer wieder über lange Zeiträume abgeschnitten. Selbst seinen Anwält:innen wurden in der Vergangenheit immer wieder mit offensichtlichen Lügen Haftbesuche verwehrt.

Der Weg von Ibrahim Bilmez zum Verteidiger Öcalans ist lang. Aufgewachsen in Dyarbakir spricht er als Kind nur Kurdisch. Im Grundschulalter muss er dann – wie so viele andere damals – feststellen, dass seine Muttersprache an der Schule verboten ist. Die Hintergründe solcher Regeln sind für ihn als Kind noch nicht so richtig greifbar. Sein politische Bewusstsein erzählt er, bildet sich bei ihm im Jugendalter. Damals besucht er ein Internat in Izmir um dort seinen Abschluss zu machen. Hier merkt er zum ersten Mal, was es bedeutet Teil einer Minderheit in der Türkei zu sein und trifft gleichzeitig auf ältere kurdische Jugendliche, die ihn, wie er sagt „über die kurdische Frage ein wenig aufklärten“.

Kurz vor der Jahrtausendwende beginnt er dann schließlich doch mit dem Jurastudium, nachdem er Dostojewskis Schuld und Sühne gelesen hat. Im selben Jahr wird auch Abdullah Öcalan verhaftet und zunächst zum Tode verurteilt. Nach Abschaffung der Todesstrafe in der Türkei im Jahr 2005 wird das Urteil schließlich in lebenslange Haft umgewandelt. Zu diesem Zeitpunkt beschließt Ibrahim Bilmez, sein Studium möglichst schnell abzuschließen und Anwalt Öcalans zu werden. Er hatte sich, wie viele andere Kurd:innen, bereits mit seinen Büchern auseinandergesetzt und war an der Marmara-Universität in Istanbul mit der kurdischen Jugendbewegung in Kontakt gekommen. Zwei Jahre später ist es dann so weit: Nachdem er 2001 sein Studium in Istanbul abschließt, beantragt er tatsächlich, Abdullah Öcalan vertreten zu dürfen. Die Genehmigung wird ihm allerdings erst zwei Jahre später erteilt, 2004 kommt es dann schließlich zu einem ersten Treffen auf Imrali. Dieses, so Bilmez, habe sein „Leben verändert“. Für ihn sei das eine „sehr ehrwürdige Aufgabe“ gewesen, welche gleichzeitig natürlich auch mit Gefahren verbunden war.

Denn Abdullah Öcalan ist kein normaler Häftling. Wie alle politischen Gefangenen, ist auch er nicht einfach für die ihm vorgeworfenen Anklagepunkte inhaftiert, sondern fungiert als Stellvertreter in einer weitaus größeren Auseinandersetzung.

„Aber als ich ihn in Imrali von Angesicht zu Angesicht traf, auch unter den schwierigen Bedingungen dort, ist mir bewusst geworden, dass er über einen sehr starken Willen zum Frieden verfügt. Sein zentrales Anliegen ist die Lösung der kurdischen Frage. Ich habe dabei auch für mich festgestellt, dass die Verteidigung von Herrn Öcalan zugleich bedeutet, das kurdische Volk zu verteidigen. Die Herangehensweise des Staates Herrn Öcalan gegenüber spiegelt das ja auch wider. Der Umgang des Staates mit Herrn Öcalan entspricht seinem Umgang mit dem kurdischen Volk. So betrachtet, kann auch gesagt werden, dass der Staat mit dieser Herangehensweise Herrn Öcalan als legitimen Repräsentanten der Kurden sieht und anerkennt.“

Im weiteren Verlauf unseres Gesprächs wird deutlich, was unter diesen „schwierigen Bedingungen“ zu verstehen ist. Bei Ibrahim Bilmez erstem Besuch im Gefängnis wurden die vier Anwält:innen bereits vor dem Betreten der Fähre von Bursa Richtung Imrali durchsucht, inklusive ihrer Kleidung. Ein zweites Mal bei Ankunft auf der Insel und ein drittes Mal 200 Meter weiter, wie Bilmez betont. Nach den wiederholten Kontrollen, welche laut dem Anwalt in dieser Form in der Türkei eigentlich nicht zulässig seien, werden sie schließlich in das Besuchszimmer direkt neben Öcalans Zelle geführt. Zu diesem Zeitpunkt ist er der einzige Gefangene auf Imrali. Beide Räume sind in etwa 12 Quadratmeter groß, das Gespräch dauert genau 60 Minuten. Diese Erfahrung scheint Imrahim Bilmez geprägt zu haben:

„Ich möchte noch dieses Detail erwähnen: Wir waren ja wie gesagt vier Anwältinnen und Anwälte und wurden nacheinander herausgebracht. Ich war der letzte, der in dem Raum zurückgeblieben war und musste dort fünf Minuten warten. Alles war weiß und kein Geräusch drang in den Raum. Diese fünf Minuten allein in dem Raum haben mir ein wenig vermittelt, wie es ist, isoliert zu sein. Herr Öcalan hatte zu der Zeit bereits einige Jahre in solch einer Isolation verbracht“

Doch nicht nur die Haftbedingungen selbst sind menschenunwürdig. Auch der Kontakt zur Verteidigung wird von den Behörden immer wieder massiv eingeschränkt. So erzählt Bilmez, dass sie in den ersten Jahren noch regelmäßig die Gelegenheit hatten, ihren Mandanten zu sehen. Doch der 27. Juli 2011 ist bis heute der letzte Tag, an dem er selbst zuletzt von Angesicht zu Angesicht mit Abdullah Öcalan sprechen konnte. Bis 2016 stellten sie wöchentlich Besuchsanträge, welche immer wieder mit fadenscheinigen Begründungen, wie schlechtem Wetter oder einer kaputten Fähre abgelehnt wurden. Nach der Verhängung des staatlichen Ausnahmezustands als Reaktion auf den Putschversuch im selben Jahr, wurde ein offizielles Besuchsverbot per Dekret erlassen. Daraufhin tat sich in der Angelegenheit für die nächsten drei Jahre von Seiten der Behörden erst einmal gar nichts. Leider brauchte es laut Ibrahim Bilmez erst den Aufsehen erregenden Hungerstreik im Jahr 2019, welcher durch die HDP-Abgeordnete Leyla Güven angetoßen wurde und dem sich internationale Aktivist:innen, wie politische Gefangene anschlossen, um das Besuchsverbot zu durchbrechen. Insgesamt waren es laut Bilmez Tausende, welche im Kampf gegen die Isolationshaft die Nahrung verweigerten und am Ende zumindest einen Teil ihres Ziels erreichten:

„Nach all dem war der Staat gezwungen, 2019 Anwaltsbesuche zu genehmigen. Es fanden fünf Besuche statt. Wir waren vier Anwältinnen und Anwälte, die Besuchsanträge gestellt haben, darunter zwei neue. Die Genehmigung gab es jedoch nur für die beiden neuen Unerfahrenen. Seitdem gab es keine weiteren Treffen mit Herrn Öcalan mehr.“

Durch die erneute Abschottung von der Öffentlichkeit entstanden im März 2021 Gerüchte, Abdullah Öcalan sei nicht mehr am Leben. Daraufhin gab es internationale Proteste und die Forderung eines Lebenszeichens. Anwalt Bilmez erzählt, dass es daraufhin ein Telefongespräch zwischen dem Inhaftierten und seiner Familie gegeben habe, was jedoch bereits nach drei Minuten unterbrochen wurde. Auch zu drei weiteren Gefangenen, welche 2009 nach Imrali gebracht wurden, bestehe kein Kontakt, sie seien vollständig isoliert.

An diesem prominenten Beispiel zeigt sich, wie der türkische Staat mit seinen politischen Gegner:innen umgeht: Sie werden oft aufgrund von absurden Vorwürfen zu langen Haftstrafen verurteilt und sowohl vor Gericht, als auch im Gefängnis ihrer grundlegenden Rechte beraubt. Auch Ibrahim Bilmez und circa 40 weitere Anwält:innen mussten das vor zehn Jahren am eigenen Leib erfahren. Sie wurden festgenommen, er selbst saß daraufhin zweieinhalb Jahre im Gefängnis. Seitdem ist er wieder frei, doch das Verfahren läuft noch – ihm drohen bis zu 25 Jahre Haft. „Das wird uns aber nicht daran hindern, weiterhin Herrn Öcalan zu verteidigen“, so Bilmez. Im Gespräch wird deutlich, wie viel Gewicht sowohl er, als auch viele andere Menschen Abdullah Öcalan bei der Lösung der Kurdenfrage beimessen. Kein Wunder, angesichts dessen, dass er auch aus dem Gefängnis heraus noch Bücher geschrieben und auf das politische Geschehen eingewirkt hat.

Auf die Frage, ob er Hoffnung habe, dass Öcalans Freilassung tatsächlich durch öffentlichen Druck erfolgen erreicht werden könnte, antwortet Bilmez uns:

„Ich habe eben nicht grundlos erwähnt, dass der türkische Staat Herrn Öcalan eigentlich als wichtigen, wenn nicht sogar den wichtigsten Akteur in einer Lösung der kurdischen Frage betrachtet. Man weiß, dass Herr Öcalan sowohl den Freiheitswillen als auch die Kraft der Kurdinnen und Kurden repräsentiert. (Er) hat lange vor seiner Zeit auf Imrali seit 1993 immer wieder Initiativen für den Frieden eingeleitet, zum Beispiel durch mehrere einseitige Waffenstillstände vonseiten der PKK. Er wollte auch die Zeit und Situation auf Imrali für den Frieden nutzen und versuchte, seine Inhaftierung in eine Chance für die Lösung der kurdischen Frage zu wenden.(…) Eines möchte ich an dieser Stelle nochmals betonen, und ich habe mir ja persönlich einen Eindruck machen können: Ein Leben auf Imrali zu führen, ist eine unvorstellbare Herausforderung und unmenschlich. Herr Öcalan nutzt sie, nur um die kurdische Frage zu lösen. Er hätte anfangs einen ganz anderen Weg bestreiten können. Er hat jedoch beschlossen, für den Frieden auf Imrali zu überleben. Um auf die Antwort Ihrer Frage zu kommen: Herr Öcalan hat stets versucht, den ganzen Prozess und die Situation auf Imrali in Mittel und Möglichkeiten für eine Lösung zu verwandeln. Seine Verteidigung war immer politisch (…). Er hat sich nicht rechtlich bzw. mit juristischen Mitteln verteidigt, sondern sah seine Situation immer als Ausdruck der kurdischen Frage. Er sprach immer als Repräsentant des kurdischen Volkes, das hat er sowohl vor Gericht als auch in seinen Verteidigungsschriften, die dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vorgelegt wurden, getan. Darin bat er immer wieder auch Lösungsmöglichkeiten an. In seinen Verteidigungsschriften unterstreicht er ja selbst, dass sein Fall ein politischer ist, der auch nur politisch gelöst werden kann. Daher denke ich, dass die Öffentlichkeitsarbeit und politische Kampagnen wie diese für die Freiheit von Abdullah Öcalan eine große Bedeutung haben und bei der Lösung der kurdischen Frage eine wichtige Rolle spielen.“

Anhand der Inhaftierung Abdullah Öcalans – aber auch vieler anderer politischer Gefangener weltweit – zeigt sich immer wieder, dass Gesetze keinem universellen Recht entspringen, sondern ihre Durchsetzung und Auslegung genauso wie der Wille zur Repression immer den aktuellen politischen Geschehnissen unterworfen sind. Auch mit Bilmez sprechen wir noch einmal über die Frage der Gerechtigkeit. Er antwortet, dass es seiner Meinung nach „keine tatsächliche Gerechtigkeit auf der Welt“ gebe, sondern diese aus der Gesellschaft heraus geschaffen werden müsse:

„Eine gerechtere Welt zu schaffen, liegt nicht in der Hand von Staaten, sondern in denen der Menschen und Völker und ihrer Kämpfe dafür.“

Zum Abschluss sprechen wir über seinen persönlichen Eindruck von Abdullah Öcalan, der Millionen Menschen auf der Welt mit seinen Ideen und Schriften geprägt hat und der einer der wenigen weltweit ist, die auch nach 22 Jahren Gefangenschaft und Isolation noch so präsent gehalten werden. Ibrahim Bilmez erinnert sich an ihre erste Begegnung:

„Er schien mir wie ein Löwe oder Panther, den man in eine Zelle gesperrt hatte. Er strahlte einen sehr starken Willen und keinerlei Angst aus. Sein einziges Streben ist die Befreiung der Kurdinnen und Kurden und die Lösung der kurdischen Frage. Ich denke, er spürt eine große Last an Verantwortung auf seinen Schultern, weil tausende junge Menschen gestorben sind, und es sterben täglich weitere. Er will, dass dieses Sterben aufhört.“

Das gesamte Interview kann auf ANF nachgelesen werden

# Titelbild: lowerclassmag

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Am letzten Wochenende fanden in der Autonomen Region Kurdistan im Irak sporadische Kundgebungen an verschiedenen Universitäten statt. Grund dafür waren nicht ausgezahlte Stipendien. Je nach Studienort und Stadt bekamen Studierende bis 2013 zwischen 50.000 uns 150.000 Irakische Dinar, das sind circa 30 bis 80 Euro. Mit der Finanzkrise ab dem Jahr 2014 und dem Krieg gegen den IS endeten diese Zahlungen jedoch. Die Studierenden wurden immer wieder vertröstet: Das Geld würde für den Kampf gegen den Terror gebraucht, für die Flüchtenden. Den Studierenden war schon früh bewusst, dass dies lediglich Ausreden waren. Aber spätestens seit der Ölpreis nun seit Monaten explodiert, haben sie beschlossen: Es gibt keine Rechtfertigungen mehr – weder was die zurückgehaltenen Gelder des Stipendiums angeht, noch für das gesamte kleptokratische System. In den letzten Tagen sind die Demonstrationen dann eskaliert und sogar in Erbil (Hewler) kam es zu Demonstrationen und sogar Blockaden – in der von der mit Deutschland, den USA und der Türkei verbündeten KDP regierten Hauptstadt eine absolute Premiere. Wir haben mit Demonstrant*innen aus Erbil und Slemani geredet. Agir und Dilan waren in Slemani, Hiwa war in Erbil (Hewler).

