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Es geht um viel weniger als damals und zugleich um viel mehr. Als am 1. Mai 1886 in den ganzen USA mehrtägige Streiks begannen, kämpften die Arbeiter:innen um eine Reduzierung der Arbeitszeit von zwölf Stunden. Die Arbeitsbedingungen in den Fabriken waren miserabel. Für die zwölf Stunden Schufterei gab es im Schnitt lumpige drei Dollar, Gegenwert eines mageren Essens im Restaurant. In Chicago/Illinois kam es im Zuge der Streiks zum sogenannten Haymarket Massacre, als die Polizei das Feuer auf die dort versammelten, unbewaffneten Arbeiter:innen eröffnete und Dutzende tötete. Die Ereignisse begründeten die Tradition des 1. Mai als Kampftag der Arbeiter:innenklasse.

Dass die Polizei am 1. Mai 2022 auf Demonstrant:innen scharf schießt, ist eher unwahrscheinlich. Auch ist der Acht-Stunden-Tag bereits Realität und sonst manches besser geworden in der Arbeitswelt seit 1886, zumindest hierzulande. Insofern geht es am diesjährigen Kampftag der Arbeiter:innenklasse um weniger als damals – aber eben zugleich um so viel mehr. Zwei Jahre Pandemie haben die Gesellschaft weichgekocht und neue Möglichkeiten der Observanz, Kontrolle und Repression eröffnet. Das schuf eine gute Grundlage für das, was wir seit dem Beginn des Krieges in der Ukraine erleben. Es werden Weichen für eine Aufrüstung und Militarisierung ohnegleichen gestellt.

Die Kehrseite: Die Herrschenden sind dabei, die hinteren Wagen abzukoppeln. Die „Überzähligen“, „Unnützen“ liegen ihnen nur noch auf der Tasche. Es droht ein umfassender Sozialabbau, eine Forcierung der Umverteilung von unten nach oben. Um all das abzusichern wird die Repression weiter angezogen. Vor diesem Hintergrund kann es für diesen 1. Mai nur ein Motto geben:

Raus auf die Straße! Widerstand leisten gegen die offensichtlichen Faschisierungstendenzen!

Noch ist die Ausgangslage gut, noch ist die Öffentlichkeit da. Darum ist es so wichtig, Versuche beim Namen zu nennen und energisch zu bekämpfen, wie momentan etwa in Berlin, wo versucht wird, das Demonstrationsrecht durch die Hintertür zu kassieren. In der Hauptstadt will gerade ein ebenso reaktionärer wie größenwahnsinniger Bezirksfürst namens Martin Hikel die Revolutionäre- 1. Mai- Demo von Neukölln nach Kreuzberg torpedieren.

Hikel ist der Bezirksbürgermeister von Neukölln, auf diesem Posten Nachfolger des Protofaschisten Heinz Buschkowsky und dessen Ziehtochter Franziska Giffey, die es auf den Stuhl des Stadtoberhauptes geschafft hat. Aus seiner rassistischen Gesinnung hat der 2,08 Meter große SPD-Mann gleich zu Anfang kein Hehl gemacht. Er zog die Razzien in Neukölln auf, die sich angeblich gegen „Clan-Kriminalität“ richten, aber hauptsächlich große Teile der Bevölkerung im Kiez stigmatisieren. Dafür ließ er sich bundesweit von den bürgerlichen Medien feiern, tauchte mit TV-Teams persönlich in Shisha-Bars auf – natürlich erst nachdem bewaffnete Polizeibeamte die Lokalitäten „gesichert“ hatten.

Dieser Mann und seine Spießgesellen also versuchen momentan die Revolutionäre-1. Mai-Demo, die vom Hertzbergplatz über die Sonnenallee, den Kottbusser Damm und die Adalbertstraße bis zum Oranienplatz in Kreuzberg führen soll, mit einem Trick zu verhindern, der derart dummdreist ist, dass man sich als Beobachter:in nur an den Kopf fassen kann. Er hat auf wichtige Punkte der Demo-Route, von der seine Leute zum Zeitpunkt ihrer Planungen nichts geahnt haben wollen, unter dem Motto „Neukölln feiert den 1. Mai“ fünf Veranstaltungen, sogenannte „Straßenfeste“, gelegt. Die Anlässe dieser „Feste“ sind dermaßen an den Haaren herbeigezogen, dass niemand ernsthaft leugnen kann: Hier geht es offensichtlich nur darum, den Demo-Organisator:innen Steine in den Weg zu legen. Es ist Hikels Hindernisparcour, der da aufgebaut wird.

