Die Schönheit des Widerstands – Heraus zum World Resistance Day!

1. November 2019

Der 2. November ist World Resistance Day, der weltweite Tag des Widerstandes. In mehr als 16 Ländern werden insgesamt mehrere Hunderttausend Menschen in Solidarität mit der kurdischen Befreiungsbewegung und der Revolution in Rojava auf die Straße gehen. Das ist großartig. So wie der Widerstand gegen Unterdrückung und Ausbeutung großartig und schön ist. Und weil es um Widerstand und Rojava geht, will ich die Gelegenheit nutzen, um von ein paar zufällig ausgewählten Menschen zu erzählen, die ich in meiner Zeit dort kennenlernen durfte. Es sind keine berühmten Menschen. Ihre Namen und Gesichter kennt man nicht aus den Hochglanzmagazinen, den Zeitungen oder aus den Talkshows.

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Es sind Menschen wie Mussa Doschka, den ich Anfang 2017 im südkurdischen Suleymaniya traf. Ich war mit einer internationalistischen Gruppe auf dem Weg nach Rojava. Mussa wollte so gerne, aber konnte noch nicht rüber. Er hatte Arbeit zu tun, durfte nicht weg. Mussa sprach nur Kurdisch. Ich sprach noch kein Wort Kurdisch. Also mussten wir mit uns mit Händen und Gestiken verständigen.

Mussa mochte uns komische Ausländer sichtlich. Er kam immer an, drückte uns ganz fest. Dann zeigte er auf seinen Bauch und sagte: Doschka. Er zeigte auf mich und sagte: Tu jî Doschka. Doschkas, das sind die russischen DschK- Maschinengewehre, sehr schwer und mit viel Rückstoß, grauenhaft laut. Ich verstand: Mussa wollte sagen, wir zwei, er und ich, eignen uns wegen der Statur sehr gut zum Doschka-Schützen. Ein paar Tage blieben wir zusammen. Dann ging es für mich los, Mussa blieb. Und mit ihm sein Traum, hinter einer Doschka zu stehen, der er auch seinen Nachnamen verdankte. Zum Abschied schenkte er mir ein großes scharfes Klappmesser mit einer Gravur. Als bîranîn, Erinnerungsstück.

Als ich dann sieben Monate später, irgendwann am Ende des Sommers 2017 in Qamislo eine Freundin ins örtliche Krankenhaus fahren musste, hatte ich Mussa Doschka längst vergessen. Zu viele Dinge waren geschehen, zu viele Menschen hatten meinen Weg gekreuzt. Am Eingang zum Krankenhaus stand ein kräftiger junger Mann, starrte mich an und sein Mund verzog sich breit nach oben. Er lachte, so dass man alle Zähne sah. Ich begann schon reflexartig zu lachen und auf ihn zuzulaufen, bevor ich noch ganz begriffen hatte, wer das eigentlich ist. Es war Mussa. Er war Doschka-Schütze geworden, ganz wie er es sich gewünscht hatte. Und er hatte ein paar Schrapnells im Bauch, von Gefechten gegen den Islamischen Staat. Ich fragte ihn, wie es ihm gehe. Er sagte nur: tişt nabe, kein Ding, und lachte. Er wollte so schnell wie möglich wieder an die Front.

Ich konnte nur kurz mit Mussa reden, jetzt wo wir eine gemeinsame Sprache hatten. Er erzählte mir von seiner Verletzung und wie gut sie schon verheilt war. Ich erzählte ihm, was ich in der Zwischenzeit so getrieben hatte. Zehn Minuten, mehr hatten wir nicht. Aber obwohl wir vielleicht alles in allem drei, vier Tage miteinander zu tun hatten, war da eine große Verbundenheit. In der Revolution ist das eine der wunderbarsten Sachen: die Freundschaft entsteht oft ohne viele Worte. Ohne lange Debatten. Sie speist sich daraus, auf der selben Seite zu stehen. Man muss sich nicht viel erklären.