Wie haben die Proteste für euch angefangen und wie haben sie sich entwickelt?

Agir: Wir haben am Sonntag friedlich angefangen zu protestieren und uns zu versammeln, um einfache Kundgebungen abzuhalten. Montag haben wir uns dann am alten Campus getroffen. Die Polizei kam und hat sich aufgestellt. Wir haben die Straße blockiert und sie fingen an, uns Stück für Stück wegzudrängen, erst einmal ohne etwas gegen uns einzusetzen. Wir drängten zurück und dann ging es los mit der Gewalt. Sie haben sofort Elektroschocker eingesetzt und einen Freund von mir haben sie so umgehauen, dass er sofort beim Aufprall auf den Boden eine schwere Kopfwunde hatte. Wir haben aber weiter Widerstand geleistet. Um Frauen schlagen zu können, haben sie sogar weibliche Polizeitruppen anrücken lassen und sind ohne Gnade auf sie losgegangen. Die Bilder einer Frau, die sieben Mal an der Stirn genäht werden musste, sind ja sofort rumgegangen.

Am nächsten Tag ging es genauso weiter, wir wurden immer wieder eingekreist, vor allem in der Altstadt, und aufs übelste mit Tränengas angegriffen. Aber die Leute in den Restaurants haben uns sofort geholfen. Sie haben uns reingezogen, unser Gesicht gewaschen. Es gab so viele Verletzte, so viele, die für 10 bis 20 Minuten nichts mehr sehen konnten – ich selbst musste mehrfach von Leuten in den Läden wieder aufgepäppelt werden. Später haben sie uns durch die Gassen gejagt und immer wieder haben die Bewohner uns in ihre Häuser gezogen, uns geholfen, das alles auf ihre eigene Gefahr! Die Zentrale der PUK [Patriotische Union Kurdistans, regiert in Slemani] wurde nach einer Weile angegriffen, aber ich habe nicht gesehen wer es war.

Wir standen regelrecht neben uns, hatten überall Verbrennungen, weil die Tränengaskanister so heiß sind und sie aus solcher Nähe abgeschossen wurden, dass es uns die Kleider am Leib versengte. Irgendwann ging es körperlich für die meisten nicht mehr und wir haben uns zerstreut. Als wir zurück in das Studentenwohnheim kamen, wollten sie dieses abends auch noch räumen lassen. Wo hätten die Leute schlafen sollen? Erst nach langem hin und her gab es den Befehl, es doch nicht zu tun. Den ganzen Tag über diese Gewalt und immer wieder als wir angegriffen wurden, habe ich Leute gehört, die sie fragten: „Wieso greift ihr uns so an?“ Und weißt du was ihre Antwort war? Sie sagten: „Ich krieg mein Gehalt dafür, dass ich dich schlage.“ Ich weiß immer noch nicht, wie viele verwundet und wie viele verhaftet sind, ich weiß es nach Tagen des Protestes nicht.

Heute morgen sind ja nicht einmal die Polizisten an den Campus gekommen, es waren sofort die Asayish (Militärpolizei) und die sind immer bewaffnet. Ich gehe seit Jahren auf Demos und eines kann ich euch sagen: Die Polizisten, die haben vielleicht mal nur Knüppel oder Gummigeschosse, aber Asayish? Die sind immer bewaffnet und zwar scharf, mit deutschen und amerikanischen Waffen. Sie haben sich morgens schon mit 20 Einsatzfahrzeugen aufgestellt und sie haben den heutigen Tag der Gewalt bereits mit dieser Eskalation begonnen. Sie haben Leute auf dem Campus eingekesselt, Tränengas in geschlossene Räume, in die Aula geworfen, sie haben alles gemacht.

Dilan: Außerdem war das Tränengas total komisch, das war dunkelgrün, wir hätten mal eine der Tränengasgeschosse schnell in eine Tüte packen sollen, um mal testen zu lassen, was da drin war. Das Tränengas war zwischenzeitlich so stark und so allgegenwärtig, wir haben nicht mal mehr gesehen, womit sie uns angreifen. Die haben geschossen, was sie schießen konnten und wir haben nichts gesehen. Ich habe so viele Verletzte gesehen, so viele sind ohnmächtig geworden – aber die Leute haben an jeder Ecke geholfen, haben uns sofort versteckt, uns in ihre Häuser gezogen, manchmal nur wenige Sekunden, bevor die Einsatzwagen auf der Suche nach uns um die Ecke kamen. Wenn sie nicht da gewesen wären hätte schlimmeres passieren können.

Hiwa: Slemani hat zuerst angefangen, dann wir in Hewler. Wir haben gar nicht angefangen wegen dem Anfangsthema der nicht ausgezahlten Stipendien, sondern wegen der geballten Gewalt dort in Slemani. Wir haben uns in unseren Gruppenchats die Bilder aus Slemani gesendet und waren schockiert und wütend. Wie kann man so etwas tun? Gestern haben sich ja schon Demonstranten gesammelt, das waren so 50 und allein 20 davon wurden verhaftet. Dann hat die Studierendenunion eine Nachricht gesendet und angekündigt, dass sie für heute eine friedliche Demo vor dem Bildungsministerium planen und wir dachten okay, dann gehen wir da hin. Auf einmal kam dann aber die Nachricht, dass sie keine Verantwortung für irgendwas übernehmen und dann kam eine, dass sie das doch absagen.

Dann haben mich Freunde angerufen, die an der medizinischen Fakultät gerade angefangen haben zu protestieren, dass sie von der Asayish eingekesselt wurden. Wir sind vors Bildungsministerium trotz Absage und wurden ebenfalls eingekesselt. Der Sprecher des Ministeriums kam sogar und wollte uns per Megafon beschwichtigen, aber wir haben ihn mit Buh-Rufen stillgelegt. Auf einmal passierte etwas komisches, die Sicherheitskräfte haben erst mal gegen uns gedrückt und dann haben sie losgelassen, sie haben uns machen lassen. Einer von ihnen sagte sogar: „Wir sind nicht wie die PUK“. Was für eine komische Taktik. Dann sind wir eben weitermarschiert und haben zwei Straßensperrungen aufgebaut. Gerade ältere Leute haben uns aus ihren Autos angeschrien, dass man so nicht protestiert, aber was soll das schon heißen in Hewler, wo eigentlich niemand jemals protestiert hat, geschweige denn eine Straßensperrung gemacht hat. Ich glaube das war sogar das erste mal in der Geschichte, dass sowas in Hewler passiert ist. Ob es morgen weitergeht weiß ich nicht, aber viele Jugendliche haben immer wieder geschrien: „Wir kommen wieder!“

Jetzt wird ja häufig behauptet der Ministerrat, der heute getagt hat, hätte beschlossen das Stipendium wieder auszuzahlen, aber gleichzeitig beschlossen sie, Unis für weitere zwei Tage geschlossen zu halten – was wollen sie damit?

Agir: Das ist eine Lüge, sie haben das nicht beschlossen. Sie haben nichts mit dem Stipendium beschlossen. Sie haben lediglich Gelder freigegeben für, wie sie sagen, innere Reformationen. Was das sein soll, weiß doch keiner. Ich sitze in einem Studentenheim voller Kakerlaken, hier gibt’s kein sauberes Wasser und auf sechs mal vier Meter sind wir hier sieben Leute im Raum. Das ist alles eine elendige Lüge. Sie machen die Unis einfach zu, um uns ruhigzustellen. Solange die Uni zu ist, sehen sich Leute nicht unbedingt, können sich nicht organisieren, sie versuchen uns stillzulegen.

Im Dezember 2020 gab es ja schon schwere Proteste, viele von Jugendlichen, wo auch viele getötet wurden. Sind die Proteste jetzt anders oder ähnlich?

Dilan: Ich denke es ist anders, weil letztes Jahr waren das total unterschiedliche Leute, erst gab es ein paar ältere, die angefangen haben und dann gab es viele jüngere aus allen möglichen verschiedenen Städten. Es gab auch nicht so ein zentrales Thema, das alle verbunden hat. Außerdem wurden halt in wenigen Tagen schon direkt Leute getötet, 8 bis 10 Leute wurden direkt umgebracht. Das hat alles schnell verstummen lassen. Diesmal aber ist das alles organisierter und es gibt einen gemeinsamen Startpunkt, die Uni. Es ist einfach anders, wenn da Leute sind, die sich kennen, die verbunden sind, die sich organisieren können.

Hiwa: Die Student:innen helfen sich enorm, sie haben einen krassen Zusammenhalt und gleichzeitig wird viel dezentral organisiert, es gibt keine Vorsitzende und keine Hierarchien. Alle stehen auf derselben Ebene, ob jung oder alt, Frau oder Mann. Wir sind verbunden aber dezentral genug, um flexibel zu sein. Es ist auch nicht das erste mal, dass wir protestieren. Wir haben mal wegen unserem dreckigen Wasser protestiert und nach einer Weile haben sie sich drum gekümmert, haben unseren Forderungen klein beigegeben und unsere Leitungen repariert. Aber es ist schon echt komisch, sobald es um Geld geht, sind sie richtig wütend, da greifen sie einen direkt an. Ich denke es liegt daran, dass daran eben alle materiellen Themen gebunden sind. Wir sind ja nicht die einzigen in diesem Land, die bestohlen werden.

Diesmal gab es, wie ihr schon erwähnt habt, ein besonderes Phänomen: Drei Städte, die sonst nicht viel miteinander zu tun haben und sogar manchmal Antipathie hegen, haben sich stark miteinander Solidarisiert: Baghdad, Hewler und Slemani. Es kamen Solidaritätsgrüße von Studierenden aus Baghdad in Anlehnung an die Tishrin Proteste von 2019 und wie ihr ja deutlich macht, hat sich Hewler mit Slemani solidarisiert, obwohl beide Städte fast schon verfeindet sind. Ist das nur Symbolik oder eine künftige Allianz?

Dilan: Jetzt erst mal ist es nur symbolisch, da muss noch viel passieren, aber es ist ein gutes Zeichen und dass die Hewleris heute so demonstriert und blockiert haben – ich glaube das ist wirklich das erste mal in ihrer Geschichte – das ist eine richtige Revolution und das hat die Leute sehr empowert. Es hat ihnen ein Gefühl dafür gegeben wie viel Stärke sie eigentlich haben. Aber selbst wenn wir das alles nicht jetzt sofort mobilisieren können, so denke ich, dass das in der Zukunft der organisatorischen Verbindung helfen kann. Das hat echt Hoffnung gemacht, das ist der symbolische erste Schritt.