„Mit Kinder- und Familienfesten, Flohmarkt, Live-Musik und einem öffentlichen Fastenbrechen steht der 1. Mai in diesem Jahr für die Vielfalt und das friedliche Miteinander in Berlins buntestem Bezirk“, heißt es in einer Mitteilung auf der Homepage des Bezirksamtes. Verlogener geht es kaum!

Besonders das geplante Fastenbrechen ist an Verlogenheit und Perfidie nicht mehr zu übertreffen. Der Sprecher des Demo-Bündnisses Martin Suchanek hat es in einer Erklärung auf den Punkt gebracht: „Dass ausgerechnet der SPD-Bürgermeister Hikel, der dafür bekannt ist sich medienwirksam bei Razzien bei migrantischen Gewerbetreibenden abblitzen zu lassen – genau derselbe Martin Hikel, dessen ehemaliges Projekt „konfrontative Religionsbekundung“ auf einem Generalverdacht auf muslimische Jugendliche beruhte – nun sein Herzen für den Islam gefunden hat, scheint mehr als unglaubwürdig.“ Suchanek macht auch noch auf einen fachlichen Fauxpas aufmerksam, der ebenfalls die wahren Absichten entlarvt. Das viel bedeutsamere Zuckerfest finde erst am nächsten Tag statt, zudem wurde die Uhrzeit mit 19 Uhr glatt mindestens eine Stunde zu früh angesetzt, da das Fastenbrechen erst bei Sonnenuntergang beginnt.

Bündnissprecherin Aicha Jamal spricht von einer „Instrumentalisierung des letzten Iftar im Fastenmonat Ramadan seitens des Bezirksamt Neukölln“. Dies sei „nicht nur grotesk, sondern auch undemokratisch“. Mit Blick auf die Razzien gegen „Clankriminalität“ sagte Jamal: „Unter dem Vorwand organisierte Kriminalität zu bekämpfen führt Martin Hikel seit Jahren eine rassistische Hetzkampagne zu Lasten des gesamten migrantischen Kleingewerbes in Neukölln, welches tagtäglich unverhältnismäßigen Razzien ausgesetzt wird. Er unterstützt Projekte, die dazu führen, dass wir uns die Mieten nicht mehr leisten können und aus Neukölln verdrängt werden. Migrantisches Leben interessiert ihn nur, wenn es dazu dienen kann, das Image des Bezirkes aufzupolieren, um ihn interessanter für Investoren und Besserverdienende zu machen.“

Diese Agenda Hikels lässt sich auch beim Flohmarkt auf dem Hermannplatz erkennen. Veranstalter ist hier nämlich Spotlight, ein Verein, so schreibt das Bündnis in seiner Erklärung, „der seine Spenden offenbar von Signa erhält“. Signa ist der Konzern des dubiosen und rechtslastigen österreichischen Milliardärs Rene Benko, der in vielen deutschen Metropolen und auch im Ausland mit hochwertigen Immobilien jongliert. Jenem Konzern, wie Suchanek es formuliert, „der auf Biegen und Brechen mit SPD-Bausenator Geisel gegen den Willen der Anwohner den Karstadt am Hermannplatz abreißen und einen Luxuspalast aufbauen“ wolle.

In der Erklärung des Demo-Bündnis heißt es dazu: „Signas Gründer René Benko ist nicht nur einer der reichsten Menschen der Welt, er ist zudem mutmaßlicher Großspender der rechtsextremen FPÖ. Das wurde 2019 durch das Skandalvideo von H. C. Strache bekannt. Benko plant ein gigantisches
Neubauprojekt am Hermannplatz, welches erheblichen Einfluss auf die Mietpreisentwicklung der Umgebung haben wird und deshalb bei vielen Bewohner:innen Neuköllns unbeliebt ist. Dies beweisen die 6.000 Unterschriften, die von einer Anwohner:inneninitiative gegen Benkos Pläne gesammelt wurden. Die Initiative Hermannplatz habe des öfteren darauf aufmerksam gemacht, dass Benko mit kulturellen Projekten versucht, die Akzeptanz für seine Bauvorhaben in der Bevölkerung zu steigern.“

Die ganze Aktion ist ganz offensichtlich ein Alleingang Hikels und seiner Leute. Die Bezirksversammlung (BVV) war nicht in die Planung der fünf Veranstaltungen eingebunden. Das bestätigte Ahmed Abed, BVV-Abgeordneter für Die Linke in Neukölln, am Mittwoch auf Twitter. Nach Informationen vom Lower Class Magazine liefen die Planungen auch komplett an Sarah Nagel von der Linkspartei, der Stadträtin für das Ordnungsamt und Jochen Biedermann, stellvertretender Bezirksbürgermeister, Bezirksstadtrat und Leiter des Geschäftsbereichs Stadtentwicklung, Umwelt vorbei.

