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Der Autor Herbert Renz-Polster geht in seinem neuesten Buch „Erziehung prägt Gesinnung“ der Frage nach, was die Anhänger rechtspopulistischer Parteien eint. Es sei weder wie vielfach vermutet das Bildungsniveau, noch die ökonomische Lage, sondern vielmehr ihr schon in der Kindheit entstehender stärkerer Hang zum Autoritarismus. Unser Autor Frederik Kunert fasst die Erkenntnisse des Buches zusammen.

Der ehemalige Kinderarzt und Autor zweier pädagogischer Bestseller hält viele Erklärungsmuster für das Erstarken des Rechtspopulismus für zu einfach. So ist z.B. die These, AFD-Anhänger zählten zu den „Abgehängten“ der Gesellschaft nicht haltbar. Vier von fünf AFD-Anhänger*innen bezeichnen ihre wirtschaftliche Lage als gut bis sehr gut, die Mehrheit der AFD-Wähler*innen kam aus bürgerlichen Verhältnissen, die Soziologin Cornelia Koppetsch nennt es gar den „Aufstand der Etablierten“, so sehr sieht sie die AFD in der Mittelschicht verwurzelt. Auch Donald Trump hatte bei den Wahlen 2016 in allen Einkommensschichten eine Mehrheit, nur nicht bei den Ärmsten. Auch das fehlende Bildungsniveau taugt nicht als Erklärung. Die AFD findet nicht unerheblichen Anklang in akademischen Kreisen, eine Partei der „Bildungsversager“ ist sie nicht. Durch Fragen nach der realen Lebenssituation lassen sich Anhänger*innen des Rechtspopulismus nicht identifizieren. Erst durch Fragen nach den konkreten Ängsten bekommt das rechte Lager langsam Kontur: 90 bis 95% der AFD-Wähler*innen fürchten beispielsweise die Bedrohung der „deutschen Sprache und Kultur“, hätten „Angst vor dem Islam und vor Kriminalität“. Die Berliner Sozialwissenschaftlerin Naika Foroutan bestätigt, dass es oft gar nicht um die vielbeschworenen Verlust- oder gar Existenzängste geht, sie spricht hierbei von „einer Sehnsucht nach Eindeutigkeiten“: der Hang zu Recht und Ordnung, die Angst vor Überfremdung oder davor, die eigene Bedeutung verlieren zu können, all das sind Gefühle, die die Rechtspopulisten einen. Kurz gesagt: Was sie eint, ist der Hang zum Autoritarismus.

Im Folgenden versucht der Autor dies zu belegen. So vergleicht er beispielsweise anhand der USA die Befunde von Studien zum Thema Gewalt in der Erziehung mit den Zustimmungswerten für Donald Trump in einer Region. Auch wenn Gewalt in der Erziehung in den USA allgemein weit verbreitet ist (etwa 70% stimmen der Aussage zu, manchmal sei es nötig Kinder mit ein paar guten, harten Schlägen zu disziplinieren) und die Erziehung durchschnittlich autoritärer gestaltet wird, so zeigt sich: Dort wo die Zustimmung zu Gewalt in der Erziehung am höchsten ist, ist auch die Zustimmung für Donald Trump am größten. Die ersten 22 Staaten mit den höchsten Zustimmungswerten zu der Frage „Ist es okay, Kinder zu schlagen?“ gingen allesamt an Trump. Andersrum sieht es ähnlich aus, wie die von der Kinderschutzorganisation Save the Children zusammengetragenen Daten zeigen: Von den zehn bestplatzierten Bundesstaaten in ihrer Liste, also denen, in denen Kinder am sichersten aufwachsen können, ging kein einziger an Trump.

In Deutschland wird die Stärke der rechten Szene in der ehemaligen DDR oft damit erklärt, sie sei die Antwort auf schwierige Lebensbedingungen und eigene Ausgrenzungserfahrungen nach der Wende. Die Autoritarismusforscherin Prof. Gerda Lederer untersuchte jedoch kurz vor dem Fall der Mauer Kinder und Jugendliche in der DDR und kam zu dem Befund, dass diese in allen untersuchten Domänen höhere Autoritarismus-Werte aufwiesen als die Kinder und Jugendlichen in der BRD, dazu zählten Ablehnung von Ausländern sowie Gehorsam gegenüber Autoritäten und den Eltern. Die Erfahrungen der Wende können also nicht die Ursache gewesen sein. Vielmehr scheint die Art der Erziehung eine entscheidende Rolle zu spielen, wenn es um die Entwicklung von autoritären Ansichten geht.Kurz gesagt: Strenge Kindheiten scheinen mit „strengen“ politischen Überzeugungen einherzugehen.

Renz-Polster stellt zwei grundlegende Sichtweisen bzw. Weltbilder gegenüber: eine Weltsicht der Verbundenheit, in der die Welt als ein guter Ort gesehen wird, dem man mit Zuversicht und Vertrauen begegnen kann und die andere Weltsicht, die die Welt als gefährlichen Ort wahrnimmt, der chaotisch und unsicher ist und den es zu kontrollieren gelte. Er nennt sie „Vertrauen“ und „Kontrolle“ und beschreibt, wie die meisten Menschen zwischen den beiden Weltsichten schwanken, während die Autoritären die Welt ausschließlich als bedrohlich sehen und sie deshalb kontrollieren wollen, ob mit Gewalt, Eroberung, Unterjochung, Stärke oder Kampf. Die Unterschiede zwischen beiden Weltbildern prägen dann auch das Bild vom Kind und damit die Erziehung, die man diesem Kind zuteil werden lässt, ob die Beziehung zum Kind von Verbundenheit und Gemeinsamkeit oder von Kontrolle und Distanz, von Vertrauen oder Gehorsam betont ist, ob es um die Eingrenzung oder die Ermächtigung des Kindes geht. Da die Aushandlungsprozesse innerhalb der Familie im Grunde Politik sind, ist eigentlich klar, warum diese frühen Erfahrungen mit Hierarchien und Konformität in unsere spätere politische Weltsicht eingehen. „Als Kind erfahren wir zum ersten Mal, was es heißt, regiert zu werden“, so fasst es die Linguistin Elisabeth Wehling zusammen. Und wer in der Familie Fürsorge und Verbundenheit erlebt hat, wird sich auch später eher für Fürsorge und Verbundenheit einsetzen und nicht für Ausgrenzung und Hass.

Auch die psychoanalytische Sozialwissenschaft konnte empirisch nachweisen, dass „Kinder, die eine auf Unterdrückung und Unterwerfung beruhende Erziehung erfahren haben, als Erwachsene zur gewaltsamen Unterdrückung anderer neigen.“ Der Autoritarismusforscher Detlef Oesterreich sagt hierzu: „Rechtsautoritarismus ist das Ergebnis einer das Kind überfordernden Sozialisation. Kinder, die in ihrer Kindheit einer sozialen Realität gegenüberstehen, die sie nicht bewältigen können, sind gezwungen, sich in den Schutz und die Sicherheit von Autoritäten zu flüchten.“ Die in der Pädagogik mittlerweile allgemein anerkannte Bindungstheorie von John Bowlby bestätigt ebenfalls: „Faire, hilfsbereite, zugewandte Erziehung fördert faires, hilfsbereites, zugewandtes Verhalten.“ Renz-Polster zieht weitere psychologische Befunde (bspw. zur „theory of mind“) zur Stützung seiner These heran.

Betrachtet man nun die Erziehungs- und Bildungssysteme in diesem Land, kann einem angst und bange werden. So sind z.B. in der NUBBEK-Studie nur 7% der Kindertagesstätten als „gut“ oder „sehr gut“ bewertet worden, während 10% als „schlecht“ bewertet wurden und der Rest dazwischen liegt. Die Forschung zeigt aber, dass Kinder von einer Kindergartenbetreuung nur dann profitieren, wenn diese Einrichtungen „gut“ oder „sehr gut“ sind. Die Kritik an der Situation der Schulen des Landes würde vermutlich den Rahmen des Textes sprengen. Dass in Ihnen noch immer Ordnung, Gehorsam und Disziplin die obersten Gebote sind und sie deshalb selbst eine autoritäre Institution sind, dürfte unstrittig sein.

Ein weiterer wichtiger Befund, der im Buch angeführt wird, ist folgender: „Je ungleicher Einkommen und Chancen in einem Land verteilt sind, desto autoritärer denken und empfinden seine Bürger.“ Das beste Beispiel hierfür sind die USA: ein reiches Land, das bei sozialen Messwerten wie Frühgeburtlichkeit, Kindesmisshandlung, Säuglingssterblichkeit, Schulabbruchsraten, sexuellem Missbrauch, sowie Teenagerschwangerschaften und Drogenkonsum von Jugendlichen miserabel abschneidet.

Insgesamt ist das Buch ein Aufruf darüber nachzudenken, wie wir mit unseren Kindern umgehen und welche Erfahrungen wir ihnen mit auf den Weg geben wollen, wie wir also die Entwicklung autoritärer Persönlichkeiten unterbinden können, bevor es zu spät ist. Politische Überzeugungen und der Hang zum Autoritarismus lassen sich mit zunehmendem Alter immer schwerer bekämpfen, vor allem nicht mit „sinnvollen“ Argumenten. Als Linke sind wir aufgefordert, die Kleinsten in unserer Gesellschaft wieder stärker in den Blick zu nehmen, dazu gehört nicht nur eine allgemeine Kritik am Erziehungs- und Schulsystem und seiner konstanten Unterfinanzierung und fehlerhaften Konzeption, sondern auch die Unterstützung aller in der sozialen Arbeit Tätigen in ihren Kämpfen für bessere Bedingungen und der Aufbau eigener Strukturen der Erziehung. Die „Kinderladen-Bewegung“ kann hier ein Bezugspunkt sein, von dem wir lernen können. Es könnte eine Chance sein, den Rechten nicht mehr bloß „Hinterherzurennen“, sondern langfristige Projekte auf den Weg zu bringen und wieder selbst Initiative zu ergreifen.

# Titelbild: privat

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Kristian Stemmler

Es war ein heißer Sommertag in den späten 80ern, ich kann mich noch gut erinnern. Die Heidefläche vor dem Haus meiner Oma in der Lüneburger Heide war knochentrocken. Wie es genau zu dem Feuer kam, weiß ich nicht mehr genau. Ich meine, mein Bruder und ich wollten die trockenen Pflanzen kontrolliert abfackeln, was natürlich extrem leichtsinnig war. Jedenfalls stand eine Ecke der Fläche plötzlich in Flammen und ein Feuerring breitete sich in rasender Geschwindigkeit in alle Richtungen aus. Wir, mein Bruder, ein herbeigeeilter Freund und ich, versuchten das Feuer auszutreten oder mit Decken auszuschlagen – doch wenn es an einer Stelle eingedämmt war, flammte es an einer anderen Stelle wieder auf.