Hiwa: Wir haben wirklich für die Studenten in Slemani angefangen und wir entwickeln uns immer weiter. Damals gab es ja den Bruderkrieg und die ältere Generation, die Generation unserer Eltern haben uns auch schon so eingestellt, dass wir diese Antipathien weitertragen – aber wir kommen uns näher. Ich denke, die neue Generation ist furchtloser. Davor gab es einfach nie Proteste in Hewler und heute haben auch viele ältere Leute gesagt, dass sie die Teilnahme an unseren Demos nicht riskieren. Aber wir haben uns trotzdem mobilisiert, wir haben Cola organisiert, weil wir schon damit gerechnet haben, dass wir Pfefferspray abkriegen würden. Klar ist vieles symbolisch, leider gibt’s in Hewler einfach einen stärkeren Nationalismus und viele wollen Abstand von Baghdad. Ich glaube Slemani ist etwas liberaler und kosmopolitischer, die sind eher dazu willens, sich zu verbinden mit Baghdad, Hewler muss sich da noch entwickeln.

Viele Studenten reden davon, dass das jetzt sie neue Studentenbewegung Südkurdistans ist, sie vergleichen sie mit den 68ern. Denkt ihr so eine Bewegung, vielleicht sogar ein Systemwandel ist möglich?

Hiwa: Hier in Hewler ist es so, unsere Eltern sind oftmals so verschuldet und so verarmt, das materielle Elend ist so groß, dass viele Proteste höchstens so auf der Einzelfallebene hängen bleiben. Viele brauchen so grundsätzliche Sachen, es bleibt einfach bei diesen einzelnen Protesten hängen und klar ist einfach, dass sie hier so heftig gegen die Leute vorgehen, dass sich niemand etwas traut. Aber ich glaube, in Slemani sind die Leute wütender, einfach weniger unterzukriegen.

Agir: Ich denke, man muss bei den Studierenden anfangen und ich meine wir sehen, dass die Politiker aus allen Ecken kommen und versuchen, diese Proteste für sich zu instrumentalisieren, weil sie ihre Wucht und ihr Potential erkennen. Shaswar Abdulwahid (Vorsitzender der oppositionellen populistischen und inhaltsfreien „Neue Generation“ Partei) kam heute auf die Demo und wollte einen Moment der Beliebtheit erhaschen, aber er wurde sofort von den Leuten zurückgepfiffen. Die Leute wissen, was sie wollen und das was sie wollen, gibt’s bei ihm nicht. Es gab leider immer eine Tendenz in Kurdistan, dass sich die Leute nach starken charismatischen Figuren sehnen, aber das ist in der neuen Generation vorbei. Sie wollen ihr eigener Herr sein. Da gibt es einen riesigen Wandel und am Ende sehen wir einfach, dass viele Kurden realisieren, dass ihre Befreiung von Saddam wie viele andere Dekolonisierungsprozesse in eine Kopie der vorherigen Kolonie gemündet ist. Das kritisieren sie, das analysieren sie immer stärker. Ich meine, schaut euch das an, immer hat man Angst, dass jemand einen abhört oder verpfeift, es ist wie bei der Ba’ath. Wir müssen etwas neues aufbauen.

Was erwartet ihr von den Linken, gerade im Westen?

Agir: Es muss einfach eine Verbindung geben zwischen den Linken aus verschiedenen Ländern, wir müssen voneinander lernen und uns helfen. Gerade auf Twitter sieht man das doch, die Black Socialists of America zum Beispiel sind total kurdistansolidarisch und verbreiten dazu super viel, genauso gibt’s viele linke internationalistische Orgas, die mit Kurdistan Kontakt halten. Es gibt Antifa-Gruppen, die diese Netzwerke haben. Das Problem ist, dass der Fokus nur auf Rojava ist, den Rest sehen sie häufig nicht und das ist eine verpasste Chance. Man muss aufmerksam machen auf die Lage hier, was hier eigentlich los ist und wie das, was hier passiert, mit so vielen anderen politischen Fragen zusammenhängt. Nach außen wird ein Bild konstruiert von einer so perfekten Demokratie Kurdistans, eine Insel des Friedens im Mittleren Osten, das ist aber alles Propaganda. Wir haben so eine krasse Klassengesellschaft hier, ein kapitalistisches System wo einige wenige sich so enorm bereichert haben, während alle unter ihnen aufs Übelste leiden. Das muss man deutlich zeigen, das Image der Herrschenden zerstören. Diese Herrschenden, die präsentieren sich im Westen wie Demokraten und verhaften und töten daheim Journalisten, das muss man klar zeigen. Das ist eine Diktatur, Leute müssen das wissen, damit sie dann nicht überrascht sind, wenn es kracht.

Bildquelle: Mohammed Jalal

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Am 27. November findet in Berlin eine Demonstration der Initiative „PKK-Verbot aufheben!“ für die Entkriminalisierung der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) statt. Das LowerClassMagazine sprach mit der Initiative über ihre Ziele, Forderungen und die letzten Informationen zum Stand der Vorbereitungen.

Was für Ziele verfolgt ihr als Initiative „PKK-Verbot aufheben!“?

Wir sind ein Netzwerk von politisch aktiven Menschen, die der Meinung sind, dass das PKK-Verbot in Deutschland umgehend aufgehoben werden muss. Und dass die PKK umgehend aus der EU-Terrorliste genommen werden muss. Wir möchten über das PKK-Verbot, seine Geschichte und Auswirkungen sowie den politischen und juristischen Kampf dagegen informieren. Um ein bisschen konkreter zu werden und Zahlen zu nennen: Aufgrund des PKK-Verbots haben alleine in den letzten fünf Jahren über 800 Verfahren wegen Mitgliedschaft und Unterstützung einer terroristischen Vereinigung stattgefunden, 18 Menschen haben aufgrund des Verbots hier in Deutschland ihr Leben verloren, wie zum Beispiel der 17-jährige Halim Dener, der 1994 beim Plakatieren gegen das Verbot von hinten erschossen worden war. Allgemein stellt das PKK-Verbot eine staatlich institutionalisierte Diskriminierung der kurdischen Gesellschaft hier in Deutschland dar, so wurde in den neunziger Jahren pauschal in jedem Bericht der deutschen Medien über die kurdische Gesellschaft von „den Terrorkurden“ geredet, gleichzeitig verhindert die Bundesrepublik somit gezielt, dass sich demokratische Lösungen für die kurdische Frage weiterentwickeln können.

Deswegen ist es ein weiteres großes Ziel unserer Initiative, dass wir Menschen dazu ermutigen, selbst aktiv zu werden und ihre Mitmenschen über die Auswirkungen des Verbots zu informieren. Wir wollen die Menschen dazu aufrufen sich mit der PKK an sich auseinanderzusetzen und anhand dessen eine Diskussion zu führen, statt weiterhin pauschal die stumpfe Diffamierung unkritisch zu übernehmen.

Am 27. November ladet ihr zu einer bundesweiten Demonstration gegen das PKK-Verbot ein. Was sind eure Forderungen?

Wenn man sich das Motto unserer Demonstration „PKK-Verbot aufheben! Krieg beenden – politische Lösung fördern!“ genauer anschaut, werden unsere Forderungen schnell offensichtlich sein. Das Betätigungsverbot der PKK muss umgehend aufgehoben werden. Sprich alle Organisationen und Unterorganisationen der Arbeiterpartei Kurdistans müssen umgehend legalisiert werden. Alle politischen Gefangenen müssen umgehend freigelassen werden, die laufenden Verfahren müssen fallen gelassen werden und der §129 a/b des Strafgesetzbuches muss gestrichen werden.

Mit „Krieg beenden – politische Lösung fördern!“ meinen wir, dass der militärische Krieg der in Kurdistan gegen die PKK, welcher massiv durch deutsche Waffenlieferungen und militärisches Know-How vorangetrieben wird, sowie der Kampf der Behörden hier in Deutschland gegen die kurdische Freiheitsbewegung sofort eingestellt werden muss. Der Staat muss sich auf den Dialog um eine demokratisch-friedliche Lösung auf die kurdische Frage, welchen die PKK immer wieder angeboten hat, einlassen. Wir fordern also konkret, dass der deutsche Staat die von ihm vorangetriebene Gewaltspirale anhält, sich auf den Dialog mit der PKK einlässt um somit politische Lösungen für die knapp eine Million in Deutschland lebenden Kurdinnen und Kurden aufzubauen. Denn das ist die einzige Möglichkeit um für Frieden, Demokratie und Selbstbestimmung in Kurdistan zu sorgen. 

Im Vorfeld der Demonstration habt ihr in einer Erklärung die Einschränkungen von Grundrechten scharf kritisiert. Könnt ihr uns schildern mit was für Repressionen ihr konkret konfrontiert seid?

Richtig, wir hatten bereits in unserer Erklärung allgemein darüber berichtet, wie der deutsche Staat seit 1993 jegliche Versuche, gegen das PKK-Verbot Öffentlichkeit zu schaffen, zu verhindern und zu diffamieren suchte. Auch wir als Entkriminalisierungsinitiative waren direkt selbst wieder von Kriminalisierung betroffen.

Der Internethost „Strato“ wurde dazu gedrängt unsere Webseite verbot-aufheben.de vom Netz zu nehmen, was ganz klar einen Verstoß gegen unser gutes Recht auf freie Meinungsäußerung darstellt. Monatelange Arbeit und Recherche für diese Webseite wurde somit zunichte gemacht. Dort fanden sich dutzende Artikel zu Entwicklungen bezüglich des Verbots in diesem Jahr sowie unzählige Prozessberichte. Desweiteren mehrere Dossiers, in denen die Auswirkungen des Verbots in den letzten 28 Jahren klar ausgearbeitet wurden, sowie Diskussions-Leitfäden, die es einfach ermöglichten gegen die staatliche Diffamierung der PKK argumentieren zu können. Auch allgemein alle Informationen bezüglich der Demonstration waren dort gesammelt. Nun haben wir zwar einen neuen Blog (https://verbotaufheben.noblogs.org/), doch wird es vermutlich dauern, bis wir wieder so viele Inhalte vorbereiten können.

Auf der anderen Seite wurde auch die Mobilisierung in den sozialen Medien massiv attackiert. Unsere eigenen Accounts wurden gesperrt, die Posts, Tweets und Beiträge solidarischer Gruppen wurden ebenfalls zensiert und teilweise wurden auch ihre Accounts temporär gesperrt. Eine Begründung dafür haben weder wir, noch die anderen Freund:innen erhalten, denn weder wurden verbotene Symbole gezeigt, noch wurde zu Straftaten oder Ähnlichem aufgerufen. Bei allem handelte es sich lediglich um Aufrufe zu unserer Demonstration am 27. November in Berlin. Auch hier werden uns die Grundrechte der Meinungs- und der Versammlungsfreiheit verwehrt. Denn zur Ausübung dieser Grundrechte ist es notwendig im öffentlichen Raum die Forderung der Aufhebung des Verbots lautstark aussprechen zu können. Und auch die Mobilisierungstätigkeit im Vorfeld der Demonstration ist grundrechtlich geschützt, was jedoch auch hier nicht eingehalten wurde.

Könnt ihr uns nochmal den aktuellen Stand der Vorbereitungen schildern? Wo findet man mehr Infos?

Wir befinden uns mittlerweile knapp 2 ½ Wochen vor der Demonstration in der intensivsten Phase der Vorbereitung. Die Demonstration ist angemeldet, wird sich um 12 Uhr sammeln, ab 13 Uhr mit einer Auftaktkundgebung am Hermannplatz beginnen und bis zum Oranienplatz laufen. Aktuell finden bundesweit in vielen verschiedenen Städten Seminare und Informationsveranstaltungen bezüglich der PKK und des PKK-Verbotes statt, parallel dazu werden Busse aus nahezu allen größeren Städten in der Bundesrepublik organisiert, um es für Menschen und Aktivist:innen aus ganz Deutschland zu ermöglichen an der Demonstration teilzunehmen. Desweiteren sind wir gerade damit beschäftigt eine neue Informationsplattform aufzubauen, nachdem, wie ich ja oben oben beschrieben hatte, all unsere Kanäle blockiert wurden. Bisher haben wir dafür im Austausch mit der Nachrichtenagentur ANF viele Informationen und Statements veröffentlichen können, doch nun wird vor allem unser neuer Blog https://verbotaufheben.noblogs.org/ unser zentrales Sprachrohr sein. Alle Informationen bezüglich der Demonstration, der Route, der Busse und der Veranstaltungen werden dort zu finden sein. Für weitere Nachfragen sind wir als Initiative stets unter der Email info@verbot-aufheben.de zu erreichen.