Wie es aussieht, hat der Bezirkschef für die Planung und Umsetzung der Veranstaltungen am 1. Mai eine von ihm selbst, vor allem für seine Razzien geschaffene Stabsstelle genutzt: die Koordinierungsstelle für öffentliche Sicherheit und Ordnung, in deren Aufgabenbeschreibung auf der Bezirkshomepage steht: „einschließlich Problemimmobilien sowie die Planung und Koordinierung von Verbundeinsätzen u. a. zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität“.

Die Linksfraktion in der Bezirksversammlung hat sich in einer Erklärung auf die Seite der Demo-Organisatoren gestellt. Darin heißt es: „Wenn SPD-Bürgermeister Hickel wirklich Straßenfeste organisiert, um damit eine Demo zu behindern, würde dies die Einschränkung des Versammlungsrechts bedeuten. Wir fordern klar: Die 1. Mai-Demo muss wie geplant stattfinden!“ Ferat Koçak, Neuköllner und Mitglied im Abgeordnetenhaus für Die Linke, erklärte ausserdem, Hikel behindere mit seinem Vorgehen „das Grundrecht der Versammlungsfreiheit und blockiert die Demo“. Offenbar wende er dieselbe Strategie an, mit der in Kreuzberg mit dem „Myfest“ operiert wurde – also eine Entpolitisierung des 1. Mai mittels Eventisierung.

Tatsächlich beweist SPD-Mann Hikel mit seinem Vorgehen überdeutlich, welche Prioritäten er setzt. Er tritt das Versammlungsrecht mit Füßen, den „Investoren“, die sich die halbe Stadt unter den Nagel reißen, rollt er dagegen mit Vergnügen den roten Teppich aus. Jeglicher Widerstand und jegliches positives Signal für eine Organisierung gegen diese Pläne sollen verhindert und gestört werden. Deshalb kann es in diesem Jahr nur umso mehr heißen:

Heraus zum 1. Mai!

Jetzt erst Recht!

Yallah Klassenkampf!

Dokumentation zum Revolutionären 1. Mai in Berlin:

# Titelbild: 1. Mai 2021, Copyright: 2021 PM Cheung

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Mittlerweile ist es 17 Jahre her, dass der aus Sierra Leone stammende Oury Jalloh am 07. Januar 2005 in der Zelle Nr. 5 des Dessauer Polizeireviers ermordet wurde. 
17 Jahre, in denen die Initiative in Gedenken an Oury Jalloh Gedenkveranstaltungen und Solidarität organisierte, Brandgutachten durchführen ließ und sich für Aufklärung einsetzte. In denen viel geschrieben und gesagt wurde über die möglichen Todesumstände und die nicht stattfindende Aufarbeitung seitens Polizei, Justiz und Politik. Wer den Staat wohlwollend betrachtet, mag annehmen, dass hier eine schreckliche Ausnahme vorliegt, in der alle drei staatlichen Gewalten versagt haben. Schaut man sich jedoch die schiere Masse an sogenannten „Einzelfällen“ von rechter und faschistoider Gesinnung und Gewalt in den deutschen Sicherheitsbehörden in den letzten Jahren und den politischen Umgang mit diesen an, beginnt man zu zweifeln. Wer sich dann noch mit dem konkreten Fall auseinandersetzt – mit all den Hinweisen, die aufzeigen, dass die offizielle Erzählung der Selbstentzündung so nicht stimmen kann – der muss zu dem Schluss kommen, dass es sich um einen vertuschten Mord handelt. Dass der Korpsgeist innerhalb der Polizei mehr zählt, als ein Menschenleben. Und, dass die zuständigen Gerichte einige juristisch fragwürdige Entscheidungen zugunsten der Beamten fällten. 

