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Nach fast 100 Prozesstagen ist im Antifa-Ost-Verfahren gestern, am 31.05.2023, ein Urteil gefallen. Lina wurde zu fünf Jahren Knast verurteilt, die anderen drei Angeklagten zu jeweils zwei Jahren und fünf Monaten, drei Jahren und drei Jahren und drei Monaten. Während die Bundesanwältin, der diese Urteile vermutlich neue Karrieresprünge eröffnen, sich bei der Urteilsverkündung ihr Dauergrinsen nicht verkneifen konnte, wechselten sich angesichts der Ausführungen, die der vorsitzende Richter in den folgenden Stunden von sich gab, bei den Zuschauern Wut, Fassungslosigkeit und Erschöpfung ab.

Der vorsitzende Richter Schlüter-Staats, personifizierter erhobener Zeigefinger, wäre gerne souveräner als er ist. Aber es ist offensichtlich, dass ihm ein Prozess, in dem die Verteidigung ihren Job macht, auf die Nerven gegangen ist. In seinem Resumé des Prozesses erklärt er etwa vorwurfsvoll, dass die Verteidigung ja die ganze Zeit damit zugebracht habe, die Ermittlungen der Polizei in Zweifel zu ziehen. Die bürgerliche Presse ist da ganz an seiner Seite. In der FAZ kann man lesen, dass es dem Richter wohl ein besonderes Bedürfnis sei, „endlich mal die ungeteilte Aufmerksamkeit“ zu haben, nachdem er im Prozess von der Verteidigung „ständig und teilweise unflätig unterbrochen wurde“. Weil in einem guten Prozess werden des guten Ton halbers den Gottkönigen des Gerichts die Stiefel geleckt. Dementsprechend sparte der vorsitzende Richter nicht mit Spitzen gegen die Verteidiger, die das über sich ergehen lassen mussten – während der Urteilsverkündung, dem Moment mit der größten medialen Aufmerksamkeit, hat der Richter das Wort. Die Vorwürfe sind hart: Es fehle an juristischen Grundkenntnissen und einer der Verteidiger, der – zurecht – von politischer Justiz gesprochen hatte, solle doch die Gedenkstätte in Hohenschönhausen besuchen, wenn er wissen wolle, was politische Justiz sei.

Die kognitive Dissonanz, die hier an den Tag gelegt wurde, ist beachtlich. Das Urteil als politisch zu bezeichnen, wäre eigentlich fast schon ein Kompliment. Die mündliche Urteilsbegründung hat es nämlich in sich. Für diese nahm sich der vorsitzende Richter ausgiebig Zeit. Von 10 bis 20 Uhr dozierte er darüber, warum die Angeklagten verurteilt werden. Der Teufel liegt ja bekanntlich im Detail. Und die Details in diesem Prozess sind die wahnwitzigen Argumentationen, die das Gericht heranzieht, um die Angeklagten zu verurteilen. Auch wenn es, wie die Bundesanwaltschaft in ihrem Plädoyer schon gesagt hatte, keine „smoking gun“, a.k.a. Beweise gebe.

Der Berliner Angeklagte etwa wurde unter anderem verurteilt, weil er sein Auto verliehen hatte, welches dann in Eisenach eingesetzt wurde, um den Neonazi Leon R. auszuspionieren und anzugreifen. Ob er wusste, dass das Auto dafür eingesetzt wurde, konnte ihm nicht nachgewiesen werden. Ist aber egal. Der vorsitzende Richter Schlüter-Staats führte aus, dass, wenn es sich um etwas anderes gehandelt hätte, wie etwa Graffiti oder zum See fahren, der Angeklagte dann ja gefragt hätte, ob er mitkommen könne. Da er das nicht gemacht habe, müsse er gewusst haben, wofür er das Auto verliehen habe, und habe sich dementsprechend der Unterstützung der kriminellen Vereinigung, die das Gericht de jure mit diesem Urteil geschaffen hat, schuldig gemacht. So einfach kann man es sich wohl nur im Staatsschutzsenat machen.

Die Bundesanwaltschaft BAW hat sich in seinem Fall sowieso nicht mit Ruhm bekleckert. Für eine der ihm ursprünglich vorgeworfenen Tatbeteiligungen hatte er ein handfestes Alibi: Aus einem anderen, von der selben Bundesanwältin geführten Verfahren geht hervor, dass er gar nicht beteiligt gewesen sein kann: Sein Telefon wurde abgehört, und die Gesprächsprotokolle zeigten, dass er in Berlin war. Dieses Wissen musste allerdings von den Verteidiger*innen in den Prozess eingebracht werden, die BAW hätte ihn wider besseren Wissens oder aus Versehen auch deswegen verurteilt.

Ein weiteres Beispiel für die absurden Begründungen der Verurteilungen: Lina soll an einem Angriff auf einen Kanalarbeiter, der eine Mütze der Nazi-Marke Greifvogel-Wear getragen hatte, beteiligt gewesen sein. Zum Verhängnis wird ihr hierbei, dass sie eine ca. 1,75 m große Frau ist. Weil eine 1,75 m große Frau war anscheinend dabei. Weitere Beweise: Der Richter führte aus, dass der „Modus Operandi“ der der Vereinigung gewesen sei. Vor allem die Abgeklärtheit, und dass an anderer Stelle auch eine Frau ein Pfefferspray dabei gehabt habe. Außerdem wohne Lina in der Nähe. Und weil man davon ausgehe, dass ihr Partner bei der Aktion dabei gewesen sei, gehe man davon aus, dass die 1,75m große Frau Lina gewesen sein müsse. Selbst als zynischer Linksradikaler bleibt man bei so einem Quatsch fassungslos zurück.

Die gleiche Argumentation lieferte das Gericht bei einem anderen Fall. Bei einem Angriff auf die Neonazi-Kneipe Bulls Eye sei nachgewiesen, dass ihr Partner an der Aktion teilgenommen habe; es war eine Frau dabei; und weil es ja eine Vereinigung gebe, müsse das Lina gewesen sein. Und schon kommen fünf Jahre Knast zusammen.

Dass so ein nach logischen Maßstäben komplett irres Urteil gefällt werden kann, liegt maßgeblich am Verräter Johannes Domhöver. Dieser war auch angeklagt, nachdem aber Vergewaltigungsvorwürfe gegen ihn öffentlich gemacht wurden, beschloss er sich dem VS, dem LKA und eben auch dem Gericht anzudienen, um eine für ihn günstigere Strafe herauszubekommen. Das hat er erreicht. Sein Verfahren wurde abgetrennt und er bekam vor dem Landgericht Meiningen eine Bewährungsstrafe für seine Beteiligung an einem Angriff auf die Nazikneipe Bulls Eye.

Domhöver, den das Gericht für glaubwürdig hält, hatte die nötige Munition geliefert, damit eine kriminelle Vereinigung nach § 129 konstruiert werden konnte. Unter anderem wegen diesem Aspekt wurde das Verfahren auch als Testballon für den 2017 reformierten Schnüffelparagrafen bezeichnet. Nun gilt eine Vereinigung als ein „auf längere Dauer angelegter, von einer Festlegung von Rollen der Mitglieder, der Kontinuität der Mitgliedschaft und der Ausprägung der Struktur unabhängiger organisierter Zusammenschluss von mehr als zwei Personen zur Verfolgung eines übergeordneten gemeinsamen Interesses.“ Damit definiert der Staat dann quasi jeden politischen Zusammenhang, der sich nicht auf bloße Lippenbekenntnisse beschränkt, als potenziell kriminelle Vereinigung.

Nur unter Zuhilfenahme dieses juristischen Werkzeugs war es möglich, den Angeklagten die der Organisation angelasteten Taten anzukreiden. Und da der Organisationsbegriff juristisch maximal schwammig formuliert ist, kann man davon ausgehen, dass es weitere Verfahren geben wird. Der sächsische Innenminister Armin Schuster (CDU) hat schon angekündigt, dass weiter „ermittelt“ werde und dass er zuversichtlich sei, „weitere Straftäter“ vor Gericht bringen zu können. Scheint realistisch, die für Verurteilungen nötige Beweislage ist ja offensichtlich wahnsinnig dünn und es gibt willige Gerichte, die den Auftrag der Exekutive umsetzen.

Was bleibt angesichts dieses absurden Theaters, das als Prozess bezeichnet wird? Innenministerin Nancy Faeser äußerte sich dahingehend, dass „die Radikalisierungs- und Gewaltspirale“ sich nicht weiterdrehen dürfe. Als würden Neonazis und Faschisten keine Gewalt mehr ausüben, wenn man sie nur in Ruhe lässt. Trotz der Repression in Dresden bleibt antifaschistischer Selbstschutz notwendig. Daran ändert auch dieses Urteil nichts. Genauso wenig wie die Verurteilungen von Jo, Dy und Findus in Baden-Württemberg. Denn man kann sich, wie so oft gesagt, im Kampf gegen Nazis nicht auf den Staat verlassen.

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Gastbeitrag der Kampagne „NS-Verherrlichung stoppen!“

Der diesjährige „Tag der Ehre“ in Budapest fand auch außerhalb antifaschistischer Kreise in der BRD erhöhte Aufmerksamkeit. Grund dafür war jedoch nicht der paramilitärische Aufmarsch europäischer Neonazis mit SS-Symbolen. Vielmehr sorgte ein im Netz verbreitetes Video, das zeigte, wie mehrere Personen eine Person in Tarnkleidung angriffen und zu Boden brachten, für Aufsehen. Nach mehreren Festnahmen in Budapest folgte eine mediale Hetzjagd, ausgelöst durch die Bild-Zeitung, die die Namen der Festgenommenen veröffentlichte, denen vorgeworfen wurde, an insgesamt acht Angriffen auf Teilnehmer des Tags der Ehre beteiligt gewesen zu sein. Seitdem ist viel passiert: Es gab länderübergreifend mehrere Festnahmen, Identitätsfeststellungen, Öffentlichkeitsfahndungen, Razzien in Berlin, Leipzig, Jena und zunächst vier Personen in Untersuchungshaft, von denen zwei immer noch in Ungarn einsitzen. Dort wird die Repression von einer Hetze gegen den Antifaschismus an sich begleitet. Die größte regierungsnahe Zeitung des Landes “Magyar Nemzet” bezeichnete Antifaschismus als Terrorismus, „der von extremen, lebensfeindlichen Ideologien angetrieben wird“. Und weiter hieß es, es sei „eine moralische Pflicht, sich dem Antifaschismus entgegenzustellen“. Diese Äußerungen sind bezeichnend für die Medienlandschaft, die fast ausschließlich von Orban und seinem Umfeld kontrolliert wird.