Was kann man jenseits der Demonstration gegen das Verbot tun?

Es gibt sehr viele Möglichkeiten sich sinnvoll gegen das PKK-Verbot einzusetzen. Anfangs sind wir ja bereits auf ein paar Punkte eingegangen. So ist es vor allem wichtig, dass die Menschen mehr aufeinander zugehen, ein Diskurs muss geschaffen werden, in dem man sich mit der PKK und ihren Zielen, Vorstellungen und Praxis auseinandersetzt.

Dabei ist es auch wichtig zu betonen, dass sich das Verbot nicht „nur“ gegen Kurd:innen richtet, sondern allgemein gegen alle Menschen, die sich für einen demokratischen, fortschrittlichen Wandel einsetzen. Wir sehen die klare Verbindung zwischen den §129-Verfahren, mit den wir konfrontiert sind, zu den §129-Verfahren, die gerade in Stuttgart, Frankfurt, Dresden und sonstwo laufen.

Aber auch unabhängig davon sind Prozessbeobachtungen, kleine Aktionen, sowie Demonstrationen zentral wichtig. Dafür ist kein Expertenwissen notwendig und so wird dafür gesorgt, dass die Thematik auf die Agenda der Menschen hier in Deutschland kommt und Druck auf die Regierung ausgeübt wird. Die Wirkung von kleinen solidarischen Aktionen sollte nicht unterschätzt werden und im Gegenteil viel mehr zur Praxis werden. Der Kreativität sind dabei keine Grenzen gesetzt.

Konkret auf die Demonstration bezogen ist aber vor allem auch die Aktionswoche, vom 22. bis zum 26. November, vor der Demo ein guter Rahmen, selbst aktiv zu werden. Es wird bundesweit Bannerdrops, Infostände, Sit-In‘s etc. geben und in den Städten, wo noch nichts geplant ist, rufen wir die Menschen dazu auf, selbst Initiative zu ergreifen. Am letzten Tag der Aktionswoche und am Tag der Demonstration selbst, wird es auf social media einen Twitterstorm geben. Auch dies ist eine Möglichkeit sowohl für Menschen, die sich bereits mit der Thematik auseinandergesetzt haben, aber auch für Menschen, für die das Thema noch komplett neu ist, einfach aktiv zu werden.

Mehr Informationen:

https://verbotaufheben.noblogs.org/

Kontakt:

info@verbot-aufheben.de

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Am Sonntag den 24. Oktober erreichte die türkische Lira ein Rekordtief und mit Bange beobachtete die Bevölkerung des Landes wie ihre wirtschaftliche Situation sich wieder ein Stück weiter verschlimmerte. Aber nicht allen geht es so – für viele andere ist der politisch-mediale Apparat des faschistischen türkischen Staates nämlich wieder so effektiv, dass kaum eine Minute bleibt, um an Inflation und eine horrende Suizidrate aufgrund von Armut im Land zu denken, denn die weitere rechtsnationalistische Sau muss durch das Land gejagt werden. So wurden kürzlich beispielsweise Verfahren und sogar sofortige Abschiebebefehle gegen mehrere syrische Flüchtende ausgesprochen, die „provokativ“ Bananen auf social media aßen, nachdem sich ein türkischer Bürger auf Social Media darüber beschwerte, dass die durchschnittliche türkische Person sich diese im Gegensatz zu den Geflüchteten nicht leisten könne. In Denizli beging wieder einmal ein Mann einen Femizid an seiner Ex-Freundin und wieder einmal wird in den Kommentarspalten darüber diskutiert, was die Frau alles gemacht haben muss, um den Mann so provoziert zu haben. Und schließlich beschloss das türkische Parlament öffentlichkeitswirksam, dass sowohl die militärischen Einsätze in Syrien als auch im Irak um zwei Jahre verlängert werden sollen – gemeint ist natürlich der vermeintliche Krieg gegen die PKK. Wieso man sich Bananen nicht leisten können sollte, wieso FLINTA* Personen täglich sterben müssen, wieso das kurdische Volk bei jeder noch so kleinen Gelegenheit vernichtet werden muss, das fragen sich die wenigsten in einem Land, wo vor allem eins intersektional ist: Das Elend und die Krisen.

Es gibt viele Gründe anzunehmen, dass in Konsequenz dieser parlamentarischen Entscheidung eine größere neue Militäroffensive in Rojava von Seiten der Türkei ansteht. Genau wie bei den Operationen Euphrates Shield 2016/2017, Olive Branch 2018 (bekannter als der Krieg um Afrin) und Peace Spring (eine böswillige Untertreibung der ethnischen Säuberungskampagne zwischen Girespi und Serekaniye im Herbst 2019) werden sowohl türkische Luftkräfte, türkische Spezialkräfte am Boden und eine Horde an islamistischen Schergen der SNA (Syrian National Army, ehemals bekannt unter FSA/TFSA) mobilisiert. Dabei ist man sich nach wie vor nicht zu schade vormalige IS oder al-Kaida Kräfte mit einzubinden, wie der Sprecher des SDF Medienzentrums, Farhad Shami, feststellt.

Diesmal sieht es so aus, als würde die Türkei weiter ihrem Projekt nachkommen, die Verbindung zwischen den größeren Gebieten Rojavas zu kappen, wie auch schon zuvor geschehen. Afrin konnte die Türkei erfolgreich durch die Operation Euphrates Shield isolieren, um sich so auf die Einnahme des Gebiets vorzubereiten. Und auch der Vorstoß in Girespi und Serekaniye im Jahr 2019 lief vor allem darauf hinaus, das Gebiet bis zum M4 Highway (der Schnellstraße, die alle wichtigen Städte entlang der syrisch-türkischen Grenze verbindet) einzunehmen. Damals musste die türkische Armee den Highway nach einigen Wochen wieder freigeben, weil auch alle anderen Kräfte, unter anderem die russischen und US-amerikanischen, über diesen verkehrten. Doch ein strategisches Auge hat der NATO-Partner weiterhin darauf geworfen – besonders auf die am Highway gelegene Stadt Ain Issa, die südwestlich vom durch die Türkei besetzten Girespi (arabisch: Tel Abiyad) liegt.

In Ain Issa sammeln sich mitunter einige der wichtigsten Strukturen der Syrisch Demokratischen Kräfte (SDF) und wer etwa vom Nordosten also von Qamishlo oder Heseke nach Kobani will, muss durch diese Stadt hindurch. Man kann also davon ausgehen, dass die nächste größere türkische Operation genau dieses tendenziell abgehängte Glied Rojavas einnehmen und vor allem Kobani isolieren will – ein militärischer und vor allem symbolischer Vorstoß, der ohne Gleichen wäre. 

In der Region Kurdistan (KRI) im Irak, wo der türkische Drohnenkrieg gegen die kurdische Bevölkerung allerhöchstens zum Eklat von Gare führte, konnte hingegen noch kein symbolischer Sieg errungen werden, der ausreichend von den eigenen Krisen ablenken könnte. Während die Türkei mit allen Mitteln die gesamte Grenzregion zwischen dem Irak bzw. der KRI und der Türkei mit Drohnen und Giftgas bombardiert und ganze Waldflächen rodet, fliegt sie mittlerweile bis in das östlich von Kirkuk gelegene Chamchamal Drohnenangriffe gegen vermeintliche PKK-Stellungen. Besonders zugute kommt der Türkei eine schwache PUK – Jene Partei, welche im Osten der KRI das Sagen hat und durch interne Machtkonflikte enorm an Kraft verlor. Der bis dato mächtigste Mann der PUK, Lahur Sheikh Jangi, der als im weitesten Sinne als PKK-freundlich gilt, wurde infolge dieser Auseinandersetzungen seines Amtes enthoben. Zwischenzeitlich war sogar die Rede davon, ihn des Landes zu verweisen. Kurz nach diesen schicksalshaften Tagen hagelte es in der sonst sicheren und eher links eingestellten Stadt Sulaimaniya Kugeln. Mehrere PKK-Kader wurden getötet, darunter Yasin Bulut. Die türkischen NATO-Truppen bombardieren in Südkurdistan also weiterhin so gut wie alle Gebiete und dank dem erneuten Parlamentsmandat ist kein Ende dieser Kampfhandlungen in Sicht. Besonders makaber in diesem Kontext: Nur wenige Tage nach der Entscheidung des türkischen Parlaments postet die Twitter-Seite der NATO einen Ehrentweet an den NATO-Alliierten Türkei um mit ihnen den Nationalfeiertag zu zelebrieren. 

Wie gegen Ende des Jahres die Sicherheitslage der Kurd*innen im Irak aussehen wird, ist absolut unklar. Denn bis auf Weiteres sollen alle US-Truppen das Land verlassen, wie Präsident Biden schon im Juli nach Absprache mit Ministerpräsident Mustafa al-Kadhimi ankündigte. Das irakische politische Establishment hat wiederholt keinerlei Einspruch gegen das kilometerweite Eindringen der Türkei geäußert und mit einem Ende der US-Präsenz und somit einem Vorteil für den Iran und iranische Milizen gibt es keinen Grund anzunehmen, dass die Region Kurdistan von freundlichen Kräften umzingelt und besetzt sein wird. Ein Szenario, in dem die KRI weiter von türkischen NATO-Drohnen bombardiert und gleichzeitig von iranischen Raketen angegriffen wird, ist nicht besonders unwahrscheinlich. Es zeichnet sich ab, dass 2022 das Jahr des Überlebenskampfes der Region Kurdistan wird. Dafür sprechen nicht zuletzt die Rekordzahlen an flüchtenden Kurd*innen aus der KRI, die vor allem gerade an der polnisch-belarussischen Grenze feststecken. Denn zwischen der Korruption von KDP und PUK sowie dem fortwährenden Vernichtungskrieg der Türkei bleibt für die Zivilbevölkerung kaum eine Alternative. Und so nehmen viele eher den Tod auf der Fluchtroute in Kauf, als weiter dort im Elend zu leben.

An der vermutlich künftigen Koalition der Bundesregierung ist allerdings nur ihre Farbkombination pro-kurdisch, denn zum Thema Türkeipolitik hüllt man sich in Ampelkreisen in Schweigen. Nachdem Erdogan fast ohne Konsequenzen die Ausweisung verschiedener Botschafter*innen, unter anderem des Deutschen, verlangte und auch dies in Deutschland höchstens Mahnungen zur Besonnenheit hervorgerufen hat, gab es keinerlei weitere Statements zum Kameraden vom Bosporus. Gerade in bei SPD und Grünen begnügt man sich damit, politisch akzeptierte Oppositionelle wie Can Dündar oder Osman Kavala mit Phrasen  – oder mit einem netten Abendessen, wenn sie denn nun frei sind – zu beehren, anstatt sich wirklich zur Vernichtungspolitik der Türkei gegen Kurd*innen oder Armenier*innen zu positionieren. Man feiert 60 Jahre Gastarbeiter*innenabkommen, aber schweigt zur allgegenwärtigen Kriminalisierung kurdisch-linker und türkisch-linker Organisationen in Deutschland.

Vielleicht eint das Deutschland und die Türkei also am meisten: Während ökonomische Krisen, fundamentale Verteilungsfragen, tägliche Femizide und vieles mehr die Systemfrage hervorrufen sollten, vergnügt man sich lieber mit besonders emotionalisierten und symbolischen Debatten. So kann man leider davon ausgehen, dass die sich anbahnende neue Militäroffensive nicht die geringsten Reaktionen in den Kreisen des deutschen politischen Establishments auslösen wird. So wenig man mit diesen rechnen kann, so wenig sollten sie ein Standard politischen Handelns sein. Die nächsten Monate müssen vor allem dafür genutzt werden auf allen Ebenen Widerstand gegen den Vernichtungskrieg der NATO in Kurdistan – an allen Fronten – zu leisten. Sowohl in Südkurdistan als auch in Rojava geht es um nichts weniger, als um den Überlebenskampf der einzigen existierenden kurdischen Autonomieregionen – ihnen und vor allem ihrer Bevölkerung sollte nichts als grenzenlose Solidarität gelten.

#Bildquelle: ANF

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Die Türkei führt – weitgehend unbeachtet von der Weltöffentlichkeit – ihren Krieg gegen die kurdische Befreiungsbewegung nicht nur an der irakisch-türkischen Grenze weiter. Sie setzt dabei neben der Luftwaffe und Bodentruppen mittlerweile auch immer häufiger international geächtete Waffen wie Giftgas ein. Doch die Guerilla und die Bevölkerung leisten weiterhin Widerstand – mit Erfolg. Wir haben mit Şoreş Ronahî, Mitglied der Revolutionären Jugendbewegung Syriens und der Internationalistischen Kommune in Rojava (Teil der Kampagne Riseup4Rojava) über die aktuelle Lage gesprochen.

