Feminizide in der Türkei: Der Staat führt Krieg gegen die Frauen

8. September 2020

In der Türkei und Nordkurdistan kommt es täglich zu Femiziden, patriarchal motivierten Morden an Frauen. In mehr als der Hälfte der Fälle ist gesichert, dass den Morden eigenständige Entscheidungen der Opfer vorangingen. Eine banale Entscheidung über ihr eigenes Leben zu treffen, eine Scheidung oder die Weigerung, mit einem Mann eine Beziehung zu beginnen, ist der meist der angegebene „Grund“. Nach Angaben der Plattform „Wir werden Frauenmorde stoppen“ (Kadın Cinayetlerini Durduracağız Platformu, Abkürzung: KCD) handelt es sich in mehr als 90 Prozent der Fälle, bei den Tätern um Männer aus dem engsten Umfeld der getöteten Frauen: „Ehemänner“, Freunde, Expartner oder männliche Verwandte.

Unter dem Deckmantel der „Maßnahmen zur Eindämmung der Coronapandemie“ sind im Frühjahr einschlägig verurteilte Gewalttäter in den Genuss von Haftverschonungen gekommen. Politische Gefangene, darunter Mütter mit kleinen Kindern und Erkrankte, mussten dagegen weiter im Gefängnis bleiben. „Die Pandemie wurde ausgenutzt, um über das neue Vollzugsgesetz Gewalttäter freizulassen“, heißt es in der Erklärung der KCD.

Am Freitag den 28. August 2020 brach zudem ein Mann in der kurdischen Großstadt Amed (türkisch: Diyarbakır) aus dem Gefängnis aus und ermordete seine 29-jährige Ehefrau Remziye Yoldaş. Allein in diesem Jahr ist das der achte Femizid in Amed. Zwei der Femizide wurden von Männern begangen, die im Zuge der Corona-Amnestie freigelassen wurden.

Die 18-jährige Ipek Er wurde von dem türkischen Unteroffizier Musa Orhan 20 Tage lang festgehalten, vergewaltigt und in den Suizid getrieben. Der Mörder genießt nun die Straflosigkeit, die von der türkischen Regierung gewährt wird. In den sozialen Medien wurde unter dem Hashtag #MusaOrhanTutuklansin die erneute Verhaftung des Täters gefordert.

Die 17-jährige N.A. aus Wan (türk. Van) floh vor häuslicher Gewalt in ein Kinderheim. Bei ihrer Aussage kam heraus, dass sie im Alter von 16 Jahren sowohl vom türkischen Offizier T.A. als auch von einer Person namens A.P. sexuell missbraucht worden war. Gegen letzteren wurde ein Haftbefehl ausgestellt, der Militär bleibt straflos.

AKP-MHP-Regierung ermutigt Täter

Diese Politik schlägt sich in einer steigenden Zahl von Entführungen von Frauen, Vergewaltigungen und patriarchaler Gewalt in Kurdistan nieder.

Durch die außergewöhnlichen Umstände in der Corona-Pandemie sind die Femizide gestiegen. Die Covid19-Maßnahmen verursachten Schwierigkeiten für Frauen, die unter häuslicher Gewalt gelitten haben, weil sie mit ihren Partnern/Ehemännern durch die teilweise verhängten Ausgangssperren zuhause in Quarantäne bleiben mussten. Nach Angaben der KCD sind im Juli 36 Frauen ermordet worden, im August waren es 27 Morde an Frauen durch Ehemänner, Partner oder nahestehende männliche Verwandte registriert. In 23 weiteren Todesfällen von Frauen besteht der Verdacht einer Einwirkung durch Männer aus ihrem Umfeld. In den ersten sechs Monaten diesen Jahres waren es 216 und 2019 waren es insgesamt mindestens 474 Frauen. Die Türkei hat unter 34 OECD-Ländern die höchste Femizidrate. Die türkische Regierung trägt Mitschuld an dem Anstieg von Femiziden.

So kam auch die sogenannte Istanbul-Konvention wieder auf die Tagesordnung politischer Debatten in der Türkei. Frauenorganisationen in der Türkei und Nordkurdistan wie auch in Europa protestieren gegen den vom Erdogan-Regime angekündigten Rückzug aus der Istanbul-Konvention zum Schutz vor Gewalt gegen Frauen und fordern dagegen deren vollständige und wirksame Umsetzung. Ankara hingegen vertritt das patriarchale Fundament der Gesellschaft. Die Regierung diffamiert die Konvention als „familienfeindlich“, weil sie traditionelle Werte untergrabe und Männer zu „Sündenböcken“ mache.

Die Türkei hatte als erstes Land die 2014 in Kraft getretene Konvention des Europarats von 2011 unterzeichnet. In der Praxis werden die Rechtsnormen nicht angewandt. Die Hilfsangebote und Schutzmaßnahmen für Frauen werden nicht realisiert. In ihrer Politik bestärkt und ermutigt die AKP-Männerregierung die Täter durch Straflosigkeit. Gewalt, Mord und Vergewaltigung bleibt oft ungeahndet, endet in wenigen Fällen mit minimalen Freiheitsstrafen, diese wiederum werden mit „guter Führung“ begründet.

Frauenorganisationen im Visier

Angesichts der patriarchalen Machtverhältnisse in der Türkei stehen politische Aktivist*innen im Fokus der staatlichen Repression. Insbesondere Frauenorganisationen werden zum Ziel von Angriffen und Festnahmen. So soll vor allem die kurdische Frau und ihr Freiheitskampf vernichtet werden.

Zudem werden Frauen, die sich gegen die Annullierung der Ratifizierung der Istanbul-Konvention wenden und sich für die Emanzipation der Frauen einsetzen mit sexistischen Beleidigungen angegriffen, festgenommen und ihre Aktionen verboten. Das zeigt wiederum, wie beunruhigt die Regierung über die Befreiung und Organisierung von Frauen ist. Denn die Frauenbewegung weist drauf hin, dass Femizide ein Politikum sind. Damit soll gezeigt werden, dass man den Willen der Frauen vernichten will. Alle Vergewaltigungen und Morde werden mit Duldung des Staates begangen.

Im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens der Generalstaatsanwaltschaft Amed hat am 26. Juni eine Großrazzia stattgefunden. Dutzende Aktivist*innen wurden festgenommen, Räumlichkeiten wurden durchsucht. Die Aktivistin Rojbin Çetin wurde stundenlang in ihrer eigenen Wohnung von Polizisten misshandelt, gefoltert und sexuell beschimpft.

Die Philosophie des inhaftierten kurdischen Revolutionärs Abdullah Öcalan, die Befreiung des Lebens sei unmöglich „ohne eine radikale Frauenrevolution, welche die Mentalität und das Leben des Mannes verändern würde“, kann in dieser Situation als Grundlage einer Lösung gelten. Frauen können sich effektiv gegen patriarchale kapitalistische Gewalt verteidigen. Zuletzt hat der Europadachverband kurdischer Organisationen KCDK-E die zunehmenden Fälle von sexualisierter Gewalt und Femiziden in der Türkei und Nordkurdistan in den Kontext des Krieges gegen die kurdischen Freiheits- und Demokratiebestrebungen eingeordnet und die Verteidigung der Freiheit der Frau als ihre „Hauptaufgabe“ bezeichnet.

Nun sollte sich jede Frau die Emanzipation und die Bekämpfung des Patriarchalismus als ihre Aufgabe sehen. Hierzu ist die Solidarität unter Frauen* und Organisation ein wichtiger und richtiger Schritt.

Bildquelle: ANF Deutsch

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