„Verkehrsunfall“ in Henstedt-Ulzburg

29. Oktober 2020

An Halloween sollten Linke nicht nur nach rechts schauen, bevor sie eine Straße überqueren. Es könnten Nazis mit Pick-ups unterwegs sein, die sie „erschrecken wollen“. Aber ganz im Ernst: Das Hamburger Abendblatt, reaktionäres Leib- und Magenblatt der hanseatischen Bourgeoisie, hat am 22. Oktober doch allen Ernstes folgende Schlagzeile produziert: „Fahrer wollte Demonstranten offenbar nur erschrecken“ – und das als Überschrift zu einem Beitrag über den rechten Anschlag auf Demonstranten, der fünf Tage zuvor am Rande einer AfD-Veranstaltung mit Parteichef Jörg Meuthen im schleswig-holsteinischen Henstedt-Ulzburg geschehen war (lower class magazine berichtete).

„Der Nazi tut nichts, der will nur spielen“ scheint das Motto zu sein. Rechte Gewalt und andere rechte Aktivitäten werden hierzulande ja seit Jahren und Jahrzehnten von Politik, Polizei und Konzernmedien nach Kräften verharmlost. Aber dies ist wirklich eine ebenso haarsträubende wie unverfrorene Variante. Noch mal zum Mitschreiben, was passiert ist: Ein 19 Jahre alter Nazi oder zumindest AfD-Sympathisant hat an diesem 17. Oktober unweit des Bürgerhauses von Henstedt-Ulzburg, in dem Meuthen zu seinen Fans sprach, drei Aktivist*innen mit einem schweren Pick-up auf dem Bürgersteig gezielt angefahren und alle drei verletzt. Laut Zeugenaussagen hat der Täter die Menschen regelrecht gejagt.

Wie kann man angesichts dieser Tat einen solchen Bullshit schreiben? Den Text zur Überschrift hat ein Abendblatt-Redakteur namens Wolfgang Klietz verbrochen. Der war früher zeitweise Polizeireporter in der Zentralredaktion des Blattes und ist mittlerweile Redakteur der Regionalausgabe Norderstedter Zeitung, zu deren Verbreitungsgebiet Henstedt-Ulzburg gehört. Offenbar hat er aus der Zeit als Polizeireporter noch einige Kontakte zur Polizei oder weiß zumindest, wie man die herstellt und was man da zu schreiben hat, um sich bei unseren „Freunden und Helfern“ beliebt zu machen.

Dieser Lohnschreiber beginnt seinen Beitrag mit dem Satz: „Der Fahrer des Pick-ups, der am Sonnabend in Henstedt-Ulzburg mehrere Menschen angefahren hat, wollte seine Opfer offenbar nur erschrecken.“ Davon seien „mittlerweile die Ermittler des Staatsschutzkommissariats überzeugt, die den Fall untersuchen“. Für die These spreche, dass der Wagen langsam gewesen sei und die Verletzungen nicht schwerwiegend seien. Messerscharf schlussfolgert der Herr Klietz, ein Anschlag komme „als Tatmotiv nun kaum noch infrage“.

Wenn man mal davon ausgeht, dass sich ein Abendblatt-Redakteur nicht irgendwas aus den Fingern saugt, dürfte der Kollege mit einem Beamten des Kommissariats 5 der Bezirkskriminalinspektion Kiel 5 gesprochen haben, des Staatsschutzkommissariats, welches in diesem Fall ermittelt. Und der wird wohl sinngemäß gesagt haben: „Du, der 19-jährige hat uns ganz glaubhaft versichert, dass er den Leuten nur einen Schrecken einjagen wollte.“ Ganz offensichtlich hat der Täter bei seiner polizeilichen Vernehmung diese Schutzbehauptung aufgestellt.

Der Skandal besteht darin, dass zumindest ein Ermittler des Staatsschutzes so etwas durchsteckt und ein reichweitenstarkes Medium das Ganze verbreitet – mit dem klaren Ziel, die Tat zu verharmlosen. Dass die Darstellung im Hamburger Abendblatt nicht die offizielle Linie der Polizei und der die Ermittlungen führenden Staatsanwaltschaft Kiel widerspiegelt, lässt sich immerhin vermuten. Jedenfalls teilte die Landespolizei Schleswig-Holstein am Montag auf ihrem Twitter-Account mit, die Darstellung im Abendblatt treffe „nach jetzigem Ermittlungsstand“ nicht zu. Es gebe „derzeit noch keinen feststehenden Sachverhalt, der die Motivation des Fahrers darlegt“. Darüber sei der Redakteur bereits informiert worden.

Die Räuberpistole vom „Erschrecker“ im Pick-up ist nicht die erste Kommunikationspanne in der Sache. Noch am Abend des 17. Oktober stellte die Polizeidirektion Bad Segeberg eine Pressemitteilung zu den Vorgängen in Henstedt-Ulzburg online, die den Anschlag das erste Mal auf skandalöse Weise relativierte. Obwohl das sonst durchaus üblich ist, wird die Tat in der Überschrift nicht einmal erwähnt: „Versammlungsgeschehen vor dem Bürgerhaus – Bilanz der Polizei“.

Wie man sich anhand der Pressemitteilungen der Polizeidirektion Bad Segeberg an den Vortagen schnell überzeugen kann, werden sonst viel harmlosere Vorfälle schon in der Überschrift deutlich benannt. Das zeigen bereits zwei wahllos gegriffene Beispiele von Meldungen aus Henstedt-Ulzburg vom 5. Oktober. Über der einen steht „Hund bringt 79-jährige Radfahrerin schwer verletzt zu Fall“, über der anderen „Betrunkener Mann schlägt 15-jährigen Radfahrer“. Die Überschrift zum Geschehen am 17. Oktober hätte also etwa heißen können: „19j-ähriger fährt drei Personen auf Bürgersteig an“.