Du bist ja derzeit in Rojava, im Norden Syriens, und dort politisch aktiv. Wie ist die Situation im Moment vor Ort nach deiner Einschätzung? Wir hören vermehrt von der konkreten Gefahr einer neuen Großoffensive der türkischen Armee gegen kurdische Gebiete in Syrien. Wie ist die Stimmung bei euch und wie bewertet ihr die aktuellen Entwicklungen in der Region?

Was auch immer passiert, das Leben geht hier natürlich weiter. Die Menschen hier haben sich daran gewöhnt unter Kriegsbedingungen und mit dem andauernden Embargo zu leben. Auch die Drohung mit neuen Angriffen gegen das befreite Rojava ist nichts neues, sondern immer wiederkehrende Realität. Das soll nicht heißen, dass wir das nicht ernst nehmen, doch Krieg und Widerstand sind hier nicht an einen “Tag X” gebunden. Der türkische Staat handelt in Zeiten, in denen er nicht mit einer großangelegten Offensive versucht Gebiete zu besetzen, nach einer Strategie des Krieges niedriger Intensität.

Sie töten unsere Genossi:nnen und auch Zivilist:innen täglich durch Luftschläge mit ihren Drohnen. Sie schneiden die Wasserversorgung Rojavas ab, versuchen für Probleme und Chaos zu sorgen, indem sie Agenten in die Region einschleusen, versuchen Kurd:innen und Araber:innen gegeneinander aufzuhetzen und verbreiten Lügen und Anti-Propaganda. Gleichzeitig hat der physische Krieg an den essentiellen Frontlinien nie aufgehört. Tagtäglich werden die Gebiete rund um Til Temir, Eyn Îsa, Minbic und Şehba bombardiert und natürlich leisten die Leute hier dagegen Widerstand und verteidigen sich aktiv.

Es geht auch nicht nur um Rojava, sondern wir müssen verstehen, dass die Kriege in den Bergen, in Rojava, in Nordkurdistan, usw. miteinander verbunden sind. Der türkische Staat ist ein faschistischer Staat, seine Regierung ist faschistisch. Sie haben ihre eigene Existenz auf Krieg und Völkermord aufgebaut und setzen diese ihre Existenzgrundlage heute auf gleiche Weise fort. Der Widerstand dagegen ist immer legitim und dieser Widerstand ist heute grenzübergreifend und im Interesse aller Völker der Region.

Die letzten Jahre waren geprägt von Krieg und Widerstand, sowohl hier in Rojava als auch überall anders in der Region. Seit Februar diesen Jahres versucht die türkische Armee verzweifelt in weitere Gebiete der von der Guerilla im Süden Kurdistans (Nordirak, d. Red.) kontrollierten Medya-Verteidigungsgebiete vorzudringen. So startete sie eine aufwändige Blitzoperation gegen die Gare-Region am 10. Februar mit Unterstützung der KDP (vom Barzani-Clan geführte, von der Türkei, Deutschland und den USA abhängige Kompradorenpartei in der Kurdischen Autonomieregion im Nordirak, d.Red.), musste sich jedoch nach 4 Tagen schwerer Gefechte geschlagen geben und unverrichteter Dinge abziehen.

Kurz darauf begann die nächste Großoffensive am 24.04. gegen die Regionen Metina, Zap und Avaşîn. Diese Operation unter dem Namen “Claw Lightning and Claw Thunderbolt” hält bis heute an. Erst vor ein paar Tagen veröffentlichten die Volksverteidigungskräfte HPG eine Bilanz der letzten sechs Monate. Daraus geht hervor, dass die türkische Armee trotz allen Aufwands, modernster Technik, unablässiger Luftüberwachung, flächendeckender Bombardements, dem Einsatz tausender Soldaten und der hinterhältigen Unterstützung durch die KDP und Roj-Peşmergas (Von der Türkei ausgebildete KDP-nahe Milizen, d.Red.) schwere Rückschläge einzustecken hatte und keine großen Gebietsgewinne für sich verzeichnen kann.

Besonders in den Gebieten Zendura, Mamreşo, Girê Sor und Werxelê leistete die Guerilla einen historischen und kompromisslosen Widerstand, der weiterhin anhält. Die einzige Lösung, welche der türkische Staat für sich dabei zu sehen scheint ist der massive Einsatz von chemischen Waffen. Laut der sechsmonatigen Bilanz der Volksverteidigungskräfte HPG setzte die türkische Armee innerhalb dieses Zeitraumes 323 mal verschiedene Arten von Chemiewaffen und Giftgas ein.

Wir wissen alle, dass das ein international anerkanntes Verbrechen ist, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, doch wirklich zu kümmern scheint das niemand. Nun sieht es so aus, dass die türkische Armee in den Bergen an ihre Grenzen gestoßen ist. Gleichzeitig geht es der Erdoğan-Regierung alles andere als gut. Laut Umfragen würde ihr Regierungsbündnis nicht einmal annähernd in die Nähe einer Mehrheit kommen bei kommenden Wahlen. Die Wirtschaft steckt in der Krise, den Menschen in der Türkei geht es nicht gut und sie sind unzufrieden. Der Staat versucht jetzt, wie immer, die Probleme einfach unsichtbar zu machen, indem die Kriegspolitik weiter angeheizt wird. Für das AKP-MHP-Regime sind die Menschen im eigenen Land nichts wert, sie haben alles und jeden dem Ziel untergestellt den Widerstand des kurdischen Volkes zu brechen und die Freiheitsbewegung militärisch zu vernichten. Die gesamte Innen- und Außenpolitik des türkischen Staates ist darauf ausgerichtet und auch die Wirtschaftskrise selbst rührt eben genau daher. Als diesen Sommer Wälder in der Türkei brannten, da bemühten sie sich sehr darum die kurdische Freiheitsbewegung dafür verantwortlich zu erklären, doch auch mit diesen dreckigen Spielchen konnten sie nicht davon ablenken, dass die Unfähigkeit zur Bekämpfung der Brände vor allem daher rührte, dass Investitionen zum Großteil ins Militär, Kriegstechnologie und Waffen gesteckt werden, während es dann z.B. an notwendig ausgerüsteter Feuerwehr mangelt.

Interessant ist auch, dass die türkische faschistische Regierung seit Jahren alles tut, um die HDP zu isolieren, ihre Verankerung in der Bevölkerung zu brechen und sie somit in die Bedeutungslosigkeit zu schicken. Doch Massenverhaftungen, drakonische Strafen für quasi nichts und wieder nichts, Folter, Mord und Verfolgung haben nichts dergleichen erreichen können und die Unterstützung der Bevölkerung für die HDP ist ungebrochen. Das Erdoğan-Regime erhofft sich nun durch eine Fortsetzung ihrer vorherigen Invasionen in Nordsyrien/Rojava ein Deckel auf die eigenen Problem packen zu können und einen lang ersehnten Erfolg für sich verbuchen zu können, welchen sie weder in den Bergen militärisch noch gesellschaftlich und politisch im eigenen Land erreichen konnten.

Natürlich spielen noch viele andere Faktoren eine Rolle. Die weitere Besatzung eines Gebietes in Rojava, nach der Besatzung von Efrîn und Serêkaniyê, wäre ein schwerer Schlag gegen die Revolution, von dem sich Rojava nur noch schwer erholen würde. Dessen ist sich der türkische Staat bewusst und auch die internationalen, imperialistischen Kräfte, die in der Region aktiv sind, sprich USA und Russland, wissen das und versuchen dementsprechend für ihre eigenen Interessen Druck aufzubauen. Die Türkei selber versucht für sich die notwendige politisch-diplomatische Grundlage zu schaffen, um grünes Licht für eine neue Invasion zu bekommen. Ob sie dieses grüne Licht bereits bekommen hat von einer der genannten Großmächte und ob sie vielleicht schon morgen mit der nächsten Offensive anfangen wird, das wissen wir nicht. Doch hier sind sich alle dessen bewusst, dass eine solche Situation nicht unwahrscheinlich ist und wir uns deshalb alle auf den Widerstand vorbereiten müssen. Die Stimmung ist aber nicht negativ, ganz im Gegenteil. Das ist die Realität hier: Ohne Krieg und Widerstand hätte sich die Revolution bis heute nicht halten können und da Gewalt die einzige Sprache ist, die der Faschismus versteht, müssen wir ihm mit aller uns zur Verfügung stehenden Gewalt gegenübertreten. Wir sind zuversichtlich, dass wir erfolgreich Widerstand leisten werden. Natürlich gibt es auch viel Wut, Frust und Hass der Türkei und der internationalen Staatengemeinschaft gegenüber. Wenn es anders gehen würde und allein mit Worten ein würdevolles Leben erkämpft werden könnte, dann würde hier niemand zur Waffe greifen. Da die Realität jedoch anders aussieht, sind die Menschen hier dazu bereit die Waffe in die Hand zu nehmen um die eigene Würde zu verteidigen.

In den kurdischen Nachrichten wird insbesondere von Til Refat und Kobane als möglicher Zielorte einer neuen Invasion gesprochen. Wie schätzt ihr vor Ort ein, wo und wann es eskalieren wird?

Das ist schwer zu sagen und es wäre falsch anzunehmen eine hundertprozentige Vorhersage treffen zu können. Nichtsdestotrotz zeichnen sich einige mögliche Szenarien ab und türkische staatsnahe Medien sprechen selber von diesen Szenarien. Wie du selber gerade gesagt hast, stehen die Regionen Til Refat, also Şehba im Norden Allepos und Südosten Efrîns, Kobanê und Minbic zur Zeit im Vordergrund. Alle diese drei Regionen sind der Türkei seit Jahren ein Dorn im Auge. Ein weiteres mögliches Szenario wäre eine Operation in der Region Dêrik im nordöstlichen Länderdreieck Rojavas. Dies ist ein weiteres strategisches Ziel für den türkischen Staat, da dort die Verbindung Rojavas nach Südkurdistan besteht, desweiteren könnte eine für den türkischen Staat erfolgreiche Besatzung der Region Dêrik den direkten Landweg für den türkischen Staat nach Şengal öffnen.

Eine andere Möglichkeit ist auch die Fortsetzung einer Offensive an den bestehenden Frontlinien in Eyn Îsa, Til Temir und Zirgan. Es kann auch sein, dass mehrere dieser Szenarien zur selben Zeit versucht werden. Wie auch immer, die Rhetorik des türkischen Staates ähnelt sehr der Rhetorik im Vorlauf zum Krieg in Efrîn und später in Serêkaniyê. Truppenbewegungen an den Grenzen finden vermehrt statt, die islamistischen Banden der SNA werden mobilisiert und offensichtlich versucht die Türkei, die notwendige internationale Unterstützung für sich zu sichern. Ob es morgen anfängt oder in einem Monat ist weniger wichtig, wichtig ist, dass wir alle darauf vorbereitet sind, sowohl hier vor Ort als auch international, um Widerstand zu leisten und den türkischen Faschismus zu zerschlagen.

Als Kampagne RiseUp4Rojava, was ist eure Antwort auf die aktuellen Entwicklungen und wie wird eure Antwort aussehen, sollte es zu einer neuen Bodenoffensive gegen die Autonome Selbstverwaltung in Nordost-Syrien (AANES) kommen?

Als Kampagne RiseUp4Rojava existieren wir ja bereits seit Frühjahr 2019 und insbesondere zur Zeit des Krieges in Serêkaniyê und Girê Spî waren wir dazu in der Lage, gemeinsam mit anderen Initiativen weltweit hunderttausende Menschen auf die Straße zu bringen und ernsthaften Druck von unten aufzubauen. Seither versuchen wir eine Kontinuität in unserer Arbeit gegen den türkischen Faschismus zu gewährleisten und auf dieser Grundlage fanden über die letzten 2 Jahre zahlreiche Aktionstage zur Unterstützung der Revolution in Rojava und dem Widerstand gegen die türkische Aggression, als auch gegen die internationalen Profiteure vom Krieg und Kollaborateure mit dem Faschismus statt. Wir versuchen durch unsere Website als auch soziale Medien über die Situation vor Ort zu informieren, die internationalen Helfer der Türkei aufzudecken, unsere Position zu verbreiten und gegen den türkischen Faschismus zu mobilisieren.