Schon die Festnahme Oury Jallohs am Morgen des 07. Januar 2005 war – wie zwei vom Landtag eingesetzte Expert:innen 2020 in ihrem Bericht feststellten – rechtswidrig. Keine seiner vorherigen Handlungen rechtfertigte diese. Hinzu kommt, dass Jalloh mit zirka drei Promille Alkohol und Spuren von Drogen im Blut zu diesem Zeitpunkt sicherlich nicht mehr gewahrsamtauglich war. Trotz einer ärztlichen Untersuchung wurde er am Vormittag des 07. Januar, in Zelle Nr. 5 im Keller des Dessauer Polizeireviers verbracht und dort an Händen und Füßen auf einer Matratze gefesselt. Das vorangegangene Telefonat zwischen dem Bereitschaftsarzt und dem Dienstgruppenleiter Andreas S. findet sich in den Gerichtsakten. Es ist herablassend und rassistisch. Was danach folgte, ist bis heute nicht abschließend geklärt. Und das, was man weiß, ist grauenvoll. Oury Jalloh versucht mehrmals, durch die Sprechanlage auf sich aufmerksam zu machen, bittet darum, dass seine Fixierung gelöst wird. Nach einiger Zeit geht eine zuständige Polizistin Beate H. nach unten in den Keller und schaut nach ihm. Beim Verlassen der Zelle nimmt sie eine durchsichtige Flüssigkeit auf dem Boden der Zelle wahr, doch sie geht wieder nach oben ohne sich näher damit zu befassen. Jalloh ruft daraufhin erneut mehrmals durch die Sprechanlage, woraufhin Andreas S. diese leise stellt. Beate H. dreht sie wieder lauter. Auch den später erklingenden Feueralarm drückt Andreas S. zwei Mal weg. Erst als der Alarm für die Zellenbelüftung angeht, schickt sie ihren Gruppenleiter hinunter in den Keller, damit er nachschaut, was dort passiert. Im Folgenden hört sie nur noch panische Schreie durch die Sprechanlage. Niemand rettet ihn. Der junge Mann verbrennt an diesem Tag bei lebendigem Leib und ohne jegliche Chance, sich aus der Situation zu befreien.


Was danach folgt, ist eine unerträgliche Farce. Anstatt wegen Mordes zu ermitteln, steht das Urteil für viele der beteiligten Beamt:innen anscheinend schon fest: In den Mittelpunkt der Ermittlungen rückt die These, dass Oury Jalloh seine Matratze selbst angezündet haben soll und die anwesenden Polizist:innen lediglich nicht schnell genug gehandelt hätten. Doch dafür spricht nichts, wirklich gar nichts. Die Matratze ist feuerfest, das Feuerzeug wurde angeblich zwei Mal übersehen. Zunächst bei der Durchsuchung vor der Gewahrsamnahme, dann taucht es erst drei Tage später, am 10. Januar, im Brandschutt auf. Lediglich leicht angeschmort und mit Anhaftungen von Fasern und DNA, welche eindeutig nicht auf eine Benutzung durch Oury Jalloh zurückzuführen sind. Spätere Brandgutachten, welche von der Initiative in Gedenken an Oury Jalloh initiiert und durch Spendengelder bezahlt wurden, schließen aus, dass es ihm überhaupt möglich gewesen wäre, in gefesseltem Zustand die Doppelnaht der Matratze aufzureissen und anzuzünden. Und sie stellen fest, dass Brandbeschleuniger im Spiel gewesen sein muss. 
Doch von alldem will die Staatsanwaltschaft Dessau nichts wissen. Sie ermitteln gegen Andreas S. und einen weiteren Beamten, der angeblich das Feuerzeug übersehen hat, lediglich wegen fahrlässiger Tötung. Außerdem wehrt sie sich gegen eine Röntgenuntersuchung der Leiche. Eine zweite Obduktion findet im März 2005 dann doch statt – erneut organisiert und finanziert durch die Initiative. Diese zeigt einen Bruch des Nasenbeins, im Oktober 2019 wird darüber hinaus festgestellt, dass auch sein Schädel, sowie mehrere Rippen gebrochen sind. Die Herkunft dieser Verletzungen wird gerichtlich nicht weiter geklärt. Ganze 59 Verhandlungstage dauert der Prozess vor dem Dessauer Gericht und doch gibt es am Ende keine Aufklärung. Die beiden Beamten werden am 08. Dezember 2008 zunächst freigesprochen. 
Daraufhin legen die Anwält:innen der Familie Jallohs beim Bundesgerichtshof in Karlsruhe Revision ein. Es folgen jahrelange Gerichtsverhandlungen: Erst in Magdeburg, wo es zunächst zu einer Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung kommt, nach einer von allen Seiten eingelegten Revision soll das Verfahren dann aber an die Bundesanwaltschaft übergeben werden. Diese verweigert sich jedoch ihrer Zuständigkeit und gibt die Ermittlungen an die Generalstaatsanwaltschaft Naumburg ab, welche wiederum die Staatsanwaltschaft Dessau für zuständig erklärt. Schließlich bestätigt der Bundesgerichtshof im September 2014 – also neun Jahre nach dem Mord – das Urteil des Magdeburger Landgerichts, welches dadurch rechtskräftig wird. 