Der „Tag der Ehre“- Ein faschistisches Vernetzungstreffen seit 1997

Um zu verstehen, warum der „Tag der Ehre“ ein legitimes Ziel in der Feindbestimmung aktiver Antifas ist, muss man sich mit der Geschichte dieses Nazi-Events vertraut machen. Der sogenannte “Tag der Ehre” existiert seit 1997 und ist ein wichtiges Ereignis für die Neonazis von Blood & Honour, Hammerskins und deren Sympathisant:innenkreis. Das Wochenende um den 11. Februar ist dem Gedenken an zwei Divisionen der Waffen-SS und einer SS-Gebirgsjägereinheit gewidmet, die sich im Dezember 1944 in Budapest vor der anrückenden Roten Armee verschanzten und einen kläglich gescheiterten Ausbruchsversuch aus dem Budapester Kessel unternahmen. In der Schlacht um Budapest starben auf Seiten der Wehrmacht und ihren ungarischen Kollaborateuren über 100.000 Soldaten. Das NS-Gedenken an den gescheiterten Ausbruch aus dem “Budapester Kessel” ist an diesem Wochenende nur eine Veranstaltung. Neben Rechtsrock-Konzerten steht am Wochenende ein 60 Kilometer langer Nachtmarsch auf dem Programm, der die Fluchtroute der Nazis nachzeichnet. Über 3.000 NS Nostalgiker:innen nahmen in diesem Jahr an der „Wanderung“ teil, die bei Neonazis beliebt ist, weil sie dort trotz eines offiziellen Verbots von SS-Symbolik und Hakenkreuzen ihre NS-Insignien weitgehend ungestört zur Schau stellen können. Der ungarische Tourismusverband “Hazajáró Honismereti és Turista Egylet” bewirbt und unterstützt die Wanderung „Kitörès” unter dem Slogan „Gedenken an die heldenhaften Verteidiger unseres Landes und Europas“. Dazu passend ist der nachträgliche Bericht über die Wanderung illustriert mit Bildern voller NS-Symbolik u. a. von einem Kontrollpunkt mit Hakenkreuzfahne und Hitler-Portrait.

Seit 1997 gibt es marginale Proteste gegen den Tag der Ehre von einer Handvoll engagierter Budapester Antifaschist:innen. Lokale Antifaschist:innen haben in den letzten Jahren immer wieder darauf hingewiesen, dass das westliche Narrativ, das Victor Orban als personiifiziertes Problem ausmacht, zu kurz greift und die Kritik nicht auf seine Person reduziert werden sollte. Ein lokaler Aktivist, der die Proteste in diesem Jahr mitorganisiert hat, weist darauf hin, dass die liberale Demokratie in Osteuropa an der„kapitalistischen Hemisphäre“ nur eine „vorübergehende Erscheinung“ sei. Die Verhältnisse in Ungarn sind verfestigt autoritär. So sei es in Ungarn in den letzten 150 Jahren nur selten gelungen, die regierenden Parteien demokratisch abzulösen. Die Orban-Regierung sei das „natürliche Kennzeichen dieses semiperipheren Kapitalismus“. Tatsächlich ist das Regime in Ungarn sehr stark vom hegemonialen kapitalistischen System geprägt und mit ihm verbunden. Die Regierung Orban ist bemüht, diesen Kapitalismus möglichst geräuschlos zu verwalten. Das führt auch dazu, dass soziale Bewegungen wie die LGBTIQ-Bewegung oder die kleine Antifa-Szene möglichst klein gehalten werden sollen. Das kapitalistische System wird in Ungarn, wie auch in den meisten postsozialistischen Staaten Osteuropas nationalistisch und autoritär gemanaged. 

Auch geschichtspolitisch täuscht Orban die Menschen, indem er versucht, den Realsozialismus mit dem Faschismus gleichzusetzen.  Diese Umdeutung der Geschichte ist ein Versuch, von seinem maroden System abzulenken. Durch die Verbreitung rechter Narrative ist Ungarn eine der treibenden Kräfte des Geschichtsrevisionismus in Europa. Dies drückt sich in Budapest auch städtebaulich aus. So ließ Orban in den vergangenen Jahren nationalistische Denkmäler des Horthy-Regimes wie z.B. das Nationale Märtyrerdenkmal originalgetreu wieder aufbauen. Es hat seinen Grund weshalb sich Neonazis in Ungarn so wohl fühlen und mit keinerlei Gegenwind rechnen müssen. Das Motiv der Neonazi-Szene, die alljährlich zum Tag der Ehre pilgert, ist dem der ungarischen Regierung sehr ähnlich. Denn es geht ihnen darum, den Ausbruch aus dem Budapester Kessel als Akt der Verteidigung Europas gegen den Vormarsch der Kommunist:innen umzudeuten.

Der Tag der Ehre 2023 

In diesem Jahr gelang es durch antifaschistische Raumnahme mit zwei Gegenkundgebungen an der Burg, das Nazi-Gedenken von Blood&Honour und Legio Hungaria aus Budapest zu verbannen. Das Vorgehen der ungarischen Behörden steht im Kontext der erfolgreichen antifaschistischen Mobilisierung der letzten Jahre. Es ist den Nazis nicht mehr möglich, ihr ritualisiertes Gedenken in der Budapester Innenstadt abzuhalten, so dass das offizielle Nazigedenken in einen Wald außerhalb Budapests ausweichen musste. Damit wurde zum ersten Mal ein faschistisches Gedenken in der Innenstadt verhindert, was vor Ort als sehr großer Erfolg gewertet wird. Dieser Erfolg war auch nur durch den unermüdlichen Einsatz einiger lokaler Aktivist:en möglich, denen es in den letzten Jahren gelungen ist, ein internationales Netzwerk mobiler antifaschistischer Gruppen einzubinden.

Repression

Sinn und Zweck staatlicher Repression ist es, organisierte antagonistische Strukturen zu kriminalisieren und letztlich zu zerschlagen. Am Beispiel des Tags der Ehre in Budapest ist es deswegen folgerichtig, dass sowohl die ungarischen Behörden als auch im Wege der Amtshilfe die deutsche Polizei mit großem Ermittlungseifer den Widerstand gegen den Tag der Ehre verfolgen und kriminalisieren. In Ungarn liegt dies daran, dass der Gegenprotest nationale Geschichtsmythen wie die Unterjochung unter “zwei Diktaturen” in Frage stellt. Zudem liegt es in der Natur jedes Staates Organisation außerhalb des vom Staat vorgegebenen Rahmens zu verfolgen, unabhängig dessen, wie militant im Detail agiert wird. Vor diesem Hintergrund lehnen wir eine Einteilung in „gute“ und „böse“ Antifas ab. Wir solidarisieren uns mit allen, die sich gegen dieses geschichtsrevisionistische Gedenken an die Waffen-SS organisieren und aktiv werden. Die Repression darf nicht dazu führen, dass sich weniger Menschen an den Protesten gegen den Tag der Ehre beteiligen. Vielmehr sollten wir das gestiegene Interesse nutzen, um die faschistische Gefahr aufzuzeigen, die von diesem internationalen Faschist:innentreffen ausgeht.

Die Kampagne „NS-Verherrlichung stoppen!“ lässt sich von zunehmender Repression nicht einschüchtern, denn diese ist immer eine Begleitmusik antifaschistischer Arbeit. Wir werden weiterhin die Notwendigkeit des Aufbaus internationaler antifaschistischer Netzwerke forcieren und geschlossen auftreten.

Wir sammeln Spenden für von Repression Betroffene.

Konto: Netzwerk Selbsthilfe
Stichwort: NS Verherrlichung stoppen
IBAN: DE1210 0900 0040 3887 018
Kontakt: nsverherrlichungstoppen@riseup.net

# Titelbild: vvn-bda, Gegenprotest gegen den Tag der Ehre 2023

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Am 13. November steht die nächste bundesweite Mobilisierung der Neonazis von der Kleinstpartei „Der III. Weg“ ins bayerische Wunsiedel an. Entgegen des schwachen Trends bei antifaschistischen Gegenprotesten zeichnet sicht bei Veranstaltungen des „III. Wegs ein anderes Bild, zuletzt am 03. Oktober 2020: Viele Teile der radikalen Linken kamen zusammen, um einen bundesweiten Aufmarsch der Neonazis zu verhindern. Mit einer der größten antifaschistischen Protestaktionen in Berlin seit Jahren konnte der Aufmarsch teilweise militant begleitet und letztendlich auf wenige hundert Meter verkürzt werden. Der „III. Weg“ ist für viele Antifaschist:innen ein rotes Tuch.
Dabei stellt sich die Frage: Wie gefährlich ist die Kleinstpartei? Auf welche Strukturen können die Neonazis zurückgreifen und was kann ihnen entgegengesetzt werden?

Inszenierte Medienaktionen

Ein wichtiger Aspekt der Parteiarbeit von „Der III. Weg“ ist der Wunsch nach medialer Aufmerksamkeit. Deswegen sind viele ihrer Aktivitäten notdürftig inszenierte PR-Spektakel, die auf der eigenen Homepage aufgeblasen werden – teilweise mit Erfolg. Im Kontext der Bundestagswahl 2021 etwa lieferten ihre Plakate mit der Aufschrift „Hängt die Grünen“ den gewünschten Schockeffekt. Die anschließende öffentliche Empörung brachte die Partei bundesweit in die Medien; ein durchaus wohlwollender juristischer Umgang tat sein Übriges. So urteilte beispielsweise das Amtsgericht Chemnitz, dass die Plakate nicht grundsätzlich strafbar seien. Sie müssten nur im Abstand von 100 Metern zu Grünen-Plakaten aufgehängt werden.

Diese Strategie der inszenierten Medienaktion ist nicht neu. Bereits zur Europawahl 2019 erzielte die Partei mit der Plakatekampagne „Reserviert für Volksverräter“ ein ähnliches Echo. Medien und Justiz machen sich so zu willkommenen Wahlkampfgehilfen einer strukturschwachen Kleinstpartei, die beispielsweise 2021 nur sehr eingeschränkt zur Wahl antrat. In Berlin reichte sie nicht einmal einen Wahlvorschlag ein.