Warum ich das erzähle? Weil mir diese Episode aus jungen Jahren in den Sinn kam, als ich zum Jahreswechsel – bekanntlich die Zeit, in der man gern Bilanz zieht und leicht ins Philosophieren kommt – über die Lage der Linken nachdachte. Wenn ich mir das Fortschreiten der unterschiedlichen Kämpfe im abgelaufenen Jahr 2020 ansehe, dann erscheinen mir unsere verzweifelten Versuche von damals, das Feuer einzufangen, als eine passende Analogie. Wo man heutzutage auch hinschaut, in allen gesellschaftlichen Bereichen schlagen Flammen hoch oder sind zumindest Glutnester auszumachen. Wenn man meint, man habe das Feuer an einer Stelle eingedämmt, flammt es anderer Stelle wieder auf. Es ist ein Flächenbrand.

Kaum verwunderlich ist daher, dass viele radikale Linke an einer gewissen Überforderung leiden. Schon die Beurteilung der Frage, wo es am meisten brennt, wirft Probleme auf. Und von der Antwort hängt nicht zuletzt ab, worauf man seinen Blick richtet und für welches Engagement man die begrenzte Zeit und Kraft einsetzt.

Unterstütze ich zum Beispiel Seebrücke, weil ich was gegen die katastrophale Situation der Geflüchteten auf den griechischen Inseln tun will und gegen das Ertrinken auf dem Mittelmeer? Oder blockiere ich mit einer Friedensgruppe die Zufahrt zu einem Werk von Rheinmetall? Oder solidarisiere ich mich mit Baumbesetzern? Oder schließe ich mich doch einer Antifa-Gruppe an, um Nazistrukturen aufzudecken und Nazis zu bekämpfen?

Natürlich ist das jetzt etwas konstruiert, da eine solche rationale Abwägung auch im Leben von Linken eher selten vorkommt. Man kommt doch oft eher durch Freunde oder Bekannte zu einer politischen Gruppe und damit auch zu einem Thema oder auch durch ein bestimmtes Ereignis, das einen umtreibt. Nichtsdestotrotz interessiert man sich als politischer Mensch ja auch für andere Themenbereiche und versucht sich ein Bild von der Gesamtlage zu machen. Dabei kommt man leicht zu der Frage, wo die Probleme und Gefahren die größten sind, wo es „am meisten brennt“.

Das ist, kaum überraschend, nicht endgültig zu beantworten. Jede Bewegung, jeder Kampf beansprucht für sich wichtig zu sein – und das durchaus zu recht. Die Friedensbewegung kann darauf verweisen, dass von der Zivilisation nicht viel übrig bleiben wird, wenn der Frieden nicht bewahrt wird. Die Klimabewegung kann wiederum konstatieren, dass wir vom Frieden nicht viel haben, wenn die Natur zum Teufel geht. Die Antifa kann argumentieren, dass der Frieden und eine gerettete Umwelt wenig bringen, wenn die Faschisten wieder ans Ruder kommen. Und wer sich gegen Repression engagiert, kann allen drei Bewegungen entgegenhalten, dass sie eines Tages nicht mehr effektiv gegen Krieg, den Klimawandel und Nazis protestieren und kämpfen können, wenn das Versammlungsrecht weiter eingeschränkt wird und immer mehr radikale Linke im Knast sitzen.

Mit anderen Worten: Jeder Kampf hat seine Berechtigung und jeder ist wichtig. Das gilt auch für die Kämpfe, die hier noch gar nicht erwähnt wurden, also etwa in den Betrieben, gegen Rassismus, gegen den Mietenwahnsinn und die Gentrifizierung, für Hartz-IV-Empfänger*innen, Drogensüchtige, Obdachlose. Für radikale Linke gibt es alle Hände voll zu tun, es wird nicht weniger und es ist letztlich egal, an welcher Stelle sie versuchen, Flammen auszutreten, um an die Analogie vom Anfang anzuschließen. Es gibt aber folglich auch keinen Grund, die eigene Bewegung, den eigenen Kampf für bedeutsamer zu halten als andere.

Vielleicht kann man das als Wunsch fürs neue Jahr formulieren: dass sich diese Einsicht noch mehr durchsetzt. Denn noch zu oft sind die Kämpfe der Linken zu unverbunden, geradezu isoliert voneinander. Es kann und muss hier noch viel mehr zusammengeführt werden.

Eine gelingende Verbindung von Kämpfen kann aber nur da stattfinden, wo sich die Einsicht durchgesetzt hat, dass es in dieser Gesellschaft zwar viele Brandnester gibt, aber nur einen Brandherd, nur eine Brandursache: den Kapitalismus. Alle in diesem Beitrag geschilderten Krisenphänomene sind auf dieses System zurückzuführen und ein gemeinsamer Kampf setzt voraus, dass man sich zuerst auf eine Agenda einig:
Der Kapitalismus muss weg, mit Stumpf und Stiel!

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Ihre Anführer scheuen oft das Licht der Öffentlichkeit, doch sie besitzen immense Macht. Konten gefüllt mit Milliarden aus Geschäften, die in aller Herren Länder verrichtet werden; tausende Untergebene, die auf Gedeih und Verderb dem Richterspruch der Männer und Frauen an der Spitze ausgeliefert sind; sie blicken oft auf eine mehr als hundertjährige Geschichte krimineller Machenschaften zurück, sind für Millionen Tote mitverantwortlich: Deutsche Kapitalisten-Clans.

Diese Reihe widmet sich den Superreichen der Bundesrepublik, die den traditionsreichen „Familienunternehmen“ vorstehen, von der Politik jeder Couleur hofiert werden und so gut wie nie zum Gegenstand wutbürgerlichen Aufbegehrens werden. Teil eins der Serie widmete sich der Familie Quandt/Klatten, Teil zwei drehte sich um das Schaeffler-Imperium. Im vorliegenden dritten Teil geht es um die Brose Fahrzeugteile SE & Co. KG.

Die Toleranz der Polit-Elite gegenüber NS-Verbrechen hat in Deutschland eine eigene Ökonomie. Wenn ein paar hundert Glatzköpfe sich mit Fahnen und Lautsprecherwagen die Springerstiefel in den Bauch stehen und unter der Losung „Opa war ein Held“ ein gebührendes Andenken an die Kriegsverbrechergeneration fordern, kommt so gut wie niemand auf die Idee, eine Straße nach den jeweiligen Großvätern zu benennen.

Nun ist aber Michael Stoschek kein Hängengebliebener ohne Haupthaar, sondern einer der reichsten Deutschen. Und auch der Milliardär Stoschek hat einen deutschen Opa. Der hieß Max Brose. Und auch den wollte der Coburger Stadtrat zunächst nicht ehren, weil der Herr Großpapa typisch für seine soziale Schicht am großen deutschen Konjunkturprogramm von 1933 bis 1945 ganz reichlich teilgenommen hatte. Aber das wiederum beleidigte den Michael Stoschek. Nur weil der Opa an Zwangsarbeit verdiente, Rüstung für Hitlers Weltmachtstreben produzierte, NSDAP-Mitglied und „Wehrwirtschaftsführer“ war, konnte ihm doch keiner die Straße verwehren. Wo kämen wir da hin?

Der Herr Stoschek entschloss sich also, nunmehr weniger von dem Geld, das er aus dem Betrieb des Nazi-Opas geschlagen hatte, an die Stadt Coburg weiterzugeben. Und nach einiger Zeit sah man dann auch im Stadtrat ein: Non olet. Und wenn das Geld nicht stinkt, wie kann dann der stinken, der einst begann, es zu akkumulieren? Also kam 2015 doch die Ehrung und so hat die Stadt Coburg – gebührend für die „erste nationalsozialistische Stadt Deutschlands“, wie sie sich ab 1939 stolz nannte – nun eine Max-Brose-Straße.

Humanitätserscheinungen sind keineswegs am Platze!”

Woher kommt so viel Patte, dass man in der Lage ist, eine Stadt zu erpressen, eine Straße nach dem eigenen Nazi-Opa zu benennen? Die Antwort ist: Letztinstanzlich von eben jenem Nazi-Opa. Denn Max Brose begründete eine Unternehmensdynastie und der gehört eben auch noch sein Enkel Michael Stoschek sowie dessen Schwester Christine Volkmann an.

Die ersten Anfänge sind nicht genau rekonstruiert, aber insgesamt geht der Reichtum des Clans auf die Gründung eines Unternehmens für Automobilausrüstung zurück, das der da 24-jährige Max Brose 1908 in Berlin eintragen ließ. 1919 tut sich Brose mit seinem langjährigen Geschäftspartner Ernst Jühling zusammen, und beide schlängeln sich mal erfolgreicher, mal weniger erfolgreich durch die entstehende Auto-Industrie der Weimarer Republik. Sie werden reich, aber natürlich gibt es auch Krisen.

Aber es ging immer wieder bergauf. So etwa, als 1932 ein richtig mieses Jahr war, dann aber zum Glück der deutschen Bourgeoisie Hitler kam und ab 1933 ordentlich das Business ankurbelte. Selbst der den von ihm porträtierten Unternehmerfamilien stets sehr wohlwollend gesonnene Historiker Gregor Schöllgen schreibt in seiner Unternehmensgeschichte „Brose. Ein deutsches Familienunternehmen 1908 – 2008“: „Es ist erstaunlich, wie schnell die deutsche Automobilindustrie aus dem Tief des Jahres 1932 herausfindet. […] Hinter diesem Erfolg steckt ein Name: Am 11. Februar 1933 hat erstmals ein Reichskanzler die Internationale Automobil- und Motorradausstellung in Berlin eröffnet. Es ist zugleich die erste öffentliche Amtshandlung Adolf Hitlers in seiner neuen Funktion.“

Im Juni 1933 stellt Max Brose seinen Antrag auf Aufnahme in die NSDAP. Er wird auch noch Mitglied in der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt, in der Nationalsozialistischen Betriebszellenorganisation, im Nationalsozialistischen Kraftfahr-Korps“, im „NS-Reichsbund für Leibesübungen“, in der Freizeitorganisation „Kraft durch Freude“ sowie in der „Deutschen Arbeitsfront“. Er ist hochrangiger Funktionär der Industrie- und Handelskammer Coburg und „Wehrwirtschaftsführer“. Vom Sicherheitsdienst des Reichsführers SS wird Brose als „national, ohne weitere Bindungen“ eingestuft. 1935 attestierte ihm Obersturmbannführer Linke in der Führerbeurteilung des Nationalsozialistischen Kraftfahrer-Korps: “Weltanschauliche Festigung: Guter Nationalsozialist”.