Kampagnenintern haben wir diskutiert, dass wir bei einer erneuten Offensive der Türkei nicht direkt von einem “Tag X” sprechen können, denn der Krieg ist jeden Tag, auch wenn er in den Mainstreammedien meistens nicht sichtbar ist. Gleichzeitig können auch wir uns nicht komplett der Dynamik eines solchen “Tag X” entziehen. Im Falle einer neuen Offensive rufen wir alle auf unserem Aufruf zu folgen und den Protest direkt vor die Türen der internationalen Vertretungen des türkischen Staates zu tragen. Gleichzeitig geht es uns nicht um eine einzige Aktion oder einen Tag. Wir werden kontinuierlich weiter mobilisieren und mit unseren Initiativen versuchen den türkischen Staat und alle Institutionen, die ihn unterstützen zu blockieren, zu stören und zu besetzen.

Unabhängig davon bereiten wir auch im Moment neue internationale Aktionstage für das Wochende vom 26. bis 28. November vor. Der Slogan lautet “Smash Turkish Fascism – Stand with the Guerrilla!”. Unter unserem Motto “Block! Disturb! Occupy!” rufen wir auch hierzu alle auf aktiv zu werden und auf die Straße zu gehen.

Die Aktionstage vom 26.-28. November, von denen du sprichst, wie werden die konkret aussehen und wie können sich Gruppen und Menschen außerhalb eurer Kampagne daran beteiligen?

Der Aufruf zu den Aktionstagen wird in den kommenden Tagen veröffentlicht werden. Unsere zentralen Ziele sind erstens, den Vertrieb von Olivenöl aus dem besetzten Efrin anzugreifen, an dem sich einige eine goldene Nase auf Kosten des Leidens der Bevölkerung von Efrin verdienen. Zweitens, die Waffenindustrie, welche weiterhin für die türkische Kriegsmaschinerie produziert. Drittens, die Kollaborateure in Politik und Diplomatie, welche weiterhin mit Erdogan liebäugeln und dem türkischen Faschismus Grund und Boden für seine Vernichtungspolitik liefern. Gleichzeitig wollen wir den Widerstand der Guerrilla unterstützen und den Gebrauch von Chemiewaffen durch den türkischen Staat verurteilen. Der 27.11. stellt auch den 43. Jahrestag der Gründung der PKK dar. Wir erklären uns solidarisch mit dem Kampf der PKK, gratulieren ihr zum Geburtstag und sagen klar und deutlich, dass die Kriminellen hier nicht die Kämpfer:innen der PKK sind, sondern diejenigen, die Kurdistan besetzt halten und ausbeuten.

An den Aktionstagen können alle teilnehmen, die wollen. Es wird in einigen Städten sicherlich auch zentrale Veranstaltungen geben, aber darüber hinaus wollen wir, dass alle dezentral selbst aktiv und kreativ werden.

#Bildquelle: ANF

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Türkische Militäroperationen gegen die sozialistische Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) werden in der westlichen Öffentlichkeit zumeist totgeschwiegen. Dabei handelt es sich bei den mit Luftwaffe und Bodentruppen, Helikoptern und Panzern durchgeführten Attacken keineswegs um irgendwelche Polizeieinsätze, sondern um handfeste Kriege samt ziviler Opfer. Die Namen der Operationen wechseln, aber eigentlich handelt es sich um einen durchgängigen Feldzug im Grenzgebiet zwischen der kurdischen Autonomieregion im Nordirak und den mehrheitlich kurdischen Gebieten auf dem Territorium der Türkei.

Die Operationen haben allerdings häufig wenig Erfolg. Die Guerilla der PKK hat Jahrzehnte Erfahrung und die gebirgige Region ist ihre Heimat. Türkische Soldaten geraten häufig in Hinterhalte, nennenswerte Gebiete über längere Zeit halten, können sie nicht. Auch deshalb greift die Türkei nun seit einigen Monaten auf international geächtete Waffen zurück.

Bereits Anfang Oktober behauptete die Guerilla-Kommandantin Beritan Dersim vom Militärrat der Frauenverteidigungskräfte YJA-Star, dass die Türkei schon seit 5 Monaten Chemiewaffen gegen die Guerilla einsetze. Seitdem sind eine Reihe weiterer Indizien an die Öffentlichkeit gelangt. Neben Augenzeugenberichten existiert Videomaterial aus den Tunnelsystemen der Guerilla, die selbige gefüllt mit grünlich schimmerndem Gas zeigen. „In ihren monatlichen Bilanzen haben die HPG (Volksverteidigungskräfte) 132 Angriffe mit chemischen Waffen auf Guerillakräfte zwischen dem 23. April und dem 23. August bestätigt. Seitdem gab es Dutzende weiterer Angriffe. Diese Angriffe haben unmittelbar zum Tod von mehr als einem Dutzend Mitgliedern der Guerilla geführt“, schreibt der Kurdische Nationalkongress KNK in einem Dossier.

Es ist dabei keineswegs das erste Mal, dass die Türkei verbotene oder geächtete Waffen gegen kurdische Gruppierungen einsetzt. Bereits bei ihrem Einmarsch im nordsyrischen Serekaniye im Oktober 2019 zeigten Aufnahmen Bombardierungen von Wohngegenden mit Weißem Phosphor. Nachgewiesen ist auch, dass die Türkei im Mai 1999 in der kurdischen Provinz Sirnak military-grade-CS-Gas-Granaten einsetzte, um Kämpfer:innen der PKK aus einer Höhle zu treiben – eine ebenfalls verbotene Praxis. Die Gasgranate stammte aus der Produktion einer deutschen Firma. Wie der frühere Biowaffeninspekteur der UN, Jan van Aken, feststellt, produzierte die Türkei derartige Granaten auch selbst. Die Beteuerungen, diese mittlerweile vernichtet zu haben, können als wenig glaubwürdig gelten. Van Aken beschreibt auch weitere Vorfälle, zumindest in den Jahren 2009 und 2011, die Indizien für einen Einsatz von Chemiewaffen in Kriegshandlungen aufweisen.

Welches Gas aktuell genau zum Einsatz kommt, ist schwer zu sagen. Eine Kämpferin, die Augenzeugin der Angriffe wurde, sagte gegenüber Reportern des kurdischen Fernsehsenders Sterk TV: „Manchmal verwendeten sie Tränengas, manchmal andere Giftgase.“ Die Guerilla-Kämpferin berichtet von Gasen unterschiedlichen Geruchs und unterschiedlicher Wirkweise. Und: Sie fordert auf, in den Tunneln und an den Leichen gefallener Genoss:innen eine Untersuchung durchzuführen.

Doch genau hier hapert es. Die Verbündeten Erdogans in EU und USA haben keinerlei Interesse an Aufklärung, denn sie stehen fest an der Seite ihres NATO-Partners, wenn es um die Vernichtung der kurdischen Bewegung geht. Verwunderlicher ist da schon, dass sich bislang kein einziger aus der Zunft der Starjournalist:innen gefunden hat, der es auch nur der Mühe wert fand, den Vorwürfen unvoreingenommen nachzugehen. Zum Zeitpunkt der Niederschrift dieser Zeilen – und damit nach mehreren Monaten von Berichten des Einsatzes von Chemiewaffen durch einen engen Partner Deutschlands – existiert von ARD bis Spiegel, von FAZ bis Süddeutsche keine Zeile zum Thema.

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Interview mit Welat Direj, 28, Internationalist und Mitglied der militärischen Verteidigungsstrukturen Rojavas zu den aktuellen Angriffen des türkischen Staates in Kurdistan und dem revolutionären Widerstand.

Bei euch in Nordsyrien sind es bereits über 30 Grad und der Sommer ist da. Seit vielen Monaten erreichen uns Nachrichten, dass die Türkei den Wasserzufluss nach Rojava unterbindet. Was ist Erdogans Kalkül hinter dieser Blockade?

Das ist Teil der Kriegsführung des faschistischen, türkischen Staates. Sie versuchen, mit allen Mitteln das Projekt der Selbstverwaltung im wahrsten Sinne des Wortes auszutrocknen. Ihnen ist vollkommen bewusst, dass sich Nord Ost Syrien, zu einem Großteil wirtschaftlich auf die Landwirtschaft stützt, für welche kontinuierliche Bewässerung ein essentieller Bestandteil ist, genauso wie natürlich einfach nur Trinkwasser. Zudem läuft durch die in der Vergangenheit starke Zentralisierung – ein Relikt aus Zeiten des Baath-Regimes – die Stromerzeugung zu einem sehr großen Anteil über den Staudamm in Tabqa und Tischrin. Ihr Ziel ist also, wenn sie auf militärischer Ebene keine Erfolge erzielen können bzw. es dafür gerade keinen Raum gibt, mit Hilfe von Wasserverknappung, Spezialkrieg, Embargo etc. das Volk zur Flucht und damit in die Verteidigungslosigkeit zu zwingen.

Wie reagiert die Selbstverwaltung Nord-Ost-Syriens auf diese Angriffe?

Es gibt natürlich nicht erst seit heute verschiedene Planungen und Projekte dem zuvorzukommen bzw. diesen Angriff abzuschwächen, aber diese reichen bei weitem nicht aus. Das reicht von Wasserumleitungsprojekten über Brunnenbohrungen zu neuen Bewässerungsmethoden in der Landwirtschaft. Außerdem ist auch ein wichtiger, nicht zu unterschätzender Aspekt die Aufklärung und Bildung, welche Ziele der faschistische, türkische Staat mit diesen Angriffen verfolgt, um sie damit ins Leere laufen zu lassen. Wir müssen begreifen, dass dieser kurdenfeindliche Staat eine Agenda des kulturellen Genozids verfolgt, er also vielleicht nicht 40 Millionen Kurdinnen und Kurden physisch auslöschen kann, aber diese in alle Himmelsrichtungen zerstreuen, sie vertreiben, schwächen und assimilieren will.

Mit der Besatzung Afrins durch den türkischen Staat und seine dschihadistischen Banden im März 2018 begann eine neue Phase von Guerillawiderstand, angeführt von den Befreiungskräften Afrins (HRE). Wie läuft es aktuell an dieser Front?

Ich würde das so formulieren: Afrin ist noch immer besetzt durch den Feind und daher ist der Widerstand nicht ausreichend, da Afrin bisher nicht befreit wurde. Aber wir sehen eindeutig eine positive Entwicklung in die richtige Richtung. In den letzten Jahren wurde in Rojava im Kampf gegen den Islamischen Staat eine bestimmte Art und Weise des Kampfes erlernt. Die türkische Invasion und Besatzung Afrins 2018 mit Drohnen, Kampfhubschrauber und Kampfflugzeugen war für die militärischen Kräfte in Rojava an vielen Stellen eine neue Herausforderung, die eine vollkommen neue Art und Weise der Kriegsführung erforderte. Sich dahingehend zu adaptieren, braucht etwas Zeit, aber wir können in jedem Fall eine deutliche Entwicklung sehen.

Seit April führt der türkische Staat eine neue Großoffensive gegen die Guerillaeinheiten der PKK in Südkurdistan/Nordirak. Nach der Niederlage gegen die siegreiche Guerilla in Haftanin 2020/21 folgt nun eine weitere Großoffensive. Wie bewertest du diese Angriffe?

Das wird schwer darauf kurz zu antworten, aber ich versuche es mal. Wir können ganz klar sehen, dass der Diktator Erdogan seit Jahren innenpolitisch nicht nur immer mehr an Popularität einbüßt, sondern zugleich eine schwere Wirtschaftskrise das Land erschüttert, die sich noch intensivieren wird. Erdogan steht mit dem Rücken zur Wand, was auch die erneuten Bemühungen seitens der Türkei zeigen, die Guerilla zu einem Waffenstillstand zu überreden. Eine alte Taktik der AKP um sich wieder in Position zu bringen.

Die AKP-MHP Regierung versucht alles, um mit Hilfe von billigem Nationalismus ihre Misserfolge zu überdecken. Außerdem existieren natürlich noch geopolitische Interessen der NATO, das muss man ganz klar festhalten: Die Guerilla kämpft nicht nur gegen den türkischen Staat, sondern gegen die gesamte NATO. Der Luftraum des Nord-Iraks ist immer noch unter der Kontrolle der USA, die für diese Operationen grünes Licht gaben. Wenn verschiedene imperialistische Konstellationen gerade keine Angriffe in Rojava zulassen, dann werden die Angriffe gegen die Guerilla, das Herz der kurdischen Freiheitsbewegung, intensiviert.