Erst vor wenigen Wochen landete „Der III. Weg“ erneut in den Schlagzeilen. Anlass war ein sogenannter „Grenzgang“ am 23. Oktober. Die Neonazis wollten so die öffentliche Diskussion um die steigenden Zahlen von Geflüchteten, die über Polen versuchen in die Bundesrepublik zu gelangen, für sich nutzen. Sie riefen dazu auf, mit Nachtsichtgeräten und Taschenlampen an der polnischen Grenze von Brandenburg Geflüchtete abzufangen. Vorbild hierfür dürften einerseits die Demonstrationen der österreichischen Identitären in Spielberg 2015 gewesen sein, bei denen sie sich als „menschliche Grenze“ inszenierten. Andererseits erinnert die Aktion an die von faschistischen Bürgerwehren in Bulgarien organisierten Grenzpatrouillen. Allerdings hat der „III.Weg“ weder die Mobilisierungskraft der Identitären noch die paramilitärische Erfahrung der Bürgerwehren. Die Brandenburger Polizei stellte in der Nacht trotzdem 50 Personen fest, die dem Aufruf gefolgt waren. Laut Medienberichten hatten die Neonazis Pfefferspray, Schlagstöcke und sogar eine Machete und ein Bajonett dabei. Hinter den PR-Aktionen der Partei steht also ein reales Gewaltpotential. Doch das ist nicht erst seit diesem Jahr bekannt.

Der III. Weg“ – von der Gründung bis heute

Die Gründung der Partei vor acht Jahren war eine Reaktion auf die Verbote vieler Neonazikameradschaften. Parteien sind, wie das immer wieder gescheiterte Verbot der NPD zeigt, wesentlich schwieriger zu verbieten, als Vereine oder inoffizielle Vereinigungen. Seit Beginn versteht sich „Der III. Weg“ explizit als „Bewegungspartei“ und damit als Alternative zur NPD, deren Entwicklung zur Wahlpartei szeneintern kritisiert wurde. Ehemalige NPD-Funktionäre gehörten ebenso zu den Gründungsmitgliedern, wie Personen aus dem mittlerweile verbotenen Kameradschaftsnetzwerk „Freies Netz Süd“.

Kennzeichnend für die politische Arbeit vom „III. Weg“ sind die strengen Hierarchien, sowie ein betont soldatisches Selbstverständnis. So fordert die Partei von ihren Mitgliedern in Parteikontexten auf Alkohol und andere Drogen zu verzichten. Öffentlichen Auftritte sind geprägt von geordneten Fahnenreihen und Marschtrommeln. Zudem strebt die Partei eine weitestgehende Uniformierung der Anwesenden in der offiziellen Parteikleidung an.

Ein weiterer wichtiger Teil der Parteiarbeit sind Sportangebote. Vor allem im Bereich des Vollkontaktkampfsportes ist “der III. Weg” mit faschistischen Sportler:innen und Vereinen gut vernetzt. Mitglieder vom „III. Weg“ treten regelmäßig auf Neonazi-Kampfsportveranstaltungen in der Bundesrepublik und darüber hinaus an.

Insgesamt hat „Der III. Weg“ in der gesamten Bundesrepublik aber nur wenige hundert Mitglieder, die vor allem bei bundesweiten Aufmärschen zusammenkommen. Regionale und lokale Aktivitäten sind weitaus schlechter besucht. Organisatorische Zentren sind das sächsische Vogtland und das Siegerland in Nordrhein-Westfalen. In Plauen und Siegen betreibt die Partei eigene Räumlichkeiten, in denen zwar Hausaufgabenhilfen oder Sportangebote stattfinden. Eine nennenswerte Anschlussfähigkeit über die lokalen Rechtsradikalen hinaus ist jedoch nicht zu erkennen. Insgesamt herrscht an vielen Standorten der Partei vor allem ein Mangel an Räumen und aktiven Mitgliedern. So beschränken sich die öffentlichen Aktivitäten der Partei oft auf das großflächige Verteilen von Propaganda. Regelmäßig treffen sich beispielsweise Mitglieder der Berliner und Brandenburger „Stützpunkte“ zum Flyern. Bekannte Hotspots der Aktivitäten sind vor allem die Wohnorte einzelner Partei-Kader, wie in Berlin der Lichtenberger Weitlingkiez oder Hellersdorf. International ist die Partei bei aller Schwäche von Basisarbeit trotzdem gut vernetzt. Sie unterhält beispielsweise Kontakte zu der politischen Bewegung, die dem ukrainischen Neonazi-Regiment ASOV nahesteht.

Eine Reihe von Anschlägen in Neukölln und gewaltbereite Neonazis

Die öffentlich bekannten Aktivitäten sind jedoch angesichts dessen, was die bekannten Mitglieder der Partei treiben, harmlos. Denn im III. Weg sammeln sich vor allem gewaltbereite Neonazis aus ehemaligen Kameradschaften, die in der NPD keine Perspektive mehr sehen. Ein Beispiel ist der ehemalige NPD-Aktivist Sebastian Thom aus Berlin. Er war bereits in den 2000ern Hauptakteur beim „Nationalen Widerstand Berlin“. Das „NW Berlin“ genannte Netzwerk führte u.a. Aktionen und Outings gegen politische Gegner:innen durch. Mit seinem im letzten Jahr bekannt gewordenen Wechsel zum „III. Weg“ reiht sich Thom in eine langen Liste (Ost-)Berliner Neonazis vom „NW Berlin“ ein.

In den vergangenen Jahren gerieten Thom und sein Umfeld immer wieder durch Brandanschläge und andere Angriffe auf politische Gegner:innen ins Visier der Ermittlungsbehörden. So auch am 1. Februar 2018, als das Auto des LINKEN-Politikers Ferat Kocak in Neukölln in Brand gesetzt wurde. Die Flammen schlugen von der Garage fast in das Wohnhaus über, in dem Ferat Kocak und seine Eltern schliefen. Doch sie hatten Glück, bemerkten den Brand rechtzeitig und überlebten.

Der Brandanschlag schlug erheblich Wellen, denn er hätte verhindert werden können: Die Berliner Polizei wusste von den Brandvorbereitungen. Bereits seit Januar 2017 wurde Thoms Handy vom Verfassungsschutz abgehört. Sie hörten mit, wie er mit seinem Komplizen Tilo Paulenz – damals noch Funktionär der AfD Berlin-Neukölln – Ferat Kocak ausspionierte. Knapp zwei Wochen vor der Tat informierte der Verfassungsschutz die Berliner Polizei von den Planungen. Diese reagierte nicht. Im Nachhinein behauptete die Behörde, Ferat Kocak nicht gewarnt zu haben, da die Schreibweise des Namens nicht bekannt gewesen sei. Deshalb hätten sie ihn nicht in ihren Datenbanken gefunden. Trotz zahlreicher Indizien, die auf Thom und Paulenz als Täter in dieser Sache hinweisen, wurde ihnen bisher nicht der Prozess gemacht. Zwischenzeitlich wurde sogar der ermittelnde Staatsanwalt vom Fall abgezogen, weil eine ideologische Nähe zu den Verdächtigen vermutet wird. Es scheint letztendlich so, als sei vor allem Thom ein regelrechtes Justizwunder und könnte unbeirrt mit Angriffen fortfahren. Sein Bewegungswissen stellt er nun dem „III. Weg“ zur Verfügung.

Ungeklärte Brandanschläge in Spandau

Weitere mögliche Verknüpfungen zwischen militanten Angriffen auf linke Strukturen und dem Spektrum vom „III. Weg“ sind die Vorfälle rund um das alternative Hausprojekte Jagow 15 in Berlin-Spandau. Im April 2021 kam es dort zu zwei Brandanschlägen. Kurz darauf folgte eine Bombendrohung gegen das Haus. Schon seit Januar 2021 mehrten sich Naziparolen und -symbole an der Hausfassade. Zudem berichteten Bewohner:innen von zunehmenden Problemen mit Neonazis im Kiez. Eine von ihnen ist Lilith E.. Sie lebt in Spandau und blickt auf eine lange Laufbahn in der Berliner Neonazi-Szene zurück. Bereits vor Jahren fiel sie bei der Reichsbürgergruppe „Gelbe Westen Berlin“ auf. Inzwischen ist sie auf jeder Aktivität des „III. Weg“ in Berlin anzutreffen. Doch auch internationale Neonazi-Events werden von ihr besucht. Sie nahm u.a. am extrem rechten „Ausbruch-Marsch“, einer extrem rechten „Gedenkveranstaltung“ an die „Schlacht um Budapest“, teil. Um der Wehrmacht zu huldigen laufen dabei jedes Jahr hunderte Neonazis aus ganz Europa – vermummt und überwiegend in Tarnfleck gekleidet – über 60 Kilometer durch die Nacht.

Lilith E. ist ein fester Teil vom „III. Weg“. Sie scheint vor allem in der Jugendarbeit der Partei aktiv zu sein und ist regelmäßig mit jugendlichen Anwärtern unterwegs, wie der Neonazi-Jugendgruppe Division MOL. E. lebt nicht weit weg von der Jagow 15 und war bereits in der Vergangenheit gegenüber einer Hausbewohnerin aggressiv. Zudem tauchten vor und nach den Brandanschlägen immer wieder Sticker des „III. Wegs“ rund um das Haus auf. Das zeigt zumindest, dass E. und ihre Kameraden nach dem Brandanschlag vorbeikamen, um die Gegend zu markieren. Trotz dieser Hinweise und der vielen Anhaltspunkte für ein rechtes Motiv der Anschläge, verdächtigte die Polizei zunächst einen Hausbewohner, was sich im Nachhinein als vollkommen haltlos herausstellte.Gegen E. nun eine mögliche Beteiligung von Neonazis des „III. Weg“ wurde hingegen nicht ermittelt.

Der „III. Weg“ als Deckmantel eines militanten Faschismus?

Wie gefährlich ist also „Der III. Weg“? Die oftmals stümperhafte Medienarbeit darf nicht darüber hinweg täuschen, dass er vielleicht die wichtigste überregionale Neonazi-Struktur in der Bundesrepublik ist. Die Kleinstpartei braucht keine Wahlerfolge. Gemäß dem Selbstverständnis als „Bewegungspartei“ eines „revolutionären nationalen Sozialismus“ steht die lokale Organisierung und überregionale Vernetzung von faschistischen Akteur:innen im Vordergrund ihrer Politik. Für eine gelingende Parteiarbeit trotz vergleichsweise geringer Mitgliederzahlen, sowie der Schwäche zahlreicher Parteistützpunkte braucht „Der III. Weg“ vor allem öffentliche Aufmerksamkeit. Diese soll durch gezielte PR-Aktionen sowie die Präsentation jeder noch so kleinen Aktivität der lokalen Strukturen hergestellt werden. Dabei spielen Medien, Justiz, aber auch antifaschistische Strukturen allzu oft das Spiel der Faschist:innen mit.

Das wahrscheinlich wichtigste Standbein der politischen Arbeit vom „III. Weg“ sind aber die bundesweiten Demonstrationen. Neben der Außenwirkung dienen diese vor allem dazu, den wenigen hundert Parteimitgliedern bundesweit das Gefühl zu geben, zu einer neonazistischen „Kampfgemeinschaft“ zu gehören. Die ein bis zwei bundesweiten Demonstrationen pro Jahr sind aber alles, was „Der III. Weg“ in diesem Bereich organisatorisch leisten kann und die erfolgreiche Brechung dieser Selbstdarstellung durch Antifaschist:innen macht diese Anstrengungen zunichte.