Kurz: ein klassischer unbelasteter und nur durch äußeren Druck sich anpassender deutscher Unternehmer, wie wir sie nur allzu gut kennen.

Brose leidet immens unter dem Nationalsozialismus: 1935 macht er sich an einen Neubau einer standesgemäßen Villa. Zuvor im Eigentum des von Nazis gefolterten und vertriebenen Juden Abraham Friedmann, wird man nach dem Krieg aber gottseidank feststellen, dass der Kauf seitens Broses voll und ganz ordnungsgemäß war. Welcher Ordnung er gemäß war, diese Frage verbot sich schon unmittelbar nach Kriegsende.

Broses Umsatz – so Schöllgen – erreicht bis 1944 „ungebremst nicht gekannte Dimensionen“. Ab 1939 beginnt Brose mit der Fertigung von Rüstungsgütern, der Krieg steht ja vor der Tür. Die Firma Brose blüht in dem Maße auf, in dem faschistische Aggressionsarmee voranschreitet. Das Repertoire: Der Klassiker, der Brose 20-Liter-Kanister; Aufschlagzünder; Panzergeschosse; Sprenggranaten. Alles mögliche, bis hin zur Luftfahrtausrüstung.

Wer produziert nun? Viele Frauen, denn Arbeiter wurden massenhaft eingezogen. Und Zwangsarbeiter:innen. Für 1942 nennt Schöllgen 200 sowjetische Kriegsgefangene, 60 Kroaten und etwa 20 Franzosen. In Broses Werk gab es von der Wehrmacht vereidigte „Hilfswachleute“ und Geschäftspartner Jühling forderte die Gestapo auf, flüchtige kroatische Fremdarbeiter:innen wieder einzufangen. In der Firma hängt nun aus: „Allen Nichtbefugten ist jeglicher Verkehr mit den kriegsgefangenen Sowjetrussen verboten!“ Und in einem namentlich von Brose gezeichneten Schreiben heisst es zum Umgang mit den Gefangenen: “Humanitätserscheinungen sind keineswegs am Platze!”

Broses Umsatz explodiert bis 1944. Dann geht‘s mit dem Hitler-Faschismus zu Ende. Aber glücklicherweise hatte Max Brose ja mit dem Faschismus gar nichts zu tun, also hört die Unternehmensgeschichte der Broses hier nicht auf.

Alles nur Mitläufer

Der stets wohlgesonnene Auftragshistoriker Schöllgen trifft ungewollt den Punkt: Nach der Niederlage des Hitler-Faschismus war klar, dass Coburg „nicht unter sowjetische, sondern unter westliche, unter amerikanische Herrschaft gerät, und das wiederum erklärt, dass Max Brose, soweit das unter den gegebenen Umständen möglich ist, der kommenden Entwicklung gelassen entgegensieht.“

Brose hat, das sollte die weitere Geschichte zeigen, allen Grund dazu, denn in der heraufziehenden Systemkonkurrenz zwischen Kapitalismus und Sozialismus machte sich der Westen prompt an die Wiederverwendung noch nahezu jedes Nazi-Verbrechers. Es folgte zwar eine Episode, in der Brose und seinem Kumpan Jühling von den US-Behörden die Firmenleitung entzogen worden war. Die endete aber rasch. Jühling wird als „Mitläufer“ eingestuft, Brose zunächst als „Minderbelasteter“, dann ebenfalls als „Mitläufer“. Wohl bekomm‘s und weiter gehts.

1948 kehrt Brose zurück an die Firmenspitze und es geht ab ins Wirtschaftswunder, denn das – ja von wem eigentlich? – in Ruinen zurückgelassene Land will wieder aufgebaut werden. Dazu kommt, dass nach dem Krieg ja bekanntlich vor dem Krieg ist – in diesem Fall des Koreakriegs, bei dem die USA rund 5 Millionen Menschen umbrachten und der in der Bundesrepublik eine wirtschaftliche Boom-Phase auslöste.

Brose positioniert sich voll und ganz auf dem Markt für Automobil-Zulieferer und kann bald expandieren. Arbeitskraft ist genügend vorhanden, Absatz auch. Und so wird die Firma Brose das, was sie heute ist, eines der Aushängeschilder der deutschen Automobilindustrie.

Billige Lohnkosten im Ausland

1968 stirbt Max Brose. Seine Tochter Gisela führt das Unternehmen einige Jahre, dann übernimmt Michael Stoschek, der heute amtierende Erbe der Familiendynastie. Damals nimmt das Unternehmen rund 1000 Arbeiter:innen aus und erwirtschaftet 50 Millionen D-Mark. Heute sind es nach Unternehmensangaben 25 000 bei einem Umsatz von 6,2 Milliarden Euro (Stand 2019).

Einen Einblick in den Arbeitsalltag dieser Beschäftigten zu gewinnen, ist nicht einfach – gibt es doch gerade für die Produktionsanlagen im Ausland kaum Quellen. Wer subjektive Eindrücke aus deutschen Werken lesen will, kann das auf der Plattform kununu, auf der anonym Erfahrungen mit Unternehmen eingestellt werden können – allerdings selten von Produktionsarbeiter:innen genutzt. Wiederkehrende Themen sind: Eine auf extremem Druck basierende Arbeitskultur, miese Kommunikation, Arbeitsplatzunsicherheit durch Stellenstreichungen und Leiharbeitsverhältnisse, die den „untersten“ Teil der Arbeiterklasse bei Brose in Deutschland bilden.

Die Löhne – ist man nicht gerade Leiharbeiter – sind, wie bei allen deutschen Unternehmen von Welt, so ausgerichtet, dass es im Mutterland keinen Aufstand gibt, dafür aber eine Reihe von Fabriken in Niedriglohnländern existieren. Auch Brose hat die seit den 1970er-Jahren andauernde allgemeine Tendenz zur Verlagerung von Produktionstätigkeiten und Wertschöpfung ins Ausland mitgemacht.

1988 beginnt Brose in Großbritannien und Spanien zu produzieren. Schon damals hat die Internationalisierung klare Gründe: In Großbritannien werden „im Jahresdurchschnitt fast 110 Stunden mehr gearbeitet als in der Bundesrepublik, und das bei deutlich günstigeren Lohnkosten und einer Nutzung der Maschinen im Dreischichtbetrieb“, schreibt Schöllgen.

Und wenn das schon in Großbritannien so viel günstiger ist, wie wird es erst in Slowenien, Brasilien, Indien, China sein? Von den späten 1980ern an baut Brose sich insgesamt 64 Standorte in 24 Ländern auf. Die Mehrheit der Beschäftigten des „deutschen“ Unternehmens arbeitet heute nicht in Deutschland und nicht zu den mit der IG Metall ausgehandelten Bedingungen (auch wenn Brose selbst im Inland gelegentlich versucht, den Tarif zu untergraben).

Und was bekommt man im Ausland so? Ein Inserat für Produktionsarbeiter:innen im slowakischen Prievidza verspricht „742 bis 1000 Euro“ Brutto fürs Malochen im Dreischichtbetrieb. In Mexiko, dem Eldorado für Billigproduktion und Union-Busting, verdienen die Brose-Arbeiter:innen so wenig, dass es für den Konzern günstiger war, auf eine weitergehende Automatisierung der Produktion zu verzichten. Für einen ganzen Tag Arbeit gibt es um die 30 US-Dollar, schreibt die Wirtschaftswoche. Kein Wunder, dass dann gilt: Die Arbeiter:innen sind „durchweg Mexikaner bis auf den Werksleiter“ – der ist natürlich Deutscher.

Dieser Prozess der Verlagerung ins Ausland ist keineswegs abgeschlossen. Die Standorte in Niedriglohnländern, die zudem oft keine oder kaum gewerkschaftliche Organisation kennen, wird durch die sogenannte Corona-Krise beschleunigt. Während das Unternehmen bereits vor Covid-19 ankündigte, etwa 2000 Stellen in der Bundesrepublik abzubauen, meldete es in den vergangenen Jahren den Ausbau der Produktionskapazitäten etwa in China oder Mexiko.

Hilflose Gewerkschaften

Die Antwort der zuständigen IG Metall ist dürftig. Als Brose in Coburg kurzfristig Stellen abbauen will, heisst es nur: Die Gewerkschaft „beobachtet“ die Situation sorgfältig, aber man habe ja eine Betriebsvereinbarung, die bis 2024 betriebsbedingte Kündigungen ausschließt. Und dann? Bei anderer Gelegenheit kritisierten IG-Metall-Gewerkschafter zwar die „Steinzeitmethoden“ von Brose und ähnlichen Betrieben in der Corona-Krise, aber mehr als ein Appell an einen anderen „Unternehmergeist“ war dann auch nicht drin. Im Oktober 2020 wurde kurz symbolisch gestreikt – aber auch das bleibt völlig wirkungslos.

Am Ende geht es der IG Metall um die Aushandlung von „sozial verträglichem“ Arbeitsplatzabbau, Abfindungen und langsamen Kündigungen. Brose bezahlt die für die Abwicklung nötigen Summen aus der Porto-Kasse. Und wer erwirtschaftet die? Na die Arbeiter:innen in Produktionsstandorten irgendwo anders, die fortan für deutlich niedrigere Lohnkosten produzieren.

Michael Stoschek kann den Gewerkschafts“widerstand“ jedenfalls gelassen sehen. Während die IG Metall Pressemitteilungen ohne erkennbare Wirkung schreibt, sammelt der Brose-Erbe Sportwagen und lässt sich auf Ferrari-Modellen basierende Unikate anfertigen. Seine Tochter Julia verwirklicht sich als Kunstsammlerin, Sohn Maximilian gönnt sich neben dem Brose-Anteil eine Helikopter-Charter-Firma.