Das Messer von Mussa Doschka trat wie die meisten Erinnerungsstücke eine lange Reise an. Ich behielt es über meine gesamte Zeit in Rojava. Als ich nachhause fuhr, gab ich es meinem Genossen Paramaz, der es mit nach Afrin nahm. Und als er zurückkam, gab er es an einen anderen Genossen weiter. Und so hat es bis heute seinen Platz in der Revolution und manchmal überlege ich, wie witzig es wäre, wenn es irgendwann wieder bei Mussa Doschka landet.

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Im Sommer 2017 habe ich meine militärische Ausbildung im Jesdiengebiet Sengal bei einer Servanen Nû, einer Kriegsschule der Jesidischen Verteidigungseinheiten YBS gemacht. Zu irgendeiner Art Special-Forces-Soldat bin ich dabei nicht geworden, aber es war eine gute ideologische Schule und vor allem eine in der Kunst des Zusammenlebens in einer Revolution. Die Mischung unseres Lehrgangs war bunt. Zwei Deutsche – so sehr wir uns bemühten übermäßig privilegiert, weil in einem Land ohne Krieg und mit Schulen, mehr oder minder intakten Familien und der Sicherheit, nicht einfach auf der Straße erschossen zu werden, aufgewachsen. Und eine Handvoll jesidisch-kurdischer junger Männer aus feudalen Haushalten. Unser Kommandant, Sehid Mahir Sengali, hielt den Laden zusammen und brachte uns wirklich viel bei. In jeder Hinsicht war er wie ein großer Bruder für uns.

Einer der jesidischen Jugendlichen dort war Heval Renas. Gerade 18 Jahre alt, nie lesen oder schreiben gelernt, zuhause geprügelt worden, ohne eigentlichen Rückhalt in der Familie, bitter arm. Renas hatte völlig verlernt, sich selbst oder andere ernst zu nehmen, hatte keinerlei Ziele in diesem Leben. Er machte nur Blödsinn, sehr zum Ärgernis aller anderen. Er fuchtelte mit der Waffe, zeigte mit dem Lauf auf andere, redete andauernd wirres Zeug. Aber Mahir mochte ihn. Und wir anderen mochten ihn auch. Wenn er es uns auch schwer machte, weil er uns mehrmals beinahe aus Versehen umbrachte. Einmal, als er aus Unvorsichtigkeit unseren Wassertank mit dem dreckigen, öl- und metall- und gottweißwassonstverseuchten Wasser, das nur zum Waschen der Autos oder des Bodens taugte, angefüllt hatte und wir alle erst nach mehreren Gläsern bemerkten, dass doch nicht das normale Chlor so komisch schmeckt, wurde Renas zum Gegenstand einer Selbstkritik- und Kritiksitzung samt Strafe. Es war die schwerste Strafe, die in unserer Ausbildung vorkam: Zigarettenentzug, drei Tage. Renas war am Boden zerstört, er rauchte sehr gerne.

Aber er begann, sich Gedanken zu machen. Und Mahir gab ihn nie auf. Ich habe mich oft gefragt, wie unsere deutsche Linke wohl in der Lage wäre, Menschen wie Renas eine Perspektive zu geben. Die kurdische Bewegung jedenfalls konnte das. Renas wurde aufmerksamer, hörte gelegentlich auch mal bei den achtstündigen in 50 Grad Hitze abgehaltenen Schulungen zur Geschichte der Befreiungsbewegung zu.

Es ging bergauf mit ihm. Dennoch, als wir die Ausbildung abschlossen, hätte jeder gewettet, dass Renas den Weg vieler armer Jugendlicher geht: Schnell noch das Gewehr mitnehmen, um es zu verscherbeln und weg. Monate später, kurz vor unserer Rückreise nach Deutschland kamen wir zwei Deutschen wieder in den Sengal. Wir trafen natürlich unseren Kommandanten Mahir zu einem Anstandbesuch bei Tee und Sonnenblumenkernen. Und was war passiert: Zwei andere aus unserem Jahrgang waren abgehauen. Aber Renas stand auf seinem Posten und war jetzt zu einem der Verteidiger des Sengal geworden.