Trotz allem finden bekannte Kader sowie oftmals militante Aktivist:innen aus Kameradschaften, NPD und sonstigen Neonazistrukturen in der Partei einen Anlaufpunkt. Mit ihren Kontakten in die bundesdeutsche wie internationale Neonaziszene sowie einem über die Jahre erworbenen Wissen und entsprechenden Fähigkeiten bilden diese Kader das Rückgrat der Partei. Im Moment ist die Partei ein Deckmantel, hinter dem sich ein militanter Faschismus organisieren kann, insbesondere die Anschlagsserien von Berlin-Neukölln und Spandau, deren Spuren direkt in die Parteistrukturen führen, zeigen das. Dieses Potential und die Gefahr, die vom III. Weg ausgeht, darf nicht unterschätzt werden. Deshalb sind frühzeitige antifaschistische Interventionen gegen den „III. Weg“, seine Akteur:innen und Aktivitäten weiterhin notwendig.

# Titelbild: © Tim Mönch, Aufmarsch vom “III. Weg” am 1. Mai 2019 in Plauen

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Seit Februar 2018 hat sich das Leben des Neuköllners Ferat Kocak grundlegend verändert. Neonazis hatten seinen PKW vor der Wohnung seiner Eltern in Brand gesetzt. Leicht hätten die Flammen auf das Wohnhaus übergreifen können, in dem Menschen schliefen. Kocak zog in der Folge des Attentats weg aus Berlin. „Wenn ich bei meinen Eltern bin, dann sehe ich immer noch die Flammen vor mir, da konnte ich nicht bleiben“, sagt der Linken-Politiker mit kurdischen Wurzeln gegenüber lower class magazine. Und er verlor zwei Jobs, den Arbeitgebern war seine Präsenz in der Öffentlichkeit zu viel.

Der Anschlag auf Ferat Kocak ist kein Einzelfall. Seit 2016 lassen sich dutzende Brandanschläge, Steinwürfe, politische Drohungen an Privatwohnungen in Neukölln einer Serie von rechten Gewalttaten zuordnen. Die nach zahlreichen „Ermittlungspannen“ eingerichtete BAO Fokus der Berliner Polizei bilanziert in ihrem Zwischenbericht vom Februar 2020, insgesamt seien 72 Straftaten, davon 23 Brandstiftungen Gegenstand ihrer Ermittlungen.

Die Ziele: Linke, Sozialdemokrat*innen, Migrant*innen und Lokale, die im Zuge der Hetze gegen sogenannte „kriminelle Clans“ öffentlich diffamiert wurden. Die Strategie der Taten ist nicht schwer zu verstehen: Nadelstiche, die politische Gegner*innen einschüchtern und im besten Fall zur Aufgabe zwingen sollen – in einem Bezirk, der sowohl von der NPD, wie auch von der AfD als ein Schwerpunktbereich ihrer Tätigkeit gesehen wird.

Zumindest für einen Teil der Anschläge weiß man mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, aus welchen Kreisen sie kommen. Und dennoch wurden die betreffenden Personen nicht belangt. Bereits mindestens seit Januar 2017 beobachtete der Verfassungsschutz (VS) zwei Neonazis, Sebastian T. und Tilo P. Diese spähten das spätere Opfer Ferat K. vor dem Anschlag aus, der VS übermittelte seine Informationen an das Landeskriminalamt (LKA) noch vor dem Brandanschlag. Es passierte nichts. Warum nicht?

Die Personalien T. und P. verweisen auf ein bestimmtes Milieu. T. ist ein seit Jahrzehnten bekannter rechter Gewalttäter, den antifaschistische Gruppen zusammen mit Julian B. schon für eine frühere Anschlagsserie in Neukölln im Jahr 2011 verdächtigten. Sebatsian T. galt als eines der wichtigsten Verbindungsglieder der rechtsterroristischen Gruppierung „Nationaler Widerstand Berlin“ (NW Berlin) und der NPD.

Und Tilo P. erfüllt dieselbe Scharnierfunktion für die Neuköllner AfD. Die Neuköllner AfD-Gruppe gilt seit langem als besonders rechter Teil in einer ohnehin weitgehend offen faschistischen Partei. Über die Jahre entstand ein Netzwerk von in „Freien Kameradschaften“ organisierten Neonazis, AfD-Funktionären und rechten Hooligans. Das „Bindeglied“ zwischen diesen Milieus, laut Recherche-Antifaschist*innen: Tilo P.

Weitere Personalien der Neuköllner AfD verweisen darauf, dass hier durchaus eine Bereitschaft zur Teilnahme an Angriffen auf politische Gegner*innen vorhanden ist: Christian B. und Danny D. waren Teil des Umfelds der Nazihool-Gruppe “Wannsee Front 83”, die u.a. für den rechten Mord an Peter Konrad 1993 verantwortlich ist. Christian B. stand zudem mit einer Reihe von Neonazis in Kontakt, die dem Netzwerk „NW Berlin“ zugerechnet werden können – von denen immer wieder Angriffe auch in Neukölln ausgingen.

Woher kommen die Daten der Rechtsterroristen?

Nach dem Anschlag, so erinnert sich Ferat K., sei irgendwann ein Polizist aus der für rechte Straftaten zuständigen Abteilung des LKA zu ihm gekommen, habe ihm von den abgehörten Telefonaten Sebastian T.´s und Tilo P.´s erzählt und gesagt: „Jetzt haben wir sie.“ Aber wieder nichts. „Offenbar hat das für die Staatsanwaltschaft nicht gereicht“, ist K. erstaunt.

Die Anschläge gehen weiter, auch nachdem im Frühjahr 2018 eine Hausdurchsuchung bei T. zur Beschlagnahmung von Datenträgern führt. Die Auswertung gestalte sich schwierig, weil die Festplatten verschlüsselt seien, hieß es aus Polizeikreisen zunächst. Ein Haftbefehl gegen T. wird vom Amtsgericht Tiergarten abgelehnt – obwohl augenscheinlich Wiederholungsgefahr besteht. Die Festplatten, so stellt sich Jahre später heraus, waren überhaupt nicht verschlüsselt. Wieder eine Panne?

Ferat K. glaubt daran nicht mehr so richtig. „Ich habe schon manchmal den Eindruck, dass hier so etwas wie ein „tiefer Staat“ im Spiel ist. Dass Behörden diese Nazis decken“, vermutet er. Und der Verdacht ist nicht unbegründet.

Szenenwechsel: Als die Daten des Computers von T. nun doch endlich „entschlüsselt“ wurden, stießen die Behörden auf umfassende Listen politischer Gegner*innen. Diese umfassten nicht nur Opfer bereits vollzogener Anschläge und Drohungen, sondern auch – Medienberichten zufolge – hunderte weitere Personen.

Spät, aber doch machte sich die von der Polizei eingerichtete BAO (Besondere Aufbau-Organisation) Fokus daran, die Betroffenen zu informieren. Eine der Gelisteten, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will, wird seit Jahren von Neonazis verfolgt und bedroht. An Emails und Nachstellungen hatte sie sich bereits gewöhnt, als 2018 eine Mail bei ihr eintraf, die ein geheim angefertigtes Foto von ihr und ihrer Familie enthielt. „Besonders gruselig fand ich, dass ich nicht mitbekommen habe, dass uns da jemand fotografiert hat. Ich habe die Person absolut nicht wahrgenommen“, sagt sie. Handelt es sich um technisch besonders versierte Neonazis, die die Observation ihrer Opfer perfektioniert haben? Oder könnte das Foto aus einer Polizeiobservation stammen?

2020 wird die Betroffene darüber informiert, dass der Neuköllner Neonazi T. auch ihre Daten hortete. Sie gibt gegenüber lower class magazine zu Protokoll: „Ich wurde angerufen und mir wurde mitgeteilt, dass sich unter der Datensammlung eines Rechtsextremisten Bilder und Videomaterial sowie mein Name und meine Personalausweisnummer befanden“, so die Berlinerin. Woher hat Sebastian T. die Personalausweisnummer einer fremden Person?

Abwegig sind auch diese Fragen nicht. Wie antifaschistische Kreise aus Neukölln berichten, richtete sich eine der Droh-Graffitis in Neukölln gegen die Wohnung einer Person, die dort zwar gemeldet war – aber dort nicht wohnte. Würden alle Daten der Täter aus eigenen Observationen stammen, hätten sie das bemerken müssen. Aber nicht, wenn die Meldeadresse der Ziele etwa in einem Polizeicomputer abgefragt wird.

Das erste Mal wäre das nicht. Ende 2017 verschickte der Berliner Polizist Sebastian K. Drohbriefe an Linke. Als nichts mehr zu leugnen war, gestand er die Tat und die Behörden erklärten den Fall rasch für abgeschlossen. Nach möglichen Mittätern wurde nicht mehr gesucht, obwohl die Lebensgefährtin von K. für das Landeskriminalamt tätig war. Und das obwohl sich sogar ein Zusammenhang mit der absurden Verlagerung von Observationsteams weg vom späteren Breitscheidplatz-Attentäter Anis Amri hin zu ach so gefährlichen „Linksextremisten“ vermuten ließe.

Auf einen weiteren Weg des Datenabflusses hin zu Rechtsterroristen machen Aktivist*innen der Antifa-Plattform neuköllnwatch gegenüber lower class magazine aufmerksam: „Ein weiteres interessantes Beispiel ist das Verfahren wegen eines Angriffs auf den Rechtsrockmusiker Peter B. in Kreuzberg, wo willkürlich ausgewählte Antifas als Beschuldigte geführt wurden, um so ihre persönlichen Daten in die Ermittlungsakten aufzunehmen und über die Akteneinsicht an die Neonazis weiterzugeben. B. wurde von einem rechten Szeneanwalt vertreten, der auch schon Sebastian T. vertreten hat.“ Ähnlich sei die behördliche Datenübertragung gelaufen, als drei rechte Youtuber vor dem linken Haus in der Rigaer Straße 94 vertrieben wurde: „ Das LKA führte sämtliche in der Rigaer94 gemeldeten Leute als Beschuldigte, die Nazis nahmen Akteneinsicht und veröffentlichten anschließend die Daten.“

Direkte Kontakte?

Das ARD-Magazin Kontraste und der rbb berichteten bereits im April 2019, dass sie über Erkenntnisse verfügten, nach denen ein Beamter des Landeskriminalamts in einer einschlägig bekannten Neuköllner Kneipe von einer anderen Behörde – man darf annehmen, dem Verfassungsschutz – beobachtet worden sei, wie er sich mit Neonazis traf. Unter den Kontakten: Sebastian T. Dienstlich ist das Treffen nicht und W., so wird der Beamte abgekürzt, steigt danach zusammen mit dem mutmaßlichen Rechtsterroristen in sein Auto und fährt weg.