#Bildquelle: pixabay

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Ich bin mal wieder einige Tage zu spät, aber ich habe den Islamismus-Artikel von Kevin Kühnert im Spiegel gelesen und er ist dümmer als ich dachte. Ich dachte, ich wüsste was so ungefähr die Thesen sind: „Die Linke muss sich zu Islamismus verhalten und das Thema nicht den Rechten überlassen“. Der Artikel aber er ist noch ein bisschen flacher als das und im Wesentlichen ein Mix aus grobem Unsinn und leeren Phrasen.

Er beruft sich dabei auf einen abstrakten Humanismus, der es immer schlecht findet, wenn Menschen sterben. Das ist schön und gut, aber jetzt auch nicht sonderlich links. Dann meint er man solle mal „Hegel, Feuerbach, Marx lesen“, was mich die Frage stellen lässt, ob er auch nur die leistete Ahnung hat, wer diese Personen sind und was sie überhaupt geschrieben haben. Ich gehe davon aus, dass er auf eine Art Religionskritik anspielen will, wobei unklar bleibt, was das Argument sein soll, außer dem Allgemeinplatz, dass Religion Privatsache sein sollte. Die Ideologiekritik von Marx zu verstehen jedoch heißt vor allem, dass man den Islamismus nicht bekämpft, indem man sich “zu Wort meldet“, sondern indem man die politischen Interessen dahinter erkennt und die gesellschaftlichen Ursachen nachhaltig bekämpft.

Der Beitrag glänzt vor allem mit Abstraktion und ist erstaunlich unpolitisch. Es geht um Islamismus, der eine nicht näher bestimmte „Ideologie“ ist.
Wie sie inhaltlich aussieht und wie sie funktioniert, was sie von anderen unterscheidet oder mit anderen gemein hat, kommt nicht vor. Es geht um „die Täter“, aber es gibt keine politischen Akteure mit Interessen und keine gesellschaftlichen Institutionen, die das tragen. Er adressiert die „politische Linke“, aber wer das konkret sein soll und vor allem was diese abstrakte Gruppe – außer „sich zu Wort melden“ – tun soll, bleibt offen.

Dass es eine riesige linke Bewegung gibt, die in den letzten Jahren den IS besiegt und einen Völkermord verhindert hat, nämlich die kurdische Freiheitsbewegung, wurde bereits zuhauf angeführt. Umgekehrt ist es wahr, dass es in Deutschland einen bürgerlichen Antirassismus gibt, der ein Einfallstor für Islamismus bietet. Eine Art von Diversity-Politik, die islamischen Religionsunterricht und islamische Theologie in deutschen Bildungsinstitutionen von Verbänden, wie DITIB oder IGS organisieren lässt. Diese unterstehen jeweils dem türkischen bzw. dem Iranischen Regime. Antirassismusdemos, die mit eben solchen Verbänden gegen antimuslimischen Rassismus demonstrieren.
Eine Antidiskriminierungsstelle des Bundes, die Inklusionsprojekte mit führenden Figuren der Milli Görüs Bewegung finanziert. Im SPD-Vorstand soll der Zentralrat der Muslime ein- und ausgehen. Erdogan persönlich instrumentalisiert gerade einen antirassistischen Duktus, um seine türkischislamische Großmachtpolitik zu legitimieren. Kühnerts Kritik bleibt abstrakt, weil eine konkretere Auseinandersetzung mit den Akteuren dieser „linken“ Politik bedeuten würde, dass sie vor allem von den mitte-links Parteien getragen und forciert werden, vor allem weil sie sich dadurch eine große Wählerbasis erhoffen. Dass da ein „unangenehmes Schweigen“ herrscht aus Angst, man könnte Wähler verlieren ist klar.

Besorgniserregend naiv ist dagegen die Vorstellung, ihre Politik wäre geleitet von abstrakten Werten, auf die man sich wieder besinnen müsse und nicht knallharten Interessen, über die man sich bewusst ist. Deshalb muss man auch kein Wort verlieren, über Waffendeals mit Erdogan, die direkt an seine IS-Söldner gehen oder an Saudi-Arabien, die den Islamismus nicht erst seit gestern global und nicht zuletzt auf dem afrikanischen Kontinent finanzieren. Es wirkt an dieser Stelle fast redundant zu ergänzen, dass der politische Islam im letzten Jahrhundert vor allem von den Westmächten als Bollwerk gegen den Sozialismus hochgezogen wurde.

Die breite Zustimmung, auch die der Rechten, zu seinem Beitrag, ist nicht überraschend, denn genau auf diese Zielgruppe zielen solche Beiträge ab. Die verlogene Rhetorik einer Politik, die von menschenrechtlichen Prinzipen geleitet sein will, fällt dabei besonders ins Auge, weil sie seit jeher als Legitimation für Militäreinsätze herhalten musste.
So war es bei Jugoslawien, beim Irak und bei Libyen. Kühnert hat in der Vergangenheit schon deutlich gesagt, dass er militärische Interventionen im Ausland nicht ausschließt. Wir dürfen gespannt sein, wie er dafür auf diese Argumentation nochmal zurückkommen wird.
Nebenbei: Dass Kühnerts Beitrag viel Lob aus der linken Parteienlandschaft erhalten hat, ist auch nicht weiter überraschend. Die Linkspartei gibt sich schließlich regierungsfähig und staatstragend.

#Titelbild: Stefan Müller (climate stuff)/CC BY 2.0

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An Halloween sollten Linke nicht nur nach rechts schauen, bevor sie eine Straße überqueren. Es könnten Nazis mit Pick-ups unterwegs sein, die sie „erschrecken wollen“. Aber ganz im Ernst: Das Hamburger Abendblatt, reaktionäres Leib- und Magenblatt der hanseatischen Bourgeoisie, hat am 22. Oktober doch allen Ernstes folgende Schlagzeile produziert: „Fahrer wollte Demonstranten offenbar nur erschrecken“ – und das als Überschrift zu einem Beitrag über den rechten Anschlag auf Demonstranten, der fünf Tage zuvor am Rande einer AfD-Veranstaltung mit Parteichef Jörg Meuthen im schleswig-holsteinischen Henstedt-Ulzburg geschehen war (lower class magazine berichtete).

„Der Nazi tut nichts, der will nur spielen“ scheint das Motto zu sein. Rechte Gewalt und andere rechte Aktivitäten werden hierzulande ja seit Jahren und Jahrzehnten von Politik, Polizei und Konzernmedien nach Kräften verharmlost. Aber dies ist wirklich eine ebenso haarsträubende wie unverfrorene Variante. Noch mal zum Mitschreiben, was passiert ist: Ein 19 Jahre alter Nazi oder zumindest AfD-Sympathisant hat an diesem 17. Oktober unweit des Bürgerhauses von Henstedt-Ulzburg, in dem Meuthen zu seinen Fans sprach, drei Aktivist*innen mit einem schweren Pick-up auf dem Bürgersteig gezielt angefahren und alle drei verletzt. Laut Zeugenaussagen hat der Täter die Menschen regelrecht gejagt.

Wie kann man angesichts dieser Tat einen solchen Bullshit schreiben? Den Text zur Überschrift hat ein Abendblatt-Redakteur namens Wolfgang Klietz verbrochen. Der war früher zeitweise Polizeireporter in der Zentralredaktion des Blattes und ist mittlerweile Redakteur der Regionalausgabe Norderstedter Zeitung, zu deren Verbreitungsgebiet Henstedt-Ulzburg gehört. Offenbar hat er aus der Zeit als Polizeireporter noch einige Kontakte zur Polizei oder weiß zumindest, wie man die herstellt und was man da zu schreiben hat, um sich bei unseren „Freunden und Helfern“ beliebt zu machen.

Dieser Lohnschreiber beginnt seinen Beitrag mit dem Satz: „Der Fahrer des Pick-ups, der am Sonnabend in Henstedt-Ulzburg mehrere Menschen angefahren hat, wollte seine Opfer offenbar nur erschrecken.“ Davon seien „mittlerweile die Ermittler des Staatsschutzkommissariats überzeugt, die den Fall untersuchen“. Für die These spreche, dass der Wagen langsam gewesen sei und die Verletzungen nicht schwerwiegend seien. Messerscharf schlussfolgert der Herr Klietz, ein Anschlag komme „als Tatmotiv nun kaum noch infrage“.

Wenn man mal davon ausgeht, dass sich ein Abendblatt-Redakteur nicht irgendwas aus den Fingern saugt, dürfte der Kollege mit einem Beamten des Kommissariats 5 der Bezirkskriminalinspektion Kiel 5 gesprochen haben, des Staatsschutzkommissariats, welches in diesem Fall ermittelt. Und der wird wohl sinngemäß gesagt haben: „Du, der 19-jährige hat uns ganz glaubhaft versichert, dass er den Leuten nur einen Schrecken einjagen wollte.“ Ganz offensichtlich hat der Täter bei seiner polizeilichen Vernehmung diese Schutzbehauptung aufgestellt.

Der Skandal besteht darin, dass zumindest ein Ermittler des Staatsschutzes so etwas durchsteckt und ein reichweitenstarkes Medium das Ganze verbreitet – mit dem klaren Ziel, die Tat zu verharmlosen. Dass die Darstellung im Hamburger Abendblatt nicht die offizielle Linie der Polizei und der die Ermittlungen führenden Staatsanwaltschaft Kiel widerspiegelt, lässt sich immerhin vermuten. Jedenfalls teilte die Landespolizei Schleswig-Holstein am Montag auf ihrem Twitter-Account mit, die Darstellung im Abendblatt treffe „nach jetzigem Ermittlungsstand“ nicht zu. Es gebe „derzeit noch keinen feststehenden Sachverhalt, der die Motivation des Fahrers darlegt“. Darüber sei der Redakteur bereits informiert worden.

Die Räuberpistole vom „Erschrecker“ im Pick-up ist nicht die erste Kommunikationspanne in der Sache. Noch am Abend des 17. Oktober stellte die Polizeidirektion Bad Segeberg eine Pressemitteilung zu den Vorgängen in Henstedt-Ulzburg online, die den Anschlag das erste Mal auf skandalöse Weise relativierte. Obwohl das sonst durchaus üblich ist, wird die Tat in der Überschrift nicht einmal erwähnt: „Versammlungsgeschehen vor dem Bürgerhaus – Bilanz der Polizei“.