Wie in einem schlechten Schüleraufsatz werden in der Mitteilung die Ereignisse im üblichen Beamtensprech nacherzählt, beim Beginn der Demo angefangen. Dabei wird dem kritischen Leser schnell klar, in welche Richtung das Ganze laufen soll. Auf dem Vorplatz des Bürgerhauses hätten sich Demonstranten aus dem „bürgerlichen Spektrum“ versammelt. Mit Einlassbeginn seien 50 bis 60 „Personen der linken Szene (Antifa)“ im Zufahrtsbereich des Bürgerhauses aufgetaucht. Weiter heißt es da: „Diese Personengruppe führte eine nicht angezeigte Spontandemonstration durch. Es kam zu Pöbeleien und Handgreiflichkeiten gegenüber Besuchern der AfD-Veranstaltung und Polizeibeamten.“ Auch das ist vermutlich schon Fake News, da zumindest nach Darstellung der Organisator*innen der Demo und weiterer Augenzeug*innen Handgreiflichkeiten eher von AfD-Sympathisant*innen ausgingen. Nach der langen Vorrede kommt die Segeberger Polizei schließlich auf den eigentlichen Vorfall zu sprechen. „Demonstranten der rechten und linken Szene gerieten außerhalb des Veranstaltungsgeländes aneinander“, heißt es da. Und weiter: „Dabei wurde im Rahmen eines Verkehrsunfalls eine Person der linken Szene schwer verletzt und in ein Krankenhaus eingeliefert.“

Zu diesem Zeitpunkt war bereits klar, dass der Täter über den Bürgersteig auf die Demonstrant*innen zugefahren war. Dass dies mit Absicht geschehen war, daran konnte es kaum Zweifel geben. Es waren etliche Polizist*innen vor Ort, die das Geschehen vielleicht nicht unmittelbar gesehen haben, aber schnell am Tatort waren. Wenn es ein Unfall gewesen sein soll, fragt sich zudem, warum Polizei und Staatsanwaltschaft in einer späteren Mitteilung erklärten, der Fahrer sei kurz nach dem Vorfall festgenommen worden. Was die Polizeiinspektion Bad Segeberg mit dieser Presseerklärung bezweckte, liegt auf der Hand: die „böse Antifa“ als angereiste Störer zu definieren, die Ärger gemacht haben, dessen Folge dann dieser „Unfall“ gewesen ist.

Die unhaltbare Mitteilung der Polizei vom Tattag trug vermutlich dazu bei, dass die Pressearbeit zu dem Vorgang recht schnell bei der Staatsanwaltschaft Kiel landete, die sich am Montag gegenüber Medien schon wesentlich realistischer äußerte. So zitierte die junge Welt den Kieler Oberstaatsanwalt Henning Hadeler mit den Worten, es werde gegen den Fahrer wegen des Verdachts der gefährlichen Körperverletzung und des gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr ermittelt. Geprüft werde aber auch, ob eine Tötungsabsicht vorgelegen habe. Ein Sachverständiger sei hinzugezogen worden.

Doch auch in einer gemeinsamen Presseerklärung vom 20. Oktober von Staatsanwaltschaft Kiel und Polizeidirektion Kiel zu dem Fall wird das Wort „Anschlag“ tunlichst vermieden. Auch hier wird versucht, die terroristische Tat dadurch zu relativieren, dass sie mit einer angeblichen Auseinandersetzung zwischen Demonstrant*innen und den vier Rechten in Verbindung gebracht wird. Zum Aufruf an Zeugen, sich zu melden, heißt es, die Ermittler interessiere besonders,ob es bereits vor der Tat zu einem Konflikt oder einer Auseinandersetzung zwischen den vier Personen und den Demonstrationsteilnehmern gekommen ist“. Selbst wenn dem so wäre – berechtigt das dazu, Leute mit einem schweren Pick-up anzufahren?

Aufschlussreicher wäre es, mehr über die Herkunft und die politische Anbindung des Täters und seiner drei Spießgesellen zu erfahren. Im Kreis Segeberg treibt der Neonazi Bernd Tödter sein Unwesen, dem das Rechercheportal Exif.org vor einem Jahr einen ausführlichen Beitrag widmetet, in dem vor seiner Gefährlichkeit gewarnt wurde. Er gelte als „besonders gewaltbereiter, manipulativer und skrupelloser Akteur der extrem Rechten“, heißt es in dem Text.

Als junger Mann hatte Tödter 1993 mit einem Kumpanen einen Obdachlosen so verprügelt, dass der starb, saß dafür zwei Jahre in Haft. In Hessen baute er die später verbotene Kameradschaft „Sturm 18“ auf, zu der auch Stephan Ernst gehörte, mutmaßlicher Mörder des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke. Im Mai 2016 kam Tödter zum wiederholten Mal in Haft. Mit Unterstützern hatte er mehrere Personen misshandelt, die „Sturm 18“ nicht beitreten oder austreten wollten. Nach der Entlassung kehrte der Nazi in den Kreis Segeberg zurück, versucht seitdem, dort neue Strukturen aufzubauen. Wie es heißt, seien dabei vor allem junge Leute im Fokus, wie die vier, die am 17. Oktober offenbar mit dem Vorsatz nach Henstedt-Ulzburg gekommen waren, Ärger zu machen.

#Titelbild: privat, AfD Angreiferauto

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