Wie sieht der Widerstand der Guerilla aus? Murat Karayilan, Oberkommandierender der HPG, spricht seit einer gewissen Zeit von der „Guerilla des 21. Jahrhunderts“. Wie sehen diese neuen Taktiken konkret aus?

Der Widerstand einer Guerilla mit kleinem Waffenarsenal gegen die gesamte NATO ist bis jetzt mehr als beeindruckend. In Gare wurden die extra trainierten Spezialkräfte der Türkei in vier Tagen in die Flucht geschlagen und zu allem noch der verantwortliche Kommandant für die Operation getötet.

Obwohl die Türkei ununterbrochen Dutzende Drohnen und Kampfflugzeuge in der Luft hat, kann sie die Guerilla nicht finden, die im Sinne der angesprochenen Reorganisierung bzw. Entwicklung hin zu einer Guerilla des 21. Jahrhunderts mit effektiver Tarnung, über spezielle Regenschirme gegen Wärmebildkameras zu den neu gegründeten Sehid-Delal-Flugabwehrkräften viele neue Methoden anwenden. Die Guerilla dezentralisiert ihre Kräfte noch mehr als zuvor, und wird den türkischen Staat so weit in die Enge treiben, dass er um einen Waffenstillstand betteln wird.

In der BRD ist der Krieg gegen die Guerilla in den Bergen Nord- und Südkurdistans wenig präsent. Rojava und die restlichen Teile Kurdistans werden auch innerhalb der Solidaritätsstrukturen oft getrennt voneinander betrachtet. Was können wir tun um diese Trennung zu überwinden?

Mit dieser Trennung spielen wir nur dem Feind in die Hände, der ja genau das erreichen will. Das ist die alte, leider sehr erfolgreiche Taktik von Teile und Herrsche: „Die in Rojava sind ok, aber die PKK ist radikal“. Wenn linke, demokratische Menschen dieses Denken anwenden, ist das umso problematischer, denn nur der gemeinsame Kampf gegen Kolonialismus und für Freiheit aller kann erfolgreich sein.

Das gilt genauso für Südkurdistan, wo gerade wieder die KDP zusammen mit der Türkei einen Krieg gegen die Guerilla beginnt. Barzani und Co wollen scheinbar nicht sehen, dass sobald die Guerilla besiegt wäre, sie die nächsten auf der Liste des türkischen Staates sein würden.Wir müssen begreifen, dass es ohne den Kampf der PKK die anderen Kämpfe – zum Beispiel die in Rojava – nicht mehr geben wird, dass die Guerilla in den Bergen Kurdistans ein Garant für die Freiheit Kurdistans ist.

# Bildquelle: ANF

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Mitte Februar startete der türkische Staat eine erneute Militäroperation in Gare, einem Gebiet in Südkurdistan/Nordirak. Das Ziel: Die Vernichtung der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Bereits wenige Tage danach erklärte Ankara allerdings die Operation für beendet. Hintergrund: Die türkische Armee konnte gegen die Guerilla der PKK nicht ankommen. Nun versucht sie, den Krieg medial weiterzuführen. Ein Gespräch mit Women Defend Rojava Deutschland.

Die Meldungen über die geplante Invasion in Südkurdistan überschlugen sich vorvergangene Woche. Könnt ihr nochmal erläutern, was genau eigentlich in Gare passiert ist?

In der Nacht vom 9. auf den 10. Februar startete der türkische Staat eine erneute Operation mit dem Namen „Adlerklaue 2“ auf die befreiten Gebiete Südkurdistans, konkret die Region Gare. Diese Angriffe waren lange vorher und mit großen Worten in der Türkei angekündigt worden. Das Ziel des AKP/MHP-Regimes war es, Gare zu besetzen, die Operation von dort aus auf Qendîl und weitere Regionen auszuweiten und dadurch die kurdische Freiheitsbewegung zu vernichten. All diese Ziele wurden offen vom türkischen Regime kommuniziert.

Aber nicht erfüllt?

Nein, ganz im Gegenteil. Die türkische Armee war der Guerilla in Gare nicht gewachsen. Diese Operation hat sich im Endeffekt als enorme Niederlage für den türkischen Staat herausgestellt. Trotz massiver tagelanger Bombardierungen durch zahlreiche Flugzeuge und Helikopter, war die türkische Armee nicht, beziehungsweise kaum in der Lage ihre Soldaten am Boden abzusetzen. Videos der Volksverteidigungseinheiten HPG zeigen, wie türkische Hubschrauber wegen massiver Gegenwehr der Guerilla umdrehen und abziehen mussten.

Für den türkischen Staat ist das Ergebnis dieser Angriffe absolut peinlich. Ihre Ankündigungen, die PKK zu vernichten, erwiesen sich erneut als nichts weiter als heiße Luft. Diese Niederlage reiht sich ein in viele weitere. Vergangenes Jahr versuchte die türkische Armee erfolglos die befreiten Gebiete in Heftanîn zu besetzen. Darüber hinaus gleicht die Operation in Gare den Angriffen auf die Zap-Region 2008, die ebenfalls am 10. Februar begann. Auch damals hatte der türkische Staat mit großen Tönen die Vernichtung der Guerilla angekündigt und musste im Endeffekt eine enorme Niederlage einstecken, weil sie den Widerstand der Volksverteidigungseinheiten unterschätzt hatten und ihnen unterlegen waren.

Bedeutet das, der befürchtete Großangriff ist damit abgewendet?

Nein. Die Invasion in Gare konnte zwar durch die mutige Gegenwehr der Guerilla verhindert werden, dennoch ist es nicht ausgeschlossen, dass es in den kommenden Tagen und Wochen zu erneuten Angriffen kommt. Erdoğan kündigt bereits seit einiger Zeit öffentlich eine Invasion in der Jesidenregion Şengal an. Auch Dêrik, eine Stadt in Rojava, die strategisch wichtig sowohl an der türkischen als auch irakischen Staatsgrenze liegt, könnte ein mögliches Ziel für eine Operation der türkischen Armee sein. Wann und wo neue Angriffe starten werden, wissen wir nicht. Aber es ist wichtig, aus der enormen Niederlage des türkischen Staats in Gare nicht zu schlussfolgern, dass Erdoğan seinen Völkermord an den Kurd_innen stoppen wird. Es ist schließlich auch ein ideologischer Kampf.

Das bedeutet auch für uns, die hier in Deutschland solidarisch mit der kurdischen Freiheitsbewegung sind, dass wir weiter aktiv auf die Straße gehen müssen, um eine Öffentlichkeit für die Kriegssituation zu schaffen und Widerstand zu leisten – egal wo wir sind.

Eine Sache, die – vergleichsweise – viel Aufmerksamkeit in den Medien bekommen hat, ist die Tötung von 13 türkischen Kriegsgefangenen, die in Gare festgehalten wurden. Könnt ihr dazu was sagen?

Es ist gut, dass du von „vergleichsweise viel Aufmerksamkeit in den Medien“ sprichst. Es ist wirklich jedes Mal wieder erschreckend, wie wenig Öffentlichkeit die größeren deutschen Medien für die völkerrechtswidrigen Angriffe des türkischen Staats schaffen. Auch dieses Mal gab es viel zu wenig Berichterstattung – und wenn es sie gab, war sie sehr einseitig.

Die 13 ermordeten Kriegsgefangenen, auf die du anspielst, sind Opfer ihres eigenen Staates geworden. Sie sind bei einem Luftangriff der türkischen Armee ums Leben gekommen. Nachdem die Besatzungskräfte zunächst von der Guerilla zurückgedrängt werden konnten, bombardierte die türkische Luftwaffe das Camp, in dem sich neben den Guerillakämpfer_innen auch die Kriegsgefangenen aufhielten, intensiv. Es muss den Verantwortlichen vollkommen klar gewesen sein, dass bei einem solchen Angriff niemand, auch nicht die Gefangenen überleben konnten. Der türkische Staat hat damit den Tod seiner eigenen ehemaligen Sicherheitskräfte und Mitglieder des Geheimdienstes MIT mutwillig in Kauf genommen. Es ist auch nicht auszuschließen, dass die umfassenden Aussagen von einigen Kriegsgefangenen zum Beispiel zu den Hintergründen der Morde an Sakine Cansiz, Fidan Dogan und Leyla Seylemez, dazu führen, dass der türkische Staat keinerlei Interesse daran hat, das weitere Aussagen überhaupt gemacht werden könnten. Diese Umstände zeigen die menschenverachtende Haltung des türkischen Regimes sehr deutlich.

Wie kann es überhaupt dazu kommen, dass die Türkei Angriffe auf die Autonomieregion Kurdistan fliegt? Es ist ja in einer Form irakisches Staatsgebiet und gleichzeitig auch in der Autonomieregion Kurdistan. Stellen sich z.B. die anderen kurdischen Parteien in Südkurdistan gar nicht dagegen?

Einerseits ist es kein neues Phänomen, dass die kurdischen Parteien in Başûr inhaltlich klare Differenzen mit den basisdemokratischen Vorschlägen der kurdischen Befreiungsbewegung haben. Es ist eine nationalistisch und auch kapitalistisch ausgerichtete Regierung der PDK, die sich seit jeher eher an der Türkei orientiert als an einer gemeinsamen kurdischen und freiheitlichen Perspektive. Andererseits ist es durchaus eine neue Qualität, dass die Regionalregierung zulässt, dass die Angriffe von Militärbasen in Südkurdistan selbst geflogen werden. Was das an Haltung, bzw. mangelnder menschlicher Haltung, zeigt, erklärt sich von selbst.

Nach den Angriffen auf Gare, fanden in verschiedensten Städten Deutschlands Kundgebungen und Demonstrationen statt, die von Women Defend Rojava organisiert wurden. Dabei liegt Gare gar nicht in Rojava (Westkurdistan) sondern Başûr (Südkurdistan) …

Ja das stimmt. Gare ist geographisch kein Teil Rojavas. Dennoch ist der Widerstand der Guerilla in Gare, genauso wie in ganz Süd-, Nord-, und Ostkurdistan, untrennbar mit der Revolution in Rojava verbunden. Die Guerilla ist das ideologische Herz der kurdischen Freiheitsbewegung. Ein Angriff auf sie, egal ob in Gare, Şengal, Wan oder Rojava, stellt einen Angriff auf alle Errungenschaften der kurdischen Freiheitsbewegung dar. Das Ko-Vorsitzendenprinzip, die Frauenbefreiung, Basisdemokratie oder Ökologie sind Errungenschaften, die nicht unabhängig von der Guerilla gesehen werden können. Und auch geographisch ist es falsch, sich an den Staatsgrenzen zu orientieren. Alle vier Teile Kurdistans, egal ob auf türkischem, syrischen, irakischen oder iranischen Staatsgebiet, hängen untrennbar zusammen. Solidarität mit Rojava bedeutet damit immer auch Solidarität mit der Guerilla in Südkurdistan – und die haben wir vergangene Woche gemeinsam auf die Straße getragen.

Ihr macht ja auch noch andere Aktionen, z.B. hattet ihr am sogenannten Valentinstag auch einen Aktionstag gegen Feminizide ausgerufen. Habt ihr schon Pläne, wie es nach den vergangenen Protesten weitergehen soll?

Ja, der Aktionstag fand unter anderem auf Grund der „100-Gründe“-Kampagne der Kurdischen Frauenbewegung in Europa statt. Bis zum 8. März rufen wir dazu auf, die Kampagne zu unterstützen und Unterschriften zu sammeln, um den türkischen Staat für seine feminizidale Politik zu verurteilen. Die Kampagne lohnt sich für eine Arbeit an der Basis, da sie eine gute Bewusstseinsarbeit über Feminizide und die systematische Gewalt ermöglicht.

Allgemein glauben wir, dass wir der Bevölkerung in Deutschland vermitteln müssen, dass die vier Teile Kurdistans, der Widerstand in den Bergen und die Frauenrevolution in Rojava zusammenhängen und dass das eine ohne das andere nicht existieren kann. Gleichzeitig auch, dass die Realität dort nicht unabhängig ist von Dingen, die hier in Deutschland passieren. Woher kommen zum Beispiel all die Waffen? Was sind hier die Masken des Patriarchats? Um diese Themen deutlich zu machen, planen wir vor allem Veranstaltungen und Interviews.