Wie man sich anhand der Pressemitteilungen der Polizeidirektion Bad Segeberg an den Vortagen schnell überzeugen kann, werden sonst viel harmlosere Vorfälle schon in der Überschrift deutlich benannt. Das zeigen bereits zwei wahllos gegriffene Beispiele von Meldungen aus Henstedt-Ulzburg vom 5. Oktober. Über der einen steht „Hund bringt 79-jährige Radfahrerin schwer verletzt zu Fall“, über der anderen „Betrunkener Mann schlägt 15-jährigen Radfahrer“. Die Überschrift zum Geschehen am 17. Oktober hätte also etwa heißen können: „19j-ähriger fährt drei Personen auf Bürgersteig an“.

Wie in einem schlechten Schüleraufsatz werden in der Mitteilung die Ereignisse im üblichen Beamtensprech nacherzählt, beim Beginn der Demo angefangen. Dabei wird dem kritischen Leser schnell klar, in welche Richtung das Ganze laufen soll. Auf dem Vorplatz des Bürgerhauses hätten sich Demonstranten aus dem „bürgerlichen Spektrum“ versammelt. Mit Einlassbeginn seien 50 bis 60 „Personen der linken Szene (Antifa)“ im Zufahrtsbereich des Bürgerhauses aufgetaucht. Weiter heißt es da: „Diese Personengruppe führte eine nicht angezeigte Spontandemonstration durch. Es kam zu Pöbeleien und Handgreiflichkeiten gegenüber Besuchern der AfD-Veranstaltung und Polizeibeamten.“ Auch das ist vermutlich schon Fake News, da zumindest nach Darstellung der Organisator*innen der Demo und weiterer Augenzeug*innen Handgreiflichkeiten eher von AfD-Sympathisant*innen ausgingen. Nach der langen Vorrede kommt die Segeberger Polizei schließlich auf den eigentlichen Vorfall zu sprechen. „Demonstranten der rechten und linken Szene gerieten außerhalb des Veranstaltungsgeländes aneinander“, heißt es da. Und weiter: „Dabei wurde im Rahmen eines Verkehrsunfalls eine Person der linken Szene schwer verletzt und in ein Krankenhaus eingeliefert.“

Zu diesem Zeitpunkt war bereits klar, dass der Täter über den Bürgersteig auf die Demonstrant*innen zugefahren war. Dass dies mit Absicht geschehen war, daran konnte es kaum Zweifel geben. Es waren etliche Polizist*innen vor Ort, die das Geschehen vielleicht nicht unmittelbar gesehen haben, aber schnell am Tatort waren. Wenn es ein Unfall gewesen sein soll, fragt sich zudem, warum Polizei und Staatsanwaltschaft in einer späteren Mitteilung erklärten, der Fahrer sei kurz nach dem Vorfall festgenommen worden. Was die Polizeiinspektion Bad Segeberg mit dieser Presseerklärung bezweckte, liegt auf der Hand: die „böse Antifa“ als angereiste Störer zu definieren, die Ärger gemacht haben, dessen Folge dann dieser „Unfall“ gewesen ist.

Die unhaltbare Mitteilung der Polizei vom Tattag trug vermutlich dazu bei, dass die Pressearbeit zu dem Vorgang recht schnell bei der Staatsanwaltschaft Kiel landete, die sich am Montag gegenüber Medien schon wesentlich realistischer äußerte. So zitierte die junge Welt den Kieler Oberstaatsanwalt Henning Hadeler mit den Worten, es werde gegen den Fahrer wegen des Verdachts der gefährlichen Körperverletzung und des gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr ermittelt. Geprüft werde aber auch, ob eine Tötungsabsicht vorgelegen habe. Ein Sachverständiger sei hinzugezogen worden.

Doch auch in einer gemeinsamen Presseerklärung vom 20. Oktober von Staatsanwaltschaft Kiel und Polizeidirektion Kiel zu dem Fall wird das Wort „Anschlag“ tunlichst vermieden. Auch hier wird versucht, die terroristische Tat dadurch zu relativieren, dass sie mit einer angeblichen Auseinandersetzung zwischen Demonstrant*innen und den vier Rechten in Verbindung gebracht wird. Zum Aufruf an Zeugen, sich zu melden, heißt es, die Ermittler interessiere besonders,ob es bereits vor der Tat zu einem Konflikt oder einer Auseinandersetzung zwischen den vier Personen und den Demonstrationsteilnehmern gekommen ist“. Selbst wenn dem so wäre – berechtigt das dazu, Leute mit einem schweren Pick-up anzufahren?

Aufschlussreicher wäre es, mehr über die Herkunft und die politische Anbindung des Täters und seiner drei Spießgesellen zu erfahren. Im Kreis Segeberg treibt der Neonazi Bernd Tödter sein Unwesen, dem das Rechercheportal Exif.org vor einem Jahr einen ausführlichen Beitrag widmetet, in dem vor seiner Gefährlichkeit gewarnt wurde. Er gelte als „besonders gewaltbereiter, manipulativer und skrupelloser Akteur der extrem Rechten“, heißt es in dem Text.

Als junger Mann hatte Tödter 1993 mit einem Kumpanen einen Obdachlosen so verprügelt, dass der starb, saß dafür zwei Jahre in Haft. In Hessen baute er die später verbotene Kameradschaft „Sturm 18“ auf, zu der auch Stephan Ernst gehörte, mutmaßlicher Mörder des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke. Im Mai 2016 kam Tödter zum wiederholten Mal in Haft. Mit Unterstützern hatte er mehrere Personen misshandelt, die „Sturm 18“ nicht beitreten oder austreten wollten. Nach der Entlassung kehrte der Nazi in den Kreis Segeberg zurück, versucht seitdem, dort neue Strukturen aufzubauen. Wie es heißt, seien dabei vor allem junge Leute im Fokus, wie die vier, die am 17. Oktober offenbar mit dem Vorsatz nach Henstedt-Ulzburg gekommen waren, Ärger zu machen.

#Titelbild: privat, AfD Angreiferauto

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Zwei ehemalige Berliner Polizeischüler wurden am Freitag vom Landgreicht Berlin vom Vorwurf freigesprochen „Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen“ verwendet zu haben. Den beiden Angeklagten war vorgeworfen worden bei einem Basketballspiel in Berlin am 27. April 2018 „Sieg Heil“ gerufen zu haben, als sie dort privat einen Geburtstag feierten. In der ersten Instanz waren die beiden Angeklagten B. und W. noch zu Geldstrafen verurteilt worden. Ein dritter in der ersten Instanz Angeklagter hatte seine Berufung zurückgezogen und ist damit rechtskräftig verurteilt. Nach Angaben der B.Z. ist er auch seinen Job als Polizist los. Die beiden jetzt Freigesprochenen dürfen, sofern das Urteil rechtskräftig wird, ihren Job behalten.

Das Verfahren war zur Anklage gekommen, weil zwei Sozialarbeiter*innen, zusammen mit von ihnen betreuten Jugendlichen, im selben Block waren, wie die Angeklagten. Die Gruppe der Angeklagten war den beiden schon vor den von Ihnen beobachteten und gehörten „Sieg Heil“ Rufen unangenehm aufgefallen. Sie hätten bei Ballkontakten von Schwarzen Spielern „Affengeräusche“ gemacht und als Cheerleader auftraten „Ausziehen“ gebrüllt. Der Anwalt von B. bezeichnete das vor Gericht als „unflätiges Verhalten“. Teil der juristischen Auseinandersetzung war diese Zurschaustellung von rassistischem und chauvinistischen Gedankengut aber nicht. Der Angeklagte B. Habe dann, was er auch vor Gericht eingeräumte, „den Adler gemacht“, also die Arme ausgebreitet, und „Sieg“ gerufen. Die beiden Zeug*innen haben dann gesehen und gehört, wie die beiden anderen Angeklagten W. Und F. „Heil“ gerufen haben, was der Angeklagte W. im Verfahren vehement bestritt.

Die Sozialarbeiter*innen kontaktierten daraufhin den Sicherheitsdienst, damit die pöbelnde Gruppe der Halle verwiesen werden konnte was dann, nach Aufnahme einer Anzeige und Gegenüberstellung, auch geschah. Dass es sich bei den Angeklagten um angehende Polizisten handelte wurde erst im Laufe der ersten Gerichtsverhandlung klar.

Im Laufe des Prozesses wurden auch weitere Polizeischüler, die auf der Geburtstagsfeier waren, als Zeugen gehört. Diese gaben an weder “Sieg” noch “Heil” gehört zu haben. Einem von ihnen, H., hatte der in der ersten Instanz rechtskräftig verurteilte F. allerdings gestanden „Heil“ gerufen zu haben.

Ein in der jetzigen Verhandlung zentraler Punkt war die Frage, ob es denn in der Halle laut gewesen sei. Diese angenommene Laustärke war dann auch ausschlaggebend für den Freispruch. Der vorsitzende Richter und die beiden Schöffinnen sahen es nicht als erwiesen an, dass erstens der „Sieg“ brüllende Angeklagte B. die – trotz der zwei Zeug*innenaussagen – nicht als gesichert gewerteten „Heil“-Rufe der beiden neben ihm Sitzenden gehört habe. Zweitens müssten die „Heil“-Rufe, die das Gericht wie gesagt nicht als erwiesen ansah, so leise gewesen, dass der Vorsatz, diese an die Öffentlichkeit zu richten, nicht nachzuweisen sei.

Das Gericht ist damit wohl einem alten Trick aus der rechten Fußballfanszene auf den Leim gegangen. Zum einen sind „Sieg“- Rufe bei weitem nicht so üblich, wie vom Gericht angenommen, auch nicht beim Fußball. „Das war in den 90er Jahren in den Stadien vor allem in Ostdeutschland so, dass Leute „Sieg“ gerufen haben und die anderen im Wechsel dann „Heil“. So dass die Leute einzeln nicht belangt werden konnten. Später sind Fanszenen darauf umgestiegen, das nicht mehr ganz so eindeutig zu machen und nur noch „Sieg“ zu rufen“, erklärt Max Kulik, aktiver Fußballfan dem LCM. „Fanszenen die permanent „Sieg“ rufen sind aber auf jeden Fall verdächtig, der Nachweis ist natürlich schwierig. Im Verlauf der Zeit haben sich dann durch die Umpolitisierung von Ultras Fanszenen gebildet, die das nicht mehr ganz eindeutig herleiten, die das einfach rufen, weil das schon immer gerufen wurde.“

Der Zeuge und Polizeischüler H. hat übrigens wegen des Verfahrens den Kontakt zu allen Angeklagten abgebrochen. Er finde der Vorwurf sei „schwerwiegend“ und gehe nicht mit dem zusammengehe, wofür er stehe.