Mediennachfragen bei der Berliner Generalstaatsanwaltschaft bleiben ohne inhaltliches Ergebnis, bis mitgeteilt wird, dass das Verfahren gegen W. eingestellt wurde und eine Auskunftserteilung “im Zusammenhang mit einem weiteren Ermittlungsverfahren, bei dem eine Auskunftserteilung einer Ermittlungsgefährdung entgegensteht” abgelehnt werde – was auch immer das heißen mag. Im zitierten Zwischenbericht der angeblich zur Aufarbeitung von Polizeifehlern eingerichteten BAO Fokus nimmt dieser vermutete Kontakt gerade einmal zwei Absätze ein, deren Resultat: Es gebe „nach Auffassung der BAO Fokus mehr Zweifel daran als Anhalte dafür“, dass besagter Polizist W. Kontakte zu Sebastian T. hatte. Fall erledigt und damit auch das ganze Kapitel zum „Informationsabfluss“ von Polizei zu Neonazis, den die Polizei – welch Wunder – als nicht beweisbar ansieht.

Dabei dürfte er ein durchaus gängiges Problem sein, da die Rechtspartei AfD, die – so auch in Neukölln – generell sehr häufig im Umfeld von Rechtsterroristen zu finden ist, unter Polizisten überdurchschnittlich beliebt ist. Und mit guten Kameraden teilt man eben. So leitete der Berliner Polizist Detlef M., selbst Mitglied in der Neuköllner AfD, an seine Parteikameraden Interna zum Fall Anis Amri weiter. Unter denen, an die die Informationen ergingen: Tilo P., Sebatian T.s mutmaßlicher Komplize zumindest bei Teilen der Brandanschläge. Detlef M. sei, so berichtet neuköllnwatch, „an Absprachen zu einem Buchladen in Rudow beteiligt gewesen, der danach mehrmals heftig angegriffen wurde“.

Neuköllnwatch bilanziert: „Wir haben also: Polizisten in Chatgruppen mit Neonazis, Polizisten, die sich mit Neonazis in rechten Kneipen treffen, Polizisten die Drohbriefe an Linke schreiben, Polizisten die Ermittlungsakten nutzen, um darüber persönliche Daten von Linken an Neonazis weiterzugeben, und Polizisten, die die Prioritäten der Observationsziele manipulieren, um statt Neonazis oder Islamisten die Linken zu gängeln.“ Eine ganze Menge zu tun für einen vermeintlich „linken“ Senat, möchte man meinen. Doch Aufklärung bleibt aus.

Eine „neue“ Serie von Bränden?

Die Brandanschläge gehen auch im Jahr 2020 weiter – mal mit Bekennerschreiben, mal ohne, was Beobachter*innen aus Medien und Polizei zur Schlussfolgerung veranlasst hat, es handle sich nun um eine „andere“ Serie und „neue“ Täter*innen. Bei neuköllnwatch sieht man das anders: „Wir gehen davon aus, dass die Angriffe der letzten Wochen mit denen der letzten Jahre zusammenhängen. Was auch sonst? Selbst wenn es individuell andere Neonazis waren, die hier aktiv geworden sind, sind sie definitiv mit den anderen bekannten Neonazis zusammenzurechnen.“ Die Vernetzung des Milieus faschistischer Gewalttäter in Berlin ist hoch. Gerade die Recherchearbeit antifaschistischer Strukturen in den vergangenen Jahrzehnten hat ein Netzwerk älterer rechtsterroristischer Kader und ihres Nachwuchses fast lückenlos dokumentiert. Doch wo der Wille fehlt, fehlen auch Ermittlungen.

Dabei ist die Anschlagsserie bis zum 19.6. weiterhin klar als rechte identifizierbar: Am Tatort des Anschlags auf einen Transporter vor einer Konditorei in der Sonnenallee finden sie Nazi-Sprühereien, ebenso am 5.6. in Wohnhäusern und an Geschäftsräumlichkeiten in der Wildenbruchstraße oder am 10.5. in der Laubestraße, wo vier Autos ausbrennen.

Interessant sei so neuköllnwatch, dass seit dem 19.6. keine Nazisymbole mehr an den Tatorten hinterlassen wurden. “Das heißt dass entweder Trittbrettfahrer unterwegs sind, oder dass die Nazis inzwischen sicher sind, dass ihre Message angekommen ist, und dass sie sich nun nicht mehr explizit bekennen müssen. Die Taten hätten damit eine doppelte Wirkung, einerseits der Angriff, andererseits der “zweite Angriff”, wenn Polizei und Presse das rechte bzw. rassistische Motiv leugnen, weil es kein explizites Tatbekenntnis gibt.“ In der Tat passiert seit dem 19.6. genau das: Die Brände, die immer noch mit Regelmäßigkeit geschehen, werden von vornherein zu unpolitischen Ereignissen erklärt. So wird bei einer schweren Brandstiftung, bei der sich die Bewohner eines Hauses Ecke Jahnstraße/Buschkrugallee in Lebensgefahr befanden, der Fall von der Polizei zunächst als unpolitisch behandelt, anstatt in Erwägung zu ziehen, dass es sich um eine Fortsetzung des rechten Terrors handeln könnte.

Was tun?

Einige der Opfer der Terrorserie haben sich zurückgezogen. Ferat K. will mit den Attacken anders umgehen, sich organisieren, mit anderen gegen den Terror aufstehen. „Für mich ist das sehr wichtig. Ich mache politisch mehr und mehr, das ist mein Weg, mich damit auseinanderzusetzen“, sagt er.

Im Moment seien es dabei zwei Strategien, die er für richtig hält. Am wichtigsten sei es, dass die Menschen in Neukölln sich den Nazis entgegenstellen: „Wir müssen uns hier im Kiez organisieren, da sehe ich Migrantifa als einen guten Anfang“, so K.

Zum anderen gebe es auch noch parlamentarische Möglichkeiten: Das Erzwingen eines Untersuchungsausschusses. Und: „Wir wollen, dass auch auf Landesebene anerkannt wird, dass es sich um rechten Terror handelt. Dann könnte sich die Bundesanwaltschaft einschalten.“ K. weiß aber auch: Dass in dieser Legislatur noch ein U-Ausschuss kommt, ist äußerst unwahrscheinlich. Den Ärger darüber, auch über K.´s eigene Partei „Die Linke“, merkt man dem Aktivisten an: „Es gibt einen einstimmigen Beschluss der Landespartei für einen Untersuchungsausschuss, aber was tun die Regierungsfunktionär*innen der Partei dafür? Gar nichts. Ich überlege manchmal, ob ich nächstes Mal CDU wählen soll, weil wenn wir eine rechte Regierung hätten, hätten die linken Parteien längst einen U-Ausschuss beschlossen, schon um denen eins reinzudrücken.“

#Titelbild: PM Cheung

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Fortschrittliche, außerparlamentarische Linke im deutschsprachigen Raum, wir müssen reden! Ich versuche es, so solidarisch wie ich kann. Was wollt ihr eigentlich genau für eine Zukunft?

Es wird Zeit für einen linken Populismus. Wenn extrem reichweitenstarke, aber apolitische Menschen auf rattenfängerische Methoden, der gut organisierten, internationalen Rechten hereinfallen und deren Inhalt multiplizieren, ist es akut Zeit zu handeln.

Eine Behauptung vorweg: völlig verakademisierter Intellektualismus und eine ganze Menge Ego zerficken linke Diskurse und die sogenannte Nähe zur Masse gleichzeitig. ALSO, was wollt ihr für eine Zukunft? Wollt ihr mir jetzt die Kommentare vollkleistern, weil ich „zerficken“ gesagt hab? Oder weiterlesen? Beides?

Sprache formt Denken, heißt es so schön und Brisanz will erstmals vermittelt werden. Ich bekomme mehr und mehr den Eindruck, dass mit dem Wort SOLIDARITÄT eine Art semantische Sättigung einhergeht. „Semantische Sättigung (auch verbale Sättigung) ist ein psychologisches Phänomen, bei dem die mehrfache Wiederholung eines Wortes zu einem temporären Bedeutungswandel oder -verlust führt.“ Während alle möglichen rechts gesinnten Ideologien weltweit irgendeinen verdammten Konsens finden, gilt angewandte solidarische Praxis in der Linken eher den abstrakten Anderen, den Marginalisierten, mit denen man dann aber selber nie irgendwas zu tun hat oder haben will. Provokant formuliert. Untereinander wird sich häufig mit deutungshoheitlichem Moralismus begegnet. Der verführt zur Selbstdarstellung, aber selten zu einem fruchtbaren und für alle Parteien nahrhaften Diskurs. Ich denke an diese ewigen Twitterdiskussionen, die durch feindselige Besserwisserei, statt durch wohlwollenden Gedankenaustausch bestimmt sind. Diese paralysierenden Plena, die Bündnisse, die sich gegenseitig sabotieren, „Allies“, bei denen eine seichte parentale Überlegenheit mitschwingt.

Das ist alles so sehr beschäftigt mit sich selbst, dass die Gesellschaft als Masse, nun in Corona-Ruhe, von rechten Demagogen gespalten wird. Die richtigen Fragen werden von den falschen Leuten gestellt und falsch beantwortet. Seit den neuesten Querfront-Demonstrationen sieht die Welt noch ein wenig düsterer aus. Uns sollte allen klar sein, wo das hinführen kann, wenn die politischen Strukturen so weiter wirken, wie sie es bisher taten. Eine Linke, die stark genug sein will, dem entgegentreten zu können, muss Kritik und Widersprüche aushalten, wohlwollend ihr Umfeld politisieren und gesellschaftliche Resilienz dort mitentwickeln, wo der Staat Unfug treibt.

Ich war sehr lange wütend und habe wild um mich geschlagen, aber nun bin ich wütend und will gezielt treffen. Es wird Zeit, sich zu konzentrieren und nicht allein über Privilegien, sondern auch über Feindbilder nachzudenken. Es sollte weder Berührungsängste noch Konfliktscheuheit geben, weder mit den eigenen Standpunkten und Toleranzfähigkeiten, noch mit denen von anderen. Wenn wir Verständnis haben, was nicht damit zu verwechseln ist, einverstanden zu sein, und verkopfte, eitle Diskurse nicht vor den alltäglichen Klassenkampf stellen, das wäre großartig.