Ansonsten ist es für uns wichtig, langfristig zu denken, denn neben Aktionen und guter Öffentlichkeitsarbeit ist es vor allem wichtig, dass wir uns organisieren und dem mit einer Verbindlichkeit und Verantwortlichkeit nachgehen. Unter dem Dach von Women Defend Rojava Deutschland organisieren sich zum Teil seit Ende des Jahres 2019 Komitees in verschiedenen Formen in unterschiedlichen Städten, wir rufen dazu auf, gemeinsam weitere Komitees aufzubauen und unsere Organisierung zu vergrößern. Letztlich sagen wir: „Schaffen wir an den Orten, wo wir leben, konföderale Strukturen, Werte und Prinzipien nach denen wir uns organisieren und verteidigen wir gemeinsam die Errungenschaften der Frauenrevolution.“

Bildquelle: ANF

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Jedes Jahr seit nunmehr über zwei Jahrzehnten kommen in Deutschland kurdische und internationalistische Aktivist:innen im Februar zu einem „Langen Marsch“ zusammen. Gewidmet ist die Aktion dem PKK-Mitgründer Abdullah Öcalan. Das Datum erinnert an die Festnahme des prominenten Vordenkers des Demokratischen Konföderalismus, denn im Februar 1999 wurde dieser auf die türkische Gefängnisinsel Imrali verbracht, wo er bis heute in nur selten unterbrochener völliger Isolation gefangen gehalten wird.

Vorangegangen war dieser Verschleppung eine lange Odyssee Öcalans, der durch türkischen Druck aus seinem Exil in Syrien vertrieben worden war. Öcalan begab sich auf die Suche nach einem Ort, an dem er politisches Asyl bekommen und die Kurdenfrage auf die Tagesordnung der internationalen Politik setzen konnte. Russland, Griechenland, Italien wurden Stationen dieser Reise, doch wo immer sich eine Verschnaufpause abzeichnete, intervenierte die US-Regierung, die ihrem türkischen Partner den gesuchten Staatsfeind in die Arme treiben wollte. Öcalan endete schlussendlich in der griechischen Botschaft in Nairobi, nachdem deutsch-italienische Initiativen für einen Prozess vor einem internationalen Gericht abgewürgt worden waren.

Dort landete am 14. Februar 1999 ein Flugzeug mit malaysischem Hoheitszeichen, in dem sich ein Kommando des türkischen Geheimdienstes MIT befand. Öcalan wurde in die Maschine verschleppt und via Tel Aviv nach Istanbul geflogen. Die kurdische Bewegung geht von einer Mittäterschaft von CIA und Mossad aus und spricht deshalb bis heute von einem „internationalen Komplott“, das nicht nur gegen Öcalan gerichtet gewesen sei, sondern gegen die gesamte Unabhängigkeitsbewegung.

In der Tat erhoffte man sich nicht nur in der Türkei, sondern auch in den USA und Deutschland, das bei der Kriminalisierung der PKK stets eine Vorreiterrolle eingenommen hatte, einen raschen Zerfall der Arbeiterpartei Kurdistans. Doch es kam anders.

Neues internationales Komplott

Abdullah Öcalan nahm Debatten der 1990er-Jahre innerhalb der PKK wieder auf und nutzte die Zeit in Gefangenschaft zur Überarbeitung von Strategie und Taktik der Organisation. Es kam zu einem Paradigmenwechsel und die Orientierung auf die in erster Linie militärische Befreiung eines sodann zu einem sozialistischen Nationalstaat umzubauenden kurdischen Territoriums trat hinter den Aufbauprozess eines grenzüberschreitenden Geflechts politischer, zivilgesellschaftlicher, kultureller und wirtschaftlicher Institutionen zurück. Die Guerilla wurde zur Verteidigungskraft dieses Aufbaus.

Das global bekannteste, keineswegs aber einzige Resultat dieser Neuorientierung trägt den Namen Rojava, Westkurdistan, oder eigentlich korrekter: Demokratische Föderation Nord- und Ostsyrien, und ist seit langem keine rein kurdische Angelegenheit mehr. Vielmehr gelang es, in einem Teil des durch den imperialistischen Krieg und die islamistische Reaktion verwüsteten Syriens ein Gebiet des demokratischen Aufbaus zu errichten, in dem sich unterschiedliche Gemeinschaften auf Basis von Räten selbst organisieren.

Doch der unversöhnliche Hass der Türkei und der imperialistischen Hauptmächte blieb. Die Strategien zur Zerschlagung mögen sich unterscheiden, doch USA, Russland, Deutschland und die Erdogan-Diktatur teilen ein Ziel: Das Experiment in Rojava muss beendet, die PKK zerstört werden. Die Türkei verfolgt dieses Ziel durch rein repressive Mittel: Massenverhaftungen, Invasion und Besatzung, Ermordung und Vertreibung von Kämpfer:innen und Zivilist:innen, Förderung des Dschihadismus von IS bis „Freie Syrische Armee“. Russland lässt Erdogan gewähren und erhofft sich die Zuspitzung von Widersprüchen zwischen Ankara und Washington, die USA wiederum versuchen sich in der Spaltung und Entpolitisierung der kurdischen Bewegung. Deutschland liefert Waffen, nickt militärische Angriffe der Türkei ab und kriminalisiert die große exilkurdische Community hierzulande.

Hungerstreik für Freiheit Öcalans

Für die kurdische Bewegung nimmt die andauernde Inhaftierung Abdullah Öcalans eine zentrale Rolle in diesem Kampf ein. Denn Öcalan gilt Millionen Kurd:innen als legitimer politischer Repräsentant und ohne seine Freiheit bleibt auch nur der Gedanke an irgendeine Verhandlungslösung perspektivlos. Die Türkei hält Öcalan indes wie eine Geisel – und ihre deutschen Verbündeten verbieten sein Konterfei und stampfen seine Schriften ein.

Die kurdische Bewegung begann nun, um die Situation des gefangenen Revolutionärs erneut zum Mittelpunkt politischer Auseinandersetzung zu machen, die Kampagne „Die Zeit ist reif – Freiheit für Abdullah Öcalan“, die von hunderten Organisationen und Einzelpersonen getragen wird. Zeitgleich befinden sich politische Gefangene in der Türkei in einem Hungerstreik, der ebenfalls die Forderung nach Freiheit Öcalans aufgreift.

International gibt es eine Reihe von Beteiligungsmöglichkeiten: Eine Briefkampagne an die Vereinten Nationen, Dauerkundgebungen in Solidarität mit dem Hungerstreik und eben auch die Teilnahme am Langen Marsch, der am 4. Februar in Frankfurt beginnt und am 13. Februar mit einer Großdemonstration in Straßburg endet. In ihrem Aufruf betonen die Organisator:innen die Chance, die diese Aktion darstellt. Aktivist:innen unterschiedlicher Nationen kommen zusammen, um den von Rojava ausgehenden internationalistischen Zusammenschluss zu verbreitern. „Die Philosophie des Demokratischen Konföderalismus, die vom kurdischen Vordenker Abdullah Öcalan entwickelt wurde, lässt sich mittlerweile nicht mehr nur in Rojava oder den Bergen Kurdistans wiederfinden, sondern ist mittlerweile überall dort präsent, wo Menschen sich damit auseinandersetzen“, heißt es im Aufruf zum Langen Marsch.

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Ich bin mal wieder einige Tage zu spät, aber ich habe den Islamismus-Artikel von Kevin Kühnert im Spiegel gelesen und er ist dümmer als ich dachte. Ich dachte, ich wüsste was so ungefähr die Thesen sind: „Die Linke muss sich zu Islamismus verhalten und das Thema nicht den Rechten überlassen“. Der Artikel aber er ist noch ein bisschen flacher als das und im Wesentlichen ein Mix aus grobem Unsinn und leeren Phrasen.

Er beruft sich dabei auf einen abstrakten Humanismus, der es immer schlecht findet, wenn Menschen sterben. Das ist schön und gut, aber jetzt auch nicht sonderlich links. Dann meint er man solle mal „Hegel, Feuerbach, Marx lesen“, was mich die Frage stellen lässt, ob er auch nur die leistete Ahnung hat, wer diese Personen sind und was sie überhaupt geschrieben haben. Ich gehe davon aus, dass er auf eine Art Religionskritik anspielen will, wobei unklar bleibt, was das Argument sein soll, außer dem Allgemeinplatz, dass Religion Privatsache sein sollte. Die Ideologiekritik von Marx zu verstehen jedoch heißt vor allem, dass man den Islamismus nicht bekämpft, indem man sich “zu Wort meldet“, sondern indem man die politischen Interessen dahinter erkennt und die gesellschaftlichen Ursachen nachhaltig bekämpft.

Der Beitrag glänzt vor allem mit Abstraktion und ist erstaunlich unpolitisch. Es geht um Islamismus, der eine nicht näher bestimmte „Ideologie“ ist.
Wie sie inhaltlich aussieht und wie sie funktioniert, was sie von anderen unterscheidet oder mit anderen gemein hat, kommt nicht vor. Es geht um „die Täter“, aber es gibt keine politischen Akteure mit Interessen und keine gesellschaftlichen Institutionen, die das tragen. Er adressiert die „politische Linke“, aber wer das konkret sein soll und vor allem was diese abstrakte Gruppe – außer „sich zu Wort melden“ – tun soll, bleibt offen.

Dass es eine riesige linke Bewegung gibt, die in den letzten Jahren den IS besiegt und einen Völkermord verhindert hat, nämlich die kurdische Freiheitsbewegung, wurde bereits zuhauf angeführt. Umgekehrt ist es wahr, dass es in Deutschland einen bürgerlichen Antirassismus gibt, der ein Einfallstor für Islamismus bietet. Eine Art von Diversity-Politik, die islamischen Religionsunterricht und islamische Theologie in deutschen Bildungsinstitutionen von Verbänden, wie DITIB oder IGS organisieren lässt. Diese unterstehen jeweils dem türkischen bzw. dem Iranischen Regime. Antirassismusdemos, die mit eben solchen Verbänden gegen antimuslimischen Rassismus demonstrieren.
Eine Antidiskriminierungsstelle des Bundes, die Inklusionsprojekte mit führenden Figuren der Milli Görüs Bewegung finanziert. Im SPD-Vorstand soll der Zentralrat der Muslime ein- und ausgehen. Erdogan persönlich instrumentalisiert gerade einen antirassistischen Duktus, um seine türkischislamische Großmachtpolitik zu legitimieren. Kühnerts Kritik bleibt abstrakt, weil eine konkretere Auseinandersetzung mit den Akteuren dieser „linken“ Politik bedeuten würde, dass sie vor allem von den mitte-links Parteien getragen und forciert werden, vor allem weil sie sich dadurch eine große Wählerbasis erhoffen. Dass da ein „unangenehmes Schweigen“ herrscht aus Angst, man könnte Wähler verlieren ist klar.

Besorgniserregend naiv ist dagegen die Vorstellung, ihre Politik wäre geleitet von abstrakten Werten, auf die man sich wieder besinnen müsse und nicht knallharten Interessen, über die man sich bewusst ist. Deshalb muss man auch kein Wort verlieren, über Waffendeals mit Erdogan, die direkt an seine IS-Söldner gehen oder an Saudi-Arabien, die den Islamismus nicht erst seit gestern global und nicht zuletzt auf dem afrikanischen Kontinent finanzieren. Es wirkt an dieser Stelle fast redundant zu ergänzen, dass der politische Islam im letzten Jahrhundert vor allem von den Westmächten als Bollwerk gegen den Sozialismus hochgezogen wurde.

Die breite Zustimmung, auch die der Rechten, zu seinem Beitrag, ist nicht überraschend, denn genau auf diese Zielgruppe zielen solche Beiträge ab. Die verlogene Rhetorik einer Politik, die von menschenrechtlichen Prinzipen geleitet sein will, fällt dabei besonders ins Auge, weil sie seit jeher als Legitimation für Militäreinsätze herhalten musste.
So war es bei Jugoslawien, beim Irak und bei Libyen. Kühnert hat in der Vergangenheit schon deutlich gesagt, dass er militärische Interventionen im Ausland nicht ausschließt. Wir dürfen gespannt sein, wie er dafür auf diese Argumentation nochmal zurückkommen wird.
Nebenbei: Dass Kühnerts Beitrag viel Lob aus der linken Parteienlandschaft erhalten hat, ist auch nicht weiter überraschend. Die Linkspartei gibt sich schließlich regierungsfähig und staatstragend.

#Titelbild: Stefan Müller (climate stuff)/CC BY 2.0

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