Rassismus, Chauvinismus und ein Hang zum laxen Umgang mit Nazis in den eigenen Reihen sind in der jüngeren Vergangenheit immer wieder an die Öffentlichkeit geraten. Nach den diversen Skandalen der letzten Zeit um Chatprotokolle und rechte Preppergruppen innerhalb des Polizeiapparats, ist der hier verhandelte Fall ein weiterer in in einer langen Reihe von sogenannten Einzelfällen.

Sollte H. Seine konsequente Haltung weiterhin durchziehen, wird er in Zukunft also wohl öfter Selbstgespräche führen müssen. Der in der ersten Instanz verurteilte F. wird sich hingegen wohl ärgern, dass er nicht auf die Milde und das Verständnis des Gerichts gewettet hat.

# Titelbild: Christian Zeiner, CC BY-SA 2.0, Symbolbild, Mercedes Benz Arena, Alba Berlin vs. BBC Bayreuth 2011

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Es gibt ein Foto, auf dem ist ein türkischer Soldat einer Spezialeinheit zu sehen. Aus seinem Mund hängt lässig eine Zigarette, sein Kopf ist an den Seiten kahlgeschoren, das verbliebene Haupthaar ist akkurat frisiert. Sein Blick zeigt ungetrübten Stolz, er streckt den rechten Arm in die Kamera, der die Trophäe zur Schau stellt. Aus dem rechten Arm baumelt ein Menschenkopf, unsauber am Hals abgesägt. Der Menschenkopf sieht stoisch nach unten. Weil der Menschenkopf irgendwann einmal zu einem kurdischen Menschen gehört hat, ist für die Soldaten klar: Hier wurde ein Terrorist gefangen.

Das Bild ist keine Fiktion. Es ist ein Screenshot aus einem Video, das irgendwann nach 2017 in Sirnak, einer Region im kurdischen Südosten der Türkei aufgenommen wurde. Und es ist das Bild, an das ich beim Lesen von Cemile Sahins neuem Roman „Alle Hunde sterben“ eigentlich auf jeder der 237 Druckseiten denken musste.

Sahins Buch ist aufgebaut wie eine Netflix-Serie, aber wie eine der guten, Black Mirror etwa. Es spielt in einem Hochhaus im Westen der Türkei, das 17 Stockwerke hat. Aber eigentlich spielt es in den Köpfen der neun Menschen, die in neun Episoden ihre Geschichten erzählen. Die neun Geschichten handeln aber alle von einer Geschichte und diese Geschichte ist ihrerseits keine Fiktion, sondern sie wird überall auf der Welt jeden Tag wieder und wieder aufgeführt: „Ich schleiche durch die Wohnung mit zwei Paar Socken, und ich verstehe: hinter der Tür kommt ein Zimmer, und hinter einem Zimmer kommt eine Wand. Und vor der Wand hängt eine Fahne, und wenn wir ihre Fahne sehen, wissen wir, in welchem Land wir sind. Wir sind in diesem Land. Und wenn uns ein Soldat hier sieht, dann packt er uns und stellt uns vor ihre Fahne.“

Wenn einer nicht vor der Fahne stehen will, weil die Fahne ihm und seinen Nachbarn, seinen Eltern, Tanten, Onkeln, Kindern, Großeltern und Freunden schon bis zum Ersticken in den Mund gestopft wurde, beginnt die Story. Es gibt dann Terroristen. Und weil diejenigen, die die Fahne aufgehangen haben, es nicht dulden können, dass es Terroristen gibt, gibt es Soldaten, Polizisten, Sondereinheiten, Spitzel. Deren Aufgabe ist es, alle zu fangen, die nicht Terroristen sind, sondern sein könnten. Also ziehen sie los und gehen ihrem Beruf als Helden der Nation nach. Für diesen Beruf haben sie Werkzeuge wie jeder Handwerker: Stricke, Fäuste, Gewehre, Pistolen, eine Ratte.

Mit den Werkzeugen bearbeiten sie die Gegenstände ihres Handwerkes, die Menschen, von denen sie wissen, sie sind Terroristen. Nur sind diese Gegenstände eben keine Gegenstände, sondern Menschen, also geht in ihnen etwas vor. Was aber in ihnen vorgeht, ist für die Außenstehenden oft egal: Für diejenigen, die die Fahne aufgehangen haben sowieso, es sind ja Terroristen; für die Soldaten, Polizisten, Sondereinheiten und Spitzel auch, es sind ja Terroristen; für die Handelspartner des Landes, in dem die Terroristen aufgehangen, zu Tode gequält, erschlagen und in den Wahnsinn getrieben werden auch, weil die Fahne verspricht lukrative Geschäfte; für die Urlauber, die in das Land fahren, in dem die Fahne hängt auch, denn sie machen ja nicht in dem 17-stöckigen Hochhaus Urlaub, sondern in einem hübschen Hotel, in dem es keine Terroristen gibt.

Cemile Sahin hat versucht, die Verheerungen einzufangen, die das Foltern, Bespitzeln, Erschießen und Erniedrigen in denjenigen auslöst, an denen es angewandt wird. Was macht es aus jemandem, wenn sein Großvater mit dünnen Seilen, mit denen man Schaden anrichten kann, an einen Baum gefesselt und abgeknallt wurde wie ein Hund? Was macht es mit Familien, die auseinandergerissen werden, und bei denen die einen nicht wissen, wo die anderen sind? Was macht es mit einem, die Gebeine der toten Mutter in einem Plastiksack herumzuschleppen? Und was kann noch aus jemandem werden, der gezwungen wurde, eine Ratte zu fressen?

„Alle Hunde sterben“ spielt in einem Land, das zu einem Knast geworden ist. Einem Land, in dem nicht nur der wirkliche Knast oder das 17-stöckige Hochhaus, in dem niemand aus freien Stücken lebt, ein Knast sind, sondern jeder Milimeter seines Territoriums. „Die Zukunft ist klein, und das Gefängnis ist groß“, sagt eine der Protagonist*innen.

Ein solches Land muss paranoid sein. „Denn jeder Anzug könnte zu einem Spitzel gehören, da jeder Anzug auf einem Spitzel sitzt. Und jeder Spitzel ist ein Mann im Anzug, der womöglich aus einem Auto gestiegen ist.“ Wo die Spitzel sind, sind die Soldaten nicht weit. Und die kommen dann nachts und treten Türen ein, aber man ist natürlich auch tagsüber nicht sicher, denn wer nachts kommt, kann auch tagsüber kommen. Die Soldaten in dem Roman sind wie eine Plage. Sie fallen ein und zerstören. Sie zerstören Häuser, Dörfer, Gräber, Menschen.

Das zu lesen, ist beklemmend. Es ist eine Qual und was anderes als eine Qual könnte es sein? Es ist eine Qual vor allem deshalb, weil man sich eben nicht daraus retten kann, indem man sich sagt: Es ist ja nur ein Roman. Weil es halt nicht nur ein Roman ist, sondern all das wirklich passiert. Der Nationalismus existiert wirklich, der Faschismus existiert wirklich, seine Soldaten existieren wirklich und die Menschen, die als Terroristen zu Freiwild erklärt werden, existieren auch wirklich.

Insofern ist Sahins Buch nicht einfach eine kunstvoll gemachte Erzählung. Es ist wirklich gute Literatur, aber nicht aus den Gründen, die im bürgerlichen Feuilleton angeführt werden, der immer so tut, als sei Literatur eine Art Rotwein, den man schwenkt, an ihm riecht, den Gaumen runterschüttet und danach sagt: Ah, das hat der Winzer aber vorzüglich gemacht, ich nehme drei Kisten. Die eigentliche Pointe des Buches liegt jenseits der Druckseiten in der Wirklichkeit. Denn das Buch stellt die unausgesprochene Frage: Was hast DU eigentlich getan, damit das aufhört?

#Titelbild: Zehra Dogan; Bildquelle: ANFenglish

Cemile Sahin / Alle Hunde Sterben / Aufbau Verlag / 239 Seiten / 20,00 €

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Im Zuge der Wahl Donald Trumps fand ein bemerkenswerter Wandel innerhalb der deutschen Rechten statt. Einst als unnatürliches Völkergemisch, als Inbegriff des Kapitalismus und der Globalisierung geschmäht, sind die USA heute zum Sehnsuchtsort der Rechten geworden – Ein Gastbeitrag von Ivan Klinge.

Es ist der 15. August 2020, in Berlin findet eine der mittlerweile zahlreichen Kundgebungen von Reichsbürgern, Verschwörungsideologen und Neonazis statt. Mittendrin, zwischen allen bekannten Neonazimarken und schwarz-weiß-roten Flaggen, ist auch eine Flagge der Vereinigten Staaten zu sehen. Was vor 10 Jahren undenkbar war, ist im Jahr 2020, dem es an Überraschungen nicht mangelt, Normalität geworden. Vor Jahren noch Erzfeind der „freien Völker“ und Marionette der „Ostküstenkapitalisten“, sind die USA seit 2016 und der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten zum neuen Verbündeten der globalen Rechten geworden.

Wo es früher noch „Witze“ über Joghurt und die Kulturlosigkeit der USA gab, gehört heute die „Make America Great Again“- Mütze zum Repertoire der Rechten, genau wie Anti-Antifa T-Shirts mit Donald Trump darauf. Denn wie so oft lohnt sich ein Blick zur Rechten, wenn es um die Einschätzung angeblich konservativer Akteure geht – im Gegensatz zum deutschen Bürgertum erkennen Rechte nämlich ihre Leute. So auch bei Trump. Schon 2016 traten in Neonazi-Podcasts wenige Tage nach Trumps Wahlsieg Neonazis mit Trump-Fanartikeln auf. Sie wussten schon damals, gerade wurde einer von ihnen zum Präsidenten gewählt. Und während sich das deutsche Bürgertum über die impulsive Art und die unzureichende Allgemeinbildung des Präsidenten amüsierte – und gleichzeitig chauvinistisch feststellte, dass er ja wohl von der amerikanischen Unterschicht gewählt wurde und nicht vom aufgeklärten Bürgertum – setzte Trump sein rechtes Programm um und veränderte die Gesellschaft nachhaltig. Denn im Gegensatz zur nie vollendeten Mauer nach Mexiko, kam die Steuerreform zugunsten der Oberschicht sehr schnell.