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Nach der militärischen Ausbildung ging ich zurück in zivile Arbeiten. Ich blieb zwei Monate in der Kommune in Rojava, bevor ich weiterzog nach Raqqa. Davor hatte ich eigentlich eine Heidenangst. Aber ich hatte viele Menschen getroffen, die mit so viel Mut und Entschlossenheit bei der Sache waren, dass ich mir selbst nicht mehr sagen konnte, es sei okay, nicht zu gehen. Sehr beeindruckt hatte mich zum Beispiel eine Internationalistinnen, die sich bei uns im Zentrum von ihren Verletzungen erholte.

Heval Dilan kam aus Kanada nach Rojava. Und sie arbeitete in der YPJ als Frontsanitäterin. Ein knochenharter Job. Ich kann mich noch an ein Gespräch mit einer anderen Genossin erinnern, die auch Frontsanitäterin war, bevor wir im Spätsommer nach Raqqa aufgebrochen sind. Sie wies uns notdürftig in erste lebenserhaltende Maßnahmen bei Schußwunden ein: „Wenn du Blut siehst, wenn einer einen Treffer hat, müsst ihr ihn von oben bis unten abtasten. Gebt euch nicht damit zufrieden, wenn ihr ein, zwei Löcher findet. Oft sind es mehrere. Und tastet wirklich alles ab, wir hatten oft große Löcher im Oberschenkel innen.“ Drei Stunden hörten wir uns die Fallbeispiele an: Menschen, denen der Kiefer fehlte, denen ein Stück Kieferknochen in der Luftröhre steckte; Bauchschüsse, bei denen Gedärme austreten; zur U-Form verkrüppelte Beine mit herausstehenden Knochen. Für die Frontsanitäterinnen war das Alltag.

Heval Dilan hatte genau diese Arbeit verrichtet. Und dann hatte sie einen schweren Autounfall. Als sie bei uns ankam, wirkte sie manchmal kaum ansprechbar. Dilan hatte eine schwere Gehirnerschütterung. Sie konnte kaum gehen, wenn sie aß, erbrach sie. Morgens sah sie aus wie aus einer Folge von walking dead. Ich dachte oft: Würde es mir so gehen, ich würde versuchen, so schnell wie möglich nachhause zu kommen. Doch Dilan dachte gar nicht daran. Sie wollten nach Raqqa, dann nach Deir ez-Zor. Am besten sofort. Und weil es so viele Menschen wie Dilan gab, wurde es auch für die ängstlicheren wie mich schwieriger, den eigenen Befindlichkeiten nachzugeben.

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Die drei – Mussa, Renas und Dilan – sind völlig zufällige Beispiele für den alltäglichen Heroismus der Revolution in Rojava. Geschichten wie die ihren sind Alltag in Rojava. Es ist eine Revolution, die nur deshalb solange bestehen konnte, weil tausende Menschen den Fortgang dieses Projekts über ihr eigenes Wohlergehen, über ihr persönliches Geschick stellten. Das aber ist letztlich die Bedeutung von Widerstand. Er hört nicht da auf, wo es unbequem zu werden droht. Er fängt dort erst an. Denn er speist sich aus der empfundenen Einsicht, dass ein Leben auf Knien kein Leben sein kann.

Die Revolution in Rojava und die kurdische Befreiungsbewegung haben vielen Menschen diese Einsicht wieder ins Gedächtnis gerufen. Und sie hat ihnen eine Heimat gegeben, die auf keinem Territorium, sondern in den eigenen Köpfen liegt. Wenn wir zum 2. November auf die Straßen gehen, um den World Resistance Day zu begehen, protestieren wir nicht nur gegen die Kriegsverbrechen und das vom Feind begangene Unrecht. Wir feiern auch die Schönheit dieses Widerstandes.

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