Antifa bleibt Handarbeit. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

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Gastbeitrag von Migrantifa Berlin zum Jahrestag des Sieges der Roten Armee über den deutschen Faschismus

In Deutschland wird am 8. Mai die Befreiung vom Nationalsozialismus gefeiert. An diesem Tag im Jahre 1945 unterzeichnete der Oberbefehlshaber der Wehrmacht eine Kapitulationserklärung im Hauptquartier der Roten Armee in Berlin Karlshorst. Dieser Sieg über den Faschismus ist dieses Jahr 75 Jahre her. Und so sehr dieser in der einen Hinsicht eine Befreiung war, so sehr blieb diese unvollständig.

Eine wirkliche Entnazifizierung hat nie stattgefunden, denn tausende ehemalige Mitglieder und Funktionäre der NSDAP haben in Spitzenpositionen in Politik, Justiz, Staatssicherheit und der Wirtschaft den Wiederaufbau bürgerlicher Institutionen in der BRD maßgeblich beeinflusst. Es ist also kein Wunder, dass es eben jener Staat mit seiner Politik und seinen Institutionen ist, der sich schützend vor jene stellt, die den rechten Terror auf Deutschlands Straßen wieder zum Alltag machen und die Faschisten in den eignen Reihen duldet. Und auch die Politik der sogenannten bürgerlichen Mitte ist mitschuldig, denn sie ist es, die rassistische Ideologien tagtäglich in die Tat umsetzt. Sei es durch das Asyl- und Grenzregime, die Ausbeutung migrantischer Arbeitskräfte oder die Razzien in migrantischen Communities und racial profiling Taktiken der Polizei, angetrieben von der Debatte über vermeintlich kriminelle Clans.

Während die bürgerliche Politik damit beschäftigt ist, sich als Vorreiter im Kampf gegen Antisemitismus zu inszenieren und sich mit der angeblichen Aufarbeitung der NS-Zeit durch die angeblich existierende Erinnerungskultur selbst auf die Schulter klopft, haben Aufdeckungen wie zum Beispiel im Zuge des NSU-Komplexes oder der Recherche zu Hannibals sogenannter Schattenarmee immer wieder aufs neue verdeutlicht, wie erfolgreich faschistische Strukturen sich innerhalb der Polizei, der Bundeswehr und dem Verfassungsschutz etabliert haben und von dort aus militante parastaatliche Strukturen decken, mitaufbauen, finanzieren und bewaffnen. Es steht außer Frage, dass die Faschist*innen kein einheitlicher Block mit kohärenter Ideologie sind, jedoch agieren verschiedene rechtsextreme Strukturen inner- und außerhalb des Staatapparates, durch Netzwerke und personelle Überlappungen erfolgreich miteinander und haben durch die AfD auch einen politischen Arm in den Parlamenten.

Angesichts dieser Verstrickungen sind Solidaritätsbekundungen seitens der Vertreter*innen des bürgerlichen Staats nach einem terroristischen Anschlag wie dem in Hanau nichts als Heuchelei, denn der politische Wille dem rechten Terror in Deutschland ein Ende zu bereiten ist schlichtweg nicht vorhanden. Stattdessen fordern Vertreter des Staates sowie bürgerliche migrantische Institutionen mehr Überwachung und Polizeischutz für migrantische Einrichtungen. Diese Forderung scheint fast zynisch im Anbetracht der Tatsache, dass Polizei und Staatsapparate bei jeder sich bietenden Gelegenheit aufs Neue beweisen, dass sie eine Bedrohung für die Leben migrantischer Menschen darstellen.

Dass der Staat kein Interesse daran hat, rechten Terror effektiv zu bekämpfen, wurde einmal mehr durch die Trivialisierung des Terroranschlags in Hanau durch den BKA-Abschlussbericht unterstrichen. Obwohl die begangene Tat als rassistisch bewertet wird, behauptete das BKA, der Täter Tobias Rathjen sei „kein Anhänger einer rechtextremistischen Ideologie gewesen“. Dass, Rathjen vor seiner Tat im Internet seinen Vernichtungsfantasien gegenüber rassifizerten Menschen freien Lauf ließ, scheint für die Behörde ebenfalls kein Hinweis auf das Vorhandensein einer solchen Ideologie zu sein; stattdessen wird auf Rathjens psychische Verfassung eingegangen und das Bild eines weiteren Einzeltäter gesponnen.

Von diesen „Einzeltätern“ und „Einzelfällen“ gibt es in Deutschland viele: die Pogrome in Rostock-Lichtenhagen, der Mordanschlag in Mölln, den NSU-Komplex, die Morde an Oury Jalloh in Dessau, Burak Bektaş und Luke Holland in Berlin oder den Anschlag in Halle, um nur ein paar zu nennen.

Tatsächlich ist seit dem Anschlag in Hanau am 19. Februar, bei dem weiteren 9 Geschwistern das Leben genommen wurde, fast kein Tag vergangen, an dem es keine faschistischen Angriffe gab. In den drei Tagen nach Terrorattentat wurden Hakenkreuze und rechte Parolen auf eine Emmendinger Moschee geschmiert, ein Brandanschlag auf eine Shisha-Bar und einen Döner Imbiss in Döbeln verübt sowie Schüsse auf eine Shisha Bar in Stuttgart abgegeben. Am 7. April wurde der 15-jährige Arkan Hussein K., der als Ezide mit seiner Familie vor Genozid und Terror nach Deutschland floh, in Celle von einem Faschisten erstochen. In der Nacht zum 23. April wurden in Berlin Autos von migrantischen Personen mit dem Wort „Kanacke“, Hakenkreuzen und „88“ markiert, wenige Tage später brannte im bayrischen Waldkraiburg ein türkischer Supermarkt, nachdem er zuvor mit „Ausländer raus“ und Hakenkreuzen beschmiert wurde. In Essen wurde eine ganze arabische Familie samt Großmutter wegen einer “Ruhestörung” von der Polizei verprügelt und am 30. April wurde ein 21-jähriger Syrer in Halle angegriffen und schwebt derzeit in Lebensgefahr. Während viele sich immer noch in der Ignoranz ihrer Nicht-Betroffenheit wägen, ist rechter Terror in Deutschland wieder Alltag. Und die Menschen, die ihm ausgesetzt sind, leben mit einer alltäglichen Angst um das Leben der eignen Familie und ihrer Freunde – ein Zustand, der für viele schwer zu ertragen ist.

Das alles ist nur die Spitze des Eisbergs, der vulgärste Ausdruck einer rassistischen und faschistischen Ideologie, die tief in der deutschen Gesellschaft verankert ist. Hinzu kommen die tagtäglichen Erniedrigungen, Beleidigungen und Diskriminierungen, in der Schule, bei der Arbeit, auf der Straße und in den Ämtern, die ausbeuterischen Arbeitsverhältnisse, die Verdrängung aus unseren Nachbarschaften durch steigende Mietens sowie die Lager in Deutschland und an den europäischen Außengrenzen, in denen Menschen in Zeiten der Corona-Pandemie in menschenunwürdigen Verhältnissen dem Tod überlassen werden. Jeden Tag wird deutlicher, dass wir als migrantische Menschen uns nicht auf den Staat verlassen können, um unsere Leben zu schützen und ein Leben in Würde zu führen. Deswegen müssen wir unseren Schutz selbst organisieren, indem wir kommunale Strukturen innerhalb unserer Kieze und außerhalb des Staates aufbauen.

Die Notwendigkeit migrantischer Selbstorganisierung

Radikale migrantische Selbstorganisierung, die sich an den materiellen Bedürfnissen unserer Gemeinschaften hier in Deutschland ausrichtet, ist dafür von großer Bedeutung. Viele migrantische Linke richten ihre Kämpfe ausschließlich an den Kämpfen in den (ehemaligen) Heimatländern aus. Dadurch verpassen sie es, die Generationen der hier Aufgewachsenen mitzunehmen und eine breitere Masse in der Bevölkerung anzusprechen. Zudem macht der alleinige Fokus auf die Politik unserer Herkunftsländer, auf Grund der Konflikte, die in vielen unserer Herkunftsregionen vorherrschen, es uns oft schwierig Menschen außerhalb der kleinen Kreise der migrantischen Linken zusammenzubringen. Um kommunale migrantische Strukturen in Deutschland aufzubauen dürfen wir uns nicht anhand von ethnischen und religiösen Linien spalten lassen – wir müssen zusammenarbeiten, besonders in Anbetracht der Bedrohung durch die Faschist*innen. Der Fokus auf das gemeinsame Leben in Deutschland und die Organisierung in unseren Nachbarschaften ist hierfür essentiell.

Eine Zusammenarbeit mit der deutschen Linken ist für den Aufbau solcher Strukturen im Anbetracht der gegenwärtigen Machtverhältnisse von absoluter Notwendigkeit. Allerdings muss die Basis dieser Zusammenarbeit sein, dass wir uns auf Augenhöhe begegnen. Allzu oft werden wir nicht ernst genommen, weil wir nicht in der “Szene” sozialisiert wurden und nicht dieselbe, vermeintlich radikale, Politik verfolgen. Oft wird über uns gesprochen, anstatt uns für uns selbst sprechen zu lassen. Oft müssen wir uns unseren Subjektstatus erst erkämpfen, denn es wird uns mit einem Paternalismus begegnet, der uns lediglich zum Objekt der Organisierung macht, während die Probleme und Bedürfnisse unserer Gemeinschaften nicht ernst genommen werden. Hierbei geht es nicht um irgendeine imaginierte Identität, sondern die konkrete Ausrichtung einer Politik, die unsere Leute nicht anspricht, nicht ernst und nicht wahrnimmt. Stattdessen werden wir immer wieder mit der Enttäuschung konfrontiert, wenn die Realität der migrantischen Arbeiter*innenklasse nicht der imaginierten Idealvorstellung der deutschen Linken entspricht.

Auf Augenhöhe zusammenarbeiten bedeutet auch, Widersprüche auszuhalten, einander geduldig und wohlwollend entgegenzutreten, voneinander zu lernen und die verhärteten Fronten auf beiden Seiten aufzubrechen. Migrantische Menschen müssen erkennen, dass für uns mehr Repräsentation in der herrschenden Klasse nicht das Ziel eines emanzipatorischen anti-rassistischen Kampfes sein kann. Das bedeutet nicht, dass nicht kleine Verbesserungen unserer Situation durch kleine Reformen des bürgerlichen Staates erzielt werden können. Diese Reformen dienen jedoch auch dazu, das System zu stabilisieren und die existierenden Herrschaftsverhälntnisse aufrecht zu erhalten. Und es sind eben jene Herrschaftsverhältnisse, die auf der Unterdrückung, Ausbeutung und Ermordung unserer Geschwister in Deutschland und im globalen Süden beruhen. Unsere Gesichter in der herrschenden Klasse repräsentiert zu sehen, bedeutet, dass wir die Unterdrückung unserer eigenen Leute legitimieren und uns zu Kompliz*innen der rassistischen Politik dieses Staates machen. Wir müssen lernen unsere Allianzen an politischen Kämpfen anstelle von bloßen Identitäten auszurichten. Das bedeutet, was uns mit der deutschen Linken verbindet ist, dass wir einen gemeinsamen Feind haben: das kapitalistische System. Rassismus ist dabei kein Nebenwiderspruch dieses Systems, sondern Teil seines Fundaments.

Kommt raus zum Tag des Zorns am 8. Mai!

Die Solidarität, von der immer alle reden, muss in die Tat umgesetzt werden. Es wird höchste Zeit. Deswegen wollen wir den 8. Mai nutzen um gemeinsam aktiv zu werden und haben zum Tag des Zorns aufgerufen. Zorn, weil wir keinen Grund haben die Befreiung vom Faschismus zu feiern, während der Faschismus in Deutschland auf dem Vormarsch und rechter Terror in Deutschland wieder Alltag ist. Zorn, weil der einzige Einzeltäter der bürgerliche Staat ist, für den das Leben von linken und migrantischen Menschen nichts wert ist, und weil wir es Leid sind irgendwelche Forderungen an ihn aufzustellen. Beteiligt euch, werdet kreativ, geht auf die Straße, organisiert eigene Aktionen, geht eure Kieze verschönern, schaut euch die Kundgebungen auf dem Hermannplatz und dem Protestboot Anarche an. Schulter an Schulter gegen den Faschismus!

Mehr Infos unter: Migrantifa Berlin Twitter, Instagramm, Facebook

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Rund 5000 Menschen sind es, die am 22. Februar in den römischen Stadtteil Tufello gekommen sind. Die Demonstration ist kämpferisch und breit: Viele Kommunist*innen, Anarchist*innen, feministische Initiativen, Anwohner*innen aus dem Viertel, auch Aktive aus dem kurdischen sozialen Zentrum Ararat mit Öcalan- und PKK-Flaggen. Jugendliche sprühen kleinere und größere Murals am Rande der Demo, Pyrotechnik wird abgebrannt, gelegentlich kracht ein Böller. „Valerio vive“, Valerio lebt, steht in großen Lettern auf dem Fronttransparent. Die Polizei hält sich fern.

Es ist ein Jubiläum: 40 Jahre ist der Anlass dieser Demonstration, die Ermordung des Kommunisten Valerio Verbano, durch Faschisten nun her. Dass sie auch heute noch eine derartige Symbolkraft entfaltet, liegt an mehreren Faktoren. Die Geschichte Valerios ist zum einen unabgeschlossen: Die Täter wurden nie gefunden und der Sumpf aus Mafia, Faschisten und Staat, aus dem sie kamen, ist bis heute nicht trockengelegt. Zum anderen aber steht Valerio, wie viele seiner Generation für ein Politikverständnis, dass heute zwar verschüttet ist, nachdem aber ein gesellschaftlicher Bedarf besteht.

„Wenn du über Valerio schreiben willst“, sagt Marco, ein alter Genosse Valerios aus dem Viertel, „dann musst du über das schreiben, was an seiner Geschichte zu lernen ist und aktuell bleibt. Das ist die Militanz eines Kommunisten. Er war ein Junge, der getan hat, was notwendig ist.“ Marco, damals etwas jünger als Valerio, ging in die Schule neben dem Liceo Scientifico Archimede, auf dem Valerio war. Die Jugend war politisiert, das Viertel eine Hochburg der Autonomia Operaia, der Arbeiterautonomie. In den 1970er- und 1980er-Jahren war die militante Arbeiterbewegung, bis hin zu den großen bewaffneten Gruppen wie den Roten Brigaden oder Prima Linea, zu einer Kraft erstarkt, die dem Staat gefährlich werden konnte. Und der Staat reagierte: False-Flag-Attentate, um einen Bürgerkrieg zu provozieren, ein Geflecht aus Kriminellen und bewaffneten Faschisten, Geheimdienste und die antikommunistische NATO-Geheimarmee Gladio.

Verschwundene Beweise, verschwundene Zeugen

Abertausende Arbeiter*innen, Schüler*innen und Student*innen organisierten sich damals in Gruppen der radikalen Linken. Auch Valerio Verbano. Der 18 -jährige macht Kampfsport, als Kommunist muss man sich verteidigen können. Er beteiligt sich an Demonstrationen, agitiert für die Autonomia Operaia. Und er betreibt Gegeninformation, recherchiert über Faschisten und ihre Verbindungen. „Das war eine wichtige Aufgabe. Man musste seinen Feind kennen“, erinnert sich Marco. Und er vermutet: „Bei seinen Recherchen muss er auf etwas gestoßen sein.“ Valerios Recherchearbeiten sind unter den Genoss*innen in Tufello bis heute legendär. Er stellte den Faschisten nach, machte Fotos, legte ein umfangreiches Dossier an.

Im April 1979 wird Valerio dann verhaftet. Zusammen mit anderen baute er Molotow-Cocktails, fällt den Cops in die Hände und wird verurteilt. Bei einer Hausdurchsuchung fällt das über dreihundert Seiten starke Recherche-Dossier dem Staat in die Hände. Und da müssen, so vermutet nicht nur Marco, bei irgendjemandem die Alarmglocken geläutet haben. Das Dossier verschwindet, so wie später beschlagnahmte Beweismittel der Mörder. 2011 taucht es bei den Carabinieri, der Gendarmerie Italiens, wieder auf, hat da aber nur noch die Hälfte des ursprünglichen Umfangs.

Die Geschichte des Dossiers überschneidet sich dann mit der Geschichte zweier Richter. Der eine ist Mario Amato, der einzige Richter, der auch gegen Faschisten vorgeht, wird kaum vier Monate nach Valerio und 50 Meter entfernt ermordet. Man sagt, er habe für seine Recherchen auf das beschlagnahmte Dossier Valerios zurückgegriffen. Ein zweiter Richter, Antonio Alibrandi, behinderte diese Ermittlungen, denn er hatte einen Sohn: Alessandro Alibrandi, der zu den schillerndsten Figuren des damaligen Neofaschismus zählt und zur Führung der rechtsterroristischen Nuclei Armati Rivoluzionari (NAR).

Dass der Angriff auf Valerio eher mit Informationsbeschaffung zu tun hat, vermutet Marco auch wegen des Tathergangs. Die drei Angreifer drangen in die Wohnung des Jugendlichen ein, fesselten seine Eltern und warteten. Als er nachhause kam, verteidigte er sich, einer der Mörder schoss ihm in den Rücken. Es sei damals zwar nicht unüblich gewesen, dass geschossen wird, sagt Marco. „Aber wenn du jemanden umbringen willst, gehst du nicht in seine Wohnung.“ Haben die Mörder etwas gesucht? Wollten sie ihn „verhören“?

Nach dem Mord beginnt die Geschichte einer verhinderten Aufarbeitung. Gegenstände, die in der Wohnung beschlagnahmt wurden, verschwinden – darunter eine Maske und eine Pistole, die allerdings nicht die Tatwaffe ist. Ein einziger Zeuge meldet sich, will die drei Männer gesehen haben. Später zieht er seine Aussage zurück, verschwindet aus der Nachbarschaft, kauft sich woanders ein Haus. „Der kam aus den Sozialbauten, wie wir“, meint Marco. „Wenn du hier auf einmal Geld hast, hast du entweder Drogen verkauft, im Lotto gewonnen, eine Bank gemacht – oder jemand hat dir Geld gegeben, damit du verschwindest.“

Zurückschlagen und Gedenken

Direkt als die Nachricht von Valerios Tod die Runde machte, beginnt die Tradition jener Demonstration, die sich heuer zum 40. Mal jährte. „Ich erinnere mich noch, als wir aus der Schule raus sind“, so Marco. „Ich kann mich noch an den Lärm erinnern. Dann sind wir zu dem Platz gegangen, an dem Aldo Semerari“ – eine skurille Gestalt an der Schnittstelle zwischen Faschismus und organisiertem Verbrechen – „seinen Unterricht abgehalten hat und haben alles kurz- und kleingeschlagen.“ Und einige Tage später wurde in Talenti der faschistische Führungskader Angelo Manci vor seiner Wohnung erschossen. „Damals gab es noch die Kraft, zu antworten. Es gab Organisierung“, sagt Marco fast ein wenig melancholisch.

Die Jahre der bewaffneten Auseinandersetzungen endeten im Verlauf der 1980er-Jahre mit einer Niederlage der proletarischen Kräfte. Die Faschisten unterschiedlicher Couleur, soweit sie nicht tot sind, wurden recycled. Das schmutzige Geflecht aus Rechten, Politik, Polizei und organisierter Kriminalität blieb.

Aber auch das Gedenken an Valerio überdauerte in Tufello. Jedes Jahr seit vier Jahrzehnten über Höhen und Tiefen hinweg. Zum einen, weil Carla, Valerios Mutter ausdauernd nach der Wahrheit suchte, bis zu ihrem Tod. Zum anderen, weil die alten Genossen nicht vergessen wollte. „Ob wir zu zehn, zu hundert, zu tausend waren, wir sind jedes Jahr auf die Straße gegangen“, ist Marco stolz. Und Ende der 1990er wurde dann ein Gebäude besetzt und zum Valerio-Verbano-Sportcenter umgewidmet. Zahlreiche Wandbilder von Valerio gibt es in Tufello, die Geschichte ist auch den Jüngeren bekannt.

Die eigentliche Lehre aus Valerios Leben sieht Marco aber verschüttet. „Man muss verstehen, was es bedeutete ein kommunistischer Militanter zu sein. Als Giovanni Pesce in der Zeit des Faschismus nach Turin kam, hat er gefragt: Wo ist die Partei? Und man hat ihm gesagt: Du bist die Partei. Und dann hat er getan, was notwendig war. Das war auch die Mentalität von Valerio.“

#Bildquelle: Contropiano

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Causa AFDP: Es ist zwar ein „Tabubruch“, aber wir wollen ja nicht hysterisch werden, stimmt’s?

Wenn ein Politiker durch Neonazis in ein Amt gebracht wird, ist noch genug Raum für trockene Analysen, oder? Wenn Neoliberale es vorziehen, mit Faschisten zu paktieren, um einen gemäßigten, bürgerlichen Linken zu verhindern, können wir immer noch den Anfängen wehren, nicht wahr?

Was ist eigentlich, wenn doch alle aus der Geschichte gelernt haben und genau das unser aller Verhängnis wird? Das ewige, mediale Rezipieren der Hufeisentheorie über rechten und linken Extremismus hat dystopische Zustände etabliert. Connewitz, Umweltsau, von Faschisten aus dem Amt gemobbte Bürgermeister, radikal verschärfte Polizeigesetze, Überwachungsgesetze, FDP.

2020 ist vom Hufeisen zum Steigbügel fortgeschritten in nur wenigen Wochen. Susanne Hennig-Wellsow wirft Kemmerich nach seiner Wahl die Blumen vor die Füße und macht einen Knicks, Bodo Ramelow zitiert Hitler, und Kevin Kühnert glaubt (vermutlich ernsthaft), dass er in einer antifaschistischen Partei ist. Was würde ich tun mit politischer Immunität…

Ich werde meinen Enkelkindern erzählen, dass Widerstand einfach kein aLmaN-dIng war und sie alle Bescheid wussten, sogar noch besser als beim ersten Mal, aber sie zu verliebt waren, in ihre parlamentarisch-demokratische, kapitalistische Moral. Keine Pointe.

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Ich mag das Aufreihen von Fakten nicht mehr. Ab jetzt ist nur noch Populismus. All die Daten, die Schlüsselmomente der letzten zehn Jahre, auf die es Reaktionen hätte geben müssen – egal, wen interessieren noch Fakten.

Die Namen der Journalist*innen, die sich an der lodernden Faschisierung in Deutschland zumindest ethisch mitschuldig machen, weil sie den Faschist*innen Raum einräumten und noch immer einräumen – ihre Namen fallen mir schneller ein, als die Namen der Opfer des rechten Terrors. Das ist ein jämmerlicher Fakt. Sämtliche Rassentheorien sind faktisch widerlegt und doch diskutieren große Publizist*innen mit Rassist*innen, als wären sie vernünftige Menschen. Als hätte es die Shoa in Deutschland nicht gegeben.

Und auch diejenigen, die sich als weiter „links“ als die „Liberalen“ verstehen, tragen Mitschuld. Jene, die so lange haderten mit den Termini und jonglierten mit Worthülsen. Konservativ, Mitte Rechts, rechts-konservativ, rechts außen, rechts außen außen … Der Euphemismus ist bloß ein kleiner Rausch in einer großen nüchternen Welt.

Wie oft soll eine Ideologie, die Ihre hässliche Fratze als bares Antlitz trägt, noch „enttarnt“ und „demaskiert“ werden? Natürlich kann die Gedankenwelt von Menschenfeinden, freiheitlich, demokratisch, hundertfach in Talkshows ausgebreitet werden. Aber warum?

Sag es leise, aber sag es: Es ist Faschismus.

Und Faschismus ist eine Ideologie der Vernichtung. Vernichten bedeutet, völlig zerstören, gänzlich zunichtemachen. Warum seit Jahren mit Menschen diskutiert wird, die nichts anderes im Sinn haben, als alle politischen Widersacher*innen und Andersdenkende schlichtweg auszulöschen, es will mir nicht in den Kopf. So wenig will das in meinen Kopf wie das Wort „Einzeltäter“. Wieder dieser Euphemismus. Polizei, Bundeswehr, Verfassungsschutz. Und Einzeltäter. Landtagswahl in Thüringen. Einzeltäter. Oder „dumme Ossis“. Aber sicher nicht, ganz sicher nicht (organisierte) ideologische Rassist*innen oder gar Faschist*innen.

In Zeiten, in denen es scheint, als sei das Höchste aller querulantischen Gefühle des Durchschnittsmittebengels aus der Medienlandschaft, zu schreiben oder zu sagen BJÖRN HÖCKE IST EIN FASCHIST – in solchen Zeiten möchte ich Erich Kästner zitieren, weil ich keine Schellen verteilen darf. „Die Ereignisse von 1933 bis 1945 hätten spätestens 1928 bekämpft werden müssen, später war es zu spät. Man darf nicht warten, bis der Freiheitskampf Landesverrat genannt wird. Man muß den rollenden Schneeball zertreten; die Lawine hält keiner mehr auf.”

Deutschland faschisiert sich. Der Schneeball rollt. Das liegt nicht an bloß Höcke-Lucke-Gauland oder einzeltäterischen anderen Bernds. Das liegt an einer Gesellschaft, die das mitträgt. Das liegt an einer Gesellschaft, die diesen Schneeball rollen lässt. Wieiviele Julians, Lianes, Martins, Jans und Ulfs profitieren fantastisch von dem Umstand, dass “die Deutschen” auch über 70 Jahre nach Hitler, immer noch nicht bereit sind, Faschismus zu erkennen, zu benennen und zu bekämpfen?

Es fängt an mit dem Etablieren faschistischer Rhetorik. Dem Normalisieren faschistischer Narrative. Mit Intoleranz, Spaltung, Hassreden, Hetze, brennenden Häusern, getöteten Menschen, Veränderungen von Gesetzen, der Einschränkung von Grundrechten. Es fängt mit Menschen an, die dabei zusehen. Wir sind noch eine Koalition mit einer Nazipartei davon entfernt, diesen Text nicht bloß als hysterischen Alarmismus zu empfinden.

Landesverräterische Grüße, Eure Jane



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Der lange angekündigte Krieg der Türkei gegen die selbstverwalteten Gebiete im Norden Syriens beginnt. Am Abend des 6. Oktober veröffentlichte die US-Administration eine Stellungnahme, in der sie den Rückzug ihrer militärischen Kräfte von der türkisch-syrischen Grenze bekannt gibt und den bevorstehenden Einmarsch ihres NATO-Partners ankündigt.

Seit Beginn des demokratischen Experimentes der Selbstverwaltung in der Gegend zwischen Afrin und Derik nach 2011 droht Recep Tayyip Erdogan mit dessen blutiger Zerschlagung. In zwei völkerrechtswidrigen Einmärschen – einmal im Herbst 2016 zwischen Jarablus und al-Bab; einmal in Afrin im Januar 2018 – annektierte die Türkei bereits syrisches Territorium, das sie bis heute besetzt hält. Doch um ihr erklärtes Ziel, die Zerschlagung aller kurdischen Milizen in der Region sowie die Vertreibung der kurdischen Zivilbevölkerung, zu erreichen, muss Ankara sich auch die verbleibenden Gebiete aneignen.

Geplante “Sicherheitszone” nach türkischem Angriff

Die für den Angriffskrieg nötigen Streitkräfte sind bereits seit geraumer Zeit an der Grenze zusammengezogen. Er könne noch „heute oder morgen“ vorrücken, verkündete Erdogan am vergangenen Samstag.

Das Militärbündnis SDF (Syrisch-Demokratische Kräfte) sowie die zivilen Institutionen der Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyrien versuchten in den vergangenen Monaten durch Zugeständnisse an die US-geführte Anti-IS-Koalition das Unvermeidliche noch hinauszuzögern. Die Überlegung war: Die USA werden die Errungenschaften im Kampf gegen den Islamischen Staat nicht den regionalen Annexionsbestrebungen Erdogans, des offenen Unterstützers aller dschihadistischen Gruppen in Syrien, opfern. Zudem kalkulierte man, dass die Widersprüche zwischen Ankara und Washington in der Region wie im internationalen Konflikt zwischen den USA und Russland groß genug seien, um mit ihnen zu spielen und durch kluge Diplomatie den Bestrebungen Erdogans einen Riegel vorzuschieben.

Die Rechnung ging einige Jahre lang auf. Aber die Strategie war immer ein Spiel auf Zeit. Es war immer zu erwarten, dass Trump an einem bestimmten Punkt nach dem Sieg über den IS die früheren kurdischen, arabischen, christlichen und assyrischen Partner dem Auslöschungswillen der Türkei übergeben würde. Das ist nun eingetreten.

Was wird jetzt passieren? Die Türkei wird einmarschieren. Wenn nicht heute, dann morgen, in einer Woche, in einem Monat. Sie wird mit deutschen Panzern einrücken, wie schon in Afrin. Es wird zu ethnischen Säuberungen kommen, Menschenrechtsverletzungen, zahllosen Toten. Die zehntausenden IS-Gefangenen, die sich in kurdischem Gewahrsam befinden, werden versuchen, sich zu reorganisieren. Die Region wird erneut destabilisiert.

Ob die regulären Truppen der SDF in der Lage sein werden, einen Vormarsch lange aufzuhalten, ist fraglich. Das Territorium ist gegen eine mit Luftwaffe ausgestattete Armee noch schwerer zu verteidigen als Afrin. Dennoch wird auch nach einer türkischen Besatzung keine Ruhe einkehren. Der Guerillakrieg gegen die Besatzer in Afrin dauert seit Monaten auf hohem Niveau an. Zudem führt die kurdische Guerilla HPG derzeit Aktionen im gesamten irakisch-türkischen Grenzgebiet sowie in der Türkei selbst durch. Mit dem Einmarsch wird der Krieg, den die Türkei gegen alle Kurden – auf eigenem, irakischem oder syrischem Gebiet – führt, ein neues Niveau erreichen.

Wie dieser Krieg ausgeht, ist völlig offen. Und die kurdischen sozialistischen Kräfte sowie ihre arabischen, türkischen und assyrischen Verbündeten stehen in ihm alleine. Die Türkei hat alle möglichen Deals durchgedrückt. Mit der NATO auf der einen, mit Russland und dem Iran auf der anderen Seite. Der diplomatische Spielraum scheint zumindest im Moment ausgeschöpft, der alte kurdische Spruch „Keine Freunde außer die Berge“ erweist sich ein weiteres Mal als angemessene Beschreibung der Wirklichkeit.

Mit einer Ausnahme: All jene internationalistischen Unterstützer*innen dieser Revolution müssen jetzt die Karten auf den Tisch legen. Wie viel sind wir in der Lage mit den geringen Kräften, die wir haben, dazu beizutragen, dass dieses Verbrechen nicht still und heimlich über die Bühne geht? Wie viel Druck können wir auf die deutsche Regierung ausüben, die Erdogan mit Waffen unterstützt und deren Gesandter, Innenminister Horst Seehofer, wohl bei einem Treffen mit seinem türkischen Amtskollegen vor zwei Tagen grünes Licht aus Berlin für Erdogans Ansiedlungsplan von hunderttausenden Geflüchteten im Norden Syriens gegeben hat – samt Milliardenhilfen aus der EU.

Es ist jedenfalls nicht an der Zeit, die Köpfe zu senken und zu verzweifeln. Liberale Hilferufe an die USA sind dafür genauso schädlich wie der resignierte Rückzug. Unsere Freund*innen vor Ort werden kämpfen. Viele von ihnen werden fallen. Wir als Internationalist*innen müssen lernen, das als Verpflichtung zu sehen. Wenn es eine Maxime der kurdischen Revolution gibt, die auch wir zu lernen haben, dann ist es, auf die eigenen Kräfte zu vertrauen – mögen sie auch noch so klein erscheinen.

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