Doch die Initiative in Gedenken an Oury Jalloh hört nicht auf, für Aufklärung und Gerechtigkeit zu kämpfen. Gegründet im Januar 2005 organisierte sie seitdem unzählige Kundgebungen und Mahnwachen, die jährlich stattfindende Gedenk-Demonstration sowie zwei radiologische Untersuchungen. Insgesamt drei unabhängige Brandgutachten wurden beauftragt, das letzte aus dem November 2021, ausserdem Pressekonferenzen sowie eine unabhängige internationale Kommission aus Sachverständigen und stellte zusammen mit der Familie von Oury Jalloh mehrmals Anzeigen wegen Mordes – teilweise mit konkreten Hinweisen zu einem möglichen Täter. Doch statt dem nachzugehen, wurde mit Repression gegenüber denjenigen reagiert, welche die Anschuldigungen äußerten. In einem Fall traf dies einen Justizvollzugsangestellten, welcher die Polizei darüber informierte, dass ein gewisser Udo S. (zu diesem Zeitpunkt schon im Ruhestand) der Mörder von Oury Jalloh sei. Gegen ihn wird ein Disziplinarverfahren eingeleitet und eine Anzeige wegen Verleumdung gestellt. Und auch die politische Aufklärung wird blockiert. Erst im August 2021 beschloss der Vorstand der SPD im Landtag von Sachsen-Anhalt, dass sie in der folgenden Legislaturperiode nicht für einen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss stimmen wird. Sie geben sich mit dem Bericht der zwei Sonderbeauftragten aus dem Jahr 2020 zufrieden, welcher ihrer Auffassung nach belege, „dass offene Ermittlungsansätze zum Tod von Oury Jalloh nicht zu erkennen seien“. Diese Aussage ist zutiefst verachtend.
Doch trotz all diesem offensichtlichen Unwillen zur Aufklärung, trotz des vorherrschenden Korpsgeists und den wiederkehrenden Falschbehauptungen, arbeitet die Initiative weiter für „Aufklärung, Gerechtigkeit und Entschädigung“, wie es auf ihrer Website heißt. Und sie sind gut darin. Waren bei der ersten Demonstration in Dessau noch 150 Menschen, so kommen mittlerweile an jedem 07. Januar mehrere Tausend Menschen aus dem gesamten Bundesgebiet in Dessau zusammen, um für die oben genannten Forderungen zu demonstrieren. Doch nicht nur auf der Straße zeigen sich die Errungenschaften der Initiative. Ihr und der Familie Oury Jallohs ist es zu verdanken, dass eine breite Öffentlichkeit auf den Fall aufmerksam geworden ist und das Narrativ der Selbsttötung angezweifelt wird.

Diese Kontinuität und Beharrlichkeit der Beteiligten ist wichtig in einem Land, in dem rassistische Morde oft zu einem seltenen Randphänomen verklärt werden, anstatt sie als das anzuerkennen, was sie sind: Die Konsequenz einer strukturell rassistischen Gesellschaft inklusive der ihr eigenen staatlichen Organe.

#Foto: PM Cheung

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So ziemlich alle in diesem Land dürften mittlerweile wissen, was mit dem Begriff „Streisand-Effekt“ gemeint ist. Für diesen Umstand und für eine überragende bundesweite Bekanntheit seiner selbst hat der Hamburger Innensenator und rechte Sozialdemokrat Andy Grote gesorgt. So gut wie kein Medium lässt es sich nehmen, unter dem Schlagwort „Pimmelgate“ in meist süffisantem Tonfall über die Vorgänge zu berichten, um die es hier geht. Weil er sich von einem harmlosen Tweet bei Twitter vor einigen Monaten beleidigt fühlte, trat Grote eine Lawine los, die ihn jetzt überrollt – so lustig das Ganze auf den ersten Blick wirkt, sollte der Vorgang nicht dazu führen, den Mann nur noch als Clown zu sehen und die Folgen seiner Politik aus dem Blick zu verlieren.

Ehe jetzt jede Menge Leser*innen hektisch zu Wikipedia wechseln, sei der Begriff „Streisand-Effekt“ hier kurz erklärt. Dazu ist es zielführend, den ersten Satz des entsprechenden Artikels der Online-Enzyklopädie wörtlich zu zitieren „Als Streisand-Effekt wird das soziologische Phänomen bezeichnet, wenn der Versuch, eine unliebsame Information zu unterdrücken, das Gegenteil erreicht, indem das ungeschickte Vorgehen eine öffentliche Aufmerksamkeit erzeugt, die das Interesse an der Verbreitung der Information deutlich steigert.“ Besser und treffender kann man nicht ausdrücken, was der auch früher schon nicht durch geschicktes Agieren aufgefallene Grote losgetreten hat.

