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Meist geht es bei Streiks um Lohnerhöhungen. Aber hier ist es anders: Seit Wochen streiken in Gräfenhausen bei Darmstadt 65 Lkw-Fahrer aus Georgien und Usbekistan, weil sie den vereinbarten Lohn nicht erhalten haben. Der Fall bekommt zwar relativ viel Aufmerksamkeit, aber seine ganze Bedeutung wird in der Regel nicht deutlich. Denn der Kampf der Kollegen ist nicht nur einer für sie selbst, sondern einer im Interesse der ganzen Klasse der lohnabhängig Beschäftigten. Als Linke können und sollten wir dazu beitragen, solche Kämpfe voranzubringen.

Was in Gräfenhausen los ist …

Die polnische Firmengruppe Mazur weigert sich seit über zwei Monate, Lkw-Fahrern den vereinbarten Lohn auszuzahlen. Mehr als 100 Fahrer haben sich deshalb in den letzten Wochen an Streikaktionen beteiligt – in Italien, in der Schweiz und in Deutschland. Gehalten hat sich nur die Streikversammlung auf der Autobahnraststätte Gräfenhausen West bei Darmstadt. Die ersten Lkw-Fahrer sind dort Mitte März in den Streik getreten, worauf sich ihnen weitere Kollegen angeschlossen haben. Mittlerweile sind 65 Kollegen samt Lkw in Gräfenhausen zusammengekommen. Der Streik wird dabei nicht von Gewerkschaften angeführt, sondern ist in erster Linie selbstorganisiert. Unterstützung gibt es aber unter anderem vom DGB-Beratungsnetzwerk Faire Mobilität und vom Niederländischen Gewerkschaftsbund FNV. Laut den Fahrern hat Mazur aufgrund des Drucks mittlerweile 200.000 Euro gezahlt, wobei 97.000 Euro noch ausstehen.

Die meisten der Lkw-Fahrer sind aus Georgien, einige sind aus Usbekistan. In der Regel haben sie sich dafür entschieden, in Europa zu arbeiten, um ihre Familien finanziell zu unterstützen. Im Kaukasus und in Zentralasien ist die soziale Lage kritisch und die Aussicht auf gutbezahlte Jobs schlechtTextfeld:  65 Lkw stehen auf der Autobahnraststätte Gräfenhausen West, teilweise mit Ladung.. Viele Menschen aus den beiden Regionen wandern deshalb nach Russland aus oder arbeiten dort zumindest für einige Monate im Jahr als unterbezahlte Arbeiter:innen. In der EU zu arbeiten erscheint vielen da als eine bessere Möglichkeit. Aber die Realität auf dem Arbeitsmarkt der EU entspricht nicht dem Bild, das die EU von sich selbst verkauft – vor allem nicht für migrantische Arbeiter:innen.

Die streikenden Lkw-Fahrer arbeiten für eine polnische Spedition, fahren aber auf deutschen Straßen. Dazu kommt, dass sie keine Angestellten des Unternehmens sind, sondern scheinselbstständig arbeiten. Auf diese Weise umgeht die polnische Spedition den Mindestlohn, denn für Selbstständige gibt es keinen Mindestlohn. Zwischen 70 und 89 Euro kriegen die Fahrer pro Arbeitstag, laut Faire Mobilität – und ein Arbeitstag dauert bei ihnen 13 bis 15 Stunden. Das kann also einen Stundenlohn von 4,67 Euro bedeuten, obwohl der deutsche Mindestlohn bei 12 Euro liegt. Unternehmen sparen so circa 5.000 Euro im Jahr im Vergleich zu einem Fahrer, dem sie Mindestlohn zahlen würden.

Den Fahrern wird von ihrem Lohn einiges abgezogen: beispielsweise eine Pauschale von 700 Euro pro Monat „für Beschädigungen und Verstöße“, eine Gebühr für die „Abwicklung von Aufträgen“, 450 Euro jährlich für eine scheinbar ungültige Krankenversicherung und das erste Monatsgehalt wird als Kaution einbehalten. Außerdem werden die Fahrer im Krankheitsfall teilweise einfach nicht bezahlt. Unter diesen Bedingungen ist es kaum möglich, die Familie zuhause finanziell zu unterstützen, wie die Fahrer es sich vor dem Arbeitsantritt vorgestellt oder gewünscht hatten.

Als wäre das nicht genug, hat Mazur einigen Fahrern seit Februar gar keinen Lohn mehr ausgezahlt. So kam es zum aktuellen Streik. Es kommt allerdings nicht oft vor, dass Lkw-Fahrer sich entscheiden, auf diese Weise kollektiv gegen die krasse Ausbeutung zu kämpfen. Auch im aktuellen Fall gibt es Fahrer, die weiterfahren, statt den Konflikt einzugehen – in der Hoffnung, das Unternehmen zahle den Lohn dann doch irgendwann. Das ist verständlich, da sie sich in einer sehr schwierigen Situation befinden. Umso mehr Respekt und Unterstützung verdienen die Kollegen in Gräfenhausen.

Dass der Fall Gräfenhausen nun deutschlandweit und international so viel Aufmerksamkeit bekommt, liegt zum guten Teil daran, dass Mazur am 7. April eine paramilitärische Einheit nach Gräfenhausen geschickt hat. Dazu gehörten ein Panzerwagen, ein Streifenwagen und Männer in kugelsicheren Westen – zumindest dem Aussehen nach. Die paramilitärische Einheit gehört zur polnischen Privatdetektei Rutkowski, die in Polen schon seit Jahren schlechten Ruf hatTextfeld:  Der Fall Gräfenhausen erfährt international Aufmerksamkeit, unter anderem in Polen, Frankreich, Italien, Griechenland, Korea und natürlich den Herkunftsländern der Fahrer.. Die Schlägerbande sollte die Fahrer einschüchtern und ihnen die Lkw abnehmen. Sie konnte allerdings nur einen entwenden – mit Gewalt. Die anderen Lkw konnten die Streikenden verteidigen, bis die Polizei kam.

Nach ihrem Streik wird es für die Fahrer schwierig, nach Polen zurückkehren – für Mazur weiterzuarbeiten kommt ohnehin kaum noch in Frage. Nach der Panzerwagen-Aktion ist klar, dass das Unternehmen auch physische Gewalt als unternehmerisches Mittel betrachtet, um sein Profit-Interesse durchzusetzen. Wenn die Fahrer wieder getrennt voneinander fahren würden, wäre es für Mazur und seine Schlägertrupps einfacher, sich an den Fahrern für den Streik zu rächen. Außerdem hat das Unternehmen Anzeige gegen die Fahrer erstattet, weil diese die Lkw unterschlagen hätten. Dazu kommen Schwierigkeiten mit dem Aufenthaltsstatus der Fahrer. Viele der Kollegen wollen deshalb zunächst in ihr Herkunftsland zurückkehren, wenn sie ihren Lohn bekommen haben.

… ist der Normalzustand (im Kapitalismus)

Die Empörung über Gräfenhausen ist groß und das ist gut so. Aber die Aufmerksamkeit sollte sich nicht nur auf Mazur und seine Wild-West-Methoden richten. Nicht jeder Unternehmer ist so verrückt, direkt mit paramilitärischen Einheiten anzurücken. Aber die Arbeitsbedingungen der streikenden Kollegen sind trotzdem eher die Regel als die Ausnahme – auch wenn die Mehrheit der Bevölkerung Deutschlands das nicht mitbekommt.

Es kommt sehr oft vor, dass migrantische Arbeiter:innen am Ende nicht den Lohn gezahlt bekommen, der ihnen bei der Anwerbung versprochen wurde. Dazu kommt, dass die Unternehmen ihnen gerne für alles Mögliche übertriebene Summen abknöpfen: für die Vermittlung des Jobs, für die Wohnung, für den Transport nach Deutschland, für die Beschaffung der Dokumente und so weiter.

Das ist der Normalzustand für migrantische Arbeiter:innen in Deutschland in verschiedenen Branchen. Besonders viele von ihnen arbeiten in der Logistik, im Bau, in der Landwirtschaft, in der Fleischindustrie und in der Industrie. Ein kritischer Sonderfall migrantischer Arbeit ist außerdem die häusliche Pflege, in der vor allem Frauen arbeiten.

Die Ausbeutung aller lohnabhängig Beschäftigten ist die Grundlage des Kapitalismus. Dabei meint der Begriff der Ausbeutung kurz gesagt, dass die Beschäftigten mehr erarbeiten, als sie an Lohn bekommen. Anders würde der Kapitalismus nicht funktionieren, denn anders würden Unternehmen keinen Profit machen können. Der Profit der Unternehmen und die Ausbeutung der Beschäftigten sind zwei Seiten derselben Medaille. Während alle Beschäftigten im Kapitalismus also ausgebeutet werden, werden migrantische Beschäftigte in der Regel vergleichsweise besonders stark ausgebeutet, sie werden überausgebeutet. In Zahlen: Beschäftigte ohne deutsche Staatsangehörigkeit bekommen im Mittel 26 Prozent weniger als Beschäftigte mit deutscher Staatsangehörigkeit – bei Kolleg:innen aus Syrien, Afghanistan oder Eritrea sind es ganze 42 Prozent weniger.

Dass diese Überausbeutung migrantischer Arbeiter:innen möglich ist, gründet darauf, dass Migrant:innen gegenüber den Unternehmen in einer schwächeren Position sind als nicht-migrantische Arbeiter:innen. Gründe für diese verletzliche Position können beispielsweise die folgenden sein: Die Kolleg:innen sprechen die Sprache des Landes noch nicht so gut, sie kennen das Land kaum und sind desorientiert, ihr Aufenthaltsstatus ist an einen bestimmten Arbeitsplatz gekoppelt, die rechtliche Lage allgemein ist für sie als Ausländer:innen unsicherer, sie sind seltener in Gewerkschaften organisiert und integriert, sie haben keine starken sozialen Netzwerke, die sie im Fall von Problemen unterstützen können und so weiter. Solange es in der Wirtschaft um Profit geht, solange der Kapitalismus besteht, werden Unternehmen versuchen die verletzliche Position migrantischer Menschen auszunutzen und sie überauszubeuten. Alles andere würde dem Profit-Interesse der Unternehmen widersprechen und sie in der Konkurrenz mit den anderen Unternehmen schwächen. Der Kapitalismus kann realistisch gesehen nicht ohne diese rassistische Ausbeutung und ohne rassistische Ungleichheit existieren.

Ein wichtiger Aspekt, durch den Überausbeutung migrantischer Arbeiter:innen erleichtert wird, sind die rechtlichen Regelungen zu Arbeit und Arbeitsmarkt. Die jetzigen Arbeits- beziehungsweise Ausbeutungsbedingungen mussten überhaupt erst politisch geschaffen werden. In den letzten 25 Jahren haben SPD, Grüne, CDU und FDP genau das getan. Zentral war und ist dabei die Ausweitung prekärer Beschäftigungsverhältnisse. Prekäre Arbeit bedeutet dabei für die Beschäftigten in der Regel mehr Unsicherheit und schlechte Bezahlung. Für das Kapital bedeutet prekäre Arbeit mehr Profit, da es die Beschäftigten stärker ausbeuten kann und ihre Arbeitskraft flexibler nutzen kann. Beispiele prekärer Beschäftigungsverhältnisse sind Leiharbeit, befristete Beschäftigung, Minijobs, unfreiwillige Teilzeit und Werkverträge. Durch Werkverträge haben Unternehmen die Möglichkeit den per Tarif vereinbarten Lohn zu unterlaufen, indem sie Arbeit an Arbeiter:innen abgeben, die auf dem Papier für ein anderes Unternehmen arbeiten.

Das Kapital und die politischen Vertreter:innen seiner Interessen haben es geschafft, in Deutschland den größten Niedriglohnsektor Europas aufzubauen. Fast 25 Prozent der Beschäftigten gehören diesem an, bekommen also einen Lohn, mit dem sie kaum über die Runden kommen können. Dieser Niedriglohnsektor in Deutschland ist ein wichtiger Pfeiler der Dominanz des deutschen Kapitals und des deutschen Staates in Europa. Migrant:innen bekommen dabei überdurchschnittlich oft Niedriglöhne. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass migrantische Arbeiter:innen für den deutschen Kapitalismus unerlässlich sind – früher die sogenannten Gastarbeiter:innen, heute vor allem Arbeitsmigrant:innen aus Osteuropa und Geflüchtete.

Gräfenhausen ist also kein Unfall. Es ist ein Beispiel für den schrecklichen Normalzustand, von dem das Kapital profitiert. Die Fahrer nennen als Auftraggeber Unternehmen wie Bosch, Volkswagen, Mercedes, Ikea und Amazon. Aktuell haben manche Fahrer unter anderem Waren von General Electric geladen.

Ein Kampf im Interesse der ganzen Klasse

Ein großer Niedriglohnsektor ermöglicht es dem Kapital, die Löhne für alle Beschäftigten zu drücken. Je weniger die am schlechtesten bezahlten Beschäftigten bekommen, desto leichter ist es für das Kapital, auch die Löhne der anderen Beschäftigten nach unten zu ziehen. Wir werden also als gesamte Klasse der lohnabhängig Beschäftigten dadurch geschwächt, wenn auch nur ein Teil unserer Klasse besonders stark ausgebeutet wird. Dementsprechend ist es im Interesse der ganzen Klasse, den Niedriglohnsektor einzuschränken und das Lohnniveau zu heben.

Bei prekärer Arbeit ist es ähnlich: Das Kapital hat ein Interesse daran, prekäre Arbeit noch stärker auszuweiten und zu intensivieren. Und in den letzten Jahrzehnten hat sich gezeigt, dass prekäre Arbeit sich in verschiedenste Bereichen ausbreitet – auch wenn sie zunächst nur in kleinen Bereichen existiert hat. Hier ist es in Interesse unserer Klasse, prekäre Arbeit gesamtgesellschaftlich zurückzudrängen, selbst wenn sie zunächst nur manche von uns betrifft. Die Streikenden in Gräfenhausen tragen einen kleinen aber wichtigen Teil dazu bei.

Denn ihr Kampf ist nicht nur einer dafür, dass die Kollegen endlich den vereinbarten Lohn bekommen. Er ist auch ein Kampf gegen die Arbeitsbedingungen in der Logistik und die Überausbeutung migrantischer Arbeiter:innen. Teilweise sagen die Streikenden es ganz bewusst: „Wir stehen ja nicht nur für uns und unsere Familien hier […] Wir machen das für alle Fahrer, denen es so geht wie uns.“Textfeld:  Die georgischen Fahrer waren gezwungen, Ostern auf der Autobahnraststätte zu feiern. Die muslimischen Kollegen aus Usbekistan haben den Großteil des Ramadan inklusive Eid auf der Raststätte verbracht. Aber auch unabhängig von der Motivation der streikenden Kollegen: Sie zeigen, dass Beschäftigte sich vereint widersetzen können. Streiks wie der in Gräfenhausen kommen in der Logistik nicht oft vor – genauso wie in anderen Branchen, in denen die Unternehmen stark auf die Überausbeutung migrantischer Arbeiter:innen setzen. Der Kampf unserer Kollegen in Gräfenhausen kann deshalb ein inspirierendes Beispiel für andere Lkw-Fahrer:innen sein, aber auch allgemein für Kolleg:innen in Branchen mit ähnlichen Ausbeutungsbedingungen.

Unternehmen wie Mazur wissen, dass solche Beispiele des Widerstands gefährlich für sie sind. Denn sie können weitere Kolleg:innen dazu motivieren, gemeinsam gegen die miesen Arbeitsbedingungen vorzugehen. Deshalb können wir davon ausgehen, dass die Panzerwagen-Aktion von Mazur auch dazu dienen sollte, anderen Fahrer:innen zu zeigen: „Wir schrecken vor nichts zurück. Also kommt erst gar nicht auf solche Ideen!“ Auch hier gilt übrigens, dass der aktuelle Fall keine vollkommene Ausnahme ist. Einschüchterung und Gewalt kommen gegenüber migrantischen Arbeiter:innen immer wieder vor.

Im Fall Gräfenhausen bekommen die Streikenden viel Unterstützung von ver.di, IG Metall, DGB und weiteren Organisationen und Einzelpersonen. Das heißt praktisch Verschiedenstes: von der Lebensmittel-Versorgung über rechtliche Beratung bis zum Organisieren von Grillfesten. Gräfenhausen ist ein gelungenes Beispiel, wie Streiksolidarität praktisch organisiert werden kann. Die streikenden Kollegen sind beeindruckt und dankbar.

Als Linke können wir dem Kampf in Gräfenhausen mehr Aufmerksamkeit verschaffen und seine Bedeutung für die gesamte Klasse herausstellen. Empörung über den Fall ist gut, aber noch besser ist es, wenn größere Teile unserer Klasse sich bewusst werden, dass die Kämpfe migrantischer Arbeiter:innen meist Kämpfe im Interesse der gesamten Klasse sind. Außerdem können wir den Streik der Kollegen finanziell unterstützen. Es gibt dazu einen offiziellen Spendenaufruf auf der Website von Faire Mobilität.

Wir können aus dem Streik und der Streiksolidarität in Gräfenhausen lernen und versuchen, in Zukunft ähnliche Kämpfe zu unterstützen. Wir können und sollten prekäre Arbeit, den Niedriglohnsektor und die Überausbeutung migrantischer Arbeiter:innen bekämpfen – in der betrieblichen und gewerkschaftlichen Praxis wie auch auf politischer Ebene. Die rechtlichen Regelungen müssen sich ändern, um der Spaltung unserer Klasse entgegenzuwirken und die Kampfbedingungen zu verbessern. Zu fordern, dass der Staat die Einhaltung seiner Gesetze schärfer kontrollieren sollte, kann allerdings gefährlich sein, weil am Ende oft vor allem unsere betroffenen Kolleg:innen Probleme mit dem Staat bekommen.Textfeld:  Unterstützung bekommen die Streikenden vor allem vom DGB und DGB-Gewerkschaften, aber auch von anderen politischen Gruppen. Wir sollten die konkreten Umstände und Folgen also bedenken.

Als Linke in Deutschland diskutieren wir mittlerweile zumindest darüber, wie Kapitalismus und Rassismus zusammenhängen – einen wichtigen Beitrag leisten dabei Bafta Sarbo und Eleonora Roldán Mendívil. Es kommt aber auch darauf an, Theorie und Praxis zu verbinden. Das heißt einerseits, unsere theoretischen Erkenntnisse für unsere praktische politische Arbeit zu nutzen. Und andererseits heißt das, unsere Erfahrungen aus der Praxis zu nutzen, um unsere Theorie weiterzuentwickeln. Wir haben also einiges zu tun. Aber es notwendig, denn Antirassismus und Klassenkampf zusammenzubringen ist eine entscheidende Aufgabe, um in Deutschland, Europa und darüber hinaus grundlegende gesellschaftliche Veränderung zu erkämpfen.
#Bildmaterial: eigenes Archiv.

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Während in Paris die Gewerkschaften Emanuel Macrons Rentenreform bekämpfen tobt auch in Deutschland ein erbitterter Arbeitskampf: Die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) und die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) haben am Montag, 27.03.2023 im Verkehrs- und Infrastrukturbereich gestreikt. Bestreikt wurden ÖPNV, Flughäfen, die Autobahngesellschaft, Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung. Für 2,5 Millionen Beschäftigte des öffentlichen Diensts ist das die dritte Runde der Tarifverhandlungen, während die EVG erst eine Runde hinter sich hat. In beiden Fällen war das Angebot der Arbeitgeberseite, vor dem Hintergrund der steigenden Preise, hoher Energiekosten und Mieten, laut den Gewerkschaften unzureichend. Am 25.03.2023 fand in Berlin eine Demonstration unter dem Motto „Wir zahlen nicht für Eure Krise“ in Unterstützung für den laufenden Arbeitskampf statt. Ca. 2000 Teilnehmer bekräftigten die Forderungen nach einem echten Inflationsausgleich, bezahlbaren Mieten, sozial gerechten Energiepreisen und bezahlbarem ÖPNV auf den Straßen der Hauptstadt. Auch Beschäftigte der Berliner Stadtreinigung (BSR), die sich ebenfalls seit dem 11.03.2023 im Streik befinden, nahmen daran teil. Wir haben mit Carlos, der bei der BSR arbeitet, über den Hintergrund und die Perspektive der aktuellen Kämpfe gesprochen.

Warum streikt die BSR und wie kam es konkret dazu? Habt Ihr das im Betrieb beschlossen, oder kam das eher von der Gewerkschaft ver.di?

Die BSR streikt, weil wir im Rahmen der anstehenden Tarifverhandlungen eine Forderung aufgestellt haben und diese bisher nicht erfüllt wurde. In der ersten Verhandlungsrunde gab es nicht einmal ein Angebot, daher war klar, dass es als Gegenmaßnahme zu Streiks kommen wird. Dazu war keine Anregung notwendig. Allerdings ruft immer die Gewerkschaft zum Streik auf.

Was sind Eure konkreten Forderungen? Und was sind die generellen Forderungen der aktuellen Arbeitskämpfe?

Die aktuellen Forderungen sind 10,5 % Lohnerhöhung, mindestens aber einen Festbetrag von 500 €. Darüber hinaus 200 € für die Auszubildenden und eine unbefristete Übernahme für die Auszubildenden. In dieser Tarifrunde wurden explizit keine weiteren Nebenforderungen gestellt, um eine starke Verhandlungsbasis zu haben.

Nicht nur die BSR streikt, sondern auch Kliniken, Infrastruktur- und Verkehrsbetriebe. Wieso streiken momentan so viele verschiedene Branchen?

Das hat mit den Laufzeiten der Tarifverträge zu tun. Streiken kann nur, wer sich im Arbeitskampf befindet. Während der Laufzeit der Tarifverträge herrscht eine Friedenspflicht. Von den genannten Unternehmen sind aber die Tarifverträge aktuell ausgelaufen, außerdem beinhaltet der TVöD (Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst) schon von sich aus viele verschiedene Branchen, die aber alle einen gemeinsamen Tarifvertrag haben.

Am 27.03.2023 haben ver.di und EVG einen koordinierten Streik gemacht, was ist daran besonders?

Das besondere ist, dass an diesem Streiktag Betriebe aus der kompletten Bundesrepublik kommen und nicht nur aus einzelnen Städten. Auch wird durch die gemeinsame Aktion deutlich, wie viel in Deutschland nicht funktioniert, wenn die Betriebe des öffentlichen Dienstes den Schulterschluss suchen.

Was passiert, wenn die Arbeitgeberseite den Forderungen nicht zustimmt? Sind weitere Aktionen geplant?

Es gibt dafür einen festen Ablauf: Sollte die Arbeitgeberseite den Forderungen nicht zustimmen und man sich auch auf keinen Kompromiss einigen können, hat jede Seite die Möglichkeit die „Schlichtung“ anzurufen, um eine Lösung durch eine dritte Partei herbeizuführen. Schlägt auch diese Maßnahme fehl (während der Schlichtung herrscht Friedenspflicht), wird es möglicherweise zu unbefristeten Streiks kommen, bis eine Einigung erzielt werden kann.

Am 10.03 haben ver.di und die Deutsche Post nach der Ankündigung eines Warnstreiks einen Tarifvertrag mit 11,5% mehr Lohn geschlossen, wie bewertest Du dieses Ergebnis?

Die Tariferhöhung sind leider nicht wirklich 11,5%, da durch die Einmalzahlung vieles verwässert wird. Dieser ist nicht tabellenwirksam und bringt daher aus meiner persönlichen Sicht kaum etwas. Ich persönlich denke, man hätte mit dem Votum der Beschäftigten mehr erreichen können. Am Ende ist das aber die Entscheidung der Verhandlungskommission der Post und der Beschäftigten.

Wie schwierig ist es, einen solchen Kampf vor dem Hintergrund der Gefahr von leeren Streikkassen und „Union-Busting“ zu führen?

Die hohe Streikbeteiligung zeigt, dass so viele Menschen wie nie unter der Inflation leiden und der öffentliche Dienst an vielen Stellen nur unzureichend funktioniert. Gerade in solchen Zeiten ist es daher wichtig, sich zu organisieren und nicht von seinen Ängsten leiten zu lassen. Insofern beeinflussen die genannten Themen unseren Arbeitskampf kaum.

In vielen Medien liest man eher gewerkschaftskritische Bewertungen, obwohl eigentlich die Mehrheit der Bevölkerung für Lohnerhöhungen und bessere Tarifverträge sein müsste, warum ist das so?

In der aktuellen Tarifrunde habe ich bisher eher das Gefühl, dass die meisten Bürgerinnen und Bürger hinter der Tarifforderung stehen. Aber grundsätzlich ist die mediale Berichterstattung immer ein bisschen einseitig und gewerkschaftskritisch, da die meisten Medien nun mal eher arbeitgeberfreundlich sind. Daher kann dieser Eindruck entstehen. Gerade in dieser Tarifrunde wird aber immer wieder deutlich, dass es eher zu einer Befürwortung der Maßnahmen durch die Bevölkerung kommt.

Bei der Demonstration am Brandenburger Tor waren „nur“ 2000 Menschen versammelt, obwohl so viele Menschen betroffen sind. Was sind die Gründe dafür?

Das hat mMn mit den vielen unterschiedlichen Aktionen zu tun, die parallel laufen. Es gab Donnerstag und Freitag Streik, und am Montag (27.03.) war eine bundesweite Aktion geplant, da haben die Leute am Samstag evtl. nur begrenzt Motivation gehabt. Insgesamt ist die Beteiligung an der Tarifrunde aber sehr gut.

Zwar nehmen Streiks in Deutschland zu, von einer streikfreudigen Arbeiter:innenschaft zu sprechen wäre aber übertrieben. Siehst Du die aktuellen Kämpfe als generelle Konjunktur von entschlosseneren Arbeitskämpfen vor dem Hintergrund einer sich verschärfenden Vielfachkrise?

Ich denke es zeigt, wie vielen Menschen es aktuell merklich schlechter geht. Die persönliche Lebensqualität ist aufgrund gestiegener Lebensmittelpreise, hoher Mieten und schwacher Tariferhöhungen in den letzten Jahren spürbar gesunken. Das hat dazu geführt, dass sich auch Leute organisieren, die sonst in den Tarifrunden eher zurückhaltend waren. Ich halte es aber für verfrüht, von einer Arbeitskampfkonjunktur zu sprechen.

# Titelbild: eigenes Archiv.

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Der mittlerweile vier Wochen andauernde Aufstand gegen das Regime im Iran weitet sich immer weiter aus. Nach Streiks in der petrochemischen Industrie haben auch die Arbeiter in der Zuckerrohrindustrie von Hafttapeh in Solidarität mit dem Aufstand die Arbeit niedergelegt. Wir dokumentieren hier den Streikaufruf.

An die Weggefährten! An die Unterdrückten!

Der Protest und der Aufstand der Töchter der Sonne und der Revolution ist in seiner vierten Woche.

Die kämpfenden jungen Männer und Frauen haben mit der Parole „Zan, Zendegi, Azadi“ (Frau, Leben, Freiheit) die Straßen und die Gassen zum erbeben gebracht. Sie wollen sich im glorreichen Kampf für Emanzipation und Gleichheit, von Ausbeutung und Unterdrückung, von Diskriminierung und Ungleichheit befreien.

Unsere Kinder, die in den Straßen für die Befreiung von Unterdrückung und Ungerechtigkeit einstehen, brauchen unsere Unterstützung!

In dieser Situation wo das Blut unserer Kinder den Asphalt der Straßen färbt, hat der Beginn des Streiks im petrochemischen Sektor dem Kampf neue Hoffnung und neues Leben eingehaucht.

Die gerechte Erwartung der Kinder der Arbeit und des Leides ist es, dass ihre ausgebeuteten Väter, Mütter, Brüder und Schwestern zu ihnen halten und die Zahnräder der Produktion zum stehen bringen.

Heute am 10.Oktober ist der erste Funken dieser Solidarität und Einheit mit der leidenschaftlichen Beteiligung der Arbeiter der Petrochemieanlage in Buschehr, Der Raffinerie von Abadan und der Raffinerie in Asaluye gefallen. Die Solidarität der Arbeiter mit ihren Kindern, ihren Brüdern und Schwestern auf der Straße ist das dringende Gebot der Bewegung!

Die Gewerkschaft der Zuckerrohrarbeiter von Hafttapeh begrüßt den Streik der Öl- und Petrochemie in Solidarität mit den Protestierenden auf den Straßen.

Unsere Kinder, unsere Brüder und Schwestern erwarten, dass alle anderen Sektoren der Produktion sich dem Streik anschließen und den Generalstreik ausrufen, da die Emanzipation von Unterdrückung und Ausbeutung nur durch Solidarität möglich ist.

Ehrbare und bewusste Arbeiter und Leidtragende!

Der Aufstand der Frauen muss unterstützt werden. Die Töchter dieses Landes haben sich entschlossen eine große (gesellschaftliche) Transformation zu vollziehen, eine Transformation die auch die Befreiung der Frauen in anderen Regionen mit sich bringen wird. Dieser würdevolle Aufstand muss mit dem Streik der Arbeiter in jeder Ecke dieses Landes verbunden werden!

Für die Befreiung von Diskriminierung und Unterdrückung, von Armut und Elend…für Brot und für Freiheit! Lasst uns die Töchter der Sonne und der Revolution nicht alleine lassen!

An euch Töchter der Sonne und der Revolution:

Im kommenden Morgen des Sieges, wird sich die Welt vor euch verneigen, denn ihr lehrt allen Aufrichtigkeit und Widerstand.

Es lebe die Klassensolidarität und Vereinigung der Arbeiter:innen für die Emanzipation.

Vorwärts zum Generalstreik!

10.10.2022

Gewerkschaft der Arbeiter von Hafttapeh

# Titelbild: anf

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Kasachstan, das zweitgrößte postsowjetische Land, die stärkste Wirtschaftsmacht in Zentralasien, ist zu Jahresbeginn in die Schlagzeilen der Medien weltweit geraten. Auf die Erhöhung der bisher subventionierten Flüssiggaspreise zum Jahreswechsel reagierten prekäre Teile der Bevölkerung zunächst mit Protesten, die in Straßenblockaden und Streiks übergingen. In einigen Regionen wurden Rohstoffförderung und Metallverarbeitungsindustrie bestreikt, von den Arbeitsniederlegungen waren auch Teile des Transportwesens gelähmt. Verbündete Staaten intervenierten und nach härtester staatlicher Repression hat die Regierung das Land inzwischen wieder unter seine Kontrolle gebracht.

Nachdem der Präsident Qassym-Schomart Toqajew (Tokajew) bereits nach vier Tagen die Preiserhöhung in den von den Protesten betroffenen Region zurückgenommen hatte und am nächsten Tag die Regierung samt Premierminister Asqar Mamin zurücktreten musste, hatte sich die Lage nicht beruhigt. Im Gegenteil, es begannen Überfälle auf Polizei- und Geheimdienstgebäude, Entwaffnungen von Vertreter*innen der Staatsgewalt und Plünderungen. Auch die landesweite Blockade von Internet und Mobilfunk brachte keine Eindämmung der Proteste. In der ehemaligen Hauptstadt Almaty wurden administrative Gebäude, Büros der Regierungspartei „Nur Otan“ und Redaktionen der Staatsmedien gestürmt und teilweise angezündet. Zeitweilig besetzen die Protestiereden den Flughafen. Kolonnen mit Militärtechnik wurden von Demonstrant*innen gestoppt und zum Umkehren gebracht. Der Protest, ohne gemeinsamen Forderungskatalog, namentlich bekannte Anführer*innen oder nennenswerte beteiligte politische Organisationen, schien den kasachischen Staat an den Rand des Kontrollverlusts zu treiben.

Der in allen bisherigen Krisensituationen übliche Appell an die Autorität des ersten Präsidenten Nursultan Nasarbajew, der erst als Parteichef in der Sowjetrepublik fungierte und später zum Staatsgründer des unabhängigen Kasachstans gewählt wurde und das Land bis 2019 regierte, führte diesmal nicht zum von der Staatsspitze gewünschten Ergebnis. Die Protestierenden zerstörten die Denkmäler für „Elbasy“ („Führer der Nation“), so der Titel des noch lebenden Nasarbajew und skandierten „der Alte soll weg“. Ohne zu warten, ob der von selbst diesen Forderungen nachgeht, entband Präsident Tokajew seinen Amtsvorgänger von seinem vorletzten offiziellen Posten: Chef des Sicherheitsrates. Diesen bekleidete Nasarbajew laut Verfassung eigentlich auf Lebenszeit. Den Posten übernimmt Tokajew nun selbst. Seitdem ist der Aufenthaltsort des „Führers der Nation“ – immerhin ein in der Verfassung verankerter offizieller Titel Nasarbajews – unbekannt.

Ein härteres Durchgreifen funktionierte mit dem scheinbar teilweise demoralisierten und sich in der Auflösung befindenden Gewaltapparat mäßig, die Sicherheitskräfte hatten tödliche Verluste zu beklagen. Die Bevölkerung begann sich währenddessen zu spalten – und zwar nicht in Anhänger*innen und Gegner*innen der Regierung. Viel mehr in diejenigen, die die Abwesenheit von Polizei und zurückgelassene Waffen nutzen, um sich Güter anzueignen und diejenigen, die Bürgerwehren gründeten, um ihr Eigentum und das der Nachbarn zu verteidigen. Der Konflikt zwischen der (häufig russischsprachigen) Stadtbevölkerung („Schala-Kasachen“) und kasachischsprachigen jungen Männern vom Land („Mambets“) spitzte sich zu. Während im Industriegebiet im Westen, wo die Proteste begannen, Plünderungen ausblieben, dominierten sie in Almaty bald das Straßenbild.

Der Präsident demonstrierte zuerst Verständnis für die Sorgen des Volkes, sprach dann aber eine verklausulierte Drohung aus, indem er die Jugend ermahnte, an ihre Zukunft zu denken. Schließlich erklärte er die Proteste zu einem Werk von „Verschwörern“ und „im Ausland ausgebildeten Terroristen“. Am 07. Januar 2022 erteilte er einen Schießbefehl. Seitdem sind offiziell nicht weniger als 225 Tote, darunter 19 Sicherheitskräfte und knapp 10.000 Festnahmen gemeldet worden. Schließlich richtete er einen Hilfegesuch an die Bündnispartner von der „Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit“ (OVKS), die umgehend Truppen in das Land schickten. Innerhalb von Tagen war der Aufstand niedergeschlagen.

Zur Einordnung: Kasachstan aus der Sicht des Westens – Eine Diktatur wie Russland, aber nützlich!

In der Berichterstattung der westlichen Medien genoss Kasachstan bisher den Ruf des „Klassenbesten“ unter den postsowjetischen Staaten Zentralasiens. Kirgistan, Usbekistan und Tadschikistan sind auf Geldüberweisungen ihrer Bürger*innen aus dem Ausland angewiesen, wo diese sich als billige Arbeitskräfte verdingen. Turkmenistan hindert umgekehrt Bürger*innen an der Ausreise, um sie in der Rohstoffförderung zu beschäftigen. Im Gegensatz dazu ermöglicht es Kasachstan der Export von Erdöl, Gas, Uran, Kupfer und weiteren Rohstoffe seinen Bewohner*innen bisher einen wesentlich höheren Lebensstandard zu bieten. Das Land zieht Arbeitsmigrant*innen aus dem benachbarten Kirgistan und Usbekistan an, die in der Landwirtschaft oder als Haushaltshilfen beschäftigt werden.

Dass das politische System Kasachstans seit der Unabhängigkeit 1991 aus einem härteren Autoritarismus als Putins Russland besteht, entgeht eigentlich keiner Beobachter*in. Der Personenkult um den Staatschef mag weniger ausgeprägt sein als in Turkmenistan, die Repressionen weniger blutig als die des aus dem Bürgerkrieg entstandenen Regimes in Tadschikistan, von einer Konkurrenz der politischen Kräfte um die Macht qua Wahlen kann jedoch nicht die Rede sein. Die „Stabilität“ in Kasachstan wird lobend erwähnt, weil im Gegensatz zu Russland oder Belarus im Land ein „gutes Investitionsklima“ herrscht. Der kasachische Staat hindert ausländische Kapitalist*innen nicht an Geschäften mit den eigenen Rohstoffen, sondern lockt sie ins Land. Die Aktien der Tochtergesellschaften der kasachischen Unternehmen sind größtenteils in den Händen ausländischer Konzerne.

Zu den Faktoren, die dem ausländischen Kapital die Geschäfte mit den kasachischen Rohstoffen angenehm gestalten, gehört die drakonische Unterdrückung jeglicher Arbeitskämpfe, vor allem in der Rohstoffförderung. Kasachstan ist bisher der einzige Nachfolgestaat der Sowjetunion, in dem gegen Streiks mit scharfem Schusswaffeneinsatz vorgegangen wurde. In der Industriestadt Schangaösen, in der die aktuellen Proteste begannen, kam es bereits im Dezember 2011 zu Streiks und Unruhen, bei deren Niederschlagung die Sicherheitskräfte scharf geschossen hatten. 16 Menschen starben und Hunderte wurden verletzt. In den darauffolgenden Jahren wurden in der Region dutzende Aktivist*innen, Zeug*innen und deren Familienangehörige entführt, getötet, vergewaltigt, verstümmelt und eingesperrt. 2017 wurde die „Konföderation der unabhängigen Gewerkschaften“ per Gerichtsbeschluss aufgelöst. Die Gründung von unabhängigen Gewerkschaften ist seitdem de facto verboten. Gewerkschaftsaktivist*innen werden systematisch bedroht, entführt und wegen krimineller Delikte verurteilt.

All das erregte bei weitem weniger internationale Aufregung, als es Repression gegen Menschenrechtler*innen, Unternehmer*innen und Journalist*innen in Russland oder Belarus tut. Kasachstan ist ein wichtiger Handelspartner der EU, seit 2014 läuft ein erweitertes Partnerschafts- und Kooperationsabkommen. Auf seinen Status als Atommacht verzichtete die Republik nach der Unabhängigkeit 1991 zugunsten einer politischen und ökonomischen Partnerschaft mit den führenden kapitalistischen Staaten, die Kasachstan auf die Dienste an ihrem Ölbedarf reduzierten. Kasachstan unterstützte den „War on Terror“ mittels der Entsendung von Militärs nach Irak, später machte Nasarbajew deutlich, dass die militärische Partnerschaft mit Russland nicht die Unterstützung von Putins Ukraine-Politik bedeute.

In Russland galt Nasarbajews Regime als eigenwilliger, jedoch insgesamt stabiler Verbündeter. Kasachstan ist eine der tragenden Säulen der Eurasischen Zollunion und sein ehemaliger Präsident galt als Gegner des antirussischen Nationalismus. Zwar wurden unter ihm alle wichtigsten Posten von Kasachen besetzt, doch der multiethnische Charakter des neuen Staates, indem Kasachen vor 1991 lediglich eine Minderheit waren, stellte er nicht in Frage.

In liberal-oppositionellen Kreisen wurden vor allem die Erfolge der Wirtschaftsreformen des Regimes, dessen Korruption von niemand ernsthaft in Frage gestellt wurde, sowie die „Weltoffenheit“, sprich Öffnung der Märkte, gefeiert. Im Gegensatz zu Russland und Belarus meidet die Staatspropaganda in Kasachstan antiwestliche Rhetorik. So wurde Kasachstan als effizienteres Modell des Autoritarismus mit Aussicht auf sanfte Reformierung gesehen.

Soziale Revolte und politische Krise

Die Verdopplung der Flüssiggaspreise zu Jahresbeginn traf vor allem diejenigen, die nicht in der Rohstoffbranche beschäftigt sind. Wer mit einem auf Kredit gekauften Fahrzeug Lebensmittel transportierte und damit seine Hypothekschulden für die Wohnung abbezahlte, verlor durch den Wegfall der staatlichen Subventionen seine Existenzgrundlage. Die Proteste im Industriegebiet am Kaspischen Meer beinhalteten anfänglich vor allem soziale Forderungen an den Staat: eine Senkung des Rentenalters, die Erhöhung des Kindergeldes und der Invalidenrente, die Senkung der Lebensmittelpreise sowie die Senkung der Prozente bei Wohnungshypotheken. Später kamen hierzu, vor allem in anderen Regionen, politische Forderungen nach der Rückkehr zu der „alten Verfassung von 1993“, dem Rücktritt von Nasarbajew vom auf Lebenszeit bekleideten Posten des Sicherheitsratschefs und dem Sturz seines über Jahrzehnte aufgebauten Machtgefüges. Während der Staat zunehmend die Kontrolle verlor, richteten sich die Protestierenden mit ihren Forderungen weiter an ihn. Zugleich trafen immer mehr junge Männer aus ländlichen Gebieten in den Städten ein, denen heute die Verantwortung für die gewaltsame Eskalation und Plünderungen zugeschrieben wird. Die Proteste hatten von Anfang an keine koordinierten Strukturen, einige Teilnehmer*innen distanzierten sich von den Plünderungen oder sahen in ihnen Provokationen. Es kam zu Zusammenstößen zwischen den Demonstrant*innen und „zugezogenen“ Plünderern. Gerüchte darüber, dass die Polizeikräfte absichtlich abgezogen wurden und ihre Waffen abgaben machten die Runde.

Der Prozess des „sanften Machttransfers“, den Nasarbajew 2019 mit seinem Rücktritt vom Präsidentenamt einleitete, scheint aus dem Ruder gelaufen zu sein. Damals war die Aufgabe seines Postens mit der Garantie der Sicherheit von Strafverfolgung für ihn und seinen geschäftstüchtigen Familienangehörigen verbunden. Eigentlich wurden von der Regierung unter dem Technokraten Tokajew wirtschaftliche Liberalisierung (Streichung der Subventionen) und politische Liberalisierung (die bis dahin benannte Chefs der Lokalverwaltung werden nun gewählt) erwartet. Bei den Wahlen sollte es in Zukunft Frauen-, Behinderten- und Jugendquoten geben. Die Märkte sollten weiter dereguliert werden.

Nach dem Ausbruch der Proteste kündigte Tokajew an, die Preise für die wichtigsten Lebensmittel einzufrieren. Er drohte zugleich mit Hinrichtungen und Ausbürgerungen von Teilnehmer*innen der Aufstände. In der Krisensituation griff Tokajew zu bewährten paternalistischen Mitteln. Hatte er sich früher als aufmerksamer Schüler seines Mentors Nasarbajew präsentiert und vor jeder Entscheidung stets auf den Ratschlag des „Anführers der Nation“ verwiesen, spielte er jetzt selbst die Rolle des strengen, aber verständnisvollen „Vaters des Volkes“. Das Gehalt der Beamt*innen ist für Jahre eingefroren worden, die Unternehmer*innen wurden aufgerufen, sich „sozial verantwortlich“ gegenüber den Sorgen der „einfachen Leute“ zu zeigen.

Als Hauptverantwortlichen der Lage wurde der engste Nasarbajew-Vertraute und ehemalige Geheimdienstchef Karim Massimow samt einigen ehemaligen Stellvertretern verhaftet. Bald darauf verlor das Unternehmen von Nasarbajews Tochter Darigha einen lukrativen Staatsauftrag. Dass die Proteste eine vorläufige Schwächung des Nasarbajew-Clans zur Folge hatten, führt bei den ausländischen Expert*innen zu Spekulationen, die Proteste seien von oben initiiert worden. Weil eine „Palastrevolte“ an deren Ende stehen könnte, müsse diese auch ihr Zweck gewesen sein, so die Interpretation. Doch allein der Blick darauf, wie sich Zugeständnisse und Drohungen in den Reden Tokajews abwechselten, verrät, dass die Ängste der Machthaber*innen vor der Situation durchaus real waren.

Intervention der OVKS – kurz, aber bedeutend

Für die ursprünglichen Forderungen nach den Preissenkungen zeigte Tokajew Verständnis, weitere Eskalation erklärte er jedoch zum Werk von „Terroristen“ und „Verschwörern“, hinter der nicht näher benannte ausländische Mächte stehen würden. Näher benannt wurden dagegen die ausländischen Mächte, die er zur Hilfe rief: die Bündnispartner Kasachstans von der OVKS. Die Freunde aus Russland, Belarus, Kirgistan, Tadschikistan und Armenien erklären sich rasch bereit, zu helfen. Dies ist der erste Kampfeinsatz seit der Gründung des Bündnisses 1992. Damit bekommt der Aufstand den Status einer äußeren Aggression. Die Entscheidung, Tokajews Gesuch einer Intervention zu folgen, durfte ausgerechnet der armenische Regierungschef Nikol Paschinjan verkünden, der 2017 in der Folge von Massenprotesten die Macht übernahm und seitdem aus Moskau als „unsicherer Kantonist“ misstrauisch beäugt wurde. Auch die Interventionsmacht Kirgistan hat mit Sadyr Dschaparow einen Präsidenten, der nach Massenprotesten gegen seinen Vorgänger an die Macht gekommen war. Dass der gemeinsame Einsatz zustande kam, sendet ein klares Signal – das Bündnis ist trotz allen Differenzen konsolidiert und aktionsfähig. Dass ein Bündnisfall laut den Statuten einen Angriff von außen voraussetzt, fällt nicht ins Gewicht. Tokajew sprach erst vom „terroristischen Angriff“, dann, nach der Wiederherstellung des staatlichen Gewaltmonopols, von einem „Umsturzversuch“. Die für die Gewaltanwendung zuständigen staatlichen Organe scheinen heute wieder zu funktionieren und können weiter Repression auch ohne die Unterstützung der Bündnispartner erledigen. Diese haben inzwischen mit dem Abzug begonnen. Tokajew scheint seine Kontrolle über Kasachstan gefestigt zu haben und seine Verbündeten brauchen wegen ihres Einsatzes keine Sanktionen aus dem Westen zu befürchten. Darüber, dass es beim wichtigen Rohstofflieferanten Kasachstan eine stabile Staatsordnung gibt, scheinen ansonsten verfeindete Staaten einig zu sein.

Nach Tokajews Sieg: Schock und Enttäuschung

Während sich Expert*innen für die Pseudowissenschaft „Geopolitik“ in belarussischen und russischen Medien in Spekulationen über die möglichen „Drahtzieher*innen“ aus den USA, der EU, der Türkei oder China verlieren und in Kasachstan fleißig nach den inneren Verbündeten des äußeren Feindes gesucht wird, haben diejenigen, die in den Aufstand anfänglich viel Hoffnung gesetzt haben, eine erneute Enttäuschung zu verkraften.

Linke, die sich weltweit mit den Protesten solidarisierten, haben es nun mit einem bitteren Nachgeschmack zu tun. Daran ist nicht nur die vorläufige Niederlage schuld. Die Revolte enttäuschte die an sie herangetragenen Hoffnungen. Als die Proteste eskalierten standen keine Avantgarde-Partei mit der richtigen Linie, keine selbstorganisierten anarchistische Gemüsegärten auf der Agenda, sondern die direkte und gewaltsame Aneignung von Produkten, nicht jedoch von Produktionsmitteln. Im Westen des Landes waren die Proteste tatsächlich eher von der Aufstellung von Forderungen und Schaffung eigener Ad-hoc-Strukturen geprägt, während in Almaty der Schwerpunkt auf der Konfrontation mit der Staatsgewalt lag. Eine landesweite Vernetzung kam nie zustande. Die Sicherheitskräfte leisteten zwar anfänglich auffällig wenig Gegenwehr, aber von einem Seitenwechsel im Sinne des Widerstands gegen den OVKS-Einmarsch kann keine Rede sein. Zu dem Zeitpunkt der Intervention waren viele bereits durch Plünderungen abgeschreckt. Die Aktivitäten der wenigen organisierten Linken, wie der Mediengruppe „Rote Jurte“ oder der „Sozialistischen Bewegung Kasachstans“, die bei den Demonstrationen auftraten, konnten die Situation nicht nennenswert beeinflussen.

Der spontane Aufstand scheint alle überrascht zu haben: die Regierung, die organisierte Opposition, Russland und den Westen. Er überraschte auch den Großteil der Bevölkerung, die sich ihm nicht aktiv anschloss. Sein Ergebnis ist jedoch nicht einfach eine Machtverschiebung innerhalb der Staatsführung. Die Angst vor weiteren Erhebungen schlägt sich sowohl in den Zugeständnissen als auch in den konspirativen Theorien über „geheime Pläne“ nieder, die jetzt von staatlichen Medien verbreitet werden.

# Titelbild: Tadschikische Soldaten als Teil der OVKS-Truppen (12. Januar 2022, Wärmekraftwerk Almaty-1), Mil.ru CC BY-SA 4.0

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„No Pasaran“ steht auf dem Banner, welches über der Tür an der Glasfassade hängt. Ca. 40 Menschen stehen herum und unterhalten sich, malen weitere Banner. Auch einige Journalist:innen sind da und führen Interviews. Plötzlich bildet sich eine Menschentraube vor der Tür. Zwei Männer, welche von sich behaupten Rider – Lieferfahrer zu sein, wollen das Gebäude betreten, werden jedoch daran gehindert. Denn das Gorillas-Lager im Kaiserkorso 154 in Tempelhof wird seit Freitag morgen bestreikt. Und auch die Beschäftigten in Schöneberg und Gesundbrunnen, sowie kurzzeitig aus Mitte, haben sich angeschlossen. Mittlerweile gibt es einen Aufruf unter #StartUpsideDown Fotos seines umgedrehten Fahrrads zu posten, um Solidarität auszudrücken.

Es ist nicht das erste Mal, dass die schlechten und unsicheren Arbeitsbedingungen bei dem Lieferdienst in der Öffentlichkeit stehen. Als im Juni diesen Jahres einer der Fahrer ohne Vorwarnung gekündigt wurde, legten viele seiner Kolleg:innen die Arbeit nieder. Und es wurden immer mehr. Seitdem häufen sich die Erfahrungsberichte über nicht oder zu spät gezahlte Löhne, unsichere Anstellungsverhältnisse und schlechtes Equipment. Geändert hat sich aber nichts. Gleichzeitig birgt die Dynamik des wilden Streiks aber auch eine Chance, Arbeitskämpfe in Zukunft wieder spontaner und selbstorganisiert stattfinden zu lassen. Das Gorillas Workers Collective zeigt, wie es gehen kann.

Fährt man zu einem der Streikposten und spricht mit den Menschen dort, dann bekommt man eine Ahnung davon, wie prekär Arbeitsbedingungen sein müssen, um sich in einen Ausstand ohne gewerkschaftliche Organisierung oder Lohnfortzahlung zu begeben. An allem scheint es zu mangeln – und das, obwohl das Start-up anfangs von Investor:innen mit Geld überschüttet wurde. Der Zustand der Fahrräder ist oft schlecht und das nötige Werkzeug nicht immer vorhanden. Die bereitgestellten Helme werden teilweise nach Unfällen nicht ausgetauscht, sondern einfach wieder zum Equipment für die nächste Person gelegt. Schichtpläne werden nicht rechtzeitig an die Arbeiter:innen ausgegeben – und das bei ständig wechselnden Arbeitszeiten und damit auch einer unterschiedlichen Anzahl an Wochenstunden, was das eigene Leben maximal unplanbar macht. Besonders, da die Beschäftigten noch nicht einmal nach ihren Kapazitäten gefragt werden.

Doch nicht nur bei den Arbeitsbedingungen ist Gorillas arbeiter:innenfeindlich. Auch ihre Lohnauszahlungen müssen die Mitarbeiter:innen selbst überprüfen um sicherzustellen, dass sie das ihnen zustehende Gehalt ausgezahlt bekommen. Und zwar pünktlich. Dafür stehen ihnen ihre Lohnzettel nicht immer zur Verfügung, es muss mehrmals nachgefragt werden, warum das Geld noch nicht auf dem Konto ist, immer wieder bekommen die Angestellten zu hören, dass dies nur ein Versehen sei. Auch ihr Trinkgeld zählen die Rider lieber selbst nach, da auch hier der Verdacht besteht, dass dieses in einigen Fällen nicht regulär ausgezahlt wurde. Ordentlich viel Mehrarbeit also. Und das bei einem Stundenlohn von gerade einmal 10,50€.

Ein Rider erzählt, dass er seit Dezember 2020 bei Gorillas arbeitet. Zunächst im Warenhaus, dann auf dem Fahrrad. Laut seiner Aussage stehen ihm aus seinen ersten beiden Monaten immer noch circa 400 Euro Gehalt zu und auch seine letzte Auszahlung ist schon eine Woche überfällig. Er berichtet, dass er sich bereits Geld bei seiner Familie und Freunden leihen musste, um pünktlich die Miete zu überweisen. Und, dass er vor zwei Tagen noch nicht einmal die drei Euro hatte, um mit der Bahn zu seiner Arbeit bei Gorillas zu fahren.

Auch die Anstellungsverhältnisse sind prekär: Aktuell findet vor dem Berliner Arbeitsgericht eine Auseinandersetzung um die Entfristung der Verträge von circa 2.000 Beschäftigten von Gorillas statt. Die entsprechende Kampagne dazu wurde am 21. August vom Gorillas Workers Collective veröffentlicht, da ein Großteil der Verträge auf ein Jahr befristet sind, manche von ihnen sogar kürzer. Allein sechs Monate befinden sich die Angestellten in der Probezeit, immer wieder gibt es Berichte, dass Menschen ohne weitere Begründung kurz vor Ende der Probezeit gekündigt wurden. Das macht Arbeitskampf schwierig. Und es sorgt zusammen mit den anderen schlechten Arbeitsbedingungen dafür, dass dem Start-up in Berlin immer weniger Faher:innen für immer mehr Bestellungen zur Verfügung stehen. Das Werbeversprechen der Firma, dass alles in 10 Minuten geliefert wird, kann so nur noch eingehalten werden, wenn die Rider zu viele Waren in die Rucksäcke packen und sich den Rücken kaputt arbeiten.

Angesichts dieser Schilderungen sollte Gorillas froh sein, dass ihre Angestellten nur streiken, anstatt sich dafür zu entscheiden alle gleichzeitig zu kündigen. Denn so viele überschüssige und austauschbare Arbeitskraft im Niedriglohnsektor der Kapitalismus auch braucht, so viele neue Lieferdienste gibt es mittlerweile. Aber zum Glück auch Menschen, die erkennen, dass immer irgendwer bei einer solchen Firma wird arbeiten müssen und die sich für ihre Rechte einsetzen.

Die zwei Männer, die den Streikposten passieren wollten, waren übrigens keine Rider, sondern arbeiteten für das Management. Trotzdem zeigte die Situation, dass keine Streikbrecher:innen geduldet werden – „No Pasaran“ eben.

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Seit mittlerweile zwei Wochen streiken die Pflegekräfte der Charité- und Vivantes-Kliniken, sowie Angestellte diverser Tochterunternehmen für bessere Arbeitsbedingungen. Diese sind sowohl für die Gesundheit der Angestellten, als auch der Patient:innen dringend notwendig: Überlastung, Unterbesetzung und damit eine Gesundheitsversorgung auf Minimalniveau brachten die Arbeitenden auch schon vor der Pandemie vielfach an ihre Belastungsgrenzen. Doch obwohl es im letzten Jahr viel Aufmerksamkeit für das Thema gab, hat sich nichts verändert. Das macht diesen Streik umso notwendiger. Um mehr über die Hintergründe, den aktuellen Stand und den Streikalltag zu erfahren, waren wir heute bei der Vivantes-Zentrale, wo momentan über die Forderungen verhandelt wird. Dort haben wir uns mit Laura unterhalten.

Hallo, magst du dich einmal kurz vorstellen?

Ich bin Laura, ich bin seit drei Jahren Krankenschwester in der Rettungsstelle in einem Krankenhaus von Vivantes. Ich mag meinen Job eigentlich sehr gerne, aber jetzt gerade bin ich im Streik.

Wann habt ihr angefangen zu streiken und wie kam es dazu?

Die ganze Geschichte fängt eigentlich schon im März an, als wir angefangen haben diese Aktionen vorzubereiten. Im Mai gab es dann eine Übergabe von Forderungen an den Berliner Senat und es wurde ein 100 Tage Ultimatum gestellt, innerhalb dessen wir unsere Forderungen erfüllt sehen wollten – nach mehr Personal, besseren Arbeitsbedingungen in der Pflege, besseren Ausbildungsbedingungen und einer fairen Bezahlung, also nach TVöD, für die Beschäftigten der Tochterunternehmen von Charité und Vivantes. Dieses Ultimatum ist ohne Reaktion geblieben und dementsprechend sind wir dann vor drei, vier Wochen in den Streik getreten.

Gab es Versuche euer Streikrecht einzuschränken?

Erstmal war es ein Warnstreik über drei Tage, dort haben wir auch eine einstweilige Verfügung von unserer Arbeitgeberin Vivantes kassiert, Charité hat das nicht gemacht. Die wurde dann nach dem Wochenende vom Berliner Arbeitsgericht wieder gekippt. In dieser Zeit wurde noch nicht mal eine Notdienstvereinbarung abgeschlossen. Wir haben natürlich eine eingereicht, die wird dann einseitig geschlossen – das ist geltendes Streikrecht und nach der verhalten wir uns auch nach wie vor – die wurde aber nie von der Arbeitgeberin angenommen. Die Arbeitgeberin hat Besetzungen gefordert, die weit über das hinausgehen, was wir in der Normalbesetzung haben.

Wir waren die ganze Zeit verhandlungsbereit, es wurden aber keine Verhandlungen aufgenommen. Deswegen sind wir jetzt seit zwei Wochen in einem unbefristeten Erzwingungsstreik um eben unsere Forderungen durchzusetzen. Unser Credo ist, dass nicht der Streik die Patient:innen gefährdet, sondern der Normalzustand.

Wie sieht eure Notdienstvereinbarung aktuell aus?

Das ist ein bisschen differenziert. Für die normalen Stationen gilt die Wochenendbesetzung, bei uns in der Rettungsstelle haben wir für jede Vivantes Rettungsstelle eine individuelle Vereinbarung getroffen. Die orientiert sich aber an der schlechtesten Besetzung der letzten Monate vor dem Streik.

Kannst du uns mehr über die Arbeitsbedingungen im „Normalzustand“ erzählen?

Ja. Wenn wir so besetzt sind, drei Pflegepersonen zur Patient:innenversorgung, versorgen wir teilweise bis zu 70 Patient:innen. Und das sind nicht einfach nur Leute die einen verstauchten Fuß haben. Das sind Leute mit Frakturen oder in psychischen Ausnahmezuständen aber auch Leute mit Akutsituationen, also Herzinfarkten, Schlaganfällen. Und das sind Menschen in akut lebensbedrohlichen Situationen, die reanimiert werden müssen, die beatmet werden müssen, die Herz-Kreislauf-Stillstände haben. Das sind auch Leute mit starken Schmerzen oder Patient:innen mit Demenz, die eine intensive Betreuung erfordern, genauso wie die Psych.-Patienten um die man sich eigentlich individuell kümmern müsste. Und davon haben wir dann quasi zu dritt bis zu 70. In einem Dienst, gleichzeitig. Da kann man sich vorstellen wie das abgeht. Dann müssen wir überlegen, wen wir von der Trage schicken, damit wenn die Feuerwehr wiederkommt sich jemand hinlegen kann und wo wir überhaupt jemanden hinsetzen können. Da bleiben die Grundbedürfnisse der Patient:innen – also Essen, Trinken, mal auf die Seite gedreht oder gewindelt werden – komplett auf der Strecke.

Und nach so einem Dienst fühlt man sich eigentlich immer wie eine richtige Versagerin. Du kommst nicht hinterher, du schaffst nicht alles. Menschen müssen auf vieles warten, es kommt zu vielen Aggressionsereignissen. Alles Dinge, die man mit einer guten Personalbesetzung verhindern könnte. Jetzt hat man eigentlich nur noch das Gefühl, dass man aufpasst, dass niemand stirbt. Und das ist nicht das Ideal, warum ich Krankenschwester geworden bin. Ich möchte Menschen gut versorgen und in schlimmen Situationen für sie da sein. Das geht alles nicht.

Welche Forderungen habt ihr aufgestellt, damit ihr in Zukunft mit einer besseren Besetzung arbeiten könnt?

Es gibt quasi zwei große Säulen für die Pflege in allen Bereichen. Von unserer Seite läuft alles auf einen Tarifvertrag Entlastung hinaus, also einen zusätzlichen Tarifvertrag zum TVöD nach dem wir aktuell arbeiten. Der soll eine schichtgenaue Mindestbesetzung für jeden Bereich vorsehen. Wir wollen ganz genau verhandeln, an welcher Stelle wir wie viel Personal brauchen. Bei uns würde das zum Beispiel bedeuten, dass in jedem Dienst mindestens acht Pflegepersonen da sind. Das ist an unseren Patientenzahlen orientiert. Es gibt Richtlinien von der DGINA (Deutsche Gesellschaft für interdisziplinäre Notfall- und Akutmedizin, Anm. d. Red..)welche als Personalunterbesetzung einen Schlüssel von 1:5 oder 1:6 vorsehen, aktuell arbeiten wir mit einem Personalschlüssel von 1:15 bis 1:30. Man kann sich vorstellen, was das für einen Unterschied macht. In unserer Rettungsstelle haben wir aktuell 31 Vollkräfte und wir würden dann eher so auf 50 kommen. Also ein riesigen Unterschied in jedem Dienst. Das würde dazu führen, dass wir nicht mehr so überbelastet sind und so schnell aus dem Beruf ausscheiden müssen, wie das gerade häufig passiert. Das kann man auch auf andere Bereiche übertragen. In der Intensivmedizin ist es eigentlich notwendig und auch von der Gesetzgeberin gefordert, dass es eine 1:2 Betreuung gibt. Momentan ist es häufig 1:4 oder schlimmer. Dem wird man nicht gerecht, das ist unmöglich.

Es gibt ja auch die Forderung nach einem Punkte-Modell. Kannst du das noch einmal erläutern?

Genau, das ist die zweite Säule. Wenn diese Personalunterbesetzungen unterschritten werden, fordern wir Belastungspunkte. Wenn ich also zum Beispiel in einem Dienst arbeite in dem wir nicht zu acht sind, sondern nur zu viert, dann bekomme ich einen Belastungspunkt. Und unsere Forderung wäre, dass wenn wir eine bestimmte Anzahl davon gesammelt haben, wir einen Freizeitausgleich bekommen. Langfristig soll das die Arbeitgeber dazu zwingen, Personal aufzubauen, weil diese Belastungspunkte für sie natürlich teuer sind. Punkte soll es auch geben, wenn wir mehrere starke Belastungen wie beispielsweise Reanimationen in einer Schicht haben. Oder auch für Auszubildende, wenn sie in Situationen geraten, wo sie als Vollkraft missbraucht werden.

Wie wirkt sich der Streik aktuell auf euren Arbeitsalltag aus?

Ich muss ganz ehrlich sagen, in meiner Rettungsstelle und in vielen anderen Bereich auch ist es so, dass oft niemand streiken gehen kann, weil wir schon von Haus aus nicht besser besetzt sind, als es die Notdienstbesetzung vorsieht. Wenn jemand von uns streiken kann, ist es für die Kolleg:innen, die den Notdienst dann tragen müssen natürlich hart. Weil man weiß, dass gerade eigentlich noch mehr Personal da sein könnte. Deswegen fühlen wir uns da häufig sehr in der Zwickmühle, aber es ist gerade eben wichtig weiter zu streiken und das durchzuziehen. In meinem Team ist es zum Glück auch so, dass von 42 Kolleg:innen nur eine Person nicht streikbereit ist. Deswegen läuft das ganz gut, aber mittlerweile gehen wir auf dem Zahnfleisch. Es ist hart, man trifft auch auf viel Unverständnis bei anderen Kolleg:innen. Aber eigentlich muss man sagen, dass wir sonst auch mit ähnlich wenig Personal arbeiten. Und wenn die Arbeitgeberin argumentiert, dass das jetzt Patient:innengefährdung sei, dann ist das ein Riesenskandal und quasi Rufmord an der Pflege und an den Streikenden. 

Kommen wir noch einmal zu den Verhandlungen zurück, die gerade hier laufen. Was gibt es von dort zu berichten?

Für Vivantes hatten wir gestern Sondierungsgespräche, die liefen für einige Bereiche wirklich vielversprechend. Es wurde viel abgenickt von unseren sehr detailliert ausgearbeiteten Forderungen. Für andere Bereiche wie die Stationen mit Betten, die Azubis und Hebammen lief es eher schlecht. Für Auszubildende gab es gar kein Angebot, die Hebammen wurden ignoriert. Die können eigentlich nicht bei drei Geburten gleichzeitig sein und dass das gerade so passiert ist nicht menschenwürdig. Und für die bettenführenden Stationen scheint Vivantes ein Flexibilisierungmodell zu fordern. Also, dass nicht mehr nach Fachrichtung geteilt wird, sondern ganz viele Patient:innen interdisziplinär zusammenliegen. Das bringt mehrere Probleme mit sich. Zum einen müssen die Ärzt:innen die ganze Zeit hin und her laufen, was für viel Zeitverlust sorgt. Die haben eh schon genug Stress, auch nicht weniger als wir. Außerdem führt das zu einer Entprofessionalisierung in der Pflege. Das wertet das Selbstverständnis der Pflege total ab. Und es ist natürlich das Ziel bei Arbeitsausfällen einfach viele Patient:innen auf eine Station zu schieben. Man möchte ganz viel Geld sparen, wodurch die Qualität der Gesundheitsversorgung krass leidet. Dementsprechend wollen die bei uns nicht nach Fachbereich verhandeln. Deswegen sind wir gestern mit gemischten Gefühlen aus den Verhandlungen gegangen. 

Und wie ging es heute weiter?

Heute ist es katastrophal. Uns wird signalisiert, dass es denen relativ egal ist, wie lange die Verhandlungen dauern. Wir haben den Eindruck, dass die jetzt eine Verschleppungstaktik fahren um ein Ergebnis bis nach der Wahl am Sonntag zu vertagen, weil die genau wissen, dass wir jetzt gerade Momentum haben und dass gerade alle Augen aus der Politik auf uns gerichtet sind. Wahrscheinlich ändert sich das nach der Wahl. Dementsprechend wurde heute total viel zurückgenommen, was uns gestern zugesagt wurde. Es gibt aktuell eigentlich null befriedigende Ergebnisse. Sie sagen, dass sie nur noch bis heute früher Nachmittag mit uns verhandeln und dann wollen sie ins Wochenende gehen.

Du hast die Wahl am Sonntag angesprochen. Wie ist denn aktuell die Rückmeldung aus der Politik?

Bis jetzt habe ich da heute noch nichts gehört. Wahrscheinlich wird gerade in der Tarifkommission darüber diskutiert, wie wir jetzt darauf reagieren sollen. Wir haben in den letzten Wochen insgesamt 600 Erfahrungsberichte über die schlimmsten Situationen, die wir auf Stationen erlebt haben, gesammelt. Am Montag haben wir Politiker:innen von SPD, Grünen und Linken in der Zionskirche 16 davon vorgestellt. Wir haben uns bis jetzt darauf geeinigt davon nichts zu veröffentlichen, aber ich kann sagen, dass bei den Politiker:innen Tränen geflossen sind. Und ich denke mal unser nächstes Druckmittel wird sein, diese Berichte zu veröffentlichen wenn uns nichts anderes übrig bleibt.

Insgesamt ist es so, dass wir nicht mitbekommen, was im Hintergrund läuft. Aber nach diesem Montag hatten wir schon das Gefühl, dass da massiv Druck ausgeübt wurde. Danach gab es viele Zugeständnisse von Herr Danckert (Dr. Johannes Danckert, kommissarischer Vorsitzender der Vivantes-Leitung, Anm. d. Red.). Eigentlich hieß es, dass sie bis Ende der Woche ein abschlussfähiges Verhandlungsergebnis haben wollen. Und heute hatten wir dann den Eindruck, dass Dorothea Schmidt (Geschäftsführerin d. Personalmanagement bei Vivantes, Anm. d. Red.) dass alles ad absurdum führt. Es ist auch wichtig zu wissen, dass Schmidt uns sehr klein hält und uns immer wieder signalisiert, dass Pflege nichts wert ist, obwohl sie selbst gelernte Krankenschwester ist. Sie sagt, dass wir keine Belastungssituation hätten und dass das eine emotionale Wahrnehmung von Individuen sei. Das istaus einem Awareness-Standpunkt schon grob übergriffiges Verhalten uns gegenüber. Hier streiken jeden Tag 2.000 Beschäftigte. Und die Streikbereitschaft wäre eigentlich noch viel höher, aber wir fühlen uns unseren Patient:innen verpflichtet und wollen niemanden im Stich lassen. Genau diese Garantie der Versorgung unsererseits bedeutet ja auch die Notdienstvereinbarung. Wenn uns so etwas gesagt wird, ist das fast so, wie als Herr Spahn sagte, dass wir alle kündigen sollen, wenn wir es nicht aushalten.

Wann war das?

Das ist schon eine ganze Weile her und wurde nie öffentlich gemacht. Aber das war bei einer Veranstaltung, bei der Kolleg:innen von mir aus dem Klinikum am Urban anwesend waren.

Und wie sieht es aus mit der Solidarität aus der Bevölkerung, besonders nachdem diese während der letzten eineinhalb Jahre Covid-19-Pandemie immer wieder beteuert wurde. Zeigt sich das auch jetzt?

Ja, auf jeden Fall! Es gibt eine Petition zur Berliner Krankenhausbewegung, die wurde oft unterschrieben. Auch an den Streikposten vor den Krankenhäusern werden wir wahnsinnig häufig von der Zivilbevölkerung angequatscht. Es kommen ganz oft Leute vorbei und sagen uns, dass es toll ist, was wir machen und wollen die Petition unterschreiben. Teilweise gibt es auch andere Stimmen, aber wenn man mit den Menschen spricht, kommt dann meistens auch die Erkenntnis, dass es wichtig ist, was wir machen. Ich habe schon überwiegend den Eindruck, dass die Unterstützung in der Bevölkerung da ist. Ich bin nur ein bisschen enttäuscht über das mediale Echo. Die Berliner Gesundheitsversorgung steht an einem Scheideweg und den können wir gerade mit bestimmen. Absolut jede Person kommt irgendwann mal in ein Krankenhaus und Vivantes und Charité stellen zusammen nunmal elf der größten Krankenhausbetriebe in der Stadt. Das heißt es geht wirklich jeden etwas an und dafür finde ich das Interesse noch zu gering.

Kannst du uns zum Schluss noch einen Ausblick geben, wie ihr weiter verfahren wollt, auch über das Wahl-Wochenende hinaus?

Wenn sich das weiterhin so unbefriedigend gestaltet, wie es das bisher tut dann werden wir – auch wenn wir alle auf dem Zahnfleisch gehen und nicht mehr wollen – weiter streiken müssen. Und wahrscheinlich auch noch Mal Druck ausüben müssen. Vielleicht mit einer Veröffentlichung der Erfahrungsberichte.

Vielen Dank und viel Erfolg noch beim Streik!

Danke.

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Ich arbeite in einer Notunterkunft für Obdachlose in Wien. Das heißt, dass ich mehrere Tage pro Woche in oft vollen S-Bahnen in die Arbeit fahre. In eine Unterkunft, in der dutzende Menschen leben. Menschen, die man auch in leerstehenden Wohnungen, von denen es in Wien tausende gibt, unterbringen könnte. Oder in Hotels, die ebenfalls leerstehen. Das Corona-Management der Regierung macht mich wütend, das gilt für die österreichische Regierung genauso wie für Deutschland, wo ich bis vor einigen Monaten noch gelebt habe. Es macht mich wütend, weil es vor Allem darauf abzielt, die Lasten der Krise auf uns, auf die Arbeiter:innenklasse, auf die Selbstständigen und die Mittelschicht abzuladen, während die Reichen von der Krise sogar noch profitieren.

Ich will keine Zustände wie in London, wo Menschen in den Fluren von Krankenhäusern sterben, weil die Intensivstationen voll sind. Ich will nicht, dass sich immer weitere Mutationen des Virus ausbreiten. Die sozialen Kontakte einzuschränken um Covid in den Griff zu bekommen ergibt deshalb Sinn. Aber es wird zur Farce, wenn das Arbeitsleben in Bereichen, die nicht überlebensnotwendig sind, weiterläuft. Wenn sich Arbeiter:innen bei Konzernen wie Tönnies massenhaft anstecken, weil sie in Baracken leben und in Gemeinschaftsräumen schlafen. Deshalb habe ich vor einigen Tagen den Aufruf der Kampagne ZeroCovid unterschrieben, weil diese Kampagne fordert, was logisch ist: Den Shutdown der Wirtschaft, der notwendig ist, um Corona in den Griff zu bekommen. Ich habe unterschrieben, weil ZeroCovid sinnvolle Ideen hat, wie dieser Shutdown sozial abgefedert werden kann: Mit einer massiven Umverteilung des Wohlstandes von Oben nach Unten – europaweit. Und ich habe unterschrieben, weil in dem Aufruf Forderungen Platz finden, die von Pflegekräften schon lange gestellt werden.

Im letzten Jahr haben in Sachen Corona vor Allem liberale und rechte Akteur:innen die Diskussion und die Politik dominiert. Die einen beschränken unser Privatleben, sie machen das Individuum dafür verantwortlich ob Corona besiegt wird oder nicht. Sie lenken damit von systemischen Problemen ab. Die anderen leugnen Corona oder stellen sich gegen die Maßnahmen. Es gab mehrere kleinere Versuche, eine dritte Option greifbar zu machen, eine solidarische Krisenpolitik, die die Coronakrise zu einem Ausgangspunkt für den Aufbruch in eine gerechtere Gesellschaft macht. Nur wurden sie kaum gehört. Mit ZeroCovid ändert sich das. Der Aufruf der Kampagne wurde inzwischen von immerhin fast 100.000 Leuten unterzeichnet und weit mehr Menschen diskutieren darüber.

Es war absehbar dass Rechte und Liberale jetzt schreien: „Aber die Wirtschaft!“, es ist das selbe Geschrei, dass seit Jahrzehnten verhindert, dass der Klimawandeln effizient abgebremst wird. Ja, das Wirtschaftssystem wird sich massiv ändern müssen, wenn wir die Krisen dieser Zeit anpacken wollen.

Und jetzt? Los! Oder nicht? Das Problem an ZeroCovid ist, dass die Regierungen die Forderungen der Kampagne (Spoileralarm!) nicht einfach so umsetzen werden. Nicht weil die Forderungen zu krass sind, man hätte sie auch mutiger formulieren können, sondern weil es in der Politik nicht vor Allem um gute Ideen, sondern um materielle Interessen geht. Egal ob unter Merkel oder Kurz, egal ob unter einer großen Koalition, unter rot-grün, schwarz-blau oder unter welcher Farbkombination auch immer. Das Diktat der großen Konzerne bleibt das selbe und es befiehlt: Privatisieren, sparen, Gürtel enger schnallen!

ZeroCovid ist ein Programm, das mit linken sozial- und wirtschaftspolitischen Ideen um die Ecke kommt. Ein Programm, das den Sachzwängen der kapitalistischen Konkurrenz widerspricht.
Keine Regierung wird dieses Programm umsetzen.

Dennoch ist die Kampagne sinnvoll, denn sie stellt den dominierenden rechten und neoliberalen Erzählungen eine explizit linke entgegen. Selbstredent bleibt es aber notwendig, dass wir uns organisieren. Nur gemeinsam sind wir in der Lage unsere Forderungen auch gegen Widerstände von Oben durchzudrücken. Dafür brauchen wir Mut und starke Druckmittel. Wir brauchen eine kollektive Verweigerung. Wir brauchen einen Generalstreik. Nur der Generalstreik kann die Forderung nach einem Shutdown der Wirtschaft praktisch werden lassen. Wir müssen den Shutdown selbst organisieren.

In Italien planen Gewerkschaften bereits einen Generalstreik: Die Cobas, so werden in Italien die Basisgewerkschaften genannt, rufen für den 29. Januar landesweit dazu auf, die Arbeit zu boykottieren. Mit dem Streik fordern sie unter Anderem eine Vermögensabgabe von zehn Prozent für die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung. Mit den Milliarden die dadurch frei werden, sollen Arbeiter:innen, die von Kurzarbeit oder Entlassung betroffen sind, entlastet und das durch Privatisierung geschwächte Gesundheitssystem saniert werden. Das ist ein erster Ansatz der in eine richtige Richtung weist. Und Generalstreiks sind auch in Deutschland möglich, wie die Geschichte zeigt – Streikrecht hin oder her.

Was aber macht den Generalstreik so effizient? Der Generalstreik hat gegenüber Protesten und anderen Aktionsformen den Vorteil, dass er einen besonders wunden Punkt trifft: Die Wirtschaft. In einem System, das darauf angewiesen ist ständig zu produzieren, ständig Kapital zu akkumulieren und neue Märkzte zu erschließen, gleicht es einem Erdbeben, wenn auf einmal nichts mehr geht.

Ansatzweise klingt der Generalstreik bei ZeroCovid ohnehin schon an, wenn die Kampapgne schreibt: „Mit diesem Aufruf fordern wir auch die Gewerkschaften auf, sich entschlossen für die Gesundheit der Beschäftigten einzusetzen, den Einsatz von Beschäftigten für ihre Gesundheit zu unterstützen und die erforderliche große und gemeinsame Pause zu organisieren.“
Leider klammern sich die Gewerkschaften in Deutschland und Östereich und vielen anderen europäischen Ländern an den sozialpartnerschaftlichen Burgfrieden. Wollen wir den Generalstreik, müssen wir den Gewerkschaftsspitzen also Feuer unterm Arsch machen und dort, wo sie nicht mitziehen, oder die Menschen nicht von Gewerkschaften vertreten werden, Basisgewerkschaften und eigene Initiativen aufbauen. Und wir müssen den Streik breiter denken. Als gesellschaftlichen Aufbruch, der auch feministische, antirassistische und klimapolitische Ansätze mitdenkt. Denn streiken können nicht nur Männer mit Bauhelmen und Warnwesten. Feministische Bewegungen haben in den letzten Jahren in vielen Ländern Frauen- bzw. feministische Streiks organisiert, in denen Frauen* nicht nur die Lohnarbeit, sondern auch die Reproduktionsarbeit, also die Arbeit in den Privathaushalten bestreiken, um sich gegen Feminizide und patriarchale Gewalt im Allgemeinen zur Wehr zu setzen. Lernen können wir auch von den Schulstreiks von Fridays For Future und nicht zuletzt von den hunderten Millionen von Bauern und Arbeiter:innen in Indien, die in den vergangenen Monaten immer wieder das Land lahmgelegt haben um sich gegen die Liberalisierung der Agrarmärkte zu wehren.

Lasst uns also eine breite Diskussion darüber starten, wie das funktionieren könnte. Im „Privaten“, in den Schulen, in den Unis und den Betrieben. Lasst uns überlegen wie wir den Druck erhöhen können um die Forderungen nach einer solidarischen Coronapolitik durchzusetzen. Auch mit Blick auf den 8. März, den internationalen Frauenkampftag, an dem wieder feministische Streiks und Demos stattfinden werden. Und mit Blick darauf, dass die Wirtschaftskrise, die im Schatten Corona anrollt, kein Zuckerschlecken wird.

#Titelbild: Gemeinfrei via Pixabay

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Die Corona-Pandemie hat Gesundheitsbereich wie Gesellschaft insgesamt zu einem Pulverfass werden lassen. Ausbaden müssen die enormen Mehrbelastungen unter anderem die Arbeiter:innen im Gesundheitssektor, die öffentlich beklatscht und zugleich verheizt werden. In Hamburg ist nun deshalb ein Arbeitskampf ausgebrochen. Unsere Autorin Lena Padberg ist examinierte Gesundheits- und Krankenpflegerin aus Hamburg, politisch innerhalb und außerhalb gewerkschaftlicher Zusammenhänge aktiv.

Sie will den Leser:innen einen Einblick hinter die Kulissen der Hamburger Krankenhäuser gewähren und über den Widerstand der Beschäftigten gegen die Profitinteressen der Klinikaktionäre berichten.

Insbesondere der Gesundheitssektor, der schon vor der Corona-Krise am Limit war, musste in den letzten Monaten eine nie dagewesene Krise unter menschenunwürdigsten Arbeitsbedingungen bewältigen.

Die Pandemie trifft auf absoluten Personalmangel in allen Bereichen. Die Organisation in den Kliniken ist in vielen Krankenhäusern mehr auf Gewinnmaximierung als auf sinnvolles Handeln im Sinne der Gesundheit der Patient:innen ausgerichtet. Unterbesetzung, Fallpauschalen in Krankenhäusern, Zeitvorgaben in der Pflege und Patient:innen als „Gewinnfaktor“ dominieren weiterhin die Versorgung in Hamburger Krankenhäuser. Die angekündigten Pflegebonuszahlungen sind bislang nicht ausgezahlt worden und werden auch nie ausgezahlt werden. Der Personalmangel ist an seinem absoluten Höhepunkt angekommen, unter anderem aufgrund der Aussetzung der Personaluntergrenzen.

Zweite Welle: Völlig überlastet

Zum Vergleich ist anzumerken, das in der ersten Pandemiewelle im Frühjahr ganze Abteilungen im Krankenhaus für Coronapatient:innen frei gemacht werden konnten. Kliniken erhielten Finanzspritzen und Personal aus der Anästhesie und den Operationssälen wurde auf die Intensivstation verlegt. Es gab Schulungen für Beatmungsgeräte, ein Krisenmanagement und vieles mehr.

In der zweiten Welle gibt es davon nichts mehr.

Kein Bett wird für Corona freigehalten, Anästhesiepersonal hilft nicht auf den Intensivstationen aus, kein Krisenmanagement ist vorhanden und Stationen, die für Corona geplant waren, wurden im September sogar geschlossen. Gleichzeitig haben einige Krankenhäuser sogar Personal im Bereich des Services (Versorgung der Patient*innen mit Essen usw.) abgebaut – und diese Tätigkeit muss nun vom Pflegepersonal übernommen werden.

Die geplanten Krankenhausbetten für Corona-Patient*innen sind in Hamburg weitestgehend belegt. Drastische Folge dessen ist, dass Coronapatient*innen auf allen Stationen verweilen. Dies hat in der Vergangenheit dazu geführt, dass sich die anderen Patient*innen über das Personal mit Corona infizierten.

Zudem werden Patient*innen weiterhin regelmäßig auf den Fluren der Krankenhäuser geparkt.

Diese Zustände führten dazu, dass es in den letzten Wochen zu massiven Corona-Ausbrüchen unter dem Personal und den Patient*innen in den Hamburger Krankenhäusern gekommen ist.

Es ist kein Geheimnis, dass für medizinisches Personal andere Quarantäne-Vorschriften gelten.

Personal in “Freizeitquarantäne”

Quarantäne bedeutet für das Gesundheitspersonal nämlich eigentlich Freizeitquarantäne. Verboten ist alles, außer das Verlassen des eigenen Zuhause zum Arbeiten. Alles andere – wie zum Beispiel das Wegbringen der eigenen Kinder in den Kindergarten und das Einkaufen usw. – ist nicht erlaubt. Zudem ist es verboten, mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit zu fahren. Was das für die Gesundheitsbeschäftigten bedeutet, kann sich jeder selbst ausmalen.

Außerdem stellen die knappen Ressourcen der Gesundheitsämter ein großes Problem dar. Oftmals kommen sie mit der Kontakt-Verfolgung innerhalb der Krankenhäuser nicht mehr hinterher. Dies nutzen die Klinikbetreiber aus, denn solange den Krankenhäusern keine staatliche Quarantäneauflagen für ihr Personal vorliegen, müssen alle weiterarbeiten. Gleichzeitig bekommen einige Pflegekräfte auch Arbeitsverbote (Also richtige Quarantäne). Dies führt wiederum dazu, dass manchmal ganze Stationen bis hin zu Abteilungen kein Personal mehr hatten, um die Patient*innen zu versorgen. Ab diesem Moment wird Personal von anderen Stationen abgezogen, das wiederum dort fehlt, ein Teufelskreis.

Um all den Personalmangel zu kompensieren, kamen die Verantwortlichen in Niedersachsen auf die Idee, die 60 Stunden Woche und den 12 Stunden Tag für die Beschäftigten aus dem Krankenhaus zu ermöglichen. Dieses führt dazu, dass die Kliniken auch in anderen Bundesländern versuchen, Lockerungen des Arbeitszeitgesetzes durchzusetzen.

Schutzkleidung Mangelware

Schutzkleidung ist – wie schon in der ersten Welle – weiterhin Mangelware und deren Qualität ist mehr als nur unzureichend, sie ist miserabel. Die Klinikbetreiber geben sogar vor, dass der Mundschutz nur bei enormer Verschmutzung, nach einer Schicht oder sogar erst nach einer Woche gewechselt werden darf. Dass der medizinische Mund-Nasenschutz laut Herstellerangaben aber niemals eine so lange Wirksamkeit garantiert, wird vernachlässigt. Manche Kliniken geben Schutzkleidung sogar nur rationiert raus, sodass die Kolleg*innen keine andere Wahl haben, als den Mundschutz für 8 Stunden oder länger zu tragen.

Das gesamte Klinikpersonal wird immer noch nicht großflächig getestet. Pflegekräfte müssen um Coronatests betteln und dann noch bestimmte Kriterien erfüllen, um einen Test zu bekommen.Das Testergebnis aber spielt in vielen Fällen aber sowieso keine Rolle, da egal, ob negativ oder positiv, die Arbeit weitergeführt werden muss. Also halten wir fest: Für den Fußball gibt es den Test. Für das Personal im Krankenhaus gibt es Ausbeutung bis zum Umfallen.

Pfleger:innen vor dem Zusammenbruch

Elektive medizinische Eingriffe – also nicht unaufschiebbare Operationen – wurden in der ersten Welle noch ausgesetzt. Jetzt aber werden so viele Patient*innen wie möglich durch die Krankenhausfabrik geschleudert, damit die Klinikmanager und die Aktionäre sich an dem Leiden und an der Pandemie bereichern können.

Die Angst davor, sich mit Corona zu infizieren, sowie die psychische und körperliche Belastung aufgrund der menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen im Krankenhaus, ist in vielen Fällen aktuell so groß, dass sich Pfleger:innen wochenlang krankschreiben lassen und das emotionale Ausbrüche, wie zum Beispiel das plötzliche Zusammensacken des Körpers oder panisches Schreien, Wutanfälle und heftiges Weinen unter uns Beschäftigten im Gesundheitswesen zu einer Alltäglichkeit geworden sind. Diese Ängste sind nicht unberechtigt, einige Krankenhausbeschäftigte liegen nun in dem Bett und an der Beatmungsmaschine, die sie zuvor selbst betreut haben.

Ein Arbeitskampf beginnt

Im Jahr 2019 wurde der sogenannte Volksentscheid für mehr Personal im Krankenhaus vom Hamburger Senat als verfassungswidrig eingestuft. Ein Grund lag darin, dass auf Bundesebene eine Personalregelung schon verabschiedet worden sei, nämlich die am Ist-Zustand orientierende Personaluntergrenzen. Diese haben in der Vergangenheit zu Personalabbau, dauerhaften Patient*innen-Verschiebungen geführt und ganze Stationen wurden einfach umbenannt, damit sie nicht in die Personaluntergrenzenregelung hereinfallen.

Während das Verfahren gegen den Volksentscheid lief, hatten sich schon längst viele Beschäftigte aus den Krankenhäusern organisiert. Es fanden sich Pfleger:innen, Hebammen, Therapeut:innen usw. zusammen. All diese hatten schon lange die Idee von der Organisierung „von unten“, also der eigenen Kolleg:innen. Es wurden alte und neue Arbeitskämpfe aufgearbeitet, aus denen sich die theoretische Grundlage für die Praxis gebildet hatte.

In den darauf folgenden Monaten wurden in den Krankenhäusern immer mehr Kolleg:innen dazugewonnen. Gleichzeitig kam es zu mehreren Veranstaltungen, in denen gemeinsam der Inhalt der Forderungen ausdiskutiert worden ist. Denn nur die Kolleg:innen selbst wissen, was es braucht, um die Arbeit und die Versorgung im Krankenhaus menschenwürdiger zu machen.

Kurz darauf standen schon die Hamburger Senatswahlen an.

Wir wollten die Wahlen bestimmen und das Thema Pflegenotstand zurück in den Wahlkampf bringen. Dies war von der politischen Seite nicht erwünscht. Jedoch waren die Krankenhausbeschäftigten unermüdlich. Zunächst gab es eine Unterschriftenaktion, die dem Senat überreicht worden ist, danach eine Fotoaktion, Besuche von Pfleger:innen in den Wahlkampfveranstaltungen, Demonstrationen und zum Schluss eine Anhörung, in der z.B. auch Frau Fegebank, Vorsitzende der Grünen, teilnahm. In der Anhörung hatten die Beschäftigten des Krankenhauses ihren Klinikalltag und ihre Forderungen geschildert. Diese Aktionsform, sowie all die anderen Aktivitäten, haben dazu geführt, dass die Kolleg*innen einen großen Erfolg erleben konnten.

Am Anfang des Jahres 2020, noch vor dem Beginn der Pandemie, ließ die Gesundheitsbehörde berichten, dass vier große Forderungen von den Krankenhaus-Beschäftigten ins Koalitionsprogramm aufgenommen worden sind.

Die vier Koalitionspunkte enthalten sinngemäß:

  • Keine Hebamme soll mehrere Geburten gleichzeitig betreuen;
  • Keine Pflegekraft soll alleine im Nachtdienst für über 30 Patient:innen zuständig;
  • Einführung einer Personalbemessung;
  • Auszubildende erhalten eine dauerhafte Praxisbetreuung

Viele von diesen Aktionen hatten natürlich ihren Zweck darin, das Thema Krankenhaus in die Öffentlichkeit zu bringen. Dennoch haben uns am Ende nicht die Unterschriften interessiert, sondern die Kolleg:innen, die hinter ihnen stehen. Der eigentliche Zweck lag nämlich darin, Strukturen aufzubauen. Denn je größer der Organisationsgrad, desto schwieriger die Aktionen. Dabei ist der größte Strukturtest am Ende der Streik.

Tarifrunde und Arbeitsstreiks

Im Laufe des Jahres wurden mehrere Umfragen, Fotoaktionen, Pressekonferenzen usw. durchgeführt. Nachdem die erste Coronawelle abgeflacht war, ging es erst richtig los.

Die Tarifrunde wurde gestartet.

Hamburg hatte aufgrund der effektiven Organisation in der Vergangenheit einen leichten und guten Start in die Tarifrunde. Erstmals wurde mit der Gewerkschaft und der organisierten Basis neue Methoden des Arbeitskampfes ausprobiert. Dies beinhaltet zum Beispiel die Durchführung von „Arbeitsstreiks“, regelmäßig Treffen, direkte Absprachen mit der Tarifkommission und einer hohen Teilnehmer:innenzahl bei den beiden durchgeführten Warnstreiks.

Trotz des ernüchternden Tarifergebnisses müssen sich Linke und die Beschäftigten vor Augen führen, dass in früheren Tarifrunden meistens pro Krankenhaus nicht Mal hundert Menschen die Arbeit niedergelegt hatten. Diese Tarifrunde aber haben sogar 350 Kolleg:innen nur an einem Krankenhaus gestreikt und insgesamt 3500. Gleichzeitig hat die Tarifrunde den gewerkschaftlichen und außer-gewerkschaftlichen Organisationsgrad in den Krankenhäusern enorm erhöht. Die Warnstreiks in der letzten Tarifrunde haben damit ein großes Potenzial innerhalb der Arbeiter*innenklasse gezeigt.

Es war nie unser Ziel, diese lächerlichen 4,5 Prozent zu erhalten. Es war verständlich, dass am Ende der Tarifrunde einige Kolleg*innen über das Ergebnis enttäuscht waren. Zudem hatte die Gewerkschaft in Hamburg wieder einmal gezeigt, wie eng sie mit der arbeiter*innenfeindlichen Sozialdemokratie zusammenarbeitet. Trotzdem haben die meisten den wahren Erfolg erkannt und wissen, dass es nicht unser Ziel war, die Gewerkschaftsforderungen durchzusetzen, sondern eben die Organisierung von unten.

Schwierigkeiten im Arbeitskampf

Es ist natürlich zu vermerken, dass die Organisation von Beschäftigten in der aktuellen Zeit eindeutig mehr Feingefühl benötigt. Es mussten immer wieder Veränderungen innerhalb der Strategie vorgenommen werden. Zusammenkünfte mussten ins Virtuelle verlagert werden. Ausfälle von Organizer*innen und Aktivist*innen mussten kompensiert werden. Es ist ein dauerhaftes Auf und Ab in den letzten Monaten gewesen, jedoch konnten wir durch die sich stetig veränderten Situationen auch neue Wege der Organisation von Krankenhausbeschäftigten erlernen, die uns ohne Pandemie nicht gegeben wären.

Gleichzeitig scheint es aktuell so zu sein, dass je schlimmer die Arbeitsbedingungen durch Corona und den bestehenden Personalnotstand werden, desto schwieriger der Arbeitskampf wird. Es wird davon ausgegangen, dass im Dezember die letzte Chance für uns Beschäftigten im Krankenhauswesen liegt, um den Arbeitskampf in einer noch höheren Phase führen zu können. Danach wird es wahrscheinlich erschwert sein, den Arbeitskampf weiterzuführen, da die Lage im Gesundheitswesen aller Wahrscheinlichkeit nach eskalieren wird.

Derzeit wird versucht, die Politik in die Verantwortung zu nehmen. Des Weiteren sind noch andere Aktionen und Wege geplant, die jedoch natürlich aus strategischen Gründen nicht beschrieben werden. Dennoch kann man festhalten, dass auch Streiks in dieser Zeit als eine Option und nicht nur als eine Option angesehen werden, sondern als eine Notwendigkeit. Es besteht aber auch die Möglichkeit, dass es zu spontanen Kampfmaßnahmen in den Krankenhäusern kommt. Dergleichen gab es z.B. schon im Jahre 2019 in einem Operationssaal, als die OP-Pfleger*innen sich an einem Morgen in den Sitzstreik begeben hatten.

Repressionen: Ausprägung und Folgen

Repressionen waren und sind im Arbeitskampf der Krankenhäuser auf der Tagesordnung. Mal kommt es zu Versuchen, Unterschriftenlisten oder andere Dokumente in den Kliniken von Aktivist*innen einzuziehen oder diese durch den Arbeitgeber zu entwenden. Es kommt zur Ausübung von psychischem Druck über die Ärzteschaft und durch Personalgespräche. Die meisten Repressionen bestanden aus: Zwangsversetzungen von Pflegekräften auf andere Stationen, Abmahnungen, Kündigungsandrohungen, Teamtrennungen und Arbeitsverpflichtungen vor den Streiks.

Zudem versuchte die Arbeitgeberseite in der Corona-Krise, die Öffentlichkeit auf ihre Seite zu bekommen, damit die gesellschaftliche öffentliche Meinung sich gegen die Streikenden in den Krankenhäusern richtet. Es wurde auf hetzerische Weise in den sozialen Medien, Zeitungen usw. die Streiks, als eine Gefahr für die Versorgung von Patient*innen dargestellt.

Doch die Streikenden konnten mit einer hervorragenden Community-Arbeit, die Öffentlichkeit davon überzeugen, dass nicht der Streik, die Versorgung in deutschen Krankenhäusern verschlechtert, sondern der Normalzustand des Personalnotstands.

All diese Repressionen haben uns gelehrt, das die bestehende Solidarität, die wir in den letzten Jahren durch die Organisation aufbauen konnten, unsere größte Waffe gegenüber der Kapitalseite ist. Jedoch hat auch konsequente Antirepressionsarbeit im voraus eine zentrale Rolle gespielt. Denn wer seine Rechte kennt, kann sich besser wehren.

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Die Proteste in Belarus halten noch immer an. Neben den Demonstrationen, an denen immer noch zehntausende teilnehmen, rufen einzelne selbsternannte Anführer:innen zum Generalstreik auf – allerdings nicht aus klassenkämpferischer Perspektive. Ein Kommentar dazu (Stand zweiter Streiktag).

Der belorussischer Präsident Alexander Lukaschenko sieht sich bekanntlich gerne als „Vater der Nation“ und findet an der volkstümlichen Betitelung „Väterchen“ Gefallen. Immer wieder betont er, dass wer sich ihm, dem demokratisch gewählten Präsidenten wiedersetzt, sich quasi gegen das ganze Volk stellt. Nun hat die Opposition seine Rhetorik übernommen und gegen ihn gewendet. Seine Herausforderin, Swetlana Tichanowskaja, ist nicht nur, “prepared to act as national leader” sondern setzte ihrem Kontrahenten am 13. Oktober ein “Volksultimatum“. Sollte „Väterchen“ nicht zurücktreten, werde ab dem 27. Oktober das Land durch einen Generalstreik lahmgelegt. Dabei wähnt die führende Oppositionelle nicht nur die Mehrheit hinter sich. Sie ist nicht einfach nur „eigentlich“ gewählte Präsidentin, für die ein Teil der Stimmberechtigten gestimmt hat, sondern schließt die Anhängerschaft Lukaschenkos kurzerhand vom Volk aus. Das Volk, so die Drohung, wird es nicht mehr bei den Straßenprotesten belassen, sondern durch die Niederlegung der beruflichen Tätigkeit eben das ganze wirtschaftliche Leben zum Erliegen bringen.

EU-Länder, auch die, in denen politische Streiks gesetzlich verboten sind (wie in der BRD) haben für das Anliegen vollstes Verständnis. Der Immer-noch-Präsident tritt jedoch nicht zurück – sondern nach. Er weitet die Kompetenzen der Repressionsorgane noch weiter aus und stellt den Einsatz von Schusswaffen in Aussicht. Die massive Unterstützung seiner Gegner aus dem westlichen Ausland bestätigt ihn in der Überzeugung, mit seinem Amt verteidige er nicht weniger als den Souveränität seines Landes.

Die Menschen, die gegen Lukaschenko auf die Straße gehen, sind einerseits rebellisch, weil das „Väterchen“ seine Lüge von der Abwesenheit der Opposition mit massiver Gewalt durchsetzt. Andererseits sind sie in ihre Rebellion untertänig, denn sie sehen sich ja selbst als ein Volk, das dringend neue Regierung benötigt. Sie riskieren ihre Freiheit, ihre Gesundheit und manchmal auch ihr Leben um bestimmen zu können, wer über sie bestimmt. Sie übernehmen die Denkfigur der „Interessen aller Belorussen“, ganz unabhängig davon, wie sie ihren Lebensunterhalt bestreiten.

Das Ergebnis der ersten Tage nach dem Aufruf Tichanowskajas ist durchwachsen. Rentner:innen und Studierende halten Plakate „Unterstützen wir unsere Arbeiter“. „Unsere“ heißt nicht, dass sie die Arbeitgeber:innen von diesen seien. „Unsere“ heißt – unsere oppositionell-belorussische Lohnabhängigen. Während Kleinunternehmen pünktlich zum Streikbeginn schließen, kann man von massenhafter Arbeitsniederlegung in der Industrie nicht sprechen. Das heißt keineswegs, dass die Arbeiterschaft geschlossen Lukaschenko unterstützt. In vielen Betrieben laufen aufgeregte Diskussionen. Vor manchen Betrieben stellten sich „Solidaritätsposten“ auf. Aber von den großen Betrieben ist lediglich die in der Oppositionshochburg Grodno stehende Chemiefabrik „Grodno Asot“ im Prozess der Stilllegung. Eine sofortige Unterbrechung des Produktionsprozesses würde zu einer Explosion führen.

Selbst die der Opposition sehr wohlgesonnenen Medien und Experten räumen ein, dass sich Tichanowskaja mit ihrem Ultimatum verspekuliert hat. Lukaschenko ordnete an, die Streikenden zu feuern und zu exmatrikulieren. Nicht umsonst spielen bei den Protesten Rentner:innen und Hausfrauen, die weniger zu verlieren haben eine so wichtige Rolle. Die Opposition setzt auch gezielt auf die Kontrastbilder „hier friedliche Frauen – da die gewaltätigen Silowiki-Männer“, aber mit der Hemmschwelle der Sicherheitskräfte scheint es nicht sehr weit her zu sein.

Ein Streik ist qualitativ etwas anderes als ein Protestspaziergang oder das Schließen des eigenen Unternehmens durch die Besitzer oder Lernverweigerung durch Studierende. Das Mittel ist nicht eine öffentlichkeitswirksame Inszenierung, sondern das Zufügen von wirtschaftlichem Schaden. Sollte es tatsächlich dazu kommen, sollte die Drohung von Tichanowskaja doch noch wahr werden, hätten die Lohnabhängigen in Belarus ein Mittel nicht nur gegen alte Machthaber, sondern auch gegen die neuen Anwärter:innen auf die Ämter. Es würde den Spielraum für ganz neue Zielsetzungen eröffnen. Das setzt jedoch die Erkenntnis voraus, dass das „Volk“ nun mal aus Klassen, mit allem anderen als gleichen Interessen besteht.

# Titelbild: Homoatrox, wikimedia commons, CC BY-SA 3.0, Proteste in Minsk im September

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Der Streik im öffentlichen Dienst ist beendet, für die die Verhandlung führenden Gewerkschaft ver.di ist der Tarifabschluss „respektabel“. Unsere Autor:innen, die beide im Gesundheitsbereich arbeiten, sehen das anders: Das ist Selbstbeweihräucherung auf Kosten der Arbeiterklasse!

Mit dem Tarifabschluss der Gewerkschaft Ver.di und dem „Verband der Komunalen Arbeitgeber“ (VKA) hat sich etwas einmaliges ergeben. Neben den Anpassungen der Tarifentgelte, Angleichung der Arbeitszeiten zwischen Ost/West und der Auschüttung einzelner Prämien, gibt es für alle beklatschten, systemrelevanten Arbeiter:innen etwas ganz besonders oben drauf: Spucke ins Gesicht.

Wir (die Autor:innen) wissen noch nicht so ganz wer uns da eigentlich ins Gesicht gespuckt hat. Der VKA oder die Intressenvertretung der Arbeiter:innenschaft in Form der Gewerkschaft Ver.di?

Naja, auf der anderen Seite, was war denn diesmal anders? Ein paar Warnstreiks, ein paar Verhandlungen hinter verschlossenen Türen, eine Seite die mauert und eine, weckt große Erwartungen. Das Ergebnis – ebenfalls wie immer – ernüchternd. Dieses Jahr allerdings dabei: Verlängerung der Übernahmegarantie von Auszubildenden. Ähm Moment, bitte was? Übernahmegarantie von Auszubildenden? Sagt mal hackt’s?

Alle labern sie von Fachkräftemangel und Personalnot, und dann ist es Verhandlungssache ob die betriebseigenen Auszubildenden übernommen werden oder nicht? Wow. Ich muss mal kurz ans Fenster klatschen gehen. Danke Ver.di! Danke VKA! Danke, das eine:r der beiden Autor:innen nach ihrer Ausbildung zur Gesundheits- und Krankenpfleger:in auch als solche in ihrem Betrieb weiter knechten darf. Richtig korrekt von euch.

Natürlich ist diesmal etwas anders. Wir haben eine scheiß Pandemie am Start, die den Kapitalismus so stark ins Wanken gebracht hat, dass Christian Lindner sich wahrscheinlich immer noch in den Schlaf weint.

Ihr redet von einem respektablen Abschluss, trotz der Corona Pandemie. Wir reden von einer heuchlerischen Selbstbeweihräucherung auf Kosten der Arbeiterklasse. Die Krise heißt immer noch Kapitalismus, wie es so schön heißt, und lässt sich am Beispiel der Krankhäuser auch leicht verdeutlichen.

Für Pflegende gesprochen: es geht nicht nur um Geld, wenn ihr genauer zugehört hättet, hättet Ihr gemerkt, dass es um materielle Arbeitsbedingungen geht, die uns das Leben schwer machen. Arbeiten mit zu wenig Personal, weil die Arbeitgeber:innen sie gekündigt haben, unter Zeitdruck, unter immer höher werdendem Aufwand, immer mehr Operationen, mehr Betten belegend, mehr Geld einnehmen. Es geht darum, nicht nur Kostenfaktor zu sein, der dem Profit im Wege steht. Es geht darum, sich weder psychisch noch physisch weiterhin kaputt zu machen. Burn Out, Depression, abgerichtet werden; das ist unser Ausblick in die Zukunft. Nicht nur für die Pflegende, für alle „Systemrelevanten“. Und natürlich geht es auch ums Geld, und viele Menschen unserer Klasse sind darauf angewiesen und freuen sich über ein paar Euros mehr im Monat. Aber seien wir mal ehrlich: Auf Dauer ist diese Form der Abspeisung keine Lösung.

Und noch viel wichtiger: es geht darum, dass die Krise nicht auf unserem Rücken ausgetragen wird! Die 4,5 Prozent Lohnsteigerung sind ein Witz, wenn man vergleicht, was den Unternehmen über Kurzarbeitsregeln oder direkte Investitionen wie bei der Lufthansa in den Rachen geworfen wird.

Liebe Ver.di, dieser Arbeitskampf war eure Chance, vielleicht die letzte greifbare, etwas grundlegendes zum Wohle eurer Mitglieder zu erreichen. Wie lange wurde „Systemrelevanz“ in den Medien und im Voksmund rauf und runter gebetet? Wie vielen Arbeiter:innen habt ihr nicht zugehört, als sie erzählt haben, was sich in ihrem Arbeitsleben ändern muss? Und warum müssen wir immer die gleiche Scheiße bei Tarifverhandlungen durchmachen, obwohl die Basis und „kleinere“ Sekretär:innen durchaus selbstbewusste Klassepolitik betreiben. Es geht euch um Mitglieder, um Verhandlungsbasis, aber gleichzeitig vergrault ihr Mitglieder und hört nach nur grade mal zwei Warnstreiks auf. Danke. Für. Nichts.

Wenn ihr nicht wollt, dass Gewerkschaften in der gleichen Belanglosigkeit wie die Sozialdemokratie verschwinden und sich die Arbeiterschaft nicht weiter den rechten Rattenfänger:innen und Verschwörungsfutzzis hinwenden, dann hört auf mit dem Burgfriedenbullshit des „Sozialpartnerschaftsprinzips“. Hört auf hinter verschlossenen Türen zu verhandeln, hört auf der Neoliebralen Mär vom Erhalt der Arbeitsplätze nachzufolgen. Fangt lieber damit an, auf eure Basis zu hören, auf die Prekärsten unter uns.

P.S: Liebe (radikale) Linke, vielleicht ist es an der Zeit sich mal wieder vermehrt mit der Arbeiter:innenbewegung und Gewerkschaften auseinander zu setzen. Ja wir wissen, dass es den meisten zuwider ist, sich mit dem chauvinistischen Betriebsratvorsitzenden auseinander zu setzen. Bzw. hat der studierende Teil von euch bestimmt noch nie etwas mit Personalräten/Betriebsräten oder Gewerkschaften zu tun gehabt; oder die Leute dort passen nicht zu eurer Peer Group, aber zwei schlaue Revolutionäre haben mal gesagt:

Will man der „Masse“ helfen und sich die Sympathien, die Zuneigung, die Unterstützung der „Masse“ erwerben, so darf man sich nicht fürchten vor Schwierigkeiten, […] und muß unbedingt dort arbeiten, wo die Massen sind[…] um systematisch, hartnäckig, beharrlich, geduldig gerade in allen denjenigen – und seien es auch die reaktionärsten Einrichtungen, Vereinen und Verbänden Propaganda und Agitation zu treiben, in denen es proletarische oder halbproletarische Massen gibt. Die Gewerkschaften und die Arbeitergenossenschaften (diese wenigstens mitunter) sind aber gerade Organisationen, die Massen erfassen.

(Wladimir Iljitsch Lenin Der „Linke Radikalismus“, die Kinderkrankheit im Kommunismus)

„Nicht in den reaktionären Gewerkschaften arbeiten heißt die ungenügend entwickelten oder rückständigen Arbeitermassen dem Einfluß der reaktionären Führer, der Agenten der Bourgeoisie, der Arbeiteraristokraten oder der verbürgerten Arbeiter“ (Engels’ Brief von 1858 an Marx über die englischen Arbeiter)

# Text: Alena Will & Benny Ehlers
Alena Will ist Auszubildende zur Gesundheits- und Krankenpfleger:in in Hamburg; Benny Ehlers ist Gesundheits – Krankenpfleger:in und arbeitete auf einer Intensivstation, ebenfalls in Hamburg. Beide sind aktive Gewerkschafter:innen.

# Titelbild: Public Domain, Kundgebung vor der Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung vor den Verhandlungen über den sogenannten Corona-Krankenhauspakt zwischen der Senatsverwaltung und Beschäftigten des Gesundheitswesens am 29. Mai 2020.

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“Tötet sie!” rief einer der Anwohner eines bürgerlichen Viertels aus seinem Fenster, weitere Nachbar*innen klatschten Beifall und ermunterten die Polizei, die Gilets Jaunes (Gelbwesten) durch die Straßen zu jagen. Eine Szene, die zeigt, wie polarisiert die französische Gesellschaft fast zwei Jahre nach dem Beginn des Aufstands der Gilets Jaunes ist. Die Metropolregion Paris ist sowieso streng nach den Klassen geteilt: In der Peripherie — den Banlieues — leben die Arbeiter*innen und Armen der Gesellschaft. Innerhalb der Stadtgrenzen von Paris und besonders im 8. und 16. Arrondissement (franz. für Bezirk) leben die reichen Bourgeois innerhalb ihrer Luxuswohnungen. Die Gilets Jaunes suchen sich mit Absicht diese schicken Bezirke für ihre Demonstrationen aus, um ihren Protest hör- und sichtbar zu machen — und auch, um die Bourgeois zu erschrecken.

Und so verwundert es nicht, dass sie auch am 12. September auf dem Champs-Élysées demonstrieren wollten. Dort und drumherum fanden die berühmten Straßenschlachten auf dem Höhepunkt der Bewegung der Gilets Jaunes statt. Seit März 2019 allerdings werden alle Demonstration um die Prachtstraße und die Oberschichtsbezirke drum herum verboten und in eine Sperrzone mit enorm viel Polizeipräsenz verwandelt. Am 12. September selbst hatten sich sie Luxusboutiquen schon einen Tag zuvor aus Angst vor Zerstörungen verbarrikadiert. Sogar das Tragen einer gelben Weste scheint dort untersagt worden zu sein: Schon um 8 Uhr morgens wurde eine Person mit gelber Weste verhaftet. Die Gilets Jaunes, sie haben sich zweifellos in das Gedächtnis der Herrschenden eingebrannt.

Eine neue Episode

Frankreich im September 2020 ist ein Land, das seit 2016 von einer Intensivierung der Klassenkämpfe erschüttert wird und wohl inmitten einer zweiten Welle von tausenden Corona-Neuinfektionen steht. Im Frühjahr hatte die Covid19-Pandemie das Land völlig unvorbereitet und dementsprechend hart getroffen. Aktuell gelten weiterhin harte Regeln, die mit der Eindämmung des Virus gerechtfertigt werden: So muss im öffentlichen Raum immer eine Maske getragen werden, wer das nicht tut riskiert ein Bußgeld von 135 Euro. Während die respressiven Maßnahmen verschärft werden, wird an der Gesundheitsinfrstruktur, die im Frühjahr heillos überlastet war wenig geändert. Die Zahl der Intensivbetten etwa ist nach wie vor niedrig und wurde seit Beginn der Pandemie nicht erhöht.

Von der neuerlichen Explosion an Neueinfektionen ist besonders die Region um Marseille getroffen. Dort gibt es pro 100.000 Einwohnenden 312 Neuinfektionen. Zum Vergleich: In Deutschland liegt diese Zeit bundesweit bei 12,8 Neuinfektionen. Es ist also nicht auszuschließen, dass sich Frankreich am Anfang einer zweiten Welle befindet. Nichtsdestotrotz wird schon jetzt seitens der Regierung ein erneuerter Lockdown ausgeschlossen, da die Wirtschaft das nicht verkraften würde. Um sagenhafte 9,5 Prozent sank das BIP des Landes im Vergleich zum Vorjahr. Damit ist die Kontraktion mehr als doppelt so groß wie bei Deutschland oder selbst dem weltweiten Durchschnitt von 4,5 Prozent.

Diese äußerst delikate Krisenlage in einem Land mit 9 Millionen Menschen unter der Armutsgrenze führt dazu, dass die Lösung seitens der herrschenden Klasse in Massenentlassungen und Werkschließungen besteht. Dabei trifft es nicht nur die Produktion, wie beim Reifenhersteller Bridgestone, wo in Béthune ein Werk mit 863 Mitarbeitenden geschlossen wurde; selbst bei der Supermarktkette Auchan soll es zu 1.475 Entlassungen kommen. Während Bridgestone der Primus unter den Reifenherstellern ist und rund 27 Milliarden US-Dollar Umsatz macht, gehört Auchan der sechstreichsten Familie Frankreichs um Patron Gérard Mulliez mit einem Vermögen von 26 Milliarden Euro.

Diese zwei ausgesuchten Beispiele zeigen, dass die Arbeiter*innenklasse mit weiteren Angriffen auf ihre Arbeits- und Lebensbedingungen rechnen muss. Eine der bekanntesten Figuren der Gelbwesten, Jerome Rodrigues sagte dazu: “Es kommt eine neue Krise auf uns zu und es ist sicher, dass sie uns Elend bringen wird.” Die neue Mobilisierung der Gilets Jaunes, die bei weitem nicht nur in Paris, sondern auch in anderen Städten wie Nantes, Rennes, Marseille oder Lyon zusammenkamen, griff diese Themen auf und verband sie mit dem anhaltenden Thema der Polizeirepression und -gewalt: In Toulouse wurde jegliche Demo verboten; in Paris kam es immer wieder zu Einkesselungen, die teilweise stundenlang andauerten und auch Journalist*innen betrafen.

Die größte Gewerkschaft im Land, die CGT griff dabei in ihrer Mobilisierung am 17. September nur die sozioökonomischen Aspekte auf und rief zu Streiks und Demonstrationen auf. Diese „Aktionstage” folgen allerdings einer symbolischen Routine. Die Beteiligung an den Streiks fällt sehr gering aus und die Demonstrationen selbst können zwar durchaus groß sein, aber nicht militant und sind vollkommen von der Gewerkschaftsbürokratie kontrolliert. Es sind die immer gleichen Demorouten und Parolen, sodass jegliche Spontaneität schon im Voraus abgewürgt wird.

Sogar der Staatssekretär im Verkehrsministerium, Jean-Baptiste Djebbari, sprach abfällig von einem „Gewohnheitsstreik“ und versicherte, dass der Streik keine Auswirkungen haben würde. Dabei ist es klar, dass die „Wut unter den Arbeiter*innen zunimmt“, wie es der CGT-Sekretär Laurent Brun ausdrückte. Die Frage ist aber, was die Gewerkschaften machen, um diese Wut zu organisieren.

Die Winterstreiks 2019/20 gegen die geplante Rentenreform, die das Renteneintrittsalter faktisch auf 64 Jahre anhob, zeigten, dass langanhaltende Streiks möglich sind. Diese müssen aber unbedingt auf die gesamte Wirtschaft ausgedehnt werden, damit sie nicht isoliert bleiben und angesichts großer Lohneinbußen der Streikenden (in Frankreich gibt es kein Streikgeld) irgendwann abgebrochen werden müssen. Die Bereitschaft, diese Kämpfe zu führen ist unter den Arbeiter*innen auf jeden Fall da. Denn wie es ein kämpferischer Gewerkschafter und Arbeiter von Bridgestone ausdrückte, “sind wir bereit und in der Lage, Reifen herzustellen und den französischen und europäischen Markt zu beliefern — ohne die Chefs!”

#Titelbild: GrandCelinien – (G. A.) / CC-BY-SA-3.0

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Derzeit kommt es im Iran erneut zu breiten Protesten der Arbeiter*innenklasse. Wie schon 2018 ist zu erwarten, dass das Regime versucht, die Kämpfe des Proletariats durch Repression zu unterbinden. Wir veröffentlichen einen Aufruf zur Solidarität mit den iranischen Werktätigen in einer Übersetzung und eingeleitet von Nima Sabouri.

Seit Jahren gehören Proteste und Streiks von Arbeiter*innen in verschiedenen Formen und Größen im Iran zum täglichen Leben. Die Lebensbedingungen der Arbeiter*innenklasse sind prekär und immer unerträglicher. Lohnzahlungen bleiben oft über viele Monate aus, in denen die Familien sich meist durch steigende Verschuldung über Wasser zu halten versuchen – und das obwohl die Lohnhöhe so gering ist, dass sie sich nur auf ein Viertel bis ein Drittel der staatlich festgelegten Armutsgrenze beläuft. Auch sind die Arbeitsbedingungen vollkommen ungesichert, ein Großteil der Arbeiter*innen ist über Leiharbeitsfirmen beschäftigt und dort meist gezwungen, Blanko-Verträge zu unterschreiben, so dass sie jederzeit kündbar sind.

Die Proteste hängen mit den direkten Folgen der verschärften Wirtschaftskrise zusammen, welche sich als immer tiefer werdende Klassenspaltung, Armut und immer größer werdendes Elend zeigt. Die Ursachen sind vielfältig, doch die Kombination von neoliberaler Politik, Diktatur und Korruption spielt eine große Rolle. Die Sanktionen, die infolge des Atomprogrammes des iranischen Staates und seiner Konflikte mit den USA im Kontext der imperialistischen Machtpolitik im Nahen Osten verhängt wurden, haben die wirtschaftlichen Schwierigkeiten eskalieren lassen. Trotzdem sind das nicht die Ursachen dieser Krise, wie der Staat es behauptet.

Die Streiks fanden bisher nur vereinzelt und voneinander getrennt statt. Dadurch konnten ihre Forderungen von den Fabrikeigentümern ignoriert werden. Zusätzlich wurden die Streiks durch verschiedene Formen der Repression zerschlagen, sowohl politisch als auch juristisch. Es folgte eine Reihe von hohen Haftstrafen. Aufgrund dessen haben die Forderungen der Arbeiter*innen trotz der großen Zahl an Streiks und Protesten (durchschnittlich gab es 3 Streiks pro Tag während der letzten 4 Jahre) kaum Gewicht auf der politischen Ebene gewinnen können. Zudem sind jegliche staatsunabhängigen Organisationen von Arbeiter*innen verboten und werden mit harten Haftstrafen geahndet.

Nun gibt es eine neue Welle von Arbeitskämpfen, die immer größer wird. Sie wurde von den Arbeiter*innen von Haft-Tapeh aus der Provinz Khouzestan inspiriert, nachdem diese zusammen mit ihren Familien mehr als 50 Tage in den Straßen der Stadt Shoush protestierten. Die Arbeiter*innen von Haft-Tapeh waren diejenigen, die mit ihren langen militanten Streiks und Protesten vor zwei Jahren die Parole „Brot, Arbeit, Freiheit – Verwaltung durch Räte“ landesweit popularisiert hatten. Im Unterschied zu den bisherigen Streiks zeigen sich die aktuellen jetzt stärker vereint und aufeinander bezogen.

So wurde nun erstmals von den militanteren Bereichen der streikenden Arbeiter*innen und von einigen linken sozialen Medien ein Generalstreik ausgerufen. Darüber hinaus sind viele der Streikenden in der Ölindustrie (Öl-Rafinerie) tätig, welche für den Staat ein sehr wichtiger Sektor ist. Da es sich um eine Kernindustrie der iranischen Wirtschaft handelt, steigert dies die Macht der Arbeiter*innen. Zugleich sind deshalb die Streiks aus Sicht des Staates mit allen Mitteln zu verhindern. Trotz aller Hoffnung ist also davon auszugehen, dass es zu heftiger und massiver Repression kommen wird.

Deshalb sollten wir mehr denn je die Stimmen der streikenden Arbeiter*innen verstärken und eine aktive und effektive Solidarität mit ihrem Kampf zeigen. Die streikenden Arbeiter*innen von Haft-Tapeh riefen an ihrem 52. Streikstag auch dazu auf. Heute (8. August 2020) ist der 55. Tag des Streiks. Im Folgenden dokumentieren wir ihren Aufruf in deutscher Übersetzung

Aufruf zur Solidarität mit den Streikenden von Haft Tapeh!

Heute ist der 52. Tag des Streiks der Arbeiter*innen des Agrarunternehmens Haft Tapeh im Iran. Dieser historische Streik ist der Höhepunkt eines jahrelangen Kampfes dieser Arbeiter*innen, um die Privatisierung des Unternehmens zu stoppen und ihre Rechte durchzusetzen. Die Haft Tapeh Gewerkschaft wurde erstmals in den Jahren 1974-75 gegründet. Doch die arbeiterfeindliche Politik der in der Revolution von 1979 an die Macht gelangten anti-revolutionären Kräfte (Islamische Republik) führte schließlich zu ihrer Verfolgung und letztlich ihrem Verbot, wie dem Hunderter anderer Gewerkschaften.

In den Jahren von 2005 bis 2006 fanden erstmals wieder Proteste der Arbeiter*innen von Haft Tapeh statt, nachdem sie die Nachricht erhalten hatten, dass das öffentliche Unternehmen privatisiert werden solle. 2007 bauten sie die Gewerkschaft neu auf. Die Hauptorganisator*innen und führende Gewerkschaftsmitglieder wurden von der Geheimpolizei daraufhin verfolgt und festgenommen.

Trotz all dieser Unterdrückung haben die Arbeiter*innen von Haft Tapeh den Kampf gegen die Privatisierung und Zwangsenteignung öffentlichen Eigentums 2018 wieder aufgenommen und belebt. Als Reaktion darauf wurde der Gewerkschaftsführer Ismail Bakhsi verhaftet und unter Folter dazu gezwungen, im nationalen Fernsehen ein “Schuldeingeständnis“ abzugeben. Trotz der heuchlerischen Behauptung der Islamischen Republik, für Arbeiter*innen und Unterdrückte einzutreten, hat sich einmal mehr gezeigt, dass sie in der Realität auf der Seite der Bourgeoisie gegen die Arbeiter*innen steht. Die neoliberale Politik des Regimes, die Millionen von Arbeiter*innen in Armut getrieben und viele Proteste ausgelöst hat, wurde durch deren gewaltsame Unterdrückung fortgeführt. Diese Unterdrückung wird durch den medialen Boykott der pro-imperialistischen Oppositionsmedien ergänzt.

Während sich die Arbeiter*innen von Haft Tapeh bereits seit 52 Tagen im Streik befinden, berichten die genannten Medien weder über die Proteste noch über die Forderungen und boykottieren so den Arbeitskampf. In den seltenen Fällen, in denen diese Arbeiter*innenbewegung überhaupt erwähnt wird, werden nur die Mahnwachen der Arbeiter*innen in Shush City gezeigt und das auf eine Art und Weise, die die öffentliche Meinung in die Irre führt. Der Grund ist klar: Tatsächlich stimmt die rechte Opposition der Islamischen Republik vollkommen mit dem Regime überein, wenn es um ihre Haltung zu Privatisierungen und der Umsetzung der Befehle von Weltbank und IWF geht. Der einzige Unterschied ist der Versuch der rechten Opposition eine irreführende Dichotomie zwischen „guten Privatisierungen und schlechten Privatisierungen“ herauf zu beschwören, um die verheerenden Auswirkungen dieser Politik zu verbergen.

Auf der anderen Seite bekommt auch die internationale Linke aufgrund des extrem schwachen Zustandes der iranischen Linken nichts von einem solch wichtigen Streik mit. Einem Streik, dessen Hauptforderungen die Aufhebung der Privatisierung, die Wiedereinstellung der entlassenen Arbeiter*innen, Beendigung der polizeilichen Unterdrückung gegenüber den Organisationen der Arbeiter*innen, Zahlung der überfälligen Löhne und sonstiger Leistungen und schließlich die Organisation der Produktion unter Kontrolle der Arbeiter*innen sind.

Diese fortschrittlichen Forderungen werden von den Massenmedien im Iran nicht wiedergegeben und die Proteste der Arbeiter*innenklasse auf staatsfeindliche Krawalle reduziert. Gleichzeitig ignorieren auch die kleinen pro-russischen, pro-chinesischen oder sogar pro-Islamische Republik Medien, die vermeintlich als Teil der alternativen Medien in Europa und Nordamerika angesehen werden, diesen Streik komplett, oder schlimmer noch, stellen ihn als ein Regime-Change Projekt der imperialistischen Kräfte dar.

Die Arbeiter*innenklasse widersetzt sich hartnäckig und unabhängig vor unseren Augen der täglichen Unterdrückung und steht dennoch vor einem völligen Boykott und Zensur von allen Seiten. Es ist, als ob sich all diese Strömungen in einem einzigen Punkt einig sind: die Stimmen der Arbeiter*innenklasse und ihrer Aktivist*innen zum Schweigen zu bringen.

Wir fragen unsere internationalen Genoss*innen: Lohnt es sich nicht, diesen mutigen Streik, der seit über 52 Tagen andauert und fortgesetzt wird, bis die Forderungen erfüllt werden, anzuerkennen und ernst zu nehmen? Lohnt es sich nicht, in Solidarität mit ihnen zu stehen? Die Arbeiter*innen von Haft Tapeh erhalten keinerlei finanzielle Unterstützung von Gewerkschaften oder Institutionen; sie setzen ihren Widerstand und Kampf mit leeren Taschen und leeren Mägen fort. Diese progressiven und bewussten Arbeiter*innen und ihren Kampf aktiv zu ignorieren, führt im Endeffekt dazu, reaktionäre und imperialistische Kräfte zu stärken. In diesem Fall stellt sich die Frage, ob die Parole „Arbeiter*innen aller Länder, vereinigt euch“ nur eine leere romantische Phrase in der Geschichte des Marxismus ist? Oder eine Antriebskraft des Klassenkampfes?

Genoss*innen, wir fordern euch auf, die Stimme der Arbeiter*innen von Haft Tapeh und der iranischen Arbeiter*innenklasse zu sein, auf der ganzen Welt und in allen Sprachen

# Das Original auf Farsi sowie türkische und englische Übersetzungen sind auf www.redmed.org zu finden – die Seite selbst wird nicht von den Streikenden betrieben.

Farsi: http://redmed.org/fa/article/hmbstgy-b-krgrn-hft-tph
Englisch: http://redmed.org/article/solidarity-workers-haft-tapeh
Türkisch: http://redmed.org/tr/article/haydi-yedi-tepe-iscileriyle-dayanismaya

# Bildquelle: redmed.org

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Während das islamische Regime am 11. Februar 2020 den 41. Jahrestag seiner Herrschaft im Iran mit Massenversammlungen feierte, bereitete sich das Coronavirus im ganzen Land rasch aus. Als am 21. Februar die Parlamentswahl stattfand, bemühte sich das Regime um eine möglichst hohe Beteiligung der Bevölkerung bei der Wahl, anstatt die notwendige Maßnahmen und Informationen für die Verhinderung der Ausbereitung von COVID-19 zu ergreifen. Infolgedessen verheimlichte die iranische Regierung über Wochen die Ausbreitung des Coronavirus und die tatsächlichen Zahlen der Opfer. Nicht das einzige Verbrechen des Regimes.

Profit und Religion über Menschenleben

Die Entstehung eines unbekannten Virus im 21. Jahrhundert ist eigentlich nichts Seltsames. Wir werden in naher Zukunft aufgrund des alarmierenden Klimawandels und der drastischen Veränderung des Ökosystems durch die kapitalistische Produktionsweise viele unbekannte Phänomene sehen. Die Inkompetenz und Vernachlässigung bei der Eindämmung der Coronaverbreitung ist im Iran, wie auch weltweit, eine rein politische und ökonomische Angelegenheit, die ein klares Spiegelbild der Auswirkungen eines Systems zeigt, welches nur auf Profit aus ist.

Wir haben nicht die Mutation und das Auftreten tödlicher Viren von SARS, MERS über Ebola, Zika, Schweinegrippe bis Corona und dergleichen in unserer Kontrolle, aber die Geschwindigkeit. Die weite Verbreitung dieser Viren zeigt jedoch ein Weltklassesystem, dessen Ressourcen einer parasitären Minderheit ausgeliefert sind. Wenn Corona heute wie ein Hurrikan Tausende Menschen tötet, dann weil vor einigen Jahren, nachdem die SARS-Epidemie abgeklungen war, Pharmaunternehmen die wissenschaftliche Forschung, um ein SARS-Impfstoff herzurstellen eingestellt haben. Anscheinend war es nicht rentabel genug. Wenn der SARS-Impfstoff in diesen Jahren hergestellt worden wäre – durch die 80% genetische Ähnlichkeit von SARS und Corona – könnte die Grundlage für einen Corona-Impfstoff bereits heute vorhanden sein. Aber die Mehrheit der Gesundheitssysteme weltweit, heruntergewirtschaftet und immer stärker privatisiert, sind auf Profite von Krankenhausbetreibern und Pharmaunternehmen ausgerichtet.

Während hochkritischen Phase der dann noch Coronaepidemie (und nicht -pandemie), hat die iranische Fluggesellschaft Mahan Air ihre Passagierflüge nach China nicht eingestellt. Im Gegenteil kam es zu einer Intensivierung der Flüge von und nach China. Im Grunde wurde nach chinesischem Modell vorgegangen, denn in China traten die ersten Fälle des neuartigen Virus bereits im Dezember in der Provinz Wuhan auf. Die chinesische Regierung verheimlichte dies jedoch. Selbst Wochen nach der Meldung des Virus wurden noch Touristenfestivals durchgeführt. Währenddessen verhaftete die chinesische Regierung Whistleblower (insbesondere Krankenhauspersonal) unter dem Vorwand der „Verbreitung von Gerüchten“ und der „Störung der öffentlichen Meinung,“ bis die Katastrophe ihr unkontrollierbares Niveau erreichte. Im Iran passierte genau das gleiche.

Der theokratische „Gottesstaat“des Irans und die ökonomische Wichtigkeit religiöser Beiträge und Spenden an Bonyads (gemeinnützige, also steuerbefreite Stiftungen der öffentlichen Wohlfahrt sowie zur Unterstützung von Wissenschaft, Kunst und Kultur), spielten dabei eine zentrale Rolle. Die heilige ideologische Schiitenstadt Ghom (eine Hochburg der schiitischen Kleriker, etwa 125 Kilometer südwestlich von Teheran), in der mehr als 600 theologische Studenten aus China an Seminaren in Hawsa (schiitische Universitäten) studieren, von denen mutmaßlich einer das Virus eingeführt hat, wurde zwar als Risikogebiet eingestuft, aber die iranische Regierung stellte nichts und niemanden unter Quarantäne. Die ersten beiden SARS-CoV-2-Fälle im Iran wurden in Ghom bekannt. Beide starben auch dort. Die Behörden hielten den dortigen Fatima-Massumeh-Schrein gleichwohl geöffnet, der rund um die Uhr und an jedem Tag der Woche von Menschenmengen besucht wird, die die Heiligtümer mit den Händen berühren und küssen.

„Der religiöse Beiname der Stadt – ‚das Heim des Propheten und seiner Familie‘ – sollte Gläubigen weltweit versichern, dass sie vor Epidemien und anderen Katastrophen geschützt“ sind, so Mehdi Khalaji, der in Ghom Theologie studiert hat und heute am Washington Institute for Near-East Policy tätig ist.

Da die Pilger*innen dort aus fast allen schiitischen Städten der Region kommen, ist das Virus so massenhaft verbreitet worden. Der Iran ist nach China und Italien am stärksten von Coronakrise betroffen. Aktuell sterben täglich 30 bis 40 Menschen daran. Etwa neun von zehn Infektionsfällen in Westasien sind aus dem Iran. Mehr als 18.000 Infektionen und über 1284 Todesfälle sind bis gestern offiziell gemeldet worden. Allerdings enthalten die Zahlen lediglich die durch Corona nachgewiesenen Todesfälle und nicht Todesfälle mit Lungenerkrankungen, bei denen die Patient*innen nicht auf das Virus getestet wurden. Es wird aber befürchtet, dass die tatsächliche Zahl der Infektionsfälle viel höher liegt und die Islamische Republik die tatsächliche Zahl der Infektionen und Todesopfer verheimlicht. Die Krankenhäuser sind überlastet und es mangelt an medizinischen Verbrauchs- und allgemeinen Virustest-Materialien. Bis jetzt sind dutzende Krankenpfleger*innen und Ärzt*innen am Coronavirus gestorben.

Das iranische Neujahr im Schatten eines Virus, imperialistische Sanktion und Massengrab

Am heutigen 20. März steht das kurdisch-iranische Neujahrsfest Newroz an. Normalerweise ist Newroz für Iraner*innen und die anderen Völker des Landes eine Hauptreise- und Besuchszeit. Dieses Jahr sieht aber alles anders aus. Ein ungewöhnlicher Jahresanfang im Schatten des Covid-19-Virus mit Reiseverboten, Quarantäne, Bestrafung und Militarisierung des Landes. Der Repressionsapparat des Staates wird bei Autofahrer*innen auf den Landstraßen Fiebermessungen vornehmen. Weder Hotels noch private Unterkünfte dürfen Zimmer an Reisende vermieten. Wer das dennoch tut, dem droht eine Bestrafung. Der Corona-Ausbruch trifft Irans Tourismusbranche knapp einen Monat vor dem Neujahrsfest „Newroz“ hart. Deren Umsätze sind nach dem Abschuss einer ukrainischen Passagiermaschine Anfang Januar mit 176 Toten eh schon um 70 Prozent eingebrochen. Weder die Schulen noch die Universitäten werden wie geplant Anfang April geöffnet. Betriebe, Fabriken und öffentlichen Dienstleistungen bleiben aber ohne jeglichen Schutzmechanismen weiter geöffnet. Die Reinigungskräfte auf den öffentlichen Straßen – meistens Immigrant*innen aus Afghanistan– verfügen nicht über Masken und oder Desinfektionsmitteln.

Nicht nur die Inkompetenz und Vernachlässigung des islamischen kapitalistischen Regimes bei der Coronakrise, sondern die imperialistische Sanktionen machen die Lage im Iran äußerst dramatisch. Eine Verschärfung der Rezession, ein Anstieg der Arbeitslosigkeit und die verstärkte Verarmung Tausender Menschen werden befürchtet. Die Menschen im Iran kaufen schon jetzt nur das Nötigste ein. Nicht alle werden den Virus und die Sanktionen der USA und der EU überleben. Wegen letzterer fehlt es an medizinischen Hilfsmitteln. Viele kranke Menschen sind in letzten Jahren aufgrund der Knappheit von lebenswichtigen Medikamenten zur Behandlung etwa von Krebs, Herzbeschwerden, Multipler Sklerose, Bluterkrankheit, Nierenleiden, Grippe und Immunschwäche gestorben. Selbst einfache Betäubungsmittel für Operationen sind rar geworden. Verstärkt wurden die Probleme noch durch den dramatischen Fall der iranischen Währung durch die imperialistische Unterwerfungspolitik und die Verschlechterung der Wirtschaftslage unter dem Kommando des Internationalen Währungsfonds (IWF), die den Import von Medikamenten und die zu ihrer Herstellung benötigen Rohstoffe verteuert. Die Lage ist so ernst, dass der Iran seit der Gründung der islamischen Regierung 1979 zum ersten Mal den IWF um einen Kredit in Höhe von 4,5 Miliiarden Euro gebeten hat.

Sind alle im Iran gleich von Corona betroffen?

Irans Vize-Gesundheitsminister erklärte vor ein paar Wochen bei einer Pressekonferenz, dass „die iranische Regierung die Coronavirusausbreitung unter Kontrolle hat“. Ein Tag danach wurde mitgeteilt, dass er selbst erkrankt ist. Solange nur einige wenige Regierungsmitglieder vom Coronavirus betroffen waren, hat die Regierung die Situation komplett verharmlost. Unter Zehntausend Infizierten und mehr als tausend Toten vom Virus sind weniger als zehn Regierungsmitglieder von Corona betroffen. Das macht deutlich, dass alles im Kapitalismus ohne Ausnahme in Verbindung zur Klassenzugehörigkeit steht, auch die Betroffenheit vom Virus. Die Arbeiterklasse bezahlt für diese Krise, während die herrschende Klasse kaum vom Virus betroffen ist, da sie Zugang zu allen Medikamenten und adäquater medizinischen Versorgung, wie privaten Krankenhäusern hat. Sie sind außerdem nicht dazu gezwungen, unter prekären unhygienischen Arbeitsbedingungen ihre Arbeitskraft zu verkaufen, um zu überleben. Sie werden in der Quarantänezeit in ihren Palästen das Leben genießen, bis es alles vorbei ist. Arbeiter*innen und Bäuer*innen werden die Hauptopfer des Coronavirussein – und das nicht nur im Iran.

Im Iran leben viele verarmte Menschen in Peripherie von großen Metropolen wie der Hauptstadt Teheran. Teilweise sind sie von geschützten Wohnräumen ausgeschlossen. Viele, vor allem die geflüchteten Menschen aus Afghanistan sind Slum-Bewohner*innen, oft in die „Illegalität“ gezwungen, denn selbst nach Jahrzehnten im Iran, sogar in der zweiten und dritten Generation, haben sie keinen Aufenthaltstitel und keine demokratische Rechte. In den Regionen, wo unterdrückte Nationen wie Araber*innen, Balutsch*innen, Kurd*innen usw. leben, ist die Infrastruktur unzureichend. Vor allem Krankenhäuser werden von der iranischen Zentralregierung systematisch schlecht versorgt; wenn es diese dort überhaupt gibt.

Ein anderes Beispiel für das in den Augen der iranischen Regierung weniger lebenswerte Leben unterdrückter Nationen, ist die Lage der Menschen im besetzten Teil von Kurdistan (Rojhelat). Zwei Jahre sind seit dem Erdbeben in Sarpul-Zahab in Rojhelat vergangen, und die meisten Überlebenden des Erdbebens leben immer noch in Containern und in Zelten, in einer Region, wo bitterkalt wird und zwar ohne jegliche Schutzmechanismen gegen Corona. Die Zugehörigkeit zu den unterdrückten Völkern und die Klassenzugehörigkeit sind entscheidende Faktor im Iran, um die Möglichkeit zu haben das Coronavirus zu überleben.

Streiken, um zu überleben

Was jedoch Mut macht, ist, dass die Arbeiter*innen in zahlreichen Bereichen die Arbeit niedergelegt haben und gegen die Vernachlässigung der Regierung und der Bosse, die keine Schutzmaßnahmen zur Verhinderung des Coronavirus ergriffen haben, protestieren. Die Straßenkehrer*innen in mehreren Städten oder auch die Arbeiter*innen der Qazvin-Glasfabrik gehören zur Avantgarde der aktuellen Arbeiterbewegung im Land. Letztere schreiben folgendes:

Leider ist die Fabrik seit dem Ausbruch des Corona-Virus weiter aktiv, anstatt, dass die Besitzer sie vorübergehend schließen und andere Maßnahmen für unsere Gesundheit zu ergreifen. Die Arbeiterfahrten werden weiterhin mit dem Bus durchgeführt, eine Fahrt, die eine Stunde von Qazvin nach Farsjin dauert und umgekehrt genauso. Die Arbeiter sitzen dicht an dicht. Das ist eine ernsthafte Bedrohung für uns. Die einzige Maßnahme, die vom Unternehmen ergriffen wurde, war ein Fiebermessen im Bus und vor dem Betreten des Unternehmens, um Verdachtsfälle unter Quarantäne zu stellen. Ein paar von unseren Kolleg*innen stehen unter Verdacht, infiziert zu sein, da sie Fieber hatten. Trotzdem bleibt die Fabrik offen.

Am vergangenen Donnerstag riefen die Eisenbahner*innen zu einem Generalstreik der Eisenbahner*innen auf. Sie schreiben:

Das Leben der Arbeiter ist jetzt aufgrund der Ausbreitung des Corona-Virus und der mangelnden medizinischen Versorgung durch Vernachlässigung der Eisenbahnbeamten sowohl in Eisenbahn-Fabriken als auch in allen Bereichen der Eisenbahn gefährdet. Wir werden nicht bezahlt und können es uns nicht leisten, Masken und Desinfektionsmittel für uns und unsere Familien zu kaufen. Monate zuvor wurden 7.000 Eisenbahnarbeitern unbefristete Verträge versprochen, aber bisher wurden keine Maßnahmen ergriffen […]. Aus diesen Gründen treten wir ab Freitag in den Streik, um unsere Forderungen zu erreichen.

Die Hoffnung koordinierter Aktionen der Arbeiterselbstorganisierung bleibt.

Narges Nassimi ist kurdische Marxistin und lebt in München.

#Titelbild: Skyline von Teheran Von Amirpashaei – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, Collage: LCM

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Am 22. November traten Sarah (FFF Frankfurt/Main) und Carlos (FFF Berlin) in einen befristeten Hungerstreik, der am 29. November zu Ende ging. Im Rahmen ihrer Aktion stellten die beiden Aktivist*innen drei Hauptforderungen an die Bundesregierung: Die Rücknahme des Klimapakets und Umsetzung der Forderungen von Fridays For Future (inklusive der Forderungen an der Basis); ein politisches Streikrecht für alle; und die offene Verurteilung des Krieges der Türkei in Rojava und der Aufstandsbekämpfung in Chile, sowie eine umfassende Einstellung sämtlicher Rüstungsexporte in die Türkei.

Für Lower Class Magazine werten die beiden Young-Struggle- und FFF-Aktivist*innen nun ihre Aktion aus und formulieren Überlegungen, wie es mit der Bewegung weiter gehen kann.

Wie kamen wir dahin, wo wir sind?

Vergangenen Freitag, am 13.12., war das einjährige Jubiläum von Fridays For Future Deutschland. Seit einem Jahr nun wird in zahlreichen Städten Deutschlands ununterbrochen jede Woche von Jugendlichen für einen Wandel in der Klimapolitik gestreikt; am größten Streiktag in unserer Geschichte, dem 20. September, sind wir in Deutschland mit 1,4 Millionen Menschen gemeinsam auf der Straße gewesen. Innerhalb dieses einen Jahres hat sich eine Bewegung von einer Größe entwickelt, wie sie Deutschland seit Jahren nicht gesehen hat – und die international noch in einem viel riesigeren Zusammenhang steht; eine Bewegung von Jugendlichen, denen das Recht und die Fähigkeit, politisch zu sein und mitzubestimmen, immer abgesprochen wird – genau wir „unreifen“ Jugendlichen haben eine Kraft geschaffen, die die politische Elite sprachlos und verwirrt zurücklässt wie ein Kind, dessen Playmobil-Figuren plötzlich wirklich lebendig werden und nicht mehr schweigend da sitzen bleiben, wo es sie hingesetzt hat.

Ein Jahr Streik und nichts passiert

Obwohl Aktivist*innen von Fridays For Future mit etlichen Politiker*innen geredet und alle betont haben, wie toll sie es doch finden, dass wir Jugendlichen so politisch werden, sind faktisch keine politischen Veränderungen geliefert worden.

Es war ein Schlag ins Gesicht von uns allen, als am Tag des bisher größten Klimastreiks am 20. September die Ergebnisse des Klimapakets veröffentlicht wurden: Die beschlossenen Maßnahmen sind allenfalls Tropfen auf den heißen Stein und die Erkenntnis, dass die bürgerliche Politik sich unbeeindruckt zeigt nach einem Jahr des Protests, hat sich in den Reihen unserer Bewegung breit gemacht. Mit dieser Erkenntnis ging jedoch an vielen Orten auch eine Desillusionierung, eine Frustration einher. Immer mehr Diskussionen gingen in eine Richtung von Perspektivlosigkeit; das Gefühl, machtlos zu sein gegenüber einer Politik, die die Klimakrise weiterhin bereitwillig in Kauf nimmt.

Neben dieser Kopf-in-den-Sand-Stimmung nahm jedoch auch eine Diskussion um Strategien der Klimagerechtigkeitsbewegung an Fahrt auf. Und genauso wie sich am 13.12. der Geburtstag von Fridays For Future Deutschland jährte, war es auch der Tag, an dem Köln und Berlin die letzte wöchentliche Demo gemacht haben. Denn in praktisch allen Städten sehen wir, dass nach einem Jahr der ununterbrochenen Streiks die Teilnehmer*innenzahlen immer niedriger werden.

Der Hungerstreik als Aktionsform

Hungerstreiks haben immer, noch mehr als viele andere Aktionen, Ziele in zwei Richtungen: du zielst nicht nur auf deine*n Unterdrücker*in, sondern besonders auch auf die eigene Bewegung. Wenn wir zum Beispiel den Hungerstreik von Leyla Güven in Nordkurdistan betrachten, dann sehen wir, dass der wichtigste Erfolg der Hungerstreikphase nicht die Aufhebung der Isolation war, sondern das Aufbrechen der Angst und die neue Mobilisierung der Bewegung.

In dieser Phase aufkommender Frustration, aber auch strategischen Diskussionen in Fridays For Future hatten wir mit dem Hungerstreik das Ziel, die Frustration zu bekämpfen und die Diskussion voranzubringen. Wir wollten erreichen, dass die Aktivist*innen sich noch einmal neu hinterfragen: haben wir wirklich schon alles in unserer Macht Stehende getan, indem wir Freitags die Schule bestreikt haben? Sind Appelle an die bürgerliche Politik wirklich die richtige Herangehensweise an die Lösung der Klimakrise, welche bis jetzt von ebenjener Politik nicht nur geduldet, sondern mit Hilfe von Subventionen von fossilen Brennträgern und vielen anderen Mitteln weiterhin aktiv gefördert wird?

Mit dieser Perspektive haben wir die Aktion zeitlich befristet. Wir wollten die Frage, wohin wir wollen und was dafür nötig ist, noch einmal mit neuem Nachdruck in unsere Bewegung hineintragen und der Strategiedebatte eine neue Dringlichkeit und Ernsthaftigkeit geben. Wir sind der Überzeugung, dass bei dieser Debatte noch einmal klarer werden wird, dass ein ökologischer Kapitalismus unmöglich ist und dass wir die nötige Wende nicht durch wöchentliche Latschdemos erkämpfen werden. Wir sind der Überzeugung, dass wir in der Zeit nach dem 29. November einen Schritt weiter gehen werden, in der Theorie wie in der Praxis – denn davon hängen das Überleben und besonders der Erfolg unserer Bewegung ab. Wir wollten klarmachen: gerade haben wir, durch einen Hungerstreik, einen der letzten Schritte der Symbolpolitik erreicht. Ab jetzt werden wir gänzlich neue Schritte wagen müssen, wenn wir erkennen müssen, dass Symbole – egal, ob es Millionen Menschen auf den Straßen oder Jugendliche mit leerem Magen sind – ignoriert werden.

Kämpfe vereinen!

Eine der strategischen Aufgaben von Fridays For Future und auch von der gesamten Klimagerechtigkeitsbewegung ist die Verbindung von unterschiedlichen Kämpfen. Das Bewusstsein, dass unsere Feind*innen, aber auch unsere Ziele – ein solidarisches Leben ohne Unterdrückung als Teil eines funktionierenden Ökosystems – dieselben sind, verbreitet sich immer weiter. Unsere Bewegung hat in der letzten Zeit auch bedeutende Schritte hin zu einem gemeinsamen Kampf gemacht: dabei wären vor allem die Bündnisse im Vorfeld des 20. Septembers zu nennen, insbesondere mit den Gewerkschaften, genauso aber auch die internationalistischen Arbeiten, die sich in Fridays For Future am stärksten mit der Solidaritätserklärung für Rojava und dem #fridaysforpeace-Aktionstag gezeigt haben.

Bei der Vereinigung verschiedener Kämpfe und Bewegungen geht es bei weitem nicht nur darum, noch mehr Menschen für die gemeinsame Sache auf die Straße zu bringen. Die Beschäftigung mit Rojava, die vielen Jugendlichen bei FFF zum ersten Mal eine revolutionäre Perspektive eröffnet hat, ist ein Beispiel dafür, was wir alles von anderen Bewegungen lernen können und was für einen gigantischen politischen Wert das Zusammenkommen hat.

Der Schulterschluss mit Arbeiter*innen und Bewegungen von unterdrückten Gruppen wie Migrant*innen, FLINT, etc., ist eine entscheidende Herausforderung der Klimagerechtigkeitsbewegung, um eine revolutionäre, antikapitalistische Perspektive wirklich in Praxis zu verwandeln. Diese strategische Aufgabe haben wir in der zweiten und dritten Forderung des Hungerstreiks sowie in den Solidaritätsnachrichten nach Chile, Bolivien und Rojava konkretisiert.

Generalstreik und ziviler Ungehorsam

Seit einem Jahr führen wir, bewusst oder unbewusst, einen Kampf für das politische Streikrecht, indem wir es uns in den Schulen praktisch nehmen. Der 20. September hat den Generalstreik nach Jahren der Stille wieder auf die Tagesordnung gebracht. Mit der Klimagerechtigkeitsbewegung gemeinsam mit den organisierten Arbeiter*innen das politische Streikrecht zu erkämpfen, wäre ein unglaublicher Erfolg und eine weitere Eskalationsstufe, die nicht unterschätzt werden kann.

Wenn wir das jedoch wirklich schaffen wollen, müssen wir noch viele Engstirnigkeiten und rückschrittliche Tendenzen in unserer Bewegung überwinden: Wir müssen wegkommen von einem antisozialen Begriff von Klimaschutz, der eine neoliberale CO2-Steuer als Lösung für alles sieht, während die Arbeiter*innen in Frankreich mit der Gelbwestenbewegung im Kampf gegen genau solche Maßnahmen – mit jeder Berechtigung – das ganze Land auseinander nehmen. An Stelle der Gewerkschaftschef*innen müssen wir viel mehr in mühseliger Basisarbeit mit den Gewerkschaftsmitgliedern und Arbeiter*innen ins Gespräch kommen. Wichtig ist aber auch, uns über die Gegenseite klar zu werden: Wir müssen alles daran geben, um uns durchzusetzen gegen Integrationsversuche von Gruppen wie „Entrepreneurs For Future“, die vor dem 20. September Rechtsgutachten machen und betonen, dass es doch viel sinnvoller wäre, auf Unternehmen, die ihren Angestellten freistellen als auf einen wirklichen Streik zu setzen.

Wir dürfen jedoch nicht auf den Irrweg tappen, Generalstreik und Revolution zu verwechseln. Ein Streik, an dessen Ende alle mit ruhigem Gewissen nach Hause und am nächsten Tag wieder auf die Arbeit und in die Schule gehen, hält sich in engen Grenzen. Nach einem Jahr des Streiks setzt sich an immer mehr Orten die Erkenntnis durch, dass das Aktionsrepertoire auf irgendeine Weise, die die Widersprüche stärker zuspitzt, ausgebaut werden muss.

„Ende Gelände“ führt unsere Bewegung langsam zu einem militanteren Bewusstsein und zu der Erkenntnis, dass das Fortlaufen des zerstörerischen Systems in unseren Händen liegt. Wir dürfen dabei jedoch niemals vergessen, dass ziviler Ungehorsam zwar an vielen Stellen seine Berechtigung haben mag, aber auf lange Sicht keinen ausreichenden Aktionsrahmen für eine Bewegung, die sich revolutionär nennen möchte, bietet. Wir als Klimagerechtigkeitsbewegung, als unterdrückte Jugend, wie alle anderen Unterdrückten und Ausgebeuteten, können uns einer breiten Palette an militanten Aktionsformen bedienen, die auch heute in Deutschland schon praktisch machbar und politisch legitim sind. Es liegt an uns, alle verschiedenen Mittel, die unserer Bewegung zur Verfügung stehen, auf eine revolutionäre Weise zusammenzubringen.

Es stehen viele Aufgaben vor uns. Viele Herausforderungen und viele Möglichkeiten. Ein Jahr Fridays For Future hat unsere Gesellschaft nachhaltig verändert – ob wir sie auch wirklich revolutionieren werden, wird sich in Zukunft zeigen.

#Titelbild, Quelle: https://www.fridaysforfutureffm.de/

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Einige Beobachtungen von Ramsis Kilani, Narges Nassimi, Eleonora Roldán Mendívil und Aida Vafajoo

Vom 12. bis zum 15. September 2019 fand das „Feminist Futures Festival“ auf dem Gelände des ehemaligen Steinkohlebergwerks Zeche Zollverein in Essen statt. Im Herzen des Ruhrgebiets ereignete sich bei spätsommerlichen Temperaturen mit rund 1500 Feminist*innen die bislang größte feministische Zusammenkunft in Deutschland. Organisiert wurde das Festival von der Rosa Luxemburg-Stiftung, dem „Konzeptwerk Neue Ökonomie“ und dem Netzwerk „Care Revolution“. Neben diesen drei Hauptorganisator*innen waren an der Durchführung des Festivals aber auch zahlreiche weitere Initiativen beteiligt.

Leider waren die meisten Workshops überfüllt, so dass man oft nicht teilnehmen konnte und die organisierten Podiumsdiskussionen ließen wenig Raum für Diskussionen. Wir hätten uns hier mehr Möglichkeiten für die Interaktion mit und aus dem Publikum gewünscht. Trotzdem ergaben sich spannende Gespräche am Rande.

Zeche Zollverein und die Kämpfe der Migration

Da Veranstaltungen, die sich feministischen oder frauenpolitischen Anliegen widmen, häufig in Berlin oder Hamburg stattfinden, war es besonders sinnvoll, dass durch das Festival auch für NRW-ansässige Feminist*innen die Möglichkeit für politische Diskussionen, auch mit internationalen Aktivist*innen, geschaffen wurde. In Gesprächen wurde jedoch deutlich, dass kaum jemandem bewusst war, wie bedeutsam das Gelände, auf dem das Festival stattfand, für die Region, die Arbeiterbewegung und die Geschichte der Einwanderung in Deutschland tatsächlich ist.

Gerade, dass darüber nicht gesprochen wurde, war für uns befremdlich. Denn wenn vom Ruhrpott mit seinen Zechen als historische Hochburg deutscher Industrie die Rede ist, dann sind nicht nur weiße, deutsche Arbeiter*innen Teil dieser Geschichte, sondern auch jene migrantischen Arbeiter*innen, die mit ihrer Arbeitskraft ab den 1960er Jahren maßgeblich zum Wiederaufbau der deutschen Wirtschaft beigetragen und auch eigene, bedeutende Arbeitskämpfe geführt haben.

Als berühmtestes Beispiel gilt der von migrantischen Arbeiter*innen getragene „Wilde Streik“ 1973 bei Ford in Köln, bei dem die Arbeiter*innen für gleichen Lohn und gleichen Umgang wie ihre deutschen Kolleg*innen kämpften. Er wurde, unterstützt von der Gewerkschaftsbürokratie gewaltsam von der Polizei angegriffen und aufgelöst[1]. Im gleichen Jahr legten migrantische Arbeiterinnen beim Automobilzulieferer Pierburg in Neuss ihre Arbeit nieder, um die Kategorie der „Leichtlohngruppe“, welche Frauen weniger verdienen ließ als Männer, anzufechten[2]. Diese Streiks waren Ausdruck davon, dass sich migrantische Arbeiter*innen nicht mehr wie Menschen zweiter Klasse behandelt lassen wollten. Auch Arbeiter in der Zeche Zollverein organisierten sich und brachten ihre Forderungen für eine gleichberechtigte Behandlung und ein Ende der Polarisierung der Arbeitsbedingungen und Löhne zwischen „deutschen“ und „ausländischen“ Arbeitern hervor. Dies ist in der Dauerausstellung im Museum Zollverein nachzulesen. Schade, dass dieser Teil der deutschen – auch feministischen – Geschichte, gerade angesichts der Aktualität der Migrationsfrage sowie Arbeitsniederlegungen mit einem hohen Anteil migrantischer Streikender[3] (außer einer kurzen Nennung in einem Workshop, in dem es um das Ruhrgebiet und die Probleme der Menschen vor Ort ging) beim Festival ausgelassen wurde.

Liberaler Feminismus

Was wollten die Feminist*innen, die sich im Rahmen des Feminist Futures Festivals zusammengeschlossen haben, erreichen? Eine solch große Veranstaltung mit der Teilnahme von unterschiedlichen politischen Spektren in Deutschland zu organisieren, ist ein wichtiger Versuch. Unser Eindruck ist jedoch, dass das Festival in seiner thematisch-inhaltlichen Ausrichtung, sowie personellen Besetzung eingeschränkt war. Der Grund dafür war, dass es insgesamt von weißen Akademiker*innen mit wenig oder gar keinem Bezug zu Fragen von Klasse, Armut und Rassismus dominiert wurde. Diese Ansicht teilten verschiedene, vor allem migrantische, nicht-weiße und ausländische Aktivist*innen[4]. An der geringen Partizipation und Repräsentation von Arbeiter*innen als Referent*innen war erkennbar, dass zwar über uns, unsere Mütter, Cousinen und Tanten gesprochen wird, aber selten mit uns.

Die tendenzielle Trennung der Frauenkämpfe von Klassenfragen und Rassismus wurde auch in der Praxis deutlich. Wenn beispielsweise Arbeiter*innen als Arbeiter*innen referiert haben (was nur in einem Panel zu migrantischer Hausarbeit vorkam), waren diese nicht aus Deutschland. Sie kannten sich dementsprechend nicht mit den Tücken der DGB-Gewerkschaften und ihrer Führungen aus und konnten keine Kritik an ihnen oder ihrer Bürokratie formulieren. Dabei gibt es hier konkrete Ansprechpartner*innen: Die Kämpfe der migrantischen Arbeiter*innen gegen die neoliberale Prekarisierung an der Alice-Salomon-Hochschule oder am Wombat’s Hostel in Berlin sind emblematische Beispiele[4]. Auch migrantischen Aktivist*innen, vor allem aus dem globalen Süden, lagen viele Steine im Weg, die ihnen eine gleichberechtigte Teilhabe an Diskussionen erschwerten. Es wurde für asylsuchende und migrantische Frauen in Deutschland keine Dolmetschung in für sie wichtigen Sprachen wie Arabisch, Türkisch, Farsi, Dari, Kurdisch oder Französisch organisiert. Der Aufruf, dies solidarisch selbst zu organisieren, mündete häufig darin, dass migrantische Teilnehmende selbst unter deutschen Feminist*innen so häufig gesprochene Sprachkombinationen wie Deutsch-Englisch-Spanisch dolmetschen mussten und somit selbst eingeschränkt waren, an einer politischen Diskussion teilzunehmen. Weiße deutsche Freiwillige zum Dolmetschen meldeten sich selten.

Die Frage, wer die Frauen und Queers eigentlich sind, über die konkret gesprochen wurde, war ein Randthema des Festivals. Gehören Ausbeutende – CEO’s, Kapitalist*innen – und ihre Handlanger*innen – Frauen und Queers bei Polizei und Armee – dazu? Diese Nicht-Benennung etabliert eine Romantisierungeiner „Schwesternschaft“. Das und die Homogenisierung von Frauen und Queers führen dazu, dass Unterdrückungsmechanismen und die unterschiedlichen Formen von notwendigen Trennungen entlang von Klassenlinien unsichtbar gemacht werden.

Rassismus im Feminismus

Unserer Erfahrung nach, schrecken linke und/oder feministische Organisationen in Deutschland meist davor zurück, offen über Rassismus, und besonders antimuslimischen Rassismus, zu sprechen. Zwar wird gerne behauptet, man sei antirassistisch, doch werden in jenen linken, feministischen Räumen so oft Rassismen reproduziert oder kleingeredet, dass nicht-weiße Personen eben dort, wo sie sich sicher fühlen sollten, kaum Gehör finden. Ein solcher eurozentrischer Feminismus mündet somit immer in einer rassistischen Praxis. Themen, die sich (neo-)kolonialen Strukturen und deren realen Konsequenzen im heutigen Kontext widmen, wie beispielsweise die Besatzungspolitik Israels, oder den verstärkten feministischen Rufen nach Hijab-Verboten (Terre des Femmes und andere) werden in linken feministischen Räumen als „kontrovers“ abgestempelt und gemieden. Wir haben diese Scheinargumente nun seit vielen Jahren gehört und wir sind es Leid, Themen die unser Leben als Migrant*innen in Deutschland zentral betreffen, wie einen Nebenwiderspruch behandelt zu sehen. Ein Feminismus, der den Anspruch hat, gesellschaftliche Strukturen zu hinterfragen, kann Rassismus und breitere Systemkritik nicht weiter ignorieren. Aus genau diesem Grund haben wir in unterschiedlichen Konstellationen unter anderem Workshops zu migrantisch-feministischer Organisierung und zu Rassismus in feministischen Strukturen in Deutschland eingereicht, um gemeinsam Wege des Zusammenarbeitens zu erörtern und feministische Räume in Deutschland zumindest für diese ersten selbstkritischen Schritte zu öffnen. Unser Ziel war es, endlich miteinander ins Gespräch zu kommen und auch andere nicht-weiße Personen zu motivieren, feministische Räume als ihre eigenen Räume zu erkennen und zu nutzen.

Die oben genannten Workshops wurden nicht angenommen. In zwei Workshops wurden jedoch ähnlich klingende Themen angeschnitten. Bei dem Workshop „Frauen*, Asyl und Solidarität“ versuchten die Teamenden von Women in Exile and Friends eine Diskussion darüber auszulösen, was wir brauchen, um feministische Räume, vor allem für Frauen und Queers mit Fluchterfahrung, weniger barrierevoll zu gestalten. Dadurch, dass der Fokus nicht explizit auf Rassismus gelegt wurde, was im Rahmen der Frage von der Teilnahme und des Protagonismus von Frauen und Queers mit Fluchterfahrung innerhalb feministischer Kämpfe eines der zentralen Hindernisse ist, kam es zu einer Aneinanderreihung und teilweise Gleichsetzung verschiedenster Unterdrückungslinien sowie Diskriminierungserfahrungen. Rassismus wurde hier nur abstrakt und nicht konkret als ein feministisches Problem, was die Teilnehmenden des Workshops betrifft, behandelt.

Ein zweiter Workshop mit dem Namen „Muslima in Deutschland“ beschäftigte sich mit der besonderen Unterdrückung, die muslimische Frauen in Deutschland erfahren. In Kleingruppen wurden zuerst Grundlagen wie die Verhandlung von Identität und Othering diskutiert. Mit der Öffnung der Diskussion wurden konkretere Probleme deutlicher. Die einzige Hijab-tragende Frau im Raum, berichtete von ihrem brutalen rassistischen Alltag; der Alltag einer Mehrheit von muslimischen Frauen in Deutschland: An der Universität für eine Putzfrau gehalten zu werden; bei Jobgesprächen gesagt zu bekommen, man habe sich für eine andere Bewerberin entschieden, nur um die selbe Stellenausschreibung dann weiterhin in der Zeitung und im Internet zu finden; im vollen Zug zu sitzen und trotzdem neben sich einen freien Platz zu sehen, den niemand nutzen will; sich als Jugendliche selbstbestimmt dazu zu entscheiden, Hijab zu tragen, aber danach in linken Strukturen, konkret der Linksjugend Solid, von weißen Deutschen gemieden und isoliert zu werden. Diese Erfahrungen wurden auch auf dem Feminist Futures Festival gemacht: Auch hier hätte sie sich meist alleine wiedergefunden. Die Reaktion der Anwesenden war bezeichnend: Zwar wurde nach den Ausführungen geklatscht und gesagt, dass weiße Deutsche in solchen Situationen migrantischen Frauen in erster Linie zuhören sollten, gleich darauf nahm die Rededominanz weißer Aktivist*innen, selbst in diesem Workshop, aber wieder zu. Als von einer Migrantin mit ägyptischem Hintergrund angemerkt wurde, dass sie den Begriff „bio-deutsch“, den eine weiße Teilnehmende statt weiß verwendete, problematisch findet, entgegnete diese ihr mit einem scharfen „Ich kenne aber keinen anderen Begriff und benutze ihn!“ und redete weiter. Es gab anscheinend kein Interesse daran, zu erfahren, warum „bio“ von „biologisch“ kommt und somit einer Rassenlogik entspricht, anstelle von weiß als gesellschaftlicher Kategorie zu sprechen, was eine soziale Realität in einer rassistischen Gesellschaft beschreibt. Über eine Aneinanderreihung von rassistischen Problemen kam also auch dieser Workshop nicht hinaus. Ein Raum, in dem muslimische Aktivist*innen offen und direkt kritisieren und auch Antworten verlangen konnten, entstand nicht.

Wir fragen uns: Warum fällt es der Mehrheit von weißen Feminist*innen häufig so enorm schwer, offen über Rassismus zu sprechen? Es ist leichter, sich einfach abstrakt „antirassistisch“ zu nennen, mal auf eine Demo zu gehen und somit auf der richtigen Seite zu sein, ohne dafür konkret irgendetwas getan zu haben. Vorschläge, noch mehr Workshops zu Kritischem Weißsein in mehrheitlich weißen Strukturen durchzuführen, wie wir immer wieder hörten, setzen aus unserer Sicht an der falschen Stelle an. Denn diese Konzepte gehen zwar von strukturellen Problemen aus, aber begegnen ihnen mit im Grunde individualistischen Lösungen à la „Verändere dein Bewusstsein!“ und führen kaum zu einer Veränderung der Praxis dieser Gruppen, noch zu einem Verständnis der Funktion von Rassismus im Kapitalismus und damit zu einem antikapitalistischem Antirassismus mit Migrant*innen als zentralen Protagonist*innen. Wir denken, dass es bei einem gelebten Antirassismus um eine klare politische auch feministische Praxis gehen muss. Und diese setzt an in der Analyse, was Rassismus in Deutschland 2019 überhaupt ist.

Für einen internationalistischen, antiimperialistischen Feminismus – auch in Deutschland

Lichtblicke des Festivals waren Teilnehmende, die ähnliche Kritiken formulierten. Bei dem Workshop „Frauen*Streik international“ am Samstag Abend konnte ein Raum geschaffen werden, um zu diskutieren, was Internationalismus bedeutet und in dem die Anwesenden gängige Probleme aufzeigen konnten. Zwei der zentralen Themen war die Frage von Rassismus in feministischen Räumen sowie die Schwierigkeiten, den meisten deutschen Feminist*innen ein Bekenntnis zu Antikolonialismus und Antiimperialismus abzuringen. Viele der über 100 Teilnehmenden des Workshops bekräftigten die Notwendigkeit, genau diese Diskussion weiterzuführen. Nachdem wir in Erfahrung gebracht hatten, dass Internationalismus und die Wege dorthin als Diskussion nicht bei der Abschlussveranstaltung Platz finden würden, beschlossen circa 50 Teilnehmende zeitgleich zur Abschlussveranstaltung ein Alternativtreffen zu organisieren und alle dazu einzuladen. Hieraus entstanden wiederum neue internationalistische Initiativen, die unter anderem in konkreten Netzwerktreffen in Berlin im Oktober im Rahmen des Antikolonialen Monats[5] an einer weiteren Zusammenarbeit feilen werden, sowie eine Solidaritätsaktion mit den zu bis zu 18 Jahren verurteilten Arbeiter*innen und Aktivist*innen der Haft-Tapeh Zuckerfabrik im Iran[6].

Den Organisierenden des Festivals ging es mit einer wohlwollenden Auslegung um einen antineoliberalen Intersektionalismus. Diese Analyse lässt sich an einigen Beispielen verdeutlichen. Unter dem Titel „Für eine feministische Klassenpolitik!“ stand zum Beispiel im Programm: „Ein Klassenpolitischer Feminismus will eine Antwort auf die neoliberale Politik sein, er will Antworten auf Konkurrenz, soziale Spaltung und die Angriffe auf die sozialen Infrastrukturen finden.“ Es ist sehr wichtig, sich gegen den Neoliberalismus zu stellen, vor allem für Feminist*innen. Denn die neoliberale Ordnung ist mit massiven Privatisierungen und einem Abbau der Sozialleistungen weltweit verbunden, die zuallererst und am härtesten arme Frauen und Queers treffen. Er führt ferner zu mehr und schlechter bezahlten, unsicheren Lohnarbeitsverhältnissen sowie zu mehr unbezahlter Reproduktionsarbeit für Arbeiter*innen. Sicher muss sich ein Feminismus der Unterdrückten gegen den Neoliberalismus wenden. Die entscheidende Frage ist jedoch unserer Ansicht nach strategischer Natur: Wohin wollen wir statt zum Neoliberalismus? Zurück zum Wohlfahrtsstaat, unter dem extreme Armut zwar tendenziell minimiert, aber nicht grundsätzlich abgeschafft werden kann? Wir verteidigen die Errungenschaften des Wohlfahrtsstaates und kämpfen für mehr Zugänge für die besonders verarmten Teile unserer Klasse. Wir teilen jedoch die sozialdemokratische Illusion des „Kapitalismus mit einem humanitärem Gesicht“ nicht.

Die inhaltiche Ausrichtung des Festivals deutet aber genau in diese Richtung. Es war geprägt von Themen wie Sorgearbeit, also Arbeit in der Pflege, Erziehung, Fürsorge, etc. Diese Arbeit ist zu Hause und im Job überproportional weiblich und besonders prekär. Die Unterdrückung und Ausbeutung von Frauen und queeren Menschen geht aber über diese Frage hinaus. Wir werden den patriarchalen, rassistischen Kapitalismus nicht allein mit einer „Care-Revolution“ besiegen, sondern mit einer sozialen Revolution, deren Subjekt die in ihrer Universalität und Zentralität erkannte gesamte Arbeiterklasse in Produktion und Reproduktion sein muss. Das heißt, es ist ein Programm notwendig, das nicht beim Organizing und der Kritik an geschlechtlich aufgeteilter reproduktiver Arbeit stehen bleibt. Wir müssen in der Lage sein, tatsächlich mit der gesamten Arbeiterklasse Kämpfe zu Ende zu führen und zu gewinnen. Dies schließt auch das Stellen der Machtfrage mit ein. Darin spielen Frauen und diejenigen, die in Sorge- und Pflegeberufen arbeiten, eine zentrale Rolle: Sie sind oft, wie im Pflege- oder Reinigungssektor, die Avantgarde der gesamten Arbeiterklasse, die Risiken eingehen, um andere Sektoren mitzunehmen[7]. Politische Kämpfe, wie der internationale Frauen*streik, sind eng verbunden mit der Arbeiterklasse als Subjekt. Und dies wollen wir wieder ins Zentrum unserer Politik rücken. Wir kämpfen für eine Welt ohne Ausbeutung und Unterdrückung. Wir wollen der Aneignung des Produkts der Mehrarbeit der Arbeiterklasse durch die Kapitalistenklasse und der Diskriminierung und der Angst um das eigene Leben –- als Ausländer*in, Trans*, etc. – ein Ende setzen.

#Titelbild: Solifoto für die Arbeiter*innen und Aktivist*innen von Haft Tapeh

Über die Autor*innen:

Ramsis Kilani ist palästinensischer Sozialist und Mitglied beim SDS. Sein politischer Fokus liegt auf Antirassismus und antikolonialen Befreiungskämpfen.

Narges Nassimi ist kurdische Feministin aus Rojilat und Mitbegründerin der internationalen, sozialistischen Frauenorganisation Brot und Rosen in Deutschland.

Eleonora Roldán Mendívil ist Marxistin und arbeitet als Journalistin und Freie Bildungstrainerin zu Rassismus, Geschlecht und Kapitalismuskritik. Sie ist im Frauen*Streik Komitee Berlin aktiv.

Aida Vafajoo ist Sozialistin und Feministin mit iranischen Wurzeln und studiert Soziologie/Politikwissenschaft.

[1] https://www.klassegegenklasse.org/interview-die-gastarbeiterinnen-bei-angela-merkel/

[2] https://revoltmag.org/articles/empowerment-und-klassenkampf-gegen-den-rassismus-des-kapitals/; https://de.labournet.tv/video/6489/pierburg-ihr-kampf-ist-unser-kampf

[3] Zum Beispiel: https://www.jungewelt.de/artikel/362525.agrarproduktion-streik-im-gew%C3%A4chshaus.html

[4] https://www.klassegegenklasse.org/interview-maya-john-den-intersektionalen-feminismus-hinterfragen/

[5] https://www.facebook.com/pages/category/Cause/Anticolonial-Berlin-111417073575130/

[6] https://www.klassegegenklasse.org/free_iran_workers-internationale-solidaritaet-vom-feminist-futures-festival-deutsch-english-farsi/

[7] https://www.klassegegenklasse.org/alle-sind-teil-der-universitaet/

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Ruth ist Mitte 30 und arbeitet seit 7 Jahren im Wombat‘s City Hostel. Zuerst ein Jahr in Wien und anschließend in Berlin an der Rezeption. Vor viereinhalb Jahren hat sie den Betriebsrat mitgegründet. Seitdem ist sie auch Betriebsrätin.

Das Wombat‘s City Hostel schließt zum 31.8. Warum?

Zumindest vorerst schließt das Haus. Wir gehen davon aus, dass es – genau wie zum Beispiel damals der „Wintergarten“ in Schöneberg – irgendwann wieder eröffnet wird. Nur eben ohne uns Gewerkschaftsmitglieder.

Wie kam es zu der Schließung?

Wir haben 2015 als erstes Hostel in Deutschland einen Betriebsrat gegründet und anschließend sind die meisten von uns Beschäftigten Gewerkschaftsmitglieder geworden und haben für einen Tariflohn gestreikt. Als Betriebsrat sind wir von der Geschäftsleitung in Wien und auch dem Management vor Ort in Berlin von Beginn an bekämpft worden. Das erste Wombat‘s Hostel wurde 1999 in Wien eröffnet und von da bis zur Betriebsratsgründung konnten die Besitzer Alexander Dimitriewicz und Marcus Praschinger alle, die ihnen nicht passten einfach so feuern. Meine Vermutung ist, dass es ihnen deutlich gegen den Strich gegangen ist, dass sie plötzlich die Beschäftigten in Berlin nicht mehr so einfach kündigen konnten, obwohl wir Einiges aufgedeckt haben, was nicht so gut lief und viele gute Dinge für die Belegschaft durchgesetzt haben, die sie eigentlich nicht tun wollten. Unsere Chefs haben viel Geld für juristische Beratung ausgegeben und sind uns trotz konstanter Zermürbungsversuche nicht los geworden. In dem offiziellen Aushang an die Belegschaft steht eindeutig, dass es dem Wombat‘s Berlin wirtschaftlich hervorragend geht, aber dass unsre Chefs „so“ nicht weitermachen wollen. Daraus geht für mich eindeutig hervor, dass das Haus geschlossen wird, weil sie keine Lust auf Mitbestimmung der Belegschaft und Einhaltung der Rechte von Arbeiter*innen haben.

Welche Methoden hat die Geschätsleitung konkret gegen euch angewendet?

Ich hab mal ein Buch über Union Busting-Methoden gelesen und wir haben eigentlich so gut wie alles durch – nur einen Privatdetektiv haben sie meines Wissens nicht auf uns angesetzt. Konkret bedeutet das: Das Management hat von Anfang an versucht, uns als Belegschaft zu spalten. Es wurden/werden immer noch Lügen über uns Gewerkschaftsmitglieder erzählt um uns zu diffamieren. Von einem Tag auf den anderen wurde den Gewerkschaftsmitgliedern gesagt, dass sie ihre Arbeit schlecht machen; wir haben haufenweise Abmahnungen mit Kündigungsandrohung aus an den Haaren herbeigezogenen Gründen bekommen; vom Management wird man entweder ignoriert, angeschrien oder sie spielen Lieder mit beleidigendem Inhalt, wenn man in ihr Büro kommt – also so Psycho-Spielchen, dass man sich super unwohl fühlt und dann von selbst geht. Die Reinigung wurde ausgegliedert und die Geschäftsleitung hat zugegeben, dass ihnen die Ausgliederung teurer kommt als interne Reinigung. Und der letzte Schritt, bevor sie bekannt gegeben haben, dass sie das Hostel schließen, war einfach ohne Grund Lohnbestandteile von besonders aktiven Gewerkschaftsmitgliedern einbehalten. Als wir trotzdem geblieben sind, begonnen haben, den fehlenden Lohn einzuklagen, so was dauert leider ca. 1 Jahr, weil die Gerichte so langsam sind, und begonnen haben, einen Soli-Darlehen zu organisieren, damit wir nicht deshalb einknicken müssen, haben sie wohl gemerkt, dass wir uns nicht zermürben lassen und uns weiterhin für eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen einsetzen werden. Bitter ist allerdings, dass neben Outsourcing auch sachgrundlose Befristungen zur Spaltung von Belegschaften benutzt werden und, dass das legal ist. Anfang des Jahres hat unser Chef begonnen, die Verträge von befristeten Gewerkschaftsmitgliedern nicht mehr zu verlängern. Ich würde das auch als Union Busting-Methode werten, allerdings handelt es sich bei Outsourcing und Befristungen nicht um Gesetzesverstöße, obwohl es meiner Meinung nach nur dazu dient, Belegschaften klein zu halten und zu spalten.

Am 8. März habt ihr auf der zentralen Frauen*streik-Aktion vor der Charité einen Redebeitrag gehalten. Hier habt ihr auch die sexistischen Ausmaße der Einschüchterung beschrieben. Was ist da genau passiert?

Wo soll ich da nur anfangen. Es gab ganz verschiedenes. Jahrelang ist der Leiter der Reinigung zu Schichtbeginn und Schichtende ohne zu klopfen in die Damenumkleide gekommen um „sich eine Bürste auszuleihen“. Die Umkleide der Frauen konnte man von innen nicht verschließen, d.h. es ist oft zu sehr unangenehmen Situationen gekommen. Die Kolleginnen aus der Reinigung haben ihm dann mal zu Weihnachten eine Bürste geschenkt, aber er ist weiterhin in ihre Umkleide gekommen. Als sich eine Kollegin nach Jahren dem Betriebsrat anvertraut hat, hat die Geschäftsleitung das Ganze heruntergespielt. Auch wenn das Ganze zeitlich sogar mit #meetoo zusammenfiel, hat er nur eine mündliche Verwarnung bekommen. Als wir ziemlich genau vor einem Jahr einen neuen Manager bekommen haben, hat er eine Kollegin aus der Reinigung auf Etage gemeinsam mit ihrem Abteilungsleiter, der Typ, der nicht klopfen kann, angeschrien und so unter Druck gesetzt, dass sie einen Nervenzusammenbruch bekommen hat. Außerdem hat er sein Büro mit Peniszeichnungen und einem Dildo dekoriert und Anfang März wurde er dabei beobachtet, wie er gemeinsam mit zwei Managern „Cunt“, „Cock Sucker“ und „Dick-Tation“ mit Sprühkreide vor das Hostel gesprüht hat.

Habt ihr von andern Belegschaften Solidarität erhalten?

Ja, es war wirklich sehr ermutigend, dass immer mehr Belegschaften nicht nur zu unseren Protesten gekommen sind, sondern wir uns auch zwischendurch gegenseitig ermutigt haben. Durch den Austausch haben wir gemerkt, dass eigentlich immer Outsourcing und Befristungen eine Rolle spielen. Deshalb haben wir mit Beschäftigten des Charité Facility Managements (CFM), des CPPZ, des Botanischen Garten, der BVG und verschiedenen Tochterfirmen der BVG, der Vivantes Service Gesellschaft und von verschiedenen Unis eine Initiative gegen Outsourcing und Befristungen gestartet. Solidarität haben wir aber auch noch von vielen Anderen erfahren wie z.B. Beschäftigten des Anne-Frank-Zentrums, der Berliner Bäderbetriebe, von Integral e.V. und sogar international von Las Kellys, Reinigungskräften aus Spanien, die auch gegen ihre prekären Arbeitsbedingungen aufstehen, und verschiedenen Zivilgesellschaftlichen Organisationen. Wir waren und sind echt immer wieder überwältigt!

Was kann man tun um sich mit euch zu solidarisieren?

Man zu unsrer Protest-Demo am 31.08.2019, dem Tag, an dem das Wombat‘s Berlin schließt kommen. Wir starten um 16.30 Uhr am Charitéplatz um uns mit den Beschäftigten des CFM zu solidarisieren, die seit 13 Jahren für Insourcing kämpfen und Richtung Wombat’s Hostel um für rechtliche Konsequenzen von sozialschädlichen Unternehmen und ein Vorkaufsrecht für Belegschaften bei Unternehmensschließungen zu protestieren.

#Titelbild: aktion.arbeitsunrecht
Nach einer Party im Hotel sollen Teile des Managements in der Nacht vom 2. auf den 3. März 2019 obzöne Bilder und Sprüche auf den Gehweg und die Alte Schönhauser Straße vor dem Hostel Wombat’s gesprüht haben.

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Carla Ramírez Gálvez (33) aus Antofagasta ist Erzieherin, Delegierte der Patricio-Cariola-Schule, Mitglied einer Gruppierung von Bildungsarbeiter*innen namens Nuestra Clase (Unsere Klasse) sowie Mitglied der Revolutionären Arbeiterpartei PTR. Das Lower Class Mag sprach mit ihr über den unbefristeten Streik der Erziher*innen und Lehrer*innen seit dem 3. Juni.

Du bist Erzieherin in einem Kindergarten in Antofagasta, im Norden Chiles. Gib uns doch zuerst einen gesellschaftspolitischen Überblick über die Region: Was sind die lokalen Probleme? Wie sieht es vor Ort aus?

In der Stadt Antofagasta lebt eine Vielfalt von Menschen, unter anderen viele Migrant*innen aus Kolumbien, Peru, Bolivien, Ecuador, Venezuela, China. Die zentralen Ressourcen sind Bergbau und Fischerei, in denen ein kleiner Sektor arbeitet. Die Mehrheit der Bevölkerung arbeitet in Geschäften, reinigt, verkauft Kleidung. Auch der Migrant*innensektor arbeitet hauptsächlich in Geschäften und auf der Straße, als Müllsammler*innen, Maurer*innen, verkauft Fruchtsäfte, Salate und Kleidung auf Märkten oder Straßen. Es ist auch erwähnenswert, dass es in der Stadt eine Arbeitslosenquote von etwa 10% gibt. Das ist eines der größten Probleme, ebenso wie die Wasser- und Umweltverschmutzung. Die Region hat die höchsten Krebsraten im Land, was die häufigste Todesursache ist. Auf der anderen Seite steht das große Problem des Wohnungsmangels, der die Menschen dazu zwingt, in überfüllten Wohnungen zu leben oder Landbesetzungen vorzunehmen, wo sie ihre Häuser mit leichtem Material bauen müssen.

Vor Wochen mobilisierten sich im ganzen Land Lehrer*innen aus verschiedenen Sektoren in großer Zahl für einen unbefristeten nationalen Streik. Bis jetzt hat die Regierung kein annehmbares Angebot vorgelegt. Was sind die Gründe hinter dem Streik und was sind die zentralen Forderungen des Lehrpersonals?

Am Montag, den 3. Juni, begannen wir einen unbefristeten Lehrer*innenstreik, denn seit 2018 ignoriert die Regierung von Sebastián Piñera unsere Petition. Wir begannen mit verschiedenen Arbeitsniederlegungen von 24 bis 48 Stunden. Da wir weiterhin keine Antworten auf unsere Petition erhielten, begannen wir unseren unbefristeten Streik.

Die zentralsten Forderungen sind die Zahlung der historischen Schulden, die in den 80er Jahren, mitten in der Militärdiktatur von Augusto Pinochet, entstanden sind. In dieser Zeit sind die Schulen von der staatlichen Finanzierung zur Verwaltung durch die Gemeinden der verschiedenen Städte übergegangen. Damals begann die Entwicklung dadurch, dass aus der Bildung Profit geschlagen wurde und alle nachfolgenden Regierungen haben die Marktbildung nur intensiviert. Bis heute sind bereits Tausende Lehrer*innen gestorben, die auf die Zahlung dieser Schuld warten.

Eine weitere Forderung ist die Zahlung des Unterhaltes der Kindergarten- und Differentialpädag*innen, die ein Lohndefizit von ca. 80.000 chilenischen Pesos pro Monat haben. Das ist diskriminierend gegenüber den anderen Lehrer*innen. Das Problem liegt in der Lehrtätigkeit, denn unser Gehalt basiert auf Boni, die nicht stabil sind und uns von einem Jahr auf das andere entzogen werden können.

Wir fordern auch feste Stunden, denn als Lehrkräfte haben wir einen Vertrag von 30 Stunden, die restlichen sind verlängerte Stunden, welche der*die Schulleiter*in von einem Jahr zum anderen vergeben kann. Das geschieht in der Regel bei Lehrer*innen, die ihre Meinung äußern oder mit der Leitung des Managementteams nicht übereinstimmen.

Die zuletzt hinzugefügte Forderung, ist die der Wiedereinführung der Fächer Geschichte, Sport und Kunst als Pflichtfächer in den letzten beiden Schuljahren. Hier hat die Regierung eine autoritäre Änderung des Lehrplans des dritten und vierten Jahre [der letzten beiden Jahre der Sekundarschule, An.d.A.] vorgenommen, so dass diese Fächer nicht mehr obligatorisch sind. Dies führte zu einer allgemeinen Ablehnung, nicht nur seitens der Lehrkräfte, sondern auch seitens der gesamten Gesellschaft.

Unsere Forderungen beziehen sich auf 12 Punkte, aber die oben genannten sind mitunter die wichtigsten.

Es gibt aktuell auch starke Mobilisierungen von den Studierenden und den Bergleuten von Chuquicamata, eine der größten Kupfertagebauten der Welt, die ebenfalls seit dem 14. Juni im Streik sind. Wie verbinden sich diese Kräfte?

Als Mitglieder von Nuestra Clase betonen wir in den Versammlungen der Lehrkräfte die Bedeutung, sich anderen Sektoren anzuschließen, die von dieser Regierung durch ihre Reformen und Projekte angegriffen werden. Deshalb haben sich unseren Protesten auch Arbeiter der Fließbandproduktionfirmen angeschlossen, die seit mehr als drei Wochen im Streik sind. Auch Student*innen der Pädagogik der Universität Antofagasta sowie die Bergleute von Chuquicamata haben sich angeschlossen. Mit einer Gruppe von Lehrkräften, Studierenden und Arbeiter*innen sind wir hoch nach Calama zur Versammlung der Bergleute gegangen und haben ihnen die Notwendigkeit aufgezeigt, die Kämpfe aller Arbeiter*innen, Studierenden und Lehrkräften zu vereinen. So haben wir am Montag, den 24. Juni, Straßensperren in drei Teilen von Antofagasta und Calama koordiniert, eine Aktion, die es bisher zwischen verschiedenen Sektoren nicht gegeben hat.

Wir sind uns bewusst, wie wichtig es ist, unsere Kämpfe zu vereinen und ein einziges Bündel von Forderungen zu stellen, um dieser rechten Regierung begegnen zu können, die mit allen Bereichen des Kampfes sehr unnachgiebig und repressiv umgeht.

# Interview und Übersetzung aus dem Spanischem: Eleonora Roldán Mendívil

# Titelbild: Lehrer*innen, Studierende und Arbeiter einer Fließbandproduktionsfirma besuchen die Versammlung streikender Bergleute von Chuquicamata am Mittwoch, den 19.6., Eleonora Roldán Mendívil

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Interview mit Fridolin vom antikapitalistischen Block bei der zentralen „Fridays-For-Future“-Demo am 21. Juni in Aachen

Die Schüler*innenbewegung „Fridays For Future“ hat in den vergangenen Monaten weltweit Bekanntheit erlangt. Alles begann mit der damals 15-jährigen Greta Thunberg, die beschloss, jeden Freitag die Schule zu bestreiken, um ihren Widerstand gegen die Zerstörung unserer Umwelt auszudrücken. Schneller als man ahnen konnte, wurde aus diesem Streik eine Bewegung; „Fridays For Future“ war geboren. Hunderttausende Schülerinnen und Schüler auf der ganzen Welt begannen, auf die Straße zu gehen – für ihre und unsere Zukunft und gegen die Zurichtung dieser Welt.

Immer wieder wird versucht, solche Proteste zu befrieden und zu entradikalisieren. Eine der Besonderheiten an der Initiatorin Greta Thunberg ist, dass sie sich beharrlich gegen diese Befriedungs- und Vereinnahmungsversuche wehrt, indem sie zum Beispiel mit einer bewundernswerten Geduld die meist dümmlichen und diffamierenden Fragen von Journalist_innen immer wieder auf ihre zentralen Forderungen umlenkt: Wir brauchen eine radikale Veränderung; wir brauchen sie jetzt und so schnell und umfassend wie möglich. Und wenn sie nicht innerhalb des Bestehenden umsetzbar ist, dann schaffen wir das Bestehende eben ab und machen es neu.

Wichtig ist jedoch: „Fridays For Future“ hat zwar mit Greta Thunberg angefangen, aber sie ist weder ‘Führerin’ noch alleinige Repräsentantin all der jungen Menschen, die sich Woche für Woche lautstark für ihre Zukunft einsetzen. Genauso wenig sind es allerdings die meist selbsternannten Sprecher_innen der Bewegung; diese Bewegung ist genauso divers wie die Menschen, die sie tragen.

So kommt es immer wieder zu Auseinandersetzungen, wenn es um die Protestformen und die Radikalität der Forderungen geht. Ein solcher Kampf wird auch in Aachen ausgetragen; hier sind Teile der örtlichen „Fridays-For-Future“-Gruppe mit linksradikalen Strukturen gut vernetzt und formulieren eine antikapitalistische Perspektive.

Am 21.06.2019 findet eine internationale Großdemonstration von Fridays For Future genau dort statt, Zehntausende Teilnehmer_innen werden erwartet. Wir haben uns mit Fridolin, einem Genossen unterhalten, der an der Vorbereitung des antikapitalistischen Blocks beteiligt ist.

Bevor wir zu der Demo kommen, lass uns einen allgemeinen Blick auf „Fridays For Future“ und Ökologie aus linksradikaler Perspektive werfen. Wie schätzt du die Bewegung ein?

Als ich die Proteste das erste Mal mitbekommen habe, war ich begeistert. So etwas habe ich in der rasanten Entwicklung noch nicht gesehen; dass vor allem junge Menschen sich so sehr für das Leben in dieser Gesellschaft interessieren und Probleme erkennen und benennen – und nicht ausschließlich konsumieren, was ja den Jugendlichen oft vorgeworfen wird. Das, was die Generationen davor jahrzehntelang verkackt haben, kommt jetzt von 16-jährigen auf den Tisch, und das find‘ ich super.

Findest du, dass linskradikale Kräfte sich dabei genug und richtig einbringen?

Teils, teils. Ich glaube, dass schon viele Leute in linksradikalen Kreisen die Proteste befürworten – aber auch, dass viele da zu hochnäsig rangehen, in der typisch deutsch-linken Art meinen, dass man selbst alles viel besser macht. Die Toleranzschwelle für Widersprüche und Dinge, die nicht hundertprozentig in die eigene Agenda passen, ist da sehr gering. Statt sich den Debatten zu stellen, wird lieber ganz geschwiegen. Auf der anderen Seite gibt es aber auch viele Leute, die das unterstützen und auch zu den Demos gehen, und das hat auch schon sehr viel gefruchtet. Ich habe selten bei vermeintlich bürgerlichen Protesten so viele Aufnäher mit irgendwelchen Antifa-Emblemen oder ähnlichem gesehen wie bei „Fridays For Future“ in Aachen. So oder so sollte aber in der linksradikalen Bewegung das Ganze noch ernster genommen werden.

Was hat denn Antikapitalismus überhaupt mit Ökologie zu tun?

Sehr viel. Wenn man sich die Wirtschaft anguckt, also was und wofür produziert wird, wird man feststellen, dass viele dieser Produkte eigentlich völlig überflüssig sind und nur produziert werden, um vermeintlichen Luxus zu schaffen und Profite zu maximieren. Die Wirtschaft ist nicht bedürfnisorientiert. Es gibt viel zu viele Autos, viel zu viele Handys, viel zu viel Essen, das schlecht verteilt wird.

Und man kann sich ja anschauen, wie rasant die CO2-Emissionen steigen, was eben mit Überproduktion, mit schlechter Landwirtschaft und einem vermeintlichen Luxusangebot für Menschen insbesondere in Nordeuropa zu tun hat. Derartiges Wachstum funktioniert aber eben nicht auf einem Planeten mit begrenzten Ressourcen. Klimawandel und Ungleichverteilung sind zwingend mit Kapitalismus verbunden. Und die Abschaffung des Kapitalismus ist die einzige Möglichkeit, den Klimawandel zwar nicht mehr zu stoppen – weil das wahrscheinlich gar nicht mehr geht -, aber wenigstens einzudämmen.

Wie schätzt du das linksradikale und antikapitalistische Potential der Bewegung? Wie ist die Stimmung auf den Demos?

Ich treffe viele Leute, die sich über „Fridays For Future“ politisieren. Die eben nicht dabei stehenbleiben, zu sagen, Klimawandel sei böse und andere Probleme dann ausklammern – sondern Aspekte wie Ausbeutung, Diskriminierung und dergleichen mitdenken. Die Schlussfolgerung, dass der Kapitalismus das Problem ist, ist vielleicht noch nicht bei allen angekommen. Aber in Anbetracht der kurzen Zeit, in der es die Bewegung gibt, wird sich das mit Sicherheit noch verbreitern. Das Spannende an dem Thema ist ja: Es geht alle etwas an, und wir brauchen einen radikalen Wandel, um diesen Planeten nicht innerhalb kürzester Zeit unbewohnbar zu machen. Das sagen nicht nur wir, sondern sehr viele Expert*innen.

Gleichzeitig gibt’s aber natürlich diese typischen ‚Grünen‘; die immer noch meinen, dass mit der richtigen Stimmabgabe der Kapitalismus schöner gemacht werden könnte. Die sind aber meiner Wahrnehmung nach in der Unterzahl.

Trotzdem sind ja gerade die reformistischen Stimmen relativ laut, vor allem in der bürgerlichen Presse – die, die sich distanzieren von radikaleren Protestformen und antikapitalistischer Positionierung. Was sagst du zu diesen Distanzierungen?

Ich glaube, eines der Probleme von „Fridays For Future“ sind diese vermeintlichen Führungspersonen, die sich in die Öffentlichkeit drängen. Das hat man natürlich weniger von Leuten, die antihierarchisch geprägt sind, als von eher bürgerlichen Leuten, die ihre Meinung überall herausposaunen wollen. Distanzierungen gibt’s ja bei vielen Protestbewegungen nach einer Weile. Aber es ist so, dass FFF auch teilweise dazu aufruft, sich beispielsweise bei „Ende Gelände“ zu beteiligen, um verschiedene Aktionsformen zu vereinen.

In Aachen gibt es jetzt auch Versuche von Staat und Polizei, „Ende Gelände“ zu kriminalisieren. Es wurden Flyer an Schulen geschickt mit der Info, dass man sich doch bloß nicht an deren Aktionen beteiligen dürfe, weil die – Zitat – „gewaltbereit“ seien. Ich denke aber, dass diese Kriminalisierungsversuche nicht sonderlich weit führen werden, und ich kann mir gut vorstellen, dass es klappen wird, verschiedene Protestformen zu vereinen. Hoffe ich zumindest.

Wie würdest du die gesamtgesellschaftliche Perspektive von „Fridays For Future“ einschätzen?

Ich denke, dass FFF das Potential hat, wirklich in die Gesellschaft hineinzuwirken. Was es ja auch schon tut; Klimawandel ist Top-Thema überall im Moment. Ich vergleiche das manchmal mit dem Rechtsruck, den wir die letzten Jahre hatten; die Klimabewegung als progressive Antwort von jungen Menschen, die nicht damit einverstanden sind, wie seit Jahrzehnten regiert wird. Und ich denke, dass das durchaus die Perspektive bietet, für solidarische Werte und eine solidarische Gesellschaft zu werben. Und auch ältere Generationen zu überzeugen, dass es im Moment einfach scheiße läuft und der Kapitalismus ein rasendes Monster ist, das sich von selbst natürlich nicht abschaffen wird oder abbremsen lässt.

Die Stadt Aachen fällt ja immer mal wieder auf durch Umwelt- und Ökologiethemen; Überall hängen Tihange-Plakate, und der Hambacher Forst befindet sich auch in unmittelbarer Nähe. Eine gute Ausgangslage für die Großdemonstration?

Ich glaube, dass in Aachen ein besonderes Bewusstsein entstanden ist durch die kaputten AKW in Belgien, Tihange und Doel, die bei einer Explosion die Stadt auch direkt betreffen werden – und natürlich auch durch den Hambacher Forst. Jede*r in Aachen weiß, was der Hambacher Forst ist. Und „Fridays For Future“ ist hier auch ein großes Thema; Aachen hat die größten FFF-Demos in ganz NRW – gehabt, zumindest, bis Köln uns dann überholt hat.

Dann kommen wir mal zu dem antikapitalistischen Block. Wer hat das angestoßen? Warum gibt es diesen Block?

Bei den Freitagsdemos haben wir in den letzten zwei Monaten mehrfach einen eigenen kleinen Block gemacht, also dazu aufgerufen, mit eigenen Transpis, Schildern, Fahnen was auch immer, dahin zu kommen und das Thema gesamtgesellschaftlich-kritisch zu betrachten. Als wir dann gehört haben, dass es diese internationale Demo geben wird, war klar, dass wir da eine antikapitalistische Position beziehen sollten. Wir haben auch sehr schnell sehr viel Zuspruch bekommen. Die Aachener „Fridays For Future“ Gruppe selber trägt ja auch im Vergleich zu vielen anderen Städten deutlich progressivere Inhalte mit, hat zum Beispiel ein eigenes Transpi mit klaren antikapitalistischen Positionen.

Wir finden „Fridays For Future“ an sich schon super, aber oft fehlt eben einfach noch ein bisschen; nämlich die Systemanalyse, wo die wirklichen Ursachen liegen, warum die Leute überhaupt auf die Straße müssen.

Auch wenn bei euch lokal diese Vernetzung funktioniert, wird es ja bei der Gesamtstruktur „Fridays For Future“ um diesen Block doch Diskussionen geben …

Natürlich gibt es innere und auch öffentliche Debatten. Ich denke, dass es nicht wenig Leute gibt, die sich eine etwas radikalere Form der Proteste und der Forderungen wünschen, und sich in den Ortsgruppen selber einbringen und dafür werben, gegen den Kapitalismus vorzugehen. Zu den Auseinandersetzungen bezüglich dieses Blocks: Was ich sagen kann ist, dass es durchaus Kritik daran gibt und teilweise offene Ablehnung. Das ist aber auf jeden Fall nicht die Mehrheit. Die radikaleren Kräfte wachsen stetig, und ich denke, dass die Leute, die zum Beispiel Mitglied bei den Grünen sind, nach und nach verstehen werden, dass auch die Grünen das Problem nicht lösen werden, weil sie sich eben an die Profitlogik des Marktes halten.

#Informationen zum antikapitalistischen Block: https://antikap2106.noblogs.org/

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Santiago de Chile. Seit Wochen gibt es Proteste an den Universitäten in Chile. Eines der Hauptanliegen der Streikenden ist die kritische Lage der mentalen Gesundheit der Student*innen.

Es ist Streikzeit an den Unis in Chile. Wie oft in den letzten Jahren rief die chilenische Student*innenkonförderation (Confech) am 25. April zum ersten nationalen Streik für die Universitäten in diesem Semester auf. „Wir mobiliseren uns für uns, unsere Familien und ganz Chile, gegen die Verschuldung und für eine Bildung ohne Sexismus, für Finanzierung, Demokratie, Wissensorientierung, Wissenszugang, dem Allgemeinwohl der Student*innen und für Integration!“

Was mit einem Streik begann, entwickelte sich in den letzten Wochen zu einer größeren Protestbewegung auf nationaler Ebene. Vom Norden Chiles, La Serena über Santiago de Chile, Valdivia bis nach Puerto Montt, organisieren sich Universitäten in ganz Chile. Bei allen Bemühungen der Organisator*innen fehlt es an Struktur, Planung und einheitlichen Forderungen. Der Streik scheint nicht in Bewegung zu kommen.

Teure Bildung

Die Streikenden fordern unter anderem mehr Geld zur Förderung von Student*innen. Studieren in Chile ist teuer. An öffentlichen Unis kostet ein Semester bis zu 8.000€ – und das bei einem Mindestloh von umgerechnet 385,90€ pro Monat. In der Konsequenz bedeutet das, dass es sich nur die Oberschicht leisten kann ihre Kinder ohne staatliche Förderprogramme auf die Universität zu schicken. Die Ursprünge dieses neoliberalen Bildungssystems liegen in der 17 Jahre andauernden Militärdiktatur Augusto Pinochets von 1973 bis 1990. In dieser Zeit wurden in Chile Universitäten privatisiert und Studieren zu einem Business gemacht. Über die Jahre hinweg konnte jede Person mit genügend Geld eine Universität ins Leben rufen. Eine der Folgen ist, dass Studiengänge unverhältnismäßig lang dauern. Ein Bachelor dauert im Normalfall zehn Semester, die alle bares Geld für die Betreiber*innen der Universitäten sind.

Die Confech rief den Hashtag #miDeudavale (meine Schulden zählen) ins Leben unter dem Student*innen ein Foto von sich und einem Schild posten, auf dem die Zahl ihrer Schulden steht. Durch diese Aktion soll in Sozialen Netzwerken gezeigt werden, wie sehr Student*innen auf staatliche Hilfe angewiesen sind, die sich bisher in Zuschüssen für Studiengebühren, Miete, Essen und Transport äußerte. Nun sollen diese Gelder für diejenigen gestrichen werden, die die Regelstudienzeit überschreiten. Mehr als 27.000 Student*innen sind davon betroffen. Ihre einzige Möglichkeit das Studium zu beenden, ist es Kredite aufzunehmen, mit denen sie sich hoch verschulden. Die konservative Regierung von Präsident Sebastián Piñera, der gleichzeitig einer der reichsten Chilenen ist, hatte sein Amt Anfang 2018 mit dem Versprechen angetreten, den „kostenlosen Zugang“ zu Bildung auszuweiten. Von diesem Versprechen ist allerdings wenig übrig geblieben.

Mentale Gesundheit an chilenischen Universitäten

Doch die Probleme für die Studierenden gehen über Finanzprobleme hinaus. Mitte April wies als eine der Ersten die Fakultät für Architektur der staatlichen Universidad de Chile auf ein weiteres nationales Problem hin: Die mentale Gesundheit der Student*innen. Laut veröffentlichten Studien über die psychische Gesundheit in Chile befinden sich 44 Prozent der Student*innen in psychologischer Behandlung. 46 Prozent gaben an, depressive Symptome und Angstzustände zu haben. Darüber hinaus leiden 54 Prozent unter Stress, 67 Prozent unter Schlaflosigkeit und 5,1 Prozent haben über Selbstmord nachgedacht. Der lange Weg zum Abschluss eines Studienganges,Überforderung und Leistungsdruck während des Semesters werden als Gründe für den psychologischen Stress angegeben.

Vielleicht ist auch das einer der Gründe, warum sich bisher nicht viele Student*innen am Streik beteiligten. Zu groß könnte die Angst sein, das Semester in wenigen Wochen aufholen zu müssen. Die Universitäten schließen sich nicht zu einem gemeinsamen Streik, es bleibt an einigen Fakultäten hängen, die nicht die Kapazitäten besitzen alleine strukturell etwas zu ändern. Stress und Überforderung sind vorprogrammiert. So wurde aufgrund mehrerer Aufforderungen von Student*innen verschiedener Fakultäten der Streik für beendet geklärt, damit das Semester nicht verlängert wird. Am 8. Mai rief die Confech erneut zu einer nationalen Demonstration für die psychische Gesundheit auf. Akademische Überlastung solle nicht mehr normalisiert werden.

Die Forderung der Studierenden reichen allerdings weiter als reine Bildungsthemen. Die Demo am 8. Mai richtete sich auch gegen die Transpazifische Partnerschaft – kurz TPP-11. Das transnationale, geplante Freihandelsabkommen zwischen elf Ländern im pazifischen Raum, einschließlich Chile, sieht vor, Zölle abzuschaffen und freien Wettbewerb in den Ländern zu ermöglichen. Auf Kritik stößt TPP, da es die Demokratie gefährde und die Rechte indigener Völker, Umweltschutzmaßnahmen und die Freiheit des Internets negativ beeinflusse. Das geplante Freihandelsabkommen schaffe neuen Kolonialismus, privatisiere natürliche Ressourcen und wirke sich negativ auf Arbeits- und Menschenrechte in Chile aus.

Fehlende Mobilisierung und uneindeutige Ziele

Doch wie sinnvoll ist ein Streik, wenn die Mehrzahl der Student*innen aus Angst vor folgender Überforderung und aufzuholender Arbeit gar nicht teilnehmen möchte?

Einige Student*innen kritisieren, der Streik sei zu unorganisiert. „Im gleichen Dokument mit den Forderungen, die bei der Demonstrationsanmeldung der Regierung vorgelegt werden, stehen die Stärkung der Rechte der Indigenen direkt unter der Bekämpfung mentaler Gesundheitsprobleme“, erzählt eine Studentin der humanwissenschaftlichen Fakultät. „Es gibt keine Organisierung. So werden wir nie etwas erreichen. Viel eher sollten einige wenige Punkte intensiver ausgearbeitet werden.“

Tatsächlich scheint jede Woche ein neues Thema zu dem Streik hinzuzukommen. Ursprüngliche Streikforderungen werden ausgeklammert oder nicht mehr beachtet. Um wirklich einige der Forderungen umzusetzen, müssten die Student*innen sich solidarisieren und an wenigen Punkten dafür intensiver arbeiten. Essentielle Forderungen werden sonst unter vielen untergehen. Was bisher fehlte waren auch direkte Vorschläge, wie die Situation verbessert werden soll. Mit konkreten Vorstellungen könnte sich ein Gespräch mit der Regierung etablieren.

Ende Mai entschlossen sich neue Fakultäten zum Streik, so zum Beispiel auch die Fakultät für Philosophie, Geschichte und Sozialwissenschaften der Universidad de Chile. Ein neuer Beweggrund auf der Liste: die Regierung will das Schulfach Geschichte in der Oberstufe nur noch als Wahlfach anbieten und nicht mehr obligatorisch im Lehrplan haben, genauso wie die Fächer Kunst und Sport. Insbesondere der Versuch das Fach Geschichte aus dem festen Lehrplan zu streichen kann als Versuch gewertet werden, die Erinnerung an die blutige Militärdiktatur verblassen zu lassen. In der Vergangenheit gab es bereits Versuche in Schulbüchern die Vokabel „Militärdiktatur“ durch „Militärregierung“ zu ersetzen. Auch so ist die Schaffung eines neuen Geschichtsbild teilweise erfolgreich. Das zeigte zuletzt eine Studie, der zufolge 57% der Achtklässler*innen es befürworten würden, erneut in einer Diktatur zu leben.

Und so geht der Streik recht unentschlossen vor sich hin. Einige Fakultäten steigen in den Streik ein, andere beenden ihn nach mehreren Wochen. Doch richtig aktiv werden die Student*innen nicht. Zu wenig Menschen setzen sich innerhalb der Universitäten für die Forderungen der Confech ein, zu wenig stimmen überhaupt einem Streik zu. Nur eine Minderheit geht entschlossen zur Wahlurne, um für oder gegen einen Streik zu wählen. Es werden kaum Demonstrationen organisiert und auch zu den politischen Versammlungen erscheinen wenige. „Was wirklich fehlt, ist eine größere Effektivtität in den Versammlungen. Nie kamen wir zu einem Ergebnis und deshalb fingen die Menschen an, Interesse zu verlieren“, so Brian Arredondo, Journalismus-Student des 5. Semester.

Mehr Druck auf die Regierung“

Nach wochenlangen Versuchen einen nationalen Streik zu etablieren und Bewegung in die konservativ gedachten Universitäten zu bringen, bleiben nur enttäuschte, erschöpfte Student*innen. Diejenigen, die sich am Streik beteiligten, werden den verlorenen Unterrichtsstoff in den verbleibenden sechs Wochen des Semesters aufholen müssen. Mentale Gesundheit ist gefährdeter denn je. Die Suizidrate an Universitäten in Chile ist gestiegen.

Dabei können groß angelegte Unistreiks durchaus funktionieren. Bei den durch Feminist*innen organisierten Protesten im letzten Jahr beispielsweise besetzten Streikende die Universitäten, landesweit organisierten sie Demonstrationen an denen mehrere Tausend Menschen regelmäßig teilnahmen und öffentlich wurden mehrere Vergewaltiger angeklagt. Durch diverse, organisierte Aktionen im öffentlichen Raum wurde die Einrichtung von Gleichstellungsbüros in den Universitäten erreicht. In den sechs Wochen setzten sich Streikende für eine Bildung ohne Sexismus ein. Eine Aktivistin, die an den Protesten des letzten Jahres teilnahm, meint, um die Aufmerksamkeit der Regierung zu erhalten, brauche der diesjährige Streik mehr Zusammenhalt, politische Effizienz und öffentliche Protestaktionen. Wichtige Probleme gehen durch eine fehlende Organisation und Teilnahmelosigkeit von Seiten der Universitäten unter. Zwar gab es bisher keine Reaktion der Regierung auf die Proteste aber der Öffentlichkeit wird immer klarer, dass es ein Problem an den Universitäten Gibt. Die mentale Gesundheit der Student*innen muss auf nationaler Ebene von den Behörden ernstgenommen werden. „Es sollte mehr Druck auf die Regierung ausgeübt werden, damit sie wirklich etwas ändern“, meint Arredondo. „Ich denke nicht, dass von der Regierung noch von der Universitätsgemeinschaft die Problematiken ausreichend verstanden wurden. Wir sind Menschen und möchten auch so behandelt werden!“

# Jule Pauline Damaske ist in Berlin geboren und studiert Europäische Medienwissenschaften an der Universität Potsdam. Nach einem Semester an der Universidad Nacional de Colombia in Bogotá, studiert sie jetzt Journalismus an der Universidad de Chile in Santiago de Chile.

# Titelbild: Frente Fotográfico Auch Schüler*innen demonstrieren. „Wenn es keine Bildung für mein Volk gibt, wird es keinen Frieden für die Regierung geben“

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Wenn Elfjährige auf öffentlichen Plätzen selbst gebastelte Pappschilder mit der Aufschrift „System change, not climate change!“ hoch halten, schrillen bei den Mächtigen die Alarmglocken. Der plötzliche Aufstieg der Schülerbewegung Fridays for Future (FFF) hat die Bourgeoisie offenbar aufgeschreckt. Hektisch wird an Strategien gebastelt, die Bewegung so zu kanalisieren, dass die jungen Leuten nicht anfangen, nach den tieferen Ursachen der Klimakrise zu forschen. Mit dabei der Verfassungsschutz.

Dass FFF ausgebremst werden soll, lässt sich nicht übersehen. Zu erfolgreich ist die Bewegung. Und auch wenn sie in weiten Teilen noch eher grün dominiert und damit systemkonform erscheint, so trägt sie doch ein für die Herrschenden nicht ungefährliches Potential in sich. Hunderttausende Jugendliche, die frühzeitig anpolitisiert werden und sich vielleicht irgendwann fragen, ob es der Kapitalismus ist, der das Klima zerstört – das kann das System nicht gebrauchen.

So wird das erprobte Arsenal bürgerlicher Manipulationstechniken aufgeboten. Das reicht von vergiftetem Lob zum Zwecke der Eingemeindung über altväterliches Genörgel an den „Schulschwänzern“ bis zu Spaltungsversuchen. Wie man Spaltung in die Bewegung trägt, führte das Hamburger Landesamt für Verfassungsschutz Mitte April vor. Mit einem länglichen Text auf seiner Homepage, der Einblicke in das kranke Denken der Schlappenhüte erlaubt.

Schon die Überschrift ist an Dämlichkeit schwer zu übertreffen: „Gewaltorientierte Linksextremisten setzen strategisch auf populäre Themen – Wie die Interventionistische Linke demokratische Initiativen instrumentalisieren will“. Der in pseudowissenschaftlichem Tonfall vorgetragene Text behauptet, die IL Hamburg versuche „im Rahmen ihrer Entgrenzungsstrategie“, Protestbewegungen zu „vereinnahmen und zu steuern“.

Mit dem Wort „Entgrenzung“ glaubt der Geheimdienst offenbar so etwas wie den Stein der Weisen gefunden zu haben. Mit diesem Begriff, so belehren uns die Hüter der Verfassung, sei die „gezielte strategische und taktische Besetzung gesellschaftlich breit diskutierter oder akzeptierter Themen“ gemeint. Dies diene dazu, „verfassungsfeindliche Positionen“ in den gesellschaftlichen Diskurs einzubringen und Anhänger zu gewinnen.

Und genau mit dieser Strategie, deliriert das LfV, versuche die IL Hamburg die Klimaproteste der Schüler zu instrumentalisieren. Als ein Beleg wird ein Vorfall vom 15. März erwähnt. Da hätten „von der IL beeinflusste Organisationen“ versucht, sich mit einer Zubringerdemo an die Schülerproteste „anzuhängen“ und hätten sich „eine eindeutige Absage“ eingehandelt. Tatsächlich hatte es damals im Anschluss an die FFF-Demo eine zweite Demo (Motto: „Klima-Revolution ins Rollen bringen“) gegeben, von der sich FFF Hamburg bedauerlicherweise auf Facebook distanzierte. Schwamm drüber.

Das mit der „Entgrenzung“ ist ganz offenbar eine fixe Idee von Torsten Voß, dem Chef des Hamburg Verfassungsschutzes. Jedenfalls legt das ein langes Porträt im Hamburger Abendblatt nahe, eine peinliche Lobhudelei, die interessanterweise kurz nach dem Vorstoß der Schlapphüte auf ihrer eigenen Homepage erschien. Voß wird in dem Beitrag als „bundesweit anerkannt, sehr gut vernetzt, loyal seinem Dienstherrn gegenüber“ bejubelt. Der gelernte Polizist sei „Geheimfavorit“ für das Amt des Chefs des Bundesamtes nach dem Rücktritt von Hans-Georg Maaßen gewesen.

Nach unerträglichem Geschwafel über die Karriere des Herrn Voß und den schweren Dienst seiner rund 200 Angestellten im LfV, kommt der Text am Ende zum Kern der Botschaft. „Die aktuell größte Bedrohung für die freiheitliche Demokratie ist die ,Entgrenzung‘“, wird Voß da zitiert. Der Begriff sei „eines seiner Lieblingswörter“. Er spreche davon, „wenn sich die Grenzen zwischen berechtigtem politischen Protest und Gewalt vermengen, wenn Extremisten mehrheitsfähige Themen besetzen und missbrauchen“. Natürlich wird auch das Beispiel der Hamburger IL noch mal herangezogen, die versuche sich bei FFF „anzudocken“.

Dieses Gerede von der „Entgrenzung“ und der Gefährlichkeit „linksextremistischer“ Gruppen ist schon deshalb grotesk, weil es von einem hochrangiger Funktionär ausgerechnet der Organisation kommt, die so freiheitlich-demokratische Nachbarschaftsvereine wie den NSU gesponsert hat. Der Vorstoß des Herrn Voß belegt vor allem eines: Die Herrschenden haben Fracksausen, dass immer mehr junge Leute auf die Idee kommen, dass Ökologie und Kapitalismus ungefähr so gut zusammen gehen wie Verfassungsschutz und Demokratie. Dass der Kapitalismus die historisch einzige Wirtschaftsform ist, die es tatsächlich geschafft hat, unseren Planeten an den Rande einer Klimakatastrophe zu führen.

Linke Organisationen „vereinnahmen“ also nicht etwa die Klimaproteste, da das Thema ja ein originär linkes ist. Wenn die Klimaproteste eine antikapitalistische Richtung einschlagen, ist das nur folgerichtig und konsequent. Und schließlich hier noch ein Denkanstoß für CDU-Mitglied Voß und Konsorten: Was ist Politik bitteschön denn anderes, als immer wieder zu versuchen, Themen zu besetzen und Menschen für die eigene Überzeugung zu gewinnen?

Titelbild: RubyImages/B. Niehaus

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