Im Jahr 2020 ist unverkennbar, was Trump ist, wofür er steht und wer ihn unterstützt. Im Zuge der BLM-Bewegung und dem Aufstehen der Bürger*innen der USA gegen die strukturell rassistische Polizei hat sich eine reaktionäre Gegenbewegung gebildet, die bewaffnet durch Städte zieht und gewillt ist, für ihr weißes Amerika zu kämpfen. Für die Aktivist*innen in den USA ist dabei besonders gefährlich, wie gewaltbereit und bewaffnet diese rechten Milizen sind.

Einen Vorgeschmack ihres Mobilisierungspotentials gab es im Frühjahr 2020, als Regierungsgebäude in demokratisch regierten Bundesstaaten als Reaktion auf die lokalen Coronamaßnahmen von schwer bewaffneten Männern besetzt wurden. Seitdem marschieren sie landesweit regelmäßig auf, mit dem vorrangigen Ziel, Linke, Migrant*innen und People of Colour einzuschüchtern und für ein weißes Amerika zu kämpfen. Vor Gewalt und auch vor Mord schrecken sie dabei nicht zurück. Es wurden bereits Antifaschist*innen ermordet – eines der bekannteren Opfer ist Heather Heyer, die 2017 von einem Neonazi getötet wurde. Die Rechten wähnen sich 2020 im lange herbeigesehnten „Race War“, dem Rassenkrieg. Die Sehnsucht nach selbigem ist der Rechten immanent, der apokalyptische Wahn ist auch in der deutschen Rechten präsent und immer Teil ihrer Ideologie gewesen: Für Volk und Nation im heiligen Endkampf – dem „Ragnarök“ – sterben und zu töten.

Verstärkt wird das Ganze noch durch antisemitische Ideologien wie die von „Qanon“ verbreiteten Verschwörungstheorien. Kern dieser Thesen ist, dass Trump mit dem US-Militär Vorkämpfer gegen die degenerierte, pädophile, kindermordende globale Elite ist. Das Erkennungszeichen der Anhänger der QAnon-Theorie, der Buchstabe Q, ist mittlerweile auch auf rechten Kundgebungen in Deutschland zu finden. Im deutschen Ableger sind so die US-Truppen in Deutschland von verhassten Besatzern zu Verbündeten der Verschwörungsideolog*innen geworden, die nur darauf warten, Deutschland zu „befreien“. Zwar ist im Gegensatz zu den USA, in denen sich schon mehrere Politiker der Republikaner zu QAnon bekennen, in Deutschland noch kein Politiker öffentlich als Anhänger in Erscheinung getreten. Das kann (und wird) sich aber noch ändern, gerade in der AfD als Sammelbecken von Verschwörungstheoretikern und Reichsbürgern ist es wohl nur eine Frage der Zeit bis zum offenen Bekenntnis Einzelner.

Dass die USA von Besatzern und Globalisten zu Verbündeten werden, ist also kein Zufall. Es ist auch Resultat der Präsidentschaft Trumps. Diese war und ist Katalysator und Verstärker der amerikanischen Rechten und somit Bindeglied zur europäischen Rechten. Durch ihn fühlen sich Rassist*innen in Uniform erst recht ermuntert, ihre White-Supremacy-Ideologie immer offener und direkter auszuleben. Durch ihn bekommen Antisemiten enormen Aufwind, die Zahl antisemitischer Angriffe in den USA steigt seit 2016 an und wird durch den Präsidenten selbst angefacht. Dabei beeinflussen sich die amerikanische und die europäische Rechte seit Jahren regelmäßig gegenseitig, ein bekanntes Beispiel dafür sind die „Turner-Diaries“, die von den Vereinigten Staaten aus das Konzept des „führerlosen Widerstandes“ propagieren und auch im Deutschland der 90er-Jahre bekannt machten. Eine weitere Präsidentschaft Trumps würde die amerikanische Rechte (und so auch die europäische) weiter dramatisch stärken, ganz zu schweigen davon, dass es fraglich ist, ob das demokratische US-System mit seinen „Checks and Balances“ vier weitere Jahre Trump überleben würde oder in eine rechte Autokratie bzw. eine „gelenkte Demokratie“ münden würde. Dabei kommt auch die Frage auf, ob Trump im Falle einer Niederlage selbige überhaupt akzeptieren würde, oder nicht stattdessen seine Anhänger mobilisieren und sich selbst zum Sieger erklären würde.

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Es war ein bedrückender Moment, als vorm Magdeburger Landgericht Schilder mit den Namen aller Todesopfer rechter Gewalt seit 1990 verteilt wurden, die Zahl der anwesenden Personen aber nicht ausreichte. So mussten viele zwei Schilder halten. War das ein weiterer Grund, um an die Zivilgesellschaft zu appellieren, sich doch endlich an die Seite der Guten zu stellen und gegen Rassismus auf die Straße zu gehen? Die Bühne ist da, aber die Zuhörenden fehlen. Emily Williams von megaphon.org mit einer Einschätzung

Am 21. Juli 2020 begann der Prozess gegen den Attentäter von Halle. Nach dem gescheiterten Versuch, eine gut besuchte Synagoge in Halle zu stürmen und die dort Anwesenden zu ermorden, tötete der Mann aus Eisleben am 9. Oktober 2019 auf der Flucht zwei Menschen. Der Mann schoss der Passantin Jana L. in den Rücken und richtete Kevin S. in einem Dönerimbiss hin. Der Täter wurde auf der Flucht gefasst und sitzt seitdem in Untersuchungshaft. Die Bundesanwaltschaft wirft dem Angeklagten zweifachen Mord und weitere schwere Straftaten vor. Ihm droht die Höchststrafe.

Der Prozessauftakt in Magdeburg versprach großes Medieninteresse. Ein Bündnis mehrerer Initiativen und Gruppen hatte prozessbegleitend zu einer Kundgebung auf der Wiese vor dem Landgericht aufgerufen. Dort wurden dann die Schilder mit den Namen der Todesopfer verteilt. Es gab ein Mikrofon, einige Pavillons mit Infomaterial und ein paar Bierbänken standen auf der begrünten Freifläche. Auch ein Zelt für die Presse war vorbereitet worden. Das Gelände der Kundgebung war überschaubar und durch die anliegenden Straßen begrenzt. Im Schatten der Bäume saßen mit etwas Abstand ein paar Menschengruppen, mit und ohne Gesichtsmasken. Einige in schwarz gekleidet, andere eher hippiebunt. Die meisten waren sehr jung und mit dem Habitus einer zukünftigen intellektuellen Elite unterwegs. Am Wiesenrand, mit Blickrichtung zum Landgericht ausgerichtet, standen zwei junge Männer mit einer Israelfahne zwischen ihren Händen. Die Versammlung stand unter dem Motto „Solidarität mit den Betroffenen – Keine Bühne dem Täter“ und es war engagiert mobilisiert worden. Der Einladung zur Mahnwache folgten trotzdem nur etwa 120 Personen, Magdeburger*innen waren vielleicht zehn darunter. Redebeitrage waren kaum zu verstehen, wurden träge abgelesen und hatten den Esprit einer sehr langweiligen Hörspielkassette. Wir sind uns einig: Es können nicht alle Reden halten. Das ist nun mal so. Einen Text auf einer solchen Mahnwache in ein Mikrofon vorzulesen, als handele sich um eine Einkaufsliste, ist das Privileg der Nichtbetroffenheit.

Ich fühlte mich äußerst unwohl. Das lag aber nicht am mehr oder weniger ausgeprägten Redetalent der Sprechenden, sondern dem Kennen der Anwesenden. Zwischen dauerbeleidigten Mackern, die sonst am liebsten Frauen sexistisch beleidigen, die Antifas an Öffentlichkeit und Nazis verraten, , die mit Staatsschutz und Polizei kooperieren, die antimuslimisch und rassistisch hetzen und das N-Wort zitieren, ist es aber nicht nur für Frauen schwer, den Opfern rassistischer Gewalt zu gedenken. Auch außerparlamentarische Politik ist ein schmutziges Geschäft. Wer nicht spurt, wird gemobbt.

Aber ausgerechnet diese Arschgeigen haben jetzt in den sozialen Medien die Deutungshoheit über die Prozessbegleitung. Politprofis, die jahrelang nur aus der Arbeit derjenigen im Hintergrund profitieren und deren Karriere darauf baut, ihre Gesichter in Kameras zu halten, wenn etwas klappt und sich zu distanzieren, wenn es schief geht. Dampfplauderer, die immer dann eine „gewaltfreie“ Alternative zu allem aus dem Arsch ziehen sobald die Gefahr besteht, eine antifaschistische Initiative könnte mit linken Inhalten erfolgreich in die Zivilgesellschaft mobilisieren. Genau jene, die sich immer wieder unaufgefordert zur Gewaltfreiheit bekennen und damit versprechen, alle sofort auszuliefern, die sich dem Konsens der Wirkungslosigkeit nicht beugen. Diejenigen, die am höchsten jüdischen Feiertag und der steten Mahnung vor weltweitem Antisemitismus nicht schützend vor der Synagoge standen aber zu jeder Antifademo ihre Israelfahnen mitschleppen. Ausgerechnet jene, die im April 2018 durch Halle zogen und den Islam als „die Grundlage für Antisemitismus, Frauenverachtung und Morden in der ganzen Welt“ denunzierten, sind nun auch jene, die über den Attentäter als Frauenhasser, Antisemiten und Rassisten berichten aber zuerst ihre eigene Haltung reflektieren müssten. Dazu aufgefordert, rasten sie aus. Solidarität sei das Gebot der Stunde, um dem rechten Terror die Stirn zu bieten. Nur Solidarität kann uns noch retten. Uns alle. Also haltet gefälligst die unsolidarische Klappe und stimmt uns zu. Auch wenn wir uns falsch verhalten. Wir sind die Guten.

Für Frauen ist Präsenz in diesem Umfeld gefährlich. Du mußt nicken oder bist Feindbild. Die Entsolidarisierung ist längst vollendet. Es gibt da für viele kein Miteinander mehr. Für manche stellen sich die Fragen anders: Wie fahrlässig ist meine Sichtbarkeit in diesem Umfeld? Werde ich dort fotografiert, mit weiteren Artikeln geoutet, meine Personendaten veröffentlicht, weil ich es wage, mich als Frau politisch zu äußern und die anwesenden Macker meine Kritik nicht aushalten? Kleben die Macker mir ein Fadenkreuz auf die Stirn, damit Täter wie in Halle neue Ziele finden? Mit Sicherheit.

Wer möchte sich aber auch neben eine Israelfahne stellen, um den Juden und Jüdinnen in Deutschland die Ausreise nach Israel zu empfehlen. Ein Verweis nach Israel ist eine bevormundende Antwort im Kampf gegen Antisemitismus. Juden und Jüdinnen sind Freunde, Kollegen und Nachbarn. Weil sie in Deutschland leben möchten, müssen wir dafür sorgen, dass dies gefahrlos möglich ist. Wir müssen mit den Lebenden solidarisch sein, nicht erst mit den Toten. Ich gebe diese Idee nicht auf. Antisemitismus passiert hier und ein Sicherheitsversprechen durch eine Ausreiseempfehlung ist keine Lösung. Der Täter versuchte in die Synagoge in Halle an der Saale einzubrechen, er wollte die Anwesenden töten. Die Menschen hinter der lebensrettenden Holztür hatten Todesangst. Antisemitismus ist kein Import und der Islam ist nicht die Grundlage für Antisemitismus, Frauenverachtung und Morden in der ganzen Welt. In Halle an der Saale tötete am 9. Oktober 2019 ein 28-jähriger Deutscher in rasendem Hass zwei Menschen. Einer Holztür und der Ladehemmung seiner selbstgebauten Waffen ist es unter anderem zu verdanken, dass nicht mehr Menschen ermordet wurden.

Der Attentäter stammt aus Eisleben. Die Geschichte des Antisemitismus in Eisleben findet man direkt auf dem Marktplatz. Dort steht eine gut vier Meter große und 1,5 Tonnen schwere Bronzeskulptur des wohl bekanntesten Judenhassers seiner Zeit: Martin Luther. Überall in der Region, von Wittenberg bis nach Halle, wird der Begründer des Protestantismus bis heute geehrt. “Was wollen wir Christen nun tun mit diesem verworfenen, verdammten Volk der Juden?”, schrieb Luther. In seiner Schrift “Von den Juden und ihren Lügen” forderte er “brennende Synagogen”. In seiner letzten Predigt in Eisleben, 1546, fordert er die vollständige Austreibung der Juden aus der Stadt. Der Attentäter von Halle wurde in der Lutherstadt Eisleben geboren, ging auf das Martin- Luther-Gymnasium und auf die Martin-Luther-Universität in Halle.

Antisemitismus muss in Deutschland nicht importiert werden, die Wiege steht hier. Deutschen muss man keine ideologische Nähe mit Rechten unterstellen, sie sind es selbst. Juden und Jüdinnen des Landes zu verweisen erfüllt Antisemiten einen innigen Wunsch. Der Halle-Attentäter begründete seine Mordlust völkisch-nationalistisch. Er wollte Deutschland als Schutzraum der weißen Herrschaft gegen Muslime und Schwarze verteidigen, die in seinem Weltbild von einer jüdischen Macht gesteuert würden. Er dämonisiert Juden und entmenschlicht Muslime. Der Täter beschrieb die von ihm als „Krise“ erlebte Zuwanderung von Flüchtlingen im Jahr 2015 als Bedrohung seines identitären Weiß- und Deutschseins. Nationalismus tötet, denn Nationalismus produziert Ausschlüsse und verschafft einem Kollektiv eine gemeinsame Identität, die zu Gewalt führen wird, wenn diese als bedroht gilt. Nationalismus ist die Rechtspraxis zum Völkischen. Diese wahrheitswidrige Erzählung der angeblichen Grenzöffnung und unkontrollierten Zuwanderung im Jahr 2015 ist das Leitmotiv der Neuen Rechten und begünstigte die Wahlerfolge der AfD. Nach dem Weltbild des Täters sei für die Bedrohung des Kollektivs eine jüdische Elite verantwortlich. Damit greift er auf das antisemitische Narrativ der jüdischen Weltherrschaft zurück. Der Halle-Attentäter ist Incel („Involuntary Celibate“), Rassist, Nationalist und Antisemit.

Die Antworten der vor dem Landgericht in Magdeburg stehenden Linksliberalen auf das Attentat am 9. Oktober 2019 in Halle überzeugen mich nicht. Auch eine mitreißend gehaltene Rede hält keinen Attentäter auf. Die langweiligen auch nicht. Ich weiß, dass der deutsche Staat strukturell und offen rassistisch, auf dem rechten Auge mindestens sehschwach und auf dem linken äußerst rabiat ist. Ich erwarte von einem Staat weder Schutz noch Gerechtigkeit. Ein Staat ist kein Freund, sondern ein Konstrukt. Nationalismus produziert Ausschlüsse und befördert Rassismus. Rassismus, Sexismus und Antisemitismus sind in der bundesdeutschen Wirklichkeit Alltagskultur. Von einer solidarischen Linken erwarte ich darum, dass der Umgang miteinander solidarisch ist, dass keine Ausschlüsse reproduziert werden, dass Frauen nicht psychiatrisiert und nicht sexistisch attackiert werden, dass Kritik am Nationalismus zugelassen wird, dass Religionskritik nicht nur „den Islam“ meint und dass Solidarität vom einmaligen Medienspektakel zur täglichen Praxis wird. Davon sind wir in Magdeburg noch weit entfernt.

Meine Solidarität gilt täglich allen Betroffenen rassistischer Politiken und Gewalt. Ich bekämpfe Rassismus, auch wenn er von Linken kommt. Und ich erkenne Incels am Verhalten gegenüber Frauen, auch wenn sie versuchen, ihren Frauenhass mit linker Rhetorik zu begründen. Ich weiß, dass der Kampf gegen Antisemitismus niemanden gegen Rassismus immunisiert. Der Halle-Attentäter war beides: antisemitisch und rassistisch. Und ein Frauenhasser.

Was unternehmen wir gegen solche Typen? Wie verhindern wir, dass weiße Männer ihren unerfüllten Herrschaftsanspruch in Gewalt übersetzen und zur Tötungsmaschine werden? Um mir diese Fragen in Ruhe zu stellen, bin ich gegangen. Schon am zweiten Prozesstag war die Wiese dann wieder menschenleer. Statt vieler Pavillons auf dem Grün gab es nur noch einen auf dem Plattenweg. Zum Glück hatte niemand mehr Schilder mit Namen der Todesopfer rechter Gewalt dabei, es gab nicht mal annähernd genug Hände. An den kommenden Prozesstagen werden sowohl die Wiese als auch die Plätze im Gerichtssaal leer bleiben.

# Titelbild: wikimedia commons, CC BY-SA 3.0, Lutherstatue in Eisleben

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Ich mag das Aufreihen von Fakten nicht mehr. Ab jetzt ist nur noch Populismus. All die Daten, die Schlüsselmomente der letzten zehn Jahre, auf die es Reaktionen hätte geben müssen – egal, wen interessieren noch Fakten.

Die Namen der Journalist*innen, die sich an der lodernden Faschisierung in Deutschland zumindest ethisch mitschuldig machen, weil sie den Faschist*innen Raum einräumten und noch immer einräumen – ihre Namen fallen mir schneller ein, als die Namen der Opfer des rechten Terrors. Das ist ein jämmerlicher Fakt. Sämtliche Rassentheorien sind faktisch widerlegt und doch diskutieren große Publizist*innen mit Rassist*innen, als wären sie vernünftige Menschen. Als hätte es die Shoa in Deutschland nicht gegeben.

Und auch diejenigen, die sich als weiter „links“ als die „Liberalen“ verstehen, tragen Mitschuld. Jene, die so lange haderten mit den Termini und jonglierten mit Worthülsen. Konservativ, Mitte Rechts, rechts-konservativ, rechts außen, rechts außen außen … Der Euphemismus ist bloß ein kleiner Rausch in einer großen nüchternen Welt.

Wie oft soll eine Ideologie, die Ihre hässliche Fratze als bares Antlitz trägt, noch „enttarnt“ und „demaskiert“ werden? Natürlich kann die Gedankenwelt von Menschenfeinden, freiheitlich, demokratisch, hundertfach in Talkshows ausgebreitet werden. Aber warum?

Sag es leise, aber sag es: Es ist Faschismus.

Und Faschismus ist eine Ideologie der Vernichtung. Vernichten bedeutet, völlig zerstören, gänzlich zunichtemachen. Warum seit Jahren mit Menschen diskutiert wird, die nichts anderes im Sinn haben, als alle politischen Widersacher*innen und Andersdenkende schlichtweg auszulöschen, es will mir nicht in den Kopf. So wenig will das in meinen Kopf wie das Wort „Einzeltäter“. Wieder dieser Euphemismus. Polizei, Bundeswehr, Verfassungsschutz. Und Einzeltäter. Landtagswahl in Thüringen. Einzeltäter. Oder „dumme Ossis“. Aber sicher nicht, ganz sicher nicht (organisierte) ideologische Rassist*innen oder gar Faschist*innen.

In Zeiten, in denen es scheint, als sei das Höchste aller querulantischen Gefühle des Durchschnittsmittebengels aus der Medienlandschaft, zu schreiben oder zu sagen BJÖRN HÖCKE IST EIN FASCHIST – in solchen Zeiten möchte ich Erich Kästner zitieren, weil ich keine Schellen verteilen darf. „Die Ereignisse von 1933 bis 1945 hätten spätestens 1928 bekämpft werden müssen, später war es zu spät. Man darf nicht warten, bis der Freiheitskampf Landesverrat genannt wird. Man muß den rollenden Schneeball zertreten; die Lawine hält keiner mehr auf.”

Deutschland faschisiert sich. Der Schneeball rollt. Das liegt nicht an bloß Höcke-Lucke-Gauland oder einzeltäterischen anderen Bernds. Das liegt an einer Gesellschaft, die das mitträgt. Das liegt an einer Gesellschaft, die diesen Schneeball rollen lässt. Wieiviele Julians, Lianes, Martins, Jans und Ulfs profitieren fantastisch von dem Umstand, dass “die Deutschen” auch über 70 Jahre nach Hitler, immer noch nicht bereit sind, Faschismus zu erkennen, zu benennen und zu bekämpfen?

Es fängt an mit dem Etablieren faschistischer Rhetorik. Dem Normalisieren faschistischer Narrative. Mit Intoleranz, Spaltung, Hassreden, Hetze, brennenden Häusern, getöteten Menschen, Veränderungen von Gesetzen, der Einschränkung von Grundrechten. Es fängt mit Menschen an, die dabei zusehen. Wir sind noch eine Koalition mit einer Nazipartei davon entfernt, diesen Text nicht bloß als hysterischen Alarmismus zu empfinden.

Landesverräterische Grüße, Eure Jane



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