Woher der Begriff „Streisand-Effekt“ kommt, sei hier auch noch erläutert. Er geht zurück auf einen Vorgang, der von der US-amerikanischen Sängerin, Schauspielerin und Regisseurin Barbra Streisand 2003 ausgelöst wurde, als sie einen Fotografen und die Website Pictopia.com erfolglos auf Zahlung von 50 Millionen US-Dollar Schadensersatz verklagte. Und zwar ging es ihr darum, dass auf einer der auf der Website veröffentlichten 12.000 Luftaufnahmen der Küste Kaliforniens, die die Küstenerosion für das „California Coastal Records Project“ dokumentierten, Streisands Haus zu sehen war. Natürlich hatte das keine Sau gewusst – erst durch die Klage verbreitete sich das Foto lawinenartig im Internet und alle wussten, wo das Luxusanwesen der guten Barbra steht. Früher nannte man das ein klassisches Eigentor, ab da halt „Streisand-Effekt“.

Wie das bei Grote lief, dürfte allgemein bekannt sein. Der Account einer Fankneipe des FC St. Pauli schrieb bei Twitter in Richtung des Senators: „Du bist so 1 Pimmel.“ Es folgte ein Strafantrag Grotes gegen diese „Beleidigung“ und eine Hausdurchsuchung, die dem vermeintlichen Autor des Tweets galt. Richtig Fahrt bekam die Sache, als Aufkleber mit dem Slogan auf St. Pauli auftauchten, die Polizisten abkratzen mussten, und der Satz aus dem Tweet schließlich Ende Oktober groß auf einer Plakatwand des autonomen Zentrums Rote Flora im Schanzenviertel landete. Zweimal rückte die Polizei an, um ihn zu übermalen, die Aufschrift wurde jedesmal erneuert, so dass die Polizei das Übermalen schließlich aufgab.

Natürlich ist Schadenfreude über das saudämliche Verhalten von Andy Grote durchaus angebracht. Auf der anderen Seite ist es nicht ganz ungefährlich, dass der Vorgang die Beurteilung des Sozialdemokraten ins Lächerlich-Harmlose verschiebt. Denn was der Mann, der im rechten Flügel der insgesamt schon rechten Hamburger Sozialdemokratie sozialisiert wurde, in den vergangenen Jahren angerichtet hat, ist nicht harmlos. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, sei hier darauf verwiesen, dass er der verantwortliche Senator für den gigantischen Polizeieinsatz zur Absicherung des G-20-Gipfels im Sommer 2017 gewesen ist.

Unvergessen ist Grotes faustdicke Lüge, der Gipfel werde ein „Festival der Demokratie“ sein. Tatsächlich wurden Grundrechte massiv eingeschränkt, etwa durch die Einrichtung einer großen Demo-Verbotszone. Die Polizei ging gegen Camps von Gipfelgegnern vor, auf die massive Gewalt gegen Demonstrant*innen von Anfang bis Ende des Gipfels und auf die Zustände in der Gefangenensammelstelle muss hier nicht näher eingegangen werden, weil darüber bereits genug geschrieben wurde. Der Hamburger Innensenator bekam damals zu Recht einen Spitznamen verpasst: „Verbote-Grote“. Er erwies sich damals als braver Kettenhund seines „Masters“, des damaligen Ersten Bürgermeisters Olaf Scholz, der sich gerade anschickt, Bundeskanzler zu werden. Das sollte man bei allem berechtigten Gelächter über „Pimmelgate“ nicht vergessen.

Was der G-20-Gipfel und auch die nachfolgende Fahndungswut der Soko „Schwarzer Block“ vor allem gezeigt haben: Grote und seine Polizei sind nicht zimperlich, wenn es gegen Linke geht. Da schert man sich nicht um die Gesetze, wie zum Beispiel die fragwürdigen Öffentlichkeitsfahndungen nach Gipfelgegnern gezeigt haben. Auch bei Demonstrationen wird im Zweifelsfall ordentlich hingelangt, wie sich etwa bei der Auflösung der „Welcome to hell“-Demo zu Beginn des Gipfels gezeigt hat. Und das ist eigentlich der Punkt: Es ist mehr als grotesk, wenn ein Politiker und eine Polizei, die dermaßen austeilen, sich über die Bezeichnung „Pimmel“ aufregen.

Selbst Andy Grote geht zum Schlagermove, trägt dort eine bunte Kette und einen dummen Hut –
Selbst Andy Grote geht zum Schlagermove, pisst vor seine eig’ne Haustür –
Was für ein Idiot! Was für ein Idiot! Was für ein Idiot!“ (Oidorno, 2019)

# Titelbild: Rasande Tyskar, Hamburg, 24.10.21, Attribution-NonCommercial 2.0 Generic (CC BY-NC 2.0)

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Wenn er wollte, könnte Olaf Scholz auf sein dreiundzwanzigjähriges Politikerleben zurückblicken und es gut sein lassen. Zwar gibt es wenige konkrete Erfolge zu verzeichnen. Die buzzwordgeladene Pseudobegeisterung der SPD-Wahlkämpfer*innen ist der beste Beweis dafür. Aber die eigene Karriere mit hohen Posten schmücken konnte Scholz schon immer – wenn auch meistens als Lückenfüller für einen scheidenden Vorgänger.

Kritik gibt es meist nur schlagwortartig, um in der Kürze überhaupt alle relevanten Verfehlungen unterzubekommen. Von Brechmittel bis Wirecard wird hier zusammengetragen, was den Kanzlerkandidaten der Sozialdemokraten zu einer der umstrittensten Figuren seiner Partei macht.

Scholz, MdB: Ja zum Krieg, Nein zum Mindestlohn

Olaf Scholz‘ politische Laufbahn auf Bundesebene beginnt mit seinem Einzug in den Bundestag 1998. In den folgenden vier Legislaturperioden stimmt der Abgeordnete, der Ende der achtziger Jahre noch die NATO als „aggressiv-imperialistisch“ bezeichnet hatte, für 21 von 27 der zur Abstimmung stehenden Auslandseinsätze der Bundeswehr, außerdem für Verschärfungen des Asyl- und Aufenthaltsrechts.


Auch von seiner früheren Auffassung, die Bundesrepublik sei eine „Hochburg des Großkapitals“, scheint er sich verabschiedet zu haben bzw. genau das noch befördern zu wollen. 2006 stimmt er für schärfere Hartz-IV-Regelungen und als die Linkspartei ein Jahr später den Mindestlohn einführen will, stimmt er mit nahezu der gesamten SPD-Fraktion dagegen. Die Vorratsdatenspeicherung und weitere präventive Befugnisse für das Bundeskriminalamt segnet Scholz dagegen ab.

Scholz, Innensenator: Um jeden Preis

Sein erstes Bundestagsmandat unterbricht er 2001, um in Hamburg das Amt des Innensenators zu übernehmen, nachdem sein Vorgänger zurücktreten musste. Es ist Wahljahr in der Stadt, die Umfragewerte der rot-grünen Regierungskoalition sehen nicht gut aus. Der rechtskonservative Ronald Schill und seine Partei Rechtsstaatlicher Offensive machen massiv Stimmung mit dem Versprechen, hart gegen die Drogenszene durchzugreifen. Scholz will ihnen den Wind aus den Segeln nehmen – indem er ihre Forderungen kurzerhand selbst umsetzt.

Im Juli 2001 trifft der Innensenator, der als Juso noch die damalige Regierung für ihre Politik des „nackten Machterhalts“ kritisierte, eine Entscheidung, die einen neunzehnjährigen Geflüchteten das Leben kosten wird: er führt den polizeilichen Einsatz von Brechmitteln ein. Mutmaßliche Drogendealer, die in Polizeikontrollen Drogen verschlucken, sollen so überführt werden. Die rot-grüne Regierungskoalition hatte diese Maßnahme bisher abgelehnt, sie sei überflüssig und gesundheitsgefährdend. Es ist bekannt, dass dieses Mittel extrem gefährlich ist und unter bestimmten Umständen, vor allem bei angeborenen Herzfehlern, zum Tod führen kann. Aber die Umfragewerte sind wichtiger.

Die Rechnung geht nicht auf, die Regierung wird im September trotzdem abgewählt. Ronald Schill – selbst Kokain-Konsument, wie sich einige Jahre später herausstellt – wird Innensenator. Die Praxis, die Olaf Scholz den Posten retten sollte, kostet den herzkranken Achidi John am 12. Dezember 2001 im Hamburger Polizeigewahrsam das Leben.

Scholz, Bürgermeister: Cum-Ex-Geschäfte, Erinnerungslücken und G20

Der abgewählte Scholz kehrt für einige Jahre zurück nach Berlin und amtiert in Merkels erstem Bundeskabinett kurzzeitig als Arbeitsminister – auch hier wegen Rücktritts des Vorgängers. 2011 wählt Hamburg ihn zum Bürgermeister, 2015 ein zweites Mal. In dieser zweiten Legislaturperiode ereignet sich das, was ihm später unter dem Stichwort Cum-Ex vorgeworfen wird.

September 2016: im Terminkalender des Bürgermeisters steht ein Treffen mit zwei Miteigentümern der Privatbank M.M. Warburg & Co., besser bekannt als Warburg-Bank. Zu diesem Zeitpunkt ermittelt die Kölner Staatsanwaltschaft wegen Steuerbetrug durch Cum-Ex-Geschäfte, es wurden bereits Räumlichkeiten der Bank durchsucht, zur Sprache stehen Steuernachforderungen in Höhe von bis zu 150 Millionen Euro. Köln sendet ein zweiseitiges Papier mit Informationen über die Ermittlungen nach Hamburg, die Hamburger Wirtschaftsbehörde erwähnt es am Tag des Treffens im Briefing für Scholz.

Was in diesem und den folgenden Treffen besprochen wird, weiß niemand, angeblich nicht mal mehr Scholz selbst, aber danach dürften bei Warburg einige Sektkorken geknallt sein, denn die Hamburger Steuerverwaltung verzichtet auf Forderungen in Höhe von 47 Millionen Euro. Mit Ablauf des Jahres 2016 verjährt die Rückzahlungspflicht. Warburg zahlt zwar trotzdem, verkauft das aber eher als barmherzige Almose. Wie der Forderungsverzicht zustande kam, bleibt ein großes Fragezeichen.

Denn Olaf Scholz erinnert sich nicht. Weder an den Inhalt der Gespräche, noch ihren Anlass, noch an das Stattfinden der Treffen selbst. Untersuchungsausschussmitglied Norbert Hackbusch (Die Linke) vergleicht die Erinnerungslücken mit einer Amnesie. Und bei den Umständen – der wohl größte Steuerbetrug aller Zeiten, laufende Ermittlungen, die ganz obere Chefetage einer beschuldigten Bank steht auf der Matte und will irgendwas – ist er nicht der einzige, der sich wundert, wie sämtliche Erinnerungen ausgelöscht sein können. Die nächste Sitzung des Untersuchungsausschusses wird erst nach der Bundestagswahl stattfinden.

Ein knappes Jahr nach den Treffen mit den Warburg-Chefs finden in Hamburg die berühmten Proteste gegen den G20-Gipfel statt. Die Polizei rastet völlig aus, auf Dutzenden Videos ist das brutale und unverhältnismäßige Vorgehen dokumentiert. Selbst die Staatsanwaltschaft, deren übliche Arbeitspraxis bei Polizeigewalt gegen Linke bekannt sein dürfte, leitet 115 Verfahren ein, die meist eingestellt werden, weil die tatverdächtigen Beamten nicht ermittelt werden können. Bürgermeister Olaf Scholz stellt sich von Anfang bis Ende hinter die Polizei und behauptet bis heute wahrheitswidrig, dass es keine Polizeigewalt gegeben habe. In Anbetracht seines Abstimmungsverhaltens zu Polizeibefugnissen ein ausnahmsweise konsequentes Verhalten.

Scholz, Finanzminister: Geheiligt sei der DAX

Im Januar 2019, ein knappes Jahr nach Ernennung Scholz‘ zum Bundesfinanzminister, decken Recherchen der Financial Times einen weiteren historischen Wirtschaftsskandal auf. Der Finanzdienstleister Wirecard hat jahrelang mit erfundenem Geld seine Bilanzen frisiert, Transaktionen in Millionenhöhe mit Sub- und Partnerunternehmen stellen sich als gefälscht heraus.

Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin), also die Behörde, die unter anderem Wirecard kontrollieren soll und wiederum unter Aufsicht des Finanzministeriums steht, reagiert sofort – aber anders, als sie solllte. Denn Wirecard ist ein DAX-Unternehmen. Weil naheliegt, dass der Aktienkurs bald rapide sinken wird, verbietet die BaFin im Feburar 2019 sogenannte Leerverkäufe von Wirecard-Aktien. Begründung: die Stabilität der deutschen Wirtschaft stehe auf dem Spiel. Zeitgleich zeigt die BaFin zwei Journalisten der Financial Times an, die den Skandal aufgedeckt hatten. Die Münchner Staatsanwaltschaft leitet gegen sie ein Ermittlungsverfahren wegen Marktmanipulation ein.
Ein weiteres Jahr später ist Wirecard Geschichte. Vorstandsvorsitzender Markus Braun und weitere Topmanager werden verhaftet, Vorstandsmitglied Jan Marsalek macht sich – wahrscheinlich mit Unterstützung des österreichischen Geheimdienstes – aus dem Staub.

Und Olaf Scholz, unter dessen Aufsicht die Behörde ein kriminelles Unternehmen schützte? Weiß wieder mal von nichts. Im Untersuchungsausschuss weist er jede Verantwortung von sich. Bürgerliche Medien rätseln seitdem, wie es sein kann, dass sich der deutsche Staat dermaßen „blenden ließ“, als hätte Angela Merkel nicht noch im September 2019 Werbung für den geplanten Markteintritt Wirecards in China gemacht, als der Bