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„Serê cîlo çarçella
Benda te me ey Zagros
Baranek hûr hûr barî
Mervanê’m şehîd ketî“

Wenn Genossen und Genossinnen fallen tut das weh. Tausende Emotionen, Erinnerungen, Versatzstücke kommen hoch, ziehen an den Augen vorbei. Und heute ist genau so ein Tag.

Heval Serfiraz Nîdal ist am 10. April 2022 in Rojava nach Kampf gegen eine Krebserkrankung von dieser Welt gegangen.

Wenn ich mich mit Genossen und Genosssinnen über Gefallene unterhalte kommt manchmal die Frage auf, ob man viel Zeit gemeinsam verbracht habe, sich besonders intensiv kennen würde. Denke ich an Heval Serfiraz müsste ich auf den ersten Blick wohl beide Fragen verneinen. Gerade einmal vier Wochen begegneten wir uns, kannten uns nicht aus unseren Kindheitstagen oder gemeinsamer politischer Organisierung.

Revolutionen sind mächtig. Sie bringen tausende Dinge hervor, das Gute, das Schlechte und das Unbestimmte. Und die Revolution in Kurdistan hat ihren Beitrag dazu geleistet, dass sich die Wege von mir und Heval Serfiraz in Rojava kreuzten, für 28 Tage. Und 28 Tage gemeinsam in einer Revolution zu kämpfen, zu leben, zu lachen und zu weinen sind intensiv, lehrreich und unvergesslich.

Die Märtyrer sterben nicht. All diejenigen, die länger mit der kurdischen Freiheitsbewegung und revolutionären Organisationen weltweit zusammengearbeitet haben kennen diesen Satz. Er ist weit mehr als eine Floskel oder pathetisches Gerede, denn der Satz drückt eine grundlegende philosophische Annäherung an das Leben selbst aus. Denn Märtyrer sterben deshalb nicht, weil die Militanten sie weiterhin in ihren Herzen tragen und in ihren Handlungen, Werte und Prinzipien repräsentieren. Dabei geht es nicht um einen Todeskult. Denn wie es viele Revolutionär:innen bereits gelebt haben, lieben wir das Leben so sehr, dass wir bereit sind dafür das eigene Leben zu geben.

Heval Serfiraz war unser Kommandant für den Frontabschnitt an welchem wir im Februar 2021 eingesetzt waren. Wir waren drei Freunde, Internationalisten, welche im Februar noch etwas unsicher in dem Dorf eintrafen, in welchem Serfiraz uns in Empfang nahm und welches für die kommenden Wochen unser Zuhause wurde.

Was uns allen direkt auffiel war die Wärme und der unglaublich gute Humor unseres Verantwortlichen und das in einer Situation in der uns zuerst nicht zu Lachen zu Mute war. Die türkische Armee und ihre dschihadistischen Söldnertruppen hatten sich seit ein paar Wochen wortwörtlich auf das kleine Dorf festgeschossen, welches von kurdischen, assyrischen und arabischen Kämpfern verteidigt wurde.

Eines Abends war ich zur Nachtwachse gemeinsam mit Serfiraz eingeteilt. Meine erste an diesem Abschnitt und es lag ein Schleier dichten Nebels über dem Gebiet. Kein gutes Wetter, sofern man davon ausgeht ein Angriff könnte stattfinden. Meine Hände waren schwitzig, mein Körper angespannt und ich versuchte Krampfhaft die tausenden Geräusche zu unterscheiden. Serfiraz legte seine Hand an meine Schulter und sagte, dass Angst ein normales Gefühl sei, es ginge aber darum sie steuern zu können. Heval Serfiraz schaffte es mit nur wenigen Worten genau die Ruhe zu erzeugen die es an einem Ort wie der Front braucht, unterschätzte die Lage aber auch nicht. Er verstand es sehr gut eine militante Führung im Alltag und organisatorisch zu entwickeln. Das notwendige Gleichgewicht aus Zärtlichkeit, Zugewandtheit und notwendiger Härte. Allen und vor allem auch sich selbst gegenüber.

Es regnete viel in diesen Tagen, das Dorf glich einem Moor, so tief sanken wir teilweise in den Schlamm ein. Er ließ es sich dennoch nie nehmen, einen tägliche Rundgang zu machen, jede Position und jeden Freund einmal am Tag zu sehen und sich nach deren Befinden zu erkundigen. Serfiraz war zwar unser Kommandant, aber er delegierte nicht nur arbeiten, sondern packte selbst da an wo es notwendig war, für keine Arbeit war er sich zu schade.

Er hatte das große Talent militärische Disziplin mit menschlicher Art und Weise zu leben. Es gab kaum einen Abend, an welchem wir nicht zusammen saßen, Tawla spielten, dutzende Teegläser leerten, an manchen Tagen gemeinsam aßen an anderen gemeinsam nichts aßen oder in der feuchten Erde froren. Serfiraz sprach drei Sprachen, kurdisch, türkisch, arabisch. Denn auch für ihn war die Sprache ein Schlüssel zur Welt, zumal in unserer Einheit wirklich die gesamte Sprachbreite Rojavas repräsentiert war, und die Sprache des Gegenübers zu erlernen bzw. zu sprechen war für ihn eine wichtige Geste des gegenseitigen Respekts. Für mich legte er damit eine große Wertschätzung den eigenen Genossen gegenüber an den Tag, da er selbst bereit war neues zu lernen um sie zu verstehen, er ging nicht davon aus, dass alle ihn verstehen müssten.

Heval Serfiraz war ein sehr neugieriger Mensch, er wollte alles Wissen, über die Lage der revolutionären Kräfte in Europa, über die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse. Vor allem aber begrenzte sich sein Interesse nicht lediglich auf die „harten“ politischen Fragen. Wir diskutierten über den Einfluss von Mode, Popkultur und Musik auf die jeweiligen Gesellschaften. Und Heval Serfiraz hatte eine Eigenschaft, die uns allen als Militante leitend sein sollte: Er schämte sich nicht zu fragen, wenn er etwas nicht wusste oder verstand. So saßen wir teilweise Abende zusammen und übersetzten gemeinsam die Bedienungsanleitungen notwendiger Gerätschaften vom englischen ins kurdische und anschließend ins arabische oder türkische. In all diesen Erinnerungen bleibt für mich immer besonders prägend, dass er bei weitem kein Dogmatiker war. Unsere Diskussionen reichten von Lenins Imperialismustheorie, der Rolle Stalins, Neuerungen in den Programmen der weltweiten kommunistischen Parteien, Diskussionen mit einem anarchistischen Genossen über die Ukraine und Machno, über unsere Lieblingsrezepte unserer jeweiligen Küchen bis hin zur zentralen Rolle der LGTBIQ-Bewegung bei den Gezi-Protesten in der Türkei.

Er war ein wandelnder Erzähler, konnte seine Werdung zu einem militanten der MLKP mit Leben füllen, erzählte auch von seinen eigenen Erfahrungen in der Türkei, Kurdistan oder den türkischen Gefängnissen. Er machte diese Entwicklung greifbar. Ein lebendes Vorbild.

Als wir nach mehreren Worten aufbrachen, erinnere ich mich noch an unseren Händedruck des Abschieds und unser Versprechen, uns wiederzusehen, die feste Umarmung und unser gemeinsames herzliches Lachen.

Lieber Freund, heute habe ich den Namen kennengelernt, den dir deine Mutter bei deiner Geburt gab. Welat. Dein Familienname Yildiz. Land der Sterne. Serfiraz yoldaş, ich werde dich vermissen, genau wie hunderte Andere dich vermissen und in ihren Herzen tragen werden. Und auch ich werde dich bei mir tragen, unabhängig davon wo ich mich befinde und in den Sternenhimmel schauen werde. In meinem oder in deinem Land. Welat.

#Deniz Nîdal

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Obwohl ihm Inhaftierung, politische Verfolgung, Folter und im schlimmsten Fall sogar der Tod drohen, soll der 33-jährige Muhammed Tunç morgen, am 7. April, in die Türkei abgeschoben werden. Zwei Versuche der deutschen Behörden sind aufgrund seiner Wehrhaftigkeit, sowie des Engagements seines Anwalts und einer aktivistischen Öffentlichkeit bereits gescheitert. Doch nun scheint die Landesregierung Baden-Württemberg ernst zu machen: Laut Tunç wurde eigens ein Charter-Flug gemietet, welcher vom Stuttgarter Flughafen gen Diktatur abheben soll. 

Der Ausreisebescheid gegen Muhammed Tunç wurde schon im Jahr 2015 in Folge einer Verurteilung zu einer vierjährigen Jugendstrafe aus dem Jahr 2012 ausgestellt, welche er nach einer Auseinandersetzung mit türkischen Nationalisten absitzen musste. Doch Tunç, dessen Eltern schon aufgrund politischer Verfolgung nach Deutschland kamen, blieb. 2018 wurde er noch einmal verurteilt, diesmal wegen einer Auseinandersetzung mit der heute verbotenen türkisch-nationalistischen Rockergruppe Germanen-Osmania und sogar vorzeitig aus der Haft entlassen. Es ist also völlig unklar, warum ausgerechnet jetzt so vehement seine Abschiebung erzwungen werden soll.

Nicht nur, dass die Menschenrechtslage in der Türkei für linke politische Aktivist*innen und Kurd*innen weiterhin katastrophal ist – ihnen drohen in vielen Fällen aufgrund oppositioneller Äußerungen und Aktivitäten Inhaftierung und Folter. Muhammed Tunç wird zusätzlich von türkischen faschistischen Gruppierungen und Einzelpersonen mit dem Tode bedroht. So postete beispielsweise ein Instagram Account, von dem zuvor schon Drohungen gegen die Linke-Politiker*innen Cansu Özdemir, Gökay Akbulut sowie Civan Akbulut und den Referenten für Migration und Flucht bei medico international Kerem Schamberger abgesetzt wurden, dass er auf die Rückkehr des Fluges von Muhammed Tunç warte. Inklusive Flugnummer. Dahiner findet sich der Hashtag #jitemturkey. JİTEM bedeutet auf Deutsch soviel wie „Geheimdienst und Terrorabwehr der Gendarmerie“ – ein informeller Zusammenschluss von Sicherheitskräften, dessen Existenz zwar im Laufe türkischer Gerichtsverfahren in der Vergangenheit bestätigt wurde, die genaue Organisationsweise und der Zeitraum der Aktivitäten sind jedoch bis heute nicht bekannt. Sucht man im Internet und auf Social-Media-Plattformen nach dem Begriff, begegnen einem nicht nur Schilderungen von Einschüchterungsversuchen gegenüber Oppositionellen, sondern auch massenhaft Fotos und Videos von türkischen Nationalisten, in denen hauptsächlich Panzer, Gewehre und bewaffnete Männer in Uniform zu sehen sind, sowie Berichte über Morde an überwiegend kurdischstämmigen Aktivist*innen, die der JİTEM zugerechnet werden. 

Hinzu kommt, wie Muhammed Tunç im Gespräch mit dem LCM erzählt, dass in seinem Fall mittlerweile nicht mehr nur das Wort „Abschiebung“ sondern auch „Auslieferung“ fällt – denn als Mann in seinem Alter mit einer türkischen Staatsangehörigkeit wäre er dazu verpflichtet einen Wehrdienst in der Türkei abzuleisten. Seiner Schilderung nach, wurde ihm das bei einem Besuch im türkischen Konsulat am 23. März 2022, bei dem er einen Pass beantragte, nahegelegt. Das würde bedeuten, dass er neben einer absehbar schlechten Behandlung innerhalb des Militärs, auch in Gebiete geschickt werden könnte, in denen die türkische Armee aktuell einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg führt: beispielsweise in Nordsyrien gegen die Kurden. Die einzige Möglichkeit, den Dienst zu umgehen, ist eine Zahlung von mehreren tausend Euro. Muhammed Tunç soll also in ein Land abgeschoben werden, in dem ihm schlimmste Verbrechen drohen. Und falls er das überlebt, soll er sich an ihnen beteiligen – eine perfide Logik.

Und die grüne Landesregierung in Baden-Württemberg? Im letzten Jahr wurden über 1.300 Personen aus dem Bundesland abgeschoben. Unter anderem in Türkei und vor dem Abschiebestop im August 2021 sogar nach Afghanistan. Und dann gibt es noch jene Fälle, in denen die Abschiebung vorerst verhindert werden konnte: Heybet Sener beispielsweise, ebenfalls ein kurdischer Aktivist, der erst vor vier Jahren nach Deutschland geflohen war, weil er in der Türkei verfolgt wurde. Oder Veli I. ein 66-Jähriger, der schon seit 30 Jahren in Deutschland lebt und krank ist. Es gibt viele solcher Fälle. Auch wenn das Ministerium für Justiz und Migration von der CDU geführt wird – die dominante Partei in der Landesregierung ist Bündnis90/die Grünen. Gleichzeitig bezeichnen diese sich selbst auf ihrer Webseite als „ökologisch, ökonomisch und sozial“ und werben für Feminismus und Ukraine-Solidarität. Blanker Hohn für die tausenden Betroffenen grüner Realpolitik.

Muhammed Tunç erzählte dem LCM von seinen Erfahrungen mit der Grünen Partei. Nachdem seine Abschiebung bereits im Februar zweimal verhindert werden konnte, meldete sich der Grüne Landtagsabgeordnete Daniel Lede Abal bei ihm. Er versprach seine Unterstützung und unterbreitete ihm sogar die Möglichkeit, freiwillig in ein Drittland auszureisen. Dem stimmte Herr Tunç zu – denn er weiß, was ihm in der Türkei droht – hatte jedoch immer mehr das Gefühl, dass die notwendigen Schritte für seine Ausreise wieder und wieder verschleppt werden. Bis das Angebot plötzlich am 02. April 2022 zurückgezogen wird. Warum ist unklar. Auf Anfrage äußerte der grüne Landtagsabgeordnete und Sprecher für Migration Lede Abal:

„Politische Verfolgung steht in der autoritär geführten Türkei auf der Tagesordnung. Es ist allgemeinhin bekannt, dass insbesondere politisch aktive Kurdinnen und Kurden in den Fokus des Erdogan-Regimes geraten. Wie andere Betroffene werden auch sie wegen fingierten Gründen willkürlich verhaftet, tyrannisiert, teilweise auch gefoltert. Der Fall Muhammed Tunç löst bei uns daher große Besorgnis aus. Wir halten die Abschiebung des in Deutschland geborenen und aufgewachsenen Herrn Tunç für falsch. Dies teilten wir bereits vor mehreren Wochen dem Justizministerium mit. Wir haben uns heute erneut mit verschiedenen Fragen an das Justizministerium gewandt und um Stellungnahme gebeten.“

Auf die Frage nach der unterbreiteten Ausreise in einen alternativen Drittstaat, gab er jedoch keine Antwort. Auch das Ministerium für Justiz und der Migration Baden-Württemberg äußerte sich weder zu der Frage, warum Muhammed Tunçs Ausreise plötzlich forciert wird, noch dazu, ob der für morgen geplante Flug trotz seiner aktuellen Covid-19-Erkrankung wie geplant stattfinden soll. Es teilte lediglich mit, dass „Zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse […] durch das dafür zuständige Bundesamt für Migration und Flüchtlinge geprüft und verneint“ wurden. Und das, obwohl selbst das Auswärtige Amt in seinen Reise- und Sicherheitshinweisen zur Türkei vor „Festnahmen, Strafverfolgung oder Ausreisesperren“ aufgrund von „regierungskritischen Stellungnahmen“ warnt und betont, dass dies in besonderem Maße Personen betreffe, die unter anderem eine türkische Staatsangehörigkeit besitzen, sowie dass „die türkischen Strafverfolgungsbehörden […] umfangreiche Listen mit Wohnsitz in Deutschland (führen), die […] zum Ziel von Strafverfolgungsmaßnahmen werden können.“ 

Und auch die Haftbedingungen in der Abschiebungshaft unterscheiden sich laut seiner Aussage nicht wirklich von denen, der ebenfalls in Pforzheim untergebrachten Strafgefangenen: „Hier ist alles gleich geblieben, nicht einmal die Farbe von den Türen hat sich verändert“ – Muhammed Tunç kennt das Gefängnis noch von früher. Schon 2019 stand die Haftanstalt in der Kritik, die Arbeitsgemeinschaft Abschiebehaft warf der Leitung damals fehlende Fürsorge und eine unnötige Reglementierungen der ehrenamtlichen Beratungsangebote in der Anstalt vor. Tunç berichtet in Folge seiner Öffentlichkeitsarbeit und des Anprangerns der Haftbedingungen auch von Schikane seitens der Justizvollzugsangestellten. So wurde ihm zum Beispiel im März sein eigenes, offiziell zugelassenes, Handy abgenommen worden – stattdessen bekam er eine Sim-Karte, bei der die Minute 0,33€ kostet und seine Telefonzeit wurde auf zehn Minuten pro Tag beschränkt. 

Betrachtet man die Abschiebepraxis der grün-schwarz geführten Landesregierung im Allgemeinen und den Fall Muhammed Tunç im Besonderen, stellt man wieder einmal fest, dass die Grüne Partei so gar nicht das umsetzt, wofür sie angeblich wirbt. Einen Charterflug in die Türkei zu mieten, um eine Person abzuschieben, die dort mit ziemlicher Sicherheit politischer Verfolgung von staatlichen und staatsnahen Gruppen ausgesetzt sein wird, ist weder ökonomisch noch ökologisch, geschweige denn sozial. 

#Foto: pixabay

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Wie die deutschen Medien und Politiker beständig wiederholen, handelt es sich bei dem Ukraine-Konflikt um einen Kampf zwischen Demokratien auf der einen und Diktaturen auf der anderen Seite. Damit ist die Frage, ob Parteinahme nötig sei – und falls ja, für wen – für viele Menschen schon beantwortet. Die Ukraine, über deren korruptes politisches System ansonsten viel berichtet wurde, verteidigt jetzt die Werte der freien Welt gegen die „letzten Diktatoren“: Wladimir Putin und Alexander Lukaschenko, die sich in der EU mit autoritären Demokratiegefährdern wie Viktor Orbán verbünden. Angesichts dieser Gefahr wird die Einheit aller Demokraten über die sonstigen politischen Lagergrenzen hinweg gefeiert.

Mittendrin kommt es, von der Öffentlichkeit nur am Rande bemerkt, zu einem diplomatischen Konflikt der EU mit dem NATO-Mitgliedsstaat Türkei über die Haltung zum Ukraine-Konflikt. Der EU-Botschafter in Ankara, Nikolaus Meyer-Landrut warnte die Türkei davor, einen „Balanceakt“ zu vollziehen. Gemeint ist der Spagat zwischen den Interessen des politisch-militärischen Bündnisses der Ukraine-Untersützter und den Interessen Russlands.

Die Türkei war in den letzten acht Jahren ein wichtiger Waffenliferant der Ukraine. Die Schwäche der ukrainischen Heeresflieger sollte durch Bayraktar TB2 Drohnen wettgemacht werden. Bis 2023 sollen in der Türkei vier von der Ukraine bestellte Korvettenschiffe mit Raketenaufrüstung fertiggebaut werden. Zwar hält die EU Erdogan weiterhin vor, kein „lupenreiner Demokrat“ – wie Gerhard Schröder Putin einmal nannte – zu sein, aber solches Engagement im Konflikt mit Russland sieht man doch gerne. 

Dass Erdogan sich jedoch rausnimmt, die Beziehungen zu Russland an den eigenformulierten Staatsinteressen der Türkei zu messen und sich deswegen immer wieder eigenständig mit Moskau über Syrien und Karabach verständigt, erscheint aus Sicht der EU als ebenso dreiste Zumutung, wie die aus US-amerikanischer Perspektive mangelnde Bereitschaft einiger EU-Länder, aus Solidarität mit der Ukraine auf lohnende Geschäfte mit Russland zu verzichten. Denn die Türkei verhandelt nicht nur mit Russland, sie unterhält auch intensive Wirtschaftsbeziehungen und bezieht ihrerseits sogar Waffen, wie die Flugabwehrraketensysteme S-400 des größten russischen Rüstungsunternehmens Almas-Antei, aus dem Land. Außerdem ist die Türkei weiterhin auf Gas-Lieferungen aus Russland angewiesen. Der Wille der Türkei, ihre eigenen Interessen in dem Konflikt hinten an zu stellen, ist daher begrenzt.

Die Entscheidung, die Meeresengen vom Bosporus und der Dardanellen für Kriegsschiffe „aller Kriegsparteien“ – also faktisch für die russische – zu schließen, traf die türkische Regierung nur zögerlich. Weiterhin läuft der zivile Luftverkehr zwischen EU und Russland über die Türkei, die sich den Sanktionen gegen die russischen Fluglinien nicht anschließt. Auch das Canceln der Auftritte russischer Künstler im Namen der Ukraine-Solidarität verurteilte Erdogan als „Hexenjagd“. Die Empörung darüber, dass ein Staat die bewaffneten Rebellen auf dem Gebiet seines Nachbarn erst unterstützt und schließlich eine Invasion zu ihren Gunsten durchführt, scheint in der Türkei nicht so groß zu sein, wie bei den NATO-Staaten – die solches Handeln der Türkei im Bezug auf Syrien zumindest tolerieren.

Dass die deutschen Medien heute gar nicht mehr so tun, als würden sie sich um Distanz zu den Kriegsparteien bemühen, sondern ohne wenn und aber die ukrainische Perspektive übernehmen, ist nun auch kein großes Geheimnis. Damit ist es für die Verbündeten der Ukraine noch nicht genug – auch in den dritten Staaten soll der Sumpf der „Putinverstehrerei“ trockengelegt werden.

Erst im März verlangte der EU-Botschafter in Ankara, dass die Türkei „russische Propagandasender“ einschränke. Das gelegentlich für seine Zensur angeprangerte Erdogan-Regime soll nun also noch mehr davon leisten. Zweifelsohne waren Sender wie Russia Today auch schon in den Vorkriegszeiten vor allem darauf ausgelegt, das Vertrauensverhältnis zwischen Bürgern und Regierungen der sich mit Russland im Interessengegensatz befindenden Staaten zu stören. Ein wichtiges Mittel dafür sind als „unterdrückte Wahrheiten“ präsentierte Fake-News. In Kriegszeiten wird der Zirklulation von von solchen Meldungen besondere Bedeutung beigemessen.

In ihrer Sorge um die Demokratie fordert die EU also von einem souveränen Staat, er solle seine Bürger und die sich im Land aufhaltenden Touristen vor den Medien eines anderen souveränen Staates abschotten. 

Dass Erdogan Phosphorbomben einsetzt, darüber könnten seine westliche Partner noch hinwegsehen. Aber bei den russischen Nachrichtensendern ist die rote Linie endültig überschritten. 

#Foto: Wikimedia Commons

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Wer A sagt, muss auch B sagen. Das scheint die unausgesprochene Devise der Herrschenden gewesen zu sein, als sie die juristischen Grundlagen der Repression immer wieder nachgeschärft haben. Die Rede ist vom Paragraphen 129 des Strafgesetzbuches, der die „Bildung einer kriminellen Vereinigung“ unter Strafe stellt. Seit seinem Erscheinen im Reichsstrafgesetzbuch von 1871 hatte er vor allem den Zweck, Widerstand niederzuhalten – ob im Kaiserreich, in der Weimarer Republik oder in den Jahren des Faschismus. Nach 1945 hielt man den Paragraphen in Ehren, konnte man ihn doch noch gebrauchen, etwa im Kampf gegen die KPD. Im Jahr 1976 wurde mit Blick auf die RAF der §129a („Bildung einer terroristischen Vereinigung“) eingefügt. Und gut 26 Jahre später, im August 2002, gesellte sich als Reaktion auf die Anschläge vom 11. September 2001 noch der Paragraph 129b dazu, der im Großen und Ganzen die gleichen Handlungen unter Strafe stellt wie der §129a, sich aber auf „terroristische Vereinigungen im Ausland“ bezieht.

Dass sich die Herrschenden mit diesen beiden Gummiparagraphen Instrumente gebastelt haben, um Kritiker mundtot zu machen, jeden und jede kriminalisieren und Strukturen nach Herzenslust ausforschen zu können, ist zumindest unter Linken kein Geheimnis. Der §129a ist bekanntlich zuletzt wieder von Staatsanwaltschaften fleißig genutzt worden. Noch hemmungsloser wurde in den zurückliegenden Jahren aber der §129b eingesetzt.W. Und zwar hauptsächlich, um kurdische und türkische Oppositionelle hinter Gitter zu bringen. Damit machen sich die Justiz und der deutsche Staat immer wieder zum Erfüllungsgehilfen der Türkei, des diktatorischen Regimes von Recep Tayyip Erdoğan machen.

Ein besonders krasses Beispiel ist der so genannte TKP/ML-Prozess vor dem Oberlandesgericht München. Ein grotesker, politisch motivierter Schauprozess, bei dem zehn Aktivist*innen – neun Männer und eine Frau – zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt wurden. Und das nur wegen ihrer Mitgliedschaft in der TKP/ML (Kommunistische Partei der Türkei/Marxistisch-Leninistisch), die lediglich in der Türkei, nicht jedoch in der BRD, verboten ist. Wie in ähnlichen Verfahren wurden den Angeklagten keine konkreten strafbaren Handlungen vorgeworfen. Allein ihre politische Arbeit, die in Organisierung von Veranstaltungen, Spendensammlungen sowie normaler Vereinsarbeit bestand, reichte aus, um sich in Deutschland als Beschuldigte in einem der größten „Terrorprozesse” wiederzufinden und im Knast zu landen.

Die lange Vorrede erscheint in diesem Fall sinnvoll, denn nur so lässt sich verstehen, warum der Aktivist Musa Aşoğlu – um den es in diesem Beitrag eigentlich geht – in Hamburg im Knast sitzt und wie er dort behandelt wird. Im Februar war Musa vom Hanseatischen Oberlandesgericht (OLG) nach dem Paragraphen 129b zu sechs Jahren und neun Monaten verurteilt worden, heute sitzt er in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Billwerder ein. Aşoğlu wurde in der Türkei geboren, besitzt aber die niederländische Staatsangehörigkeit. Die USA und die Türkei hatten ein hohes Kopfgeld auf ihn ausgesetzt, bezeichneten ihn als „Terroristen“. Am 2. Dezember 2016 wurde Musa in Hamburg verhaftet und verbrachte über neun Monate in Totalisolation im Untersuchungsgefängnis Holstenglacis.

In der JVA Billwerder wird dem Aktivisten das Leben nach Kräften schwer gemacht. Bei der traditionellen Silvesterknastkundgebung vor der Anstalt beim zurückliegenden Jahreswechsel 2021/22 wurden diese Schikanen gegen Musa thematisiert und ihre sofortige Beendigung gefordert. Seit seiner Inhaftierung 2016 sei er Sonderhaftbedingungen ausgesetzt, hieß es aus diesem Anlass in einer Erklärung des „Netzwerks Freiheit für alle politischen Gefangenen Hamburg“. Erst sei der Gefangene der Isolationsfolter im Untersuchungsgefängnis ausgesetzt gewesen, jetzt in Billwerder der Strafhaft und einer starken Zensur. Besuchszeiten würden willkürlich gekürzt, Brief- oder Zeitungssendungen verzögert oder gar nicht an ihn ausgehändigt. Seit Herbst 2020 habe Musa Artikel aus bürgerlichen türkischsprachigen Zeitungen wegen eines angeblich „zu hohen Kontrollaufwands“ nicht mehr erhalten. Später seien die Gefangeneninfo und sogar Postkarten mit politischen Motiven von den Zensoren nicht mehr übergeben worden.

Wie ein Aktivist des Netzwerks in einem Interview in der Tageszeitung junge Welt am 30. Dezember mitteilte, hat die Anstaltungsleitung die Zensurmaßnahmen gegen den Gefangenen offenbar zuletzt erheblich verschärft. Bisher hätte er Bücher und politische Schriften über den linken Schanzenbuchladen beziehen. Das gehe jetzt nicht mehr. Im Dezember habe der Schanzenbuchladen das Netzwerk angesprochen und erklärt, alle Postsendungen an die JVA seien seit etwa zwei Monaten mit dem Vermerk „Annahme verweigert“ zurückgekommen. Aşoğlu habe zudem aus dem Knast berichtet, es sei eine Verordnung ausgehängt worden, laut der nur noch zwei bürgerliche Buchläden in die Anstalt liefern dürfen, Thalia in der Spitalerstraße und die Buchhandlung Christiansen in Altona. Auch über Amazon dürfe offenbar nichts mehr geliefert werden. Angeblich seien auf diesem Weg Drogen in den Knast geschmuggelt worden.

Mit einer schriftlichen Anfrage wandte sich das Lower Class Magazine an die Pressestelle der Hamburger Behörde für Justiz und Verbraucherschutz. Die stellvertretende Pressesprecherin, Valerie Meister, ging in ihrer Antwort auf die konkreten Zensurmaßnahmen nicht ein: Gefangene könnten Artikel bei einer Vielzahl von Versandfirmen bestellen, die zuvor überprüft und zugelassen worden seien, „darunter auch bei diversen Buchhandlungen“, schrieb sie. Ohne vorherige Zulassung und Prüfung sei der Erhalt von Sendungen von Versandhändlern „aus Sicherheitsgründen nicht möglich“. Aus Gründen der Sicherheit und des Persönlichkeitsschutzes könne man „grundsätzlich keine Auskünfte zu einzelnen Gefangenen geben“. 

Kurz vor dem Jahreswechsel war bekannt geworden, dass es noch eine weitere Schikane gegen Musa Aşoğlu gegeben hat. Das Netzwerk informierte, dass sein Genosse Faruk Ereren ihn nicht besuchen darf. Ereren saß selbst neun Jahre in der Türkei im Knast und dann noch mal sieben Jahre in der BRD in Untersuchungshaft, bevor er freigesprochen wurde. 

Welchen Hintergrund all diese Schikanen haben, macht eine Erklärung deutlich, die Musa im Mai 2021 vor dem OLG in einer nicht-öffentlichen Verhandlung abgegeben hat, bei der es um eine Entlassung nach zwei Dritteln der Haftzeit ging. Er berichtete dort, dass ihm eine Abteilungsleiterin der JVA in einem Gespräch zur Gestaltung seines Vollzugplans im Juni 2020 folgendes gesagt hat: „Ich werde ehrlich zu Ihnen sprechen. Pflegen Sie bitte keine Hoffnungen! Sowohl die Zweidrittelentlassung als auch der offene Vollzug und die gelockerten Maßnahmen sind für Sie ausgeschlossen. Ihre gesamte Strafe werden Sie unter strengen Haftbedingungen verbüßen. So erscheinen mir die Befehle von oben.“

Diese Sätze sind eine erneute Bestätigung, dass Musa Aşoğlu – wie viele andere in deutschen Knästen – ein politischer Gefangener ist. Und, dass der lange Arm des Erdogan-Regimes jedenfalls mittelbar bis in deutsche Justizvollzugsanstalten reicht.

Foto: Wikimedia commons

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Demokratische Opposition wird in der Türkei brutal verfolgt – insbesondere, wenn Kurdinnen ihren Platz im politischen Raum einnehmen wollen. Deutschland unterstützt diese Repression. Ein Gespräch mit der HDP-Politikerin Besime Konca

Kannst du dich zuerst unseren Leser:innen vorstellen?

Mein Name ist Besime Konca. Ich arbeite seit 28 Jahren in der kurdischen Befreiungsbewegung und mit kurdischen Frauen. Ich war lange Zeit politische Gefangene in der Türkei. Man hat mich verhaftet, als ich für die DTB aktiv war, später auch, als ich für die HDP aktiv war. Zuletzt wurde ich vor einigen Jahren als HDP-Parlamentarierin für Sirte gefangen genommen. Ich war zu der Zeit als Gast in Europa, aber weil mir in der Türkei erneut Gefängnis drohte, musste ich bleiben. Derzeit halte ich mich als politische Geflüchtete in Deutschland auf. Ich bin also seit etwa drei Jahren in der Diaspora.

Wie bist du politisch aktiv geworden und zur HDP gekommen?

Die HDP ist ein politisches Projekt, das die in der Türkei seit 100 Jahren bestehende Politik verändert hat. In der HDP gibt es zum einen das System der geschlechterparitätischen Doppelleitung, es gibt autonome Fraueninstitutionen, in denen sich Frauen organisieren. In der HDP haben alle Bevölkerungsgruppen einen Platz gefunden, denen es in der Türkei verboten war, demokratische Politik zu machen – Kurd:innen, Armenier:innen, Syrer:innen, Tscherkess:innen, Alevit:innen. Die HDP ist ein umfassendes Projekt zur Demokratisierung der Türkei. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, das demokratisch-ökologische Paradigma und die Freiheit der Frauen zu beschützen. Für mich war entscheidend, dass ich als kurdische Frau, als Feministin und als Demokratin Politik machen wollte. Deshalb bin ich in die HDP eingetreten.

2017 wurde du in der Türkei deines Amtes enthoben. Was war die Vorgeschichte dieses Angriffs?

Im November 2015 ist die HDP ins Parlament eingezogen. Aber vorher schon habe ich für die kurdische Partei BDP gearbeitet. Zu diesem Zeitpunkt war die HDP vergleichsweise neu aufgebaut worden, die Geschichte der Partei reichte erst 6 Jahre zurück. Damit die kurdische Frage in der Türkei gelöst werden konnte, hatte Abdullah Öcalan das Paradigma der Demokratischen Nation entworfen. Die HDP war zwischen der politischen Sphäre in der Türkei, den Debatten auf Imrali und der kurdischen Befreiungsbewegung in einer Vermittlungsrolle gewesen. Deshalb hatte ich großen Respekt vor ihr und große Hoffnungen, dass sie die kurdische Frage lösen und die Türkei demokratisieren können würde.

Im Juni 2015 schaffte es nun die HDP zum ersten Mal als kurdische Partei über die 10-Prozent-Hürde ins türkische Parlament – zuvor waren immer nur Einzelkandidat:innen eingezogen. Sie erreichte 13 Prozent. Deshalb akzeptierte der türkische Staat diese Wahlen nicht und strebte Neuwahlen an. Und der Staat begann Kriegsoperationen gegen die Kurd:innen. Im Rahmen dieses Krieges kam es auch zu Angriffen auf die HDP. Der türkische Staat akzeptiert die Kurd:innen seit 100 Jahren nicht, also wollte er nicht, dass die Kurd:innen ihren Platz in der Politik einnahmen. 2016 wurden die Co-Vorsitzenden der HDP , Selahattin Demirtas und Figen Yüksedag, sowie eine große Zahl von Parlamentarier:innen gefangen genommen. Einen Monat später haben sie auch mich ins Gefängnis geworfen.

Man muss dazu sagen, in diesen Jahren kam es auch in Rojava zu einem sehr wichtigen Widerstand. Ganz Rojava erhob sich gegen den Islamischen Staat. Und gleichzeitig griff die Türkei militärisch in ganz Kurdistan Städte an – Cizre, Sur, Nusaybin. Dagegen positionierte sich die HDP. Wir vertraten die Auffassung, dass die kurdische Frage sich nur durch eine Demokratisierung lösen ließe. Wir leisteten auch außerhalb des Parlaments, bei den Unterdrückten im Volk, viel Widerstand – sowohl in Nordkurdistan, wie in Rojava.

Gerade für die weiblichen Abgeordneten im Parlament war der Kampf schwer, denn das Patriarchat ist dort tief verankert. Sie beschnitten die Rechte von Frauen, brachten religiöse, rückwärtsgewandte Gesetze ins Parlament. Dagegen leisteten wir Widerstand. Es gab eine Gruppe von Frauen im Parlament, die sich zum Beispiel dafür einsetzte, dass ein Frauenministerium geschaffen wird. Und gegen die Gesetzesentwürfe der AKP, beispielsweise zur Legalisierung der Verheiratung von Minderjährigen oder zur Zwangsverheiratung von Vergewaltigten mit ihren Vergewaltigern – dagegen haben wir Widerstand geleistet. Das türkische Parlament ist kein klassisches Parlament wie in anderen Ländern. Man muss dort Widerstand leisten und es ist ein wichtiger Kampf um Sein oder Nichtsein der eigenen politischen Existenz.

Du lebst seit 2018 in Deutschland. Wie kannst du von hier aus deine politische Arbeit fortführen?

Als ich im Gefängnis war, habe ich begonnen, mich sehr für die Freiheit der Frauen zu interessieren. Als Parlamentarierin habe ich diese Arbeit fortgeführt. Es geht darum, die Gesellschaft nach dem Paradigma der Freiheit und der Frauenbefreiung zu organisieren. Und auch wenn der türkische Staatdas nicht anerkennt, sieht mich die Bevölkerung, die mich gewählt hat, noch als ihre Abgeordnete. Ich bin ja seit 28 Jahren für die Freiheit des kurdischen Volkes, für jeden Widerstand und alle Kämpfe der Frauen aktiv. Und das möchte ich auch hier fortsetzen. Ich habe dann in der Diplomatie der Frauenbewegung gearbeitet. Und heute arbeite ich in der kurdischen Gesellschaft in Europa, mit den Frauen hier, die viel Widerstand leisten. Es ist auch wichtig aufzuzeigen, dass alle Staaten Europas – Frankreich, Italien, Deutschland – heute Gehilfen des türkischen Staates sind. Sie unterstützen den AKP-Faschismus.

Die Mehrzahl des kurdischen Volkes in der Diaspora ist heute in Deutschland. Mehr als eine Million Kurd:innen sind in der Bundesrepublik. Es ist das Recht der Kurd:innen in Deutschland an der Politik teilzuhaben. Es ist das Recht der Kurd:innen, dass auch die Gesellschaft in Deutschland, die Jugend, die Politik sehen, wie das Leben in Kurdistan ist. Und in der Gesellschaft Deutschlands gibt es viele Freund:innen der Kurden. Gerade wir als Frauen nehmen an vielen Bewegungen teil und haben dort unseren Platz.

Was ist deine Perspektive auf die deutsch-türkischen Beziehungen?

Die Politik Deutschlands hat Einfluss auf die aller europäischer Staaten. Und Deutschland hat nicht erst seit Kurzem, sondern seit dem osmanischen Reich intensive Beziehungen zur Türkei. Die Politik der kapitalistischen Moderne und der Unterdrückerstaaten ist immer an Interessen, am eigenen Nutzen ausgerichtet und das prägt auch diese Beziehungen. Das ist eine falsche und gegen die Völker gerichtete Politik. Eine Politik der Waffenexporte, eine Politik des Profits und eine antidemokratische Politik. Gerade Deutschland will gar keine demokratische Entwicklung in der Türkei. Die Bundesrepublik befürwortet den Krieg.

Das ist eine falsche Politik. Die Länder Europas sehen die Türkei als eine Art Depot für Geflüchtete. Sie fürchten sich vor den politischen Aktionen der Türkei.

Aber die Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei sind nicht erst seit dem AKP-Faschismus von dieser Art. Auch davor gab es ja diese Beziehungen. Die Regierungen in der Türkei wechselten, aber nicht die grundsätzliche Politik des Staates. Und in diesen Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei spielten Demokratie oder Menschenrechte nie eine Rolle. Es geht allein um den wirtschaftlichen Nutzen. Und dieser wächst durch Krieg. Und er wächst in Krisen.

Es werden zahlreiche Massaker gegen Kurd:innen verübt, heute werden sogar Chemiewaffen eingesetzt, jeden Tag bombardieren sie mit Drohnen kurdische Wohngebiete, Menschen werden getötet. 5000 Frauen wurden vom IS in Sengal entführt. In Afrin, Kobane, Gire Spi haben die Türken mit Unterstützung Europas angegriffen und die Bevölkerung massakriert. Sie respektieren den Willen der Kurd:innen, den Gesellschaftsaufbau der Kurd:innen nicht. Das verletzt die Kurd:innen.

Ich will auch betonen, dass sich selbst hier der deutsche Staat wie die Türkei gegenüber den Kurd:innen verhält. Er verbietet ihre Organisationen, Jugendliche werden verhaftet, es gibt eine Reihe von Verboten. Die Farben und Fahnen der Kurd:innen werden auf Demonstrationen kriminalisiert. Das, was die Türkei tut, versucht die BRD auch in Europa durchzusetzen. Es ist ja so, dass die Kurd:innen nicht freiwillig ihr Land verlassen haben. Wir haben unsere Geschichte, unsere Zukunft und Vergangenheit dort. Wir wurden durch genau diese Politik vertrieben und mussten nach Deutschland kommen.

Titelbild: ANF

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Im Oktober 2021 hat Mesut Bayraktar seinen dritten Roman „Aydin – Erinnerung an ein verweigertes Leben“ (UNRAST Verlag) veröffentlicht. Darin erzählt er die Geschichte seines Onkels Aydin, der 1982 aus der türkischen Stadt Trabzon am Schwarzen Meer nach Deutschland gekommen war, um in der BRD zu arbeiten. Neun Jahre später, Aydins Körper und Geist waren bereits durch die Räder der deutschen Industrie gebrochen, der Rassismus der deutschen Mehrheitsgesellschaft hatte sein Inneres zerfressen, wird er wegen Drogenhandel abgeschoben und verliert wenig später den Verstand. 2019 stirbt er in seiner Heimat an Krebs.

Die Erzählung ist ein Versuch, diese neun Jahre in Deutschland nachzuvollziehen und nachvollziehbar zu machen. Beides gelingt auf schmerzhafte Weise. Doch der Text ist mehr als das. Er ist vielschichtig und besteht neben der anachronisch entfalteten Haupthandlung aus philosophischen Gedanken, eingestreuten Parabeln und politischen Reflexionen. Darüber hinaus erzählt Bayraktar nicht nur die Geschichte seines Onkels, sondern auch seine eigene Gegenwart, in der die Familiengeschichte weiter wirkt.

Aydin – Erinnerung an ein verweigertes Leben“ von Mesut Bayraktar, UNRAST Verlag, 148 Seiten, 14 Euro“

Die große Stärke des Romans liegt zweifelsfrei in der bestechenden, schockierenden, wahrhaftigen Sprache, die Bayraktar zu finden in der Lage ist. Sie vermag es, die Leser:innen die Gewalt erahnen zu lassen, die Aydin stellvertretend für seine Klasse durch das System der Herrschenden in Deutschland erleiden musste. Bayraktars Stil erinnert dabei an das Schreiben des französischen Schriftstellers Edouard Louis, der die Tradition der Arbeiter:innenliteratur in der Folge von Annie Ernaux und Didier Eribon erneuern konnte und auch in Deutschland auf ein breites Interesse gestoßen ist.

„Wenn ich an meinen Onkel denke, dann denke ich daran, was ihm verweigert wurde – das ist Klassengewalt.“

Im Oktober 2021 jährte sich das „Anwerbeabekommen“ mit der Türkei, mit dem die BRD dem seit Mitte der 50er-Jahre herrschenden Arbeitskräftemangel durch türkische Arbeiter*innen begegnen wollte, zum 60. Mal. Das Abkommen war gleichzeitig ein Paradestück des Klassenkampfs von oben. Zukünftige hohe Lohnforderungen konnten hiermit schon vor ihrem Aufkommen verhindert werden, da die türkischen Arbeiter:innen aufgrund ihrer schwächeren Position im Vergleich zu einheimischen Arbeiter:innen keine aggressiven Forderungen stellen konnten.

Doch es wäre fatal, den Roman auf dieses Jubiläum zu verkürzen. Denn die Geschichte von Aydin ist universal. Seine Niederlage ist stellvertretend für die Tragödien der Arbeiter:innen auf der ganzen Welt, die für die Profitlogik entmenschlicht und zerstört, ja schlicht geopfert werden. Und der Kampf Bayraktars gegen das Vergessen ist stellvertretend für die Rebellion der Massen gegen ihre Unterdrücker:innen, die auch darin bestehen muss, die Geschichten der Unterdrückung zu erzählen, die normalerweise nicht erzählt werden. Der Text vermag vor allem eines: Er schürt Wut auf die herrschende Klasse. Er erschafft Bilder die bleiben und die ein Sich-zur-Wehr-Setzen provozieren. Diese Wut kann stets ein neuer Beginn sein, sich gegen das System aufzulehnen, dass Aydin und so viele andere bis heute zerquetscht hat. Mit „Aydin“ hat Mesut Bayraktar einen herausragenden Roman geschaffen. Es lohnt sich, ihn zu lesen.

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Eigentlich wollte Ibrahim Bilmez gar nicht Jura studieren, mittlerweile ist er seit 18 Jahren Öcalans Verteidiger. Wir haben Bilmez zusammen mit Genoss*innen von ANF und der VVN/BdA München in Athen getroffen, am Rande der Eröffnungsveranstaltung einer Delegation aus Journalist:innen, Politiker:innen, Künstler:innen, Philosoph:innen und Aktivist:innen, die auf einem Schiff von Griechenland nach Italien reiste. Die Delegation lehnt sich symbolisch an das Jahr 1998 an. Damals reiste Öcalan – auch per Schiff – nach Neapel, wo er ebenfalls am 12. November an kam. Die mehrmonatige Flucht durch verschiedene Länder, auf der er sich damals befand, endete schließlich mit seiner Entführung durch den türkischen Geheimdienst MIT vor der griechischen Botschaft in Kenia, zu deren Verlassen er zuvor von der griechischen Regierung praktisch gezwungen wurde. Seitdem wird Abdullah Öcalan, Anführer der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei (PKK), auf der Gefängnisinsel Imrali festgehalten. Einen großen Teil der Zeit verbrachte er dort bisher in Isolationshaft und auch von seiner Familie und der Öffentlichkeit wird er immer wieder über lange Zeiträume abgeschnitten. Selbst seinen Anwält:innen wurden in der Vergangenheit immer wieder mit offensichtlichen Lügen Haftbesuche verwehrt.

Der Weg von Ibrahim Bilmez zum Verteidiger Öcalans ist lang. Aufgewachsen in Dyarbakir spricht er als Kind nur Kurdisch. Im Grundschulalter muss er dann – wie so viele andere damals – feststellen, dass seine Muttersprache an der Schule verboten ist. Die Hintergründe solcher Regeln sind für ihn als Kind noch nicht so richtig greifbar. Sein politische Bewusstsein erzählt er, bildet sich bei ihm im Jugendalter. Damals besucht er ein Internat in Izmir um dort seinen Abschluss zu machen. Hier merkt er zum ersten Mal, was es bedeutet Teil einer Minderheit in der Türkei zu sein und trifft gleichzeitig auf ältere kurdische Jugendliche, die ihn, wie er sagt „über die kurdische Frage ein wenig aufklärten“.

Kurz vor der Jahrtausendwende beginnt er dann schließlich doch mit dem Jurastudium, nachdem er Dostojewskis Schuld und Sühne gelesen hat. Im selben Jahr wird auch Abdullah Öcalan verhaftet und zunächst zum Tode verurteilt. Nach Abschaffung der Todesstrafe in der Türkei im Jahr 2005 wird das Urteil schließlich in lebenslange Haft umgewandelt. Zu diesem Zeitpunkt beschließt Ibrahim Bilmez, sein Studium möglichst schnell abzuschließen und Anwalt Öcalans zu werden. Er hatte sich, wie viele andere Kurd:innen, bereits mit seinen Büchern auseinandergesetzt und war an der Marmara-Universität in Istanbul mit der kurdischen Jugendbewegung in Kontakt gekommen. Zwei Jahre später ist es dann so weit: Nachdem er 2001 sein Studium in Istanbul abschließt, beantragt er tatsächlich, Abdullah Öcalan vertreten zu dürfen. Die Genehmigung wird ihm allerdings erst zwei Jahre später erteilt, 2004 kommt es dann schließlich zu einem ersten Treffen auf Imrali. Dieses, so Bilmez, habe sein „Leben verändert“. Für ihn sei das eine „sehr ehrwürdige Aufgabe“ gewesen, welche gleichzeitig natürlich auch mit Gefahren verbunden war.

Denn Abdullah Öcalan ist kein normaler Häftling. Wie alle politischen Gefangenen, ist auch er nicht einfach für die ihm vorgeworfenen Anklagepunkte inhaftiert, sondern fungiert als Stellvertreter in einer weitaus größeren Auseinandersetzung.

„Aber als ich ihn in Imrali von Angesicht zu Angesicht traf, auch unter den schwierigen Bedingungen dort, ist mir bewusst geworden, dass er über einen sehr starken Willen zum Frieden verfügt. Sein zentrales Anliegen ist die Lösung der kurdischen Frage. Ich habe dabei auch für mich festgestellt, dass die Verteidigung von Herrn Öcalan zugleich bedeutet, das kurdische Volk zu verteidigen. Die Herangehensweise des Staates Herrn Öcalan gegenüber spiegelt das ja auch wider. Der Umgang des Staates mit Herrn Öcalan entspricht seinem Umgang mit dem kurdischen Volk. So betrachtet, kann auch gesagt werden, dass der Staat mit dieser Herangehensweise Herrn Öcalan als legitimen Repräsentanten der Kurden sieht und anerkennt.“

Im weiteren Verlauf unseres Gesprächs wird deutlich, was unter diesen „schwierigen Bedingungen“ zu verstehen ist. Bei Ibrahim Bilmez erstem Besuch im Gefängnis wurden die vier Anwält:innen bereits vor dem Betreten der Fähre von Bursa Richtung Imrali durchsucht, inklusive ihrer Kleidung. Ein zweites Mal bei Ankunft auf der Insel und ein drittes Mal 200 Meter weiter, wie Bilmez betont. Nach den wiederholten Kontrollen, welche laut dem Anwalt in dieser Form in der Türkei eigentlich nicht zulässig seien, werden sie schließlich in das Besuchszimmer direkt neben Öcalans Zelle geführt. Zu diesem Zeitpunkt ist er der einzige Gefangene auf Imrali. Beide Räume sind in etwa 12 Quadratmeter groß, das Gespräch dauert genau 60 Minuten. Diese Erfahrung scheint Imrahim Bilmez geprägt zu haben:

„Ich möchte noch dieses Detail erwähnen: Wir waren ja wie gesagt vier Anwältinnen und Anwälte und wurden nacheinander herausgebracht. Ich war der letzte, der in dem Raum zurückgeblieben war und musste dort fünf Minuten warten. Alles war weiß und kein Geräusch drang in den Raum. Diese fünf Minuten allein in dem Raum haben mir ein wenig vermittelt, wie es ist, isoliert zu sein. Herr Öcalan hatte zu der Zeit bereits einige Jahre in solch einer Isolation verbracht“

Doch nicht nur die Haftbedingungen selbst sind menschenunwürdig. Auch der Kontakt zur Verteidigung wird von den Behörden immer wieder massiv eingeschränkt. So erzählt Bilmez, dass sie in den ersten Jahren noch regelmäßig die Gelegenheit hatten, ihren Mandanten zu sehen. Doch der 27. Juli 2011 ist bis heute der letzte Tag, an dem er selbst zuletzt von Angesicht zu Angesicht mit Abdullah Öcalan sprechen konnte. Bis 2016 stellten sie wöchentlich Besuchsanträge, welche immer wieder mit fadenscheinigen Begründungen, wie schlechtem Wetter oder einer kaputten Fähre abgelehnt wurden. Nach der Verhängung des staatlichen Ausnahmezustands als Reaktion auf den Putschversuch im selben Jahr, wurde ein offizielles Besuchsverbot per Dekret erlassen. Daraufhin tat sich in der Angelegenheit für die nächsten drei Jahre von Seiten der Behörden erst einmal gar nichts. Leider brauchte es laut Ibrahim Bilmez erst den Aufsehen erregenden Hungerstreik im Jahr 2019, welcher durch die HDP-Abgeordnete Leyla Güven angetoßen wurde und dem sich internationale Aktivist:innen, wie politische Gefangene anschlossen, um das Besuchsverbot zu durchbrechen. Insgesamt waren es laut Bilmez Tausende, welche im Kampf gegen die Isolationshaft die Nahrung verweigerten und am Ende zumindest einen Teil ihres Ziels erreichten:

„Nach all dem war der Staat gezwungen, 2019 Anwaltsbesuche zu genehmigen. Es fanden fünf Besuche statt. Wir waren vier Anwältinnen und Anwälte, die Besuchsanträge gestellt haben, darunter zwei neue. Die Genehmigung gab es jedoch nur für die beiden neuen Unerfahrenen. Seitdem gab es keine weiteren Treffen mit Herrn Öcalan mehr.“

Durch die erneute Abschottung von der Öffentlichkeit entstanden im März 2021 Gerüchte, Abdullah Öcalan sei nicht mehr am Leben. Daraufhin gab es internationale Proteste und die Forderung eines Lebenszeichens. Anwalt Bilmez erzählt, dass es daraufhin ein Telefongespräch zwischen dem Inhaftierten und seiner Familie gegeben habe, was jedoch bereits nach drei Minuten unterbrochen wurde. Auch zu drei weiteren Gefangenen, welche 2009 nach Imrali gebracht wurden, bestehe kein Kontakt, sie seien vollständig isoliert.

An diesem prominenten Beispiel zeigt sich, wie der türkische Staat mit seinen politischen Gegner:innen umgeht: Sie werden oft aufgrund von absurden Vorwürfen zu langen Haftstrafen verurteilt und sowohl vor Gericht, als auch im Gefängnis ihrer grundlegenden Rechte beraubt. Auch Ibrahim Bilmez und circa 40 weitere Anwält:innen mussten das vor zehn Jahren am eigenen Leib erfahren. Sie wurden festgenommen, er selbst saß daraufhin zweieinhalb Jahre im Gefängnis. Seitdem ist er wieder frei, doch das Verfahren läuft noch – ihm drohen bis zu 25 Jahre Haft. „Das wird uns aber nicht daran hindern, weiterhin Herrn Öcalan zu verteidigen“, so Bilmez. Im Gespräch wird deutlich, wie viel Gewicht sowohl er, als auch viele andere Menschen Abdullah Öcalan bei der Lösung der Kurdenfrage beimessen. Kein Wunder, angesichts dessen, dass er auch aus dem Gefängnis heraus noch Bücher geschrieben und auf das politische Geschehen eingewirkt hat.

Auf die Frage, ob er Hoffnung habe, dass Öcalans Freilassung tatsächlich durch öffentlichen Druck erfolgen erreicht werden könnte, antwortet Bilmez uns:

„Ich habe eben nicht grundlos erwähnt, dass der türkische Staat Herrn Öcalan eigentlich als wichtigen, wenn nicht sogar den wichtigsten Akteur in einer Lösung der kurdischen Frage betrachtet. Man weiß, dass Herr Öcalan sowohl den Freiheitswillen als auch die Kraft der Kurdinnen und Kurden repräsentiert. (Er) hat lange vor seiner Zeit auf Imrali seit 1993 immer wieder Initiativen für den Frieden eingeleitet, zum Beispiel durch mehrere einseitige Waffenstillstände vonseiten der PKK. Er wollte auch die Zeit und Situation auf Imrali für den Frieden nutzen und versuchte, seine Inhaftierung in eine Chance für die Lösung der kurdischen Frage zu wenden.(…) Eines möchte ich an dieser Stelle nochmals betonen, und ich habe mir ja persönlich einen Eindruck machen können: Ein Leben auf Imrali zu führen, ist eine unvorstellbare Herausforderung und unmenschlich. Herr Öcalan nutzt sie, nur um die kurdische Frage zu lösen. Er hätte anfangs einen ganz anderen Weg bestreiten können. Er hat jedoch beschlossen, für den Frieden auf Imrali zu überleben. Um auf die Antwort Ihrer Frage zu kommen: Herr Öcalan hat stets versucht, den ganzen Prozess und die Situation auf Imrali in Mittel und Möglichkeiten für eine Lösung zu verwandeln. Seine Verteidigung war immer politisch (…). Er hat sich nicht rechtlich bzw. mit juristischen Mitteln verteidigt, sondern sah seine Situation immer als Ausdruck der kurdischen Frage. Er sprach immer als Repräsentant des kurdischen Volkes, das hat er sowohl vor Gericht als auch in seinen Verteidigungsschriften, die dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vorgelegt wurden, getan. Darin bat er immer wieder auch Lösungsmöglichkeiten an. In seinen Verteidigungsschriften unterstreicht er ja selbst, dass sein Fall ein politischer ist, der auch nur politisch gelöst werden kann. Daher denke ich, dass die Öffentlichkeitsarbeit und politische Kampagnen wie diese für die Freiheit von Abdullah Öcalan eine große Bedeutung haben und bei der Lösung der kurdischen Frage eine wichtige Rolle spielen.“

Anhand der Inhaftierung Abdullah Öcalans – aber auch vieler anderer politischer Gefangener weltweit – zeigt sich immer wieder, dass Gesetze keinem universellen Recht entspringen, sondern ihre Durchsetzung und Auslegung genauso wie der Wille zur Repression immer den aktuellen politischen Geschehnissen unterworfen sind. Auch mit Bilmez sprechen wir noch einmal über die Frage der Gerechtigkeit. Er antwortet, dass es seiner Meinung nach „keine tatsächliche Gerechtigkeit auf der Welt“ gebe, sondern diese aus der Gesellschaft heraus geschaffen werden müsse:

„Eine gerechtere Welt zu schaffen, liegt nicht in der Hand von Staaten, sondern in denen der Menschen und Völker und ihrer Kämpfe dafür.“

Zum Abschluss sprechen wir über seinen persönlichen Eindruck von Abdullah Öcalan, der Millionen Menschen auf der Welt mit seinen Ideen und Schriften geprägt hat und der einer der wenigen weltweit ist, die auch nach 22 Jahren Gefangenschaft und Isolation noch so präsent gehalten werden. Ibrahim Bilmez erinnert sich an ihre erste Begegnung:

„Er schien mir wie ein Löwe oder Panther, den man in eine Zelle gesperrt hatte. Er strahlte einen sehr starken Willen und keinerlei Angst aus. Sein einziges Streben ist die Befreiung der Kurdinnen und Kurden und die Lösung der kurdischen Frage. Ich denke, er spürt eine große Last an Verantwortung auf seinen Schultern, weil tausende junge Menschen gestorben sind, und es sterben täglich weitere. Er will, dass dieses Sterben aufhört.“

Das gesamte Interview kann auf ANF nachgelesen werden

# Titelbild: lowerclassmag

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Häusliche, öffentliche, staatliche, körperliche, sexualisierte, verbale, psychische. Patriarchale Gewalt hat viele Gesichter und ist dabei immer eines: Politisch und systematisch. Sie dient der Aufrechterhaltung der patriarchalen Ordnung.

Durch Gewalt sollen unser Wille gebrochen und unsere individuellen sowie kollektiven Kämpfe für Selbstbestimmung angegriffen werden. Gewalt soll uns voneinander isolieren, schwächen, und uns machtlos und allein fühlen lassen. Sie tötet und treibt in den Suizid.

Nicht nur einzelne Individuen beteiligen sich an ihr. Es ist ein System: Staaten, die über unsere Körper bestimmen wollen; Kapitalismus und Rassismus, der unsere Körper ausbeutet und objektifiziert; Faschisten und Neonazis, die gezielt Frauen und queere Menschen bedrohen und angreifen; Prominente und Reiche, die über Jahre ihre Macht missbrauchen und damit davonkommen; oder aber auch die patriarchale Justiz, durch die Täter oft keine Konsequenzen befürchten müssen.

Der 25. November, der internationale Kampftag gegen patriarchale Gewalt, geht zurück auf die Ermordung der Schwestern Patria, Minerva und María Mirabal, die an diesem Tag im Jahr 1960 auf Befehl des dominikanischen Diktators Rafael Trujillo (der wohlgemerkt auch ein Missbraucher von Mädchen und Frauen war) ermordet wurden. Die Schwestern waren Teil der kommunistischen Agrupación política 14 de junio, einer revolutionären Gruppierung, die den Sturz des Diktators plante. Nach einem Gefängnisbesuch wurden sie überfallen und erdrosselt. 21 Jahre danach – also vor 40 Jahren – wurde der 25. November zum Gedenk- und Aktionstag gegen Gewalt an Frauen erklärt.

Patriarchale Gewalt ist heute nicht „noch immer“, sondern „erst recht“ aktuell in Zeiten von Pandemie, zunehmender Ausbeutung und Krieg. Einige Ebenen dieser Gewalt sind Femizid, sexualisierte, staatliche und psychische Gewalt, die in diesem Text beleuchtet werden sollen.

Jeden Tag werden weltweit Hunderte Femizide begangen, also Morde an Frauen, weil sie Frauen sind. Das hat Aktivist*innen auf der ganzen Welt dazu veranlasst, sich unter dem Slogan Ni Una Menos („Nicht eine weniger“) zu Massenbewegungen zusammenzuschließen und feministischen Widerstand und Selbstverteidigung zu organisieren. Denn Femizid ist eine der sichtbarsten Formen patriarchaler Gewalt. Bei jedem Fall wird uns bewusst: Das hätte eine Freundin, Schwester, Nachbarin oder auch ich sein können.

In etwa zwei von drei Fällen ist der Täter ein (Ex-)Partner oder Familienmitglied. Femizide und andere Formen patriarchaler Gewalt sind jedoch niemals Privatsache. Feminist*innen kritisieren schon lange das mediale Framing von Femiziden als „Beziehungstat“, „Familiendrama“ oder „Eifersuchtsdrama“ – denn durch solche Bezeichnungen entsteht der Eindruck, es handle sich um die Brutalität eines einzelnen Täters. Dabei zieht sich die Gewalt durch sämtliche Ebenen des Lebens und wird durch das kapitalistische patriarchale System begünstigt und gefördert.

Abkommen wie die Istanbul-Konvention verpflichten die Unterzeichnerstaaten zur Ergreifung bestimmter Maßnahmen, um Femizide und patriarchale Gewalt zu vermindern. Jedoch ist unklar, was solche Maßnahmen versprechen sollen, wenn gleichzeitig ebendiese Staaten beispielsweise feministische Aktivist*innen und Bewegungen kriminalisieren, Opfer von Gewalt im Stich lassen und verhindern, dass Betroffene sich verbünden und verteidigen. Mit der Türkei ist in diesem Jahr der erste Staat aus dem Abkommen zurückgetreten – unter anderem mit der Begründung, es gefährde die „familiären Werte“ des Landes und „normalisiere die Homosexualität“. Auch wenn der Austritt die Situation für Betroffene drastisch verschlimmern könnte, haben die letzten Jahre gezeigt, dass die Istanbul-Konvention nie ein Hindernis für die Türkei dargestellt hat, Täter zu schützen, feministische Demos mit brutaler Polizeigewalt anzugreifen oder durch Invasionen in Rojava die Errungenschaften der Frauenrevolution und der autonomen Frauenbewegung anzugreifen. Das Land betreibt – sowohl innen- als auch außenpolitisch – eine femizidale Politik. Das Beispiel Türkei führt uns besonders deutlich die Notwendigkeit von autonomer feministischer Organisierung jenseits des Staates vor Augen. Das trifft auch auf eine weitere Ebene patriarchaler Gewalt zu – sexualisierte Gewalt und rape culture.

Rape culture bezeichnet eine Mentalität und gesellschaftliche Struktur, die sexualisierte Gewalt normalisiert und fördert, die Schuld bei den Opfern sucht und Täter in Schutz nimmt. Rape culture erleichtert es Tätern die Schuld von sich zu weisen, während Betroffenen vorgeworfen wird, sie würden lügen, Aufmerksamkeit suchen oder hätten es nur darauf abgesehen, dem Täter „das Leben zu ruinieren“. Der Fall Luke Mockridge oder auch die wichtige Debatte, die in diesem Jahr dank #deutschrapmetoo und Nika Irani angestoßen wurde, haben noch einmal verdeutlicht, wie tief Frauenfeindlichkeit und Sexismus in der deutschen Gesellschaft sitzen. Betroffene und Aktivist*innen wurden massiv angefeindet und mit Vorwürfen wie den oben genannten bombardiert. In so einer Atmosphäre ist es kein Wunder, dass die meisten Betroffenen ihre Erlebnisse nicht öffentlich machen, nicht darüber sprechen und auch keine Anzeige erstatten – aus Angst, dass ihnen nicht geglaubt wird, dass sie selbst dafür beschuldigt und angefeindet werden, und dass Konsequenzen am Ende sowieso ausbleiben, weil „keine Beweise“. Es versteht sich fast von selbst, dass Staat und Polizei auch hier keine Helfer oder Verbündeten sind, sondern selbst Teil der patriarchalen Struktur.

Aber auch in der Linken geschieht sexualisierte Gewalt – wo sie oftmals totgeschwiegen wird, um „der Sache nicht zu schaden“. Besonders da wird deutlich: Selbst ein cis Mann, der sich für noch so links und revolutionär hält, profitiert von seiner Position im Patriarchat und ist potenziell bereit, diese Position zu missbrauchen. Nicht selten decken cis Männer einander und schweigen zum Verhalten ihrer „Genossen“. Auch hier wird besonders spürbar, dass es autonome feministische Strukturen braucht, um mit dem Patriarchat zu brechen und sich durch cis Männer nicht spalten zu lassen.

So macht es etwa die Frauenbewegung in Rojava bzw. Nord- und Ostsyrien vor, deren revolutionäre Errungenschaften nun unmittelbar durch türkische Besatzer bedroht werden. Hier offenbart sich uns eine weitere Ebene patriarchaler Gewalt offenbart: Nämlich jene die von Staat, Polizei und Militär ausgeht. Staatliche Gewalt selbst ist in ihrem Charakter zutiefst patriarchal und basiert traditionell auf der Verknüpfung von Männlichkeit, Militär und der Verteidigung des „Vaterlandes“, a.k.a die Verherrlichung von Krieg, Invasionen, Imperialismus und Nationalismus. Besatzung und Gewalt werden beschönigt und als Teil einer „ehrenhaften“ patriotischen Mission präsentiert, für die es angeblich in Ordnung ist, Opfer zu bringen und zu töten. In dem Glauben, die „Nation zu verteidigen“, werden ganze Bevölkerungsgruppen entmenschlicht und die Brutalität von Militarismus und Krieg trifft Frauen ganz besonders. Sie leiden unverhältnismäßig unter der durch Kriege ausgelösten Gewalt, Verfolgung, Flucht und Ausbeutung.In jedem Krieg und in jeder Besatzung sind Frauen, Queers und Minderheiten die primären Leidtragenden. Insbesondere sexualisierte Gewalt wird gezielt eingesetzt, um Gemeinschaften und ihren Widerstand zu brechen. 

Gleichzeitig bilden genau diese Gruppen aber auch die potenziell radikalste Kraft für gesellschaftlichen Umbruch und Frieden und sind deshalb den Angreifern ein Dorn im Auge. Frauenrechtler*innen und feministische Aktivist*innen werden nicht zufällig ermordet. Ob Frozan Safi in Afghanistan oder Hevrîn Xelef in Kurdistan, Marielle Franco in Brasilien oder die Schwestern Mirabal – ihre Ermordungen waren immer gleichzeitig auch politische Botschaften, gezielte Angriffe auf die Widerstände aller Frauen und Feminist*innen, und nicht zuletzt Einschüchterungsversuche. Dasselbe gilt für Repressionen und Kriminalisierung, von denen insbesondere nicht-weiße Frauen und queere Menschen betroffen sind.

Eine weitere Ebene patriarchaler Gewalt bilden Eingriffe in unsere körperliche und sexuelle Selbstbestimmung. So etwa die verschärften Abtreibungsgesetze bzw. -verbote wie jetzt in Texas oder in Polen, die sichere Schwangerschaftsabbrüche erschweren bzw. unmöglich machen. Solche Gesetze gefährden das Leben von Schwangeren und haben bereits erste Todesopfer gefordert, wie erst vor kurzem im Fall der 30-jährigen Izabela S. in Polen. Obwohl klar war, dass der Fötus in ihrem Bauch nicht überlebensfähig war, halfen ihr die Ärzt*innen nicht, woraufhin sie an einem septischen Schock verstarb. Restriktive Abtreibungsgesetze erhöhen auch die Zahl unsicherer Schwangerschaftsabbrüche, an deren Folgen jährlich Zehntausende ungewollt Schwangere sterben. Todesfälle, die mit dem Zugang zu legalen, sicheren Schwangerschaftsabbrüchen hätten verhindert werden können und die nicht nur Mängeln in der Gesundheitsversorgung, sondern einer konservativen Mentalität und einem patriarchalen System entspringen, das Abtreibungen kriminalisiert, stigmatisiert und erschwert.

Dass staatliche Angriffe gegen die körperliche Selbstbestimmung eine Form patriarchaler Gewalt sind, zeigt sich auch an der enormen Gewalt gegenüber trans Menschen in Form von Verfolgung, Kriminalisierung, Hassverbrechen, oder Schikane durch etwa staatliche Behörden. Die täglichen körperlichen und verbalen transfeindlichen Übergriffe enden mitunter tödlich. Besonders betroffen sind trans Frauen. Erst vor wenigen Monaten verbrannte sich Ella N., eine trans Frau, die zuvor wegen Verfolgung aus dem Iran geflohen war, mitten auf dem Berliner Alexanderplatz, nachdem sie jahrelanger Schikane seitens der deutschen Ämter ausgesetzt war, als sie versuchte, hier Asyl zu bekommen und ihre Transition zu vollziehen. Auch diese Fälle sind Formen patriarchaler Gewalt, ausgelöst durch Angriffe gegen die körperliche Selbstbestimmung und das gewaltsame Aufzwingen binärer Geschlechtervorstellungen im Sinne der patriarchalen Ordnung.

Nach wie vor versucht der Staat in unsere Körper und unsere Gedanken einzugreifen. Es ist eine Illusion zu glauben, kapitalistische Staaten würden uns nach und nach mehr Freiheiten und Rechte zusichern. Vielmehr verschleiert der Staat seine Kontrolle, indem er uns neoliberale Konzepte von Freiheit verkauft, während auf der anderen Seite Ausbeutung, Kriminalisierung und staatliche sowie patriarchale Gewalt überall stetig zunehmen. Dazu gehört auch psychologische Gewalt.

Die kurdische Frauenbewegung benutzt oft den Begriff „Spezialkrieg“, um die Methoden zu beschreiben, mit denen Staat und Kapitalismus Widerstand unterdrücken bzw. Menschen (und insbesondere Jugendliche) enger an das System binden wollen, damit sie gar nicht erst widerständig werden. Auch was feministischen Widerstand betrifft hält der Neoliberalismus seine „Alternativen“ bereit. Anstatt Feminismus zu verteufeln, werden feministische Ideen in oberflächlicher Form übernommen und kommerzialisiert. Slogans werden von der Straße genommen und auf Waren gedruckt, kämpferische Begriffe und Konzepte werden ihrem Sinn beraubt. So entsteht der Eindruck: „Hey, sogar H&M druckt jetzt feministische Sprüche auf T-Shirts, dann sind wir ja gar nicht mehr weit vom Ziel entfernt“ – dabei ist genau das Gegenteil der Fall. Denn auf allen Ebenen intensiviert sich die Gewalt und Ausbeutung. Das gilt auch für den Westen, wo das reale Ausmaß patriarchaler Unterdrückung oft im Verborgenen bleibt, weil hier gerne so getan wird, als hätten Frauen es vergleichweise noch ganz gut „im Gegensatz zu anderen Regionen“. So wird der Status Quo normalisiert und außerdem suggeriert, patriarchale Unterdrückung und Ausbeutung seien so gut wie beseitigt.

Diese und andere Formen psychologischer Gewalt sind im Alltag verankert und begegnen uns jeden Tag. Auch verbale Gewalt, Belästigung, Stalking, Erniedrigung, sowie wirtschaftliche Abhängigkeit, Ausbeutung und Verarmung gehören dazu. Kurz gesagt alles, was Betroffene psychisch schwächt, sie in Hoffnungslosigkeit und Ausweglosigkeit verfallen lässt und verhindert, dass sie sich gegen Gewalt zur Wehr setzen und organisieren. Im aktivistischen Zusammenhang ist es deshalb unumgänglich, sich auch mental und emotional gegen das Patriarchat zu verteidigen, indem man sich von den Einflüssen der sexistischen Gesellschaft befreit.

Viele Punkte wurden in diesem Text angerissen, und doch sind zahlreiche Aspekte noch unerwähnt geblieben. Häusliche Gewalt, Zwangsheirat, Zwangsabtreibung, Genitalverstümmelung (FGM), Zwangsprostitution und Menschenhandel sind nur einige weitere Beispiele von vielen. Das Ausmaß patriarchaler Gewalt ist zu enorm als dass es in so wenigen Zeilen abgebildet werden könnte und jede Art von patriarchaler Gewalt verdient eine eigene Analyse und Kampfstrategie. Was jedoch alle Beispiele verdeutlichen und worüber sich revolutionäre Feminist*innen einig sind, ist, dass sie tief im System verankert und niemals eine private Angelegenheit ist. Daher muss sie auch dementsprechend bekämpft werden – kollektiv, organisiert und radikal.

Anm. d. Red:
Demonstration zum Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen*
am 25.11.2021 um 18 Uhr vor dem Eastgate-Center (S-Bahnhof Marzahn)

#Foto: Wikimedia Commons

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Die Europäische Union wird, das will sie uns glauben machen, wieder einmal erpresst. Im polnisch-belarusischen Grenzgebiet harren etwa 3500 Menschen ohne humanitäre Versorgung aus. Beim Versuch, die Grenze zu überwinden, werden sie von den inzwischen 20.000 Mann starken Grenztruppen bei Minusgraden mit Wasserwerfern beschossen. Die selben Grenzer blockieren medizinische Hilfe, Nichtregierungsorganisationen berichten von geheimen Hilfsaktionen im Grenzgebiet, wo sie auf frierende, hungernde und dehydrierte Menschen treffen und sie in aller Eile versorgen. In der Zwischenzeit verlassen die Ersten das Gebiet freiweillig Richtung Irak.

Es ist alles so wie vor knapp zwei Jahren. Ende Februar 2020 öffnete der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan unter großen Ankündigungen die Grenzen für Geflüchtete aus Syrien und Afghanistan. Tausende machten sich auf den Weg Richtung Griechenland, teilweise wurden sie mit Reisebussen aus dem Landesinneren an die Grenzen gebracht, wohl unter dem Versprechen, endlich in die EU einreisen zu können. Es folgten Tränengas, Schlagstöcke, Gummigeschosse. Und es folgten Krisengespräche. Die Grenzen auf türkischer Seite gingen einen Monat später wieder zu und fast eine halbe Milliarde Euro flossen nach Ankara. So einfach war das.

Was will Lukaschenko? Wie Erdoğan hat er natürlich ökonomische Interessen. Die im Juni diesen Jahres beschlossenen Sanktionen gegen Belarus sollen beendet werden. Während man bei Erdoğan mit viel Verständnis reagierte und seinen Zug als „Hilferuf“ betrachtete, wird jetzt bei Lukaschenko zu den Waffen gerufen.

Das Argument der wirtschaftlichen Last für die Türkei, mit dem diese unterschiedliche Behandlung gerechtfertigt wird, ist in Anbetracht des sogenannten Flüchtlingspaktes hinfällig. Die EU hat bisher fast sieben Milliarden Euro an die Türkei gezahlt. Die türkische Regierung gibt an, die Versorgung der knapp vier Millionen Geflüchteten hätte sie 40 Milliarden Dollar gekostet, eine Behauptung, die sich nicht überprüfen lässt und für jeden, der über die Thematik halbwegs im Bilde ist, absurd anmutet.

In dem Land gibt es keine Sozialhilfe- oder Pflegeversicherung – nicht einmal für Staatsbürger. 2018 lebten vier Prozent der Geflüchteten in Lagern, inzwischen sind es sogar nur noch 1,7%. Anspruch auf staatliche Unterbringung oder Zugang zu Sozialwohnungen haben sie nicht. Die Milliarden, die die EU für die Versorgung der Geflüchteten zahlt, werden derweil anderweitig eingesetzt. Das Asylum Information Database (AIDA) berichtet in einem Report von 2018, dass EU-Gelder, die für Geflüchtetenunterkünfte gezahlt wurden, stattdessen für den Bau hochmoderner Abschiebezentren ausgegeben wurden. Ein von der Organisation Pro Asyl in Auftrag gegebenes asylrechtliches Gutachten kommt zu dem Ergebnis: Schutzsuchende haben in der Türkei keine Versorgung und keine Perspektive, es handelt sich um keinen sicheren Drittstaat.

Nun lässt sich die EU nicht etwa von Erdoğan veralbern, natürlich handelt man in Brüssel im vollen Bewusstsein über all diese Tatsachen. Dass man dem NATO-Partner durchgehen lässt, was Belarus gegenüber zu Kriegsandrohungen führt, darf nicht überraschen. Die Leidtragenden dieser offen zur Schau gestellten Doppelmoral sind auf beiden Seiten die Geflüchteten: in der Türkei leben sie unter prekären Bedingungen, haben so gut wie keinen Zugang zur Gesellschaft und werden zunehmend angefeindet. In Belarus harren sie an der Grenze aus, werden krank, erfrieren, verdursten.

Lukaschenko und Erdoğan handeln perfide und menschenverachtend, wenn sie unter Ausnutzung der rassistischen europäischen Abschottungspolitik wissentlich Menschenleben gefährden. Die EU handelt perfide und menschenverachtend, wenn sie sich im Wissen der lebensgefährlichen Lage der Geflüchteten weiterhin abschottet. Es ist falsch, irgendeiner Seite die moralische Oberhand zuzusprechen. Denn sie alle nehmen für ihre geopolitischen Interessen eines billigend in Kauf – das Elend unschuldiger Männer, Frauen und Kinder.

# Titelbild: Alexander Lukaschenko und Recep Tayyip Erdogan, Quelle: BelTA, https://deu.belta.by/politics/view/erdogan-gratuliert-lukaschenko-zum-wahlsieg-51897-2020/

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Am Sonntag den 24. Oktober erreichte die türkische Lira ein Rekordtief und mit Bange beobachtete die Bevölkerung des Landes wie ihre wirtschaftliche Situation sich wieder ein Stück weiter verschlimmerte. Aber nicht allen geht es so – für viele andere ist der politisch-mediale Apparat des faschistischen türkischen Staates nämlich wieder so effektiv, dass kaum eine Minute bleibt, um an Inflation und eine horrende Suizidrate aufgrund von Armut im Land zu denken, denn die weitere rechtsnationalistische Sau muss durch das Land gejagt werden. So wurden kürzlich beispielsweise Verfahren und sogar sofortige Abschiebebefehle gegen mehrere syrische Flüchtende ausgesprochen, die „provokativ“ Bananen auf social media aßen, nachdem sich ein türkischer Bürger auf Social Media darüber beschwerte, dass die durchschnittliche türkische Person sich diese im Gegensatz zu den Geflüchteten nicht leisten könne. In Denizli beging wieder einmal ein Mann einen Femizid an seiner Ex-Freundin und wieder einmal wird in den Kommentarspalten darüber diskutiert, was die Frau alles gemacht haben muss, um den Mann so provoziert zu haben. Und schließlich beschloss das türkische Parlament öffentlichkeitswirksam, dass sowohl die militärischen Einsätze in Syrien als auch im Irak um zwei Jahre verlängert werden sollen – gemeint ist natürlich der vermeintliche Krieg gegen die PKK. Wieso man sich Bananen nicht leisten können sollte, wieso FLINTA* Personen täglich sterben müssen, wieso das kurdische Volk bei jeder noch so kleinen Gelegenheit vernichtet werden muss, das fragen sich die wenigsten in einem Land, wo vor allem eins intersektional ist: Das Elend und die Krisen.

Es gibt viele Gründe anzunehmen, dass in Konsequenz dieser parlamentarischen Entscheidung eine größere neue Militäroffensive in Rojava von Seiten der Türkei ansteht. Genau wie bei den Operationen Euphrates Shield 2016/2017, Olive Branch 2018 (bekannter als der Krieg um Afrin) und Peace Spring (eine böswillige Untertreibung der ethnischen Säuberungskampagne zwischen Girespi und Serekaniye im Herbst 2019) werden sowohl türkische Luftkräfte, türkische Spezialkräfte am Boden und eine Horde an islamistischen Schergen der SNA (Syrian National Army, ehemals bekannt unter FSA/TFSA) mobilisiert. Dabei ist man sich nach wie vor nicht zu schade vormalige IS oder al-Kaida Kräfte mit einzubinden, wie der Sprecher des SDF Medienzentrums, Farhad Shami, feststellt.

Diesmal sieht es so aus, als würde die Türkei weiter ihrem Projekt nachkommen, die Verbindung zwischen den größeren Gebieten Rojavas zu kappen, wie auch schon zuvor geschehen. Afrin konnte die Türkei erfolgreich durch die Operation Euphrates Shield isolieren, um sich so auf die Einnahme des Gebiets vorzubereiten. Und auch der Vorstoß in Girespi und Serekaniye im Jahr 2019 lief vor allem darauf hinaus, das Gebiet bis zum M4 Highway (der Schnellstraße, die alle wichtigen Städte entlang der syrisch-türkischen Grenze verbindet) einzunehmen. Damals musste die türkische Armee den Highway nach einigen Wochen wieder freigeben, weil auch alle anderen Kräfte, unter anderem die russischen und US-amerikanischen, über diesen verkehrten. Doch ein strategisches Auge hat der NATO-Partner weiterhin darauf geworfen – besonders auf die am Highway gelegene Stadt Ain Issa, die südwestlich vom durch die Türkei besetzten Girespi (arabisch: Tel Abiyad) liegt.

In Ain Issa sammeln sich mitunter einige der wichtigsten Strukturen der Syrisch Demokratischen Kräfte (SDF) und wer etwa vom Nordosten also von Qamishlo oder Heseke nach Kobani will, muss durch diese Stadt hindurch. Man kann also davon ausgehen, dass die nächste größere türkische Operation genau dieses tendenziell abgehängte Glied Rojavas einnehmen und vor allem Kobani isolieren will – ein militärischer und vor allem symbolischer Vorstoß, der ohne Gleichen wäre. 

In der Region Kurdistan (KRI) im Irak, wo der türkische Drohnenkrieg gegen die kurdische Bevölkerung allerhöchstens zum Eklat von Gare führte, konnte hingegen noch kein symbolischer Sieg errungen werden, der ausreichend von den eigenen Krisen ablenken könnte. Während die Türkei mit allen Mitteln die gesamte Grenzregion zwischen dem Irak bzw. der KRI und der Türkei mit Drohnen und Giftgas bombardiert und ganze Waldflächen rodet, fliegt sie mittlerweile bis in das östlich von Kirkuk gelegene Chamchamal Drohnenangriffe gegen vermeintliche PKK-Stellungen. Besonders zugute kommt der Türkei eine schwache PUK – Jene Partei, welche im Osten der KRI das Sagen hat und durch interne Machtkonflikte enorm an Kraft verlor. Der bis dato mächtigste Mann der PUK, Lahur Sheikh Jangi, der als im weitesten Sinne als PKK-freundlich gilt, wurde infolge dieser Auseinandersetzungen seines Amtes enthoben. Zwischenzeitlich war sogar die Rede davon, ihn des Landes zu verweisen. Kurz nach diesen schicksalshaften Tagen hagelte es in der sonst sicheren und eher links eingestellten Stadt Sulaimaniya Kugeln. Mehrere PKK-Kader wurden getötet, darunter Yasin Bulut. Die türkischen NATO-Truppen bombardieren in Südkurdistan also weiterhin so gut wie alle Gebiete und dank dem erneuten Parlamentsmandat ist kein Ende dieser Kampfhandlungen in Sicht. Besonders makaber in diesem Kontext: Nur wenige Tage nach der Entscheidung des türkischen Parlaments postet die Twitter-Seite der NATO einen Ehrentweet an den NATO-Alliierten Türkei um mit ihnen den Nationalfeiertag zu zelebrieren. 

Wie gegen Ende des Jahres die Sicherheitslage der Kurd*innen im Irak aussehen wird, ist absolut unklar. Denn bis auf Weiteres sollen alle US-Truppen das Land verlassen, wie Präsident Biden schon im Juli nach Absprache mit Ministerpräsident Mustafa al-Kadhimi ankündigte. Das irakische politische Establishment hat wiederholt keinerlei Einspruch gegen das kilometerweite Eindringen der Türkei geäußert und mit einem Ende der US-Präsenz und somit einem Vorteil für den Iran und iranische Milizen gibt es keinen Grund anzunehmen, dass die Region Kurdistan von freundlichen Kräften umzingelt und besetzt sein wird. Ein Szenario, in dem die KRI weiter von türkischen NATO-Drohnen bombardiert und gleichzeitig von iranischen Raketen angegriffen wird, ist nicht besonders unwahrscheinlich. Es zeichnet sich ab, dass 2022 das Jahr des Überlebenskampfes der Region Kurdistan wird. Dafür sprechen nicht zuletzt die Rekordzahlen an flüchtenden Kurd*innen aus der KRI, die vor allem gerade an der polnisch-belarussischen Grenze feststecken. Denn zwischen der Korruption von KDP und PUK sowie dem fortwährenden Vernichtungskrieg der Türkei bleibt für die Zivilbevölkerung kaum eine Alternative. Und so nehmen viele eher den Tod auf der Fluchtroute in Kauf, als weiter dort im Elend zu leben.

An der vermutlich künftigen Koalition der Bundesregierung ist allerdings nur ihre Farbkombination pro-kurdisch, denn zum Thema Türkeipolitik hüllt man sich in Ampelkreisen in Schweigen. Nachdem Erdogan fast ohne Konsequenzen die Ausweisung verschiedener Botschafter*innen, unter anderem des Deutschen, verlangte und auch dies in Deutschland höchstens Mahnungen zur Besonnenheit hervorgerufen hat, gab es keinerlei weitere Statements zum Kameraden vom Bosporus. Gerade in bei SPD und Grünen begnügt man sich damit, politisch akzeptierte Oppositionelle wie Can Dündar oder Osman Kavala mit Phrasen  – oder mit einem netten Abendessen, wenn sie denn nun frei sind – zu beehren, anstatt sich wirklich zur Vernichtungspolitik der Türkei gegen Kurd*innen oder Armenier*innen zu positionieren. Man feiert 60 Jahre Gastarbeiter*innenabkommen, aber schweigt zur allgegenwärtigen Kriminalisierung kurdisch-linker und türkisch-linker Organisationen in Deutschland.

Vielleicht eint das Deutschland und die Türkei also am meisten: Während ökonomische Krisen, fundamentale Verteilungsfragen, tägliche Femizide und vieles mehr die Systemfrage hervorrufen sollten, vergnügt man sich lieber mit besonders emotionalisierten und symbolischen Debatten. So kann man leider davon ausgehen, dass die sich anbahnende neue Militäroffensive nicht die geringsten Reaktionen in den Kreisen des deutschen politischen Establishments auslösen wird. So wenig man mit diesen rechnen kann, so wenig sollten sie ein Standard politischen Handelns sein. Die nächsten Monate müssen vor allem dafür genutzt werden auf allen Ebenen Widerstand gegen den Vernichtungskrieg der NATO in Kurdistan – an allen Fronten – zu leisten. Sowohl in Südkurdistan als auch in Rojava geht es um nichts weniger, als um den Überlebenskampf der einzigen existierenden kurdischen Autonomieregionen – ihnen und vor allem ihrer Bevölkerung sollte nichts als grenzenlose Solidarität gelten.

#Bildquelle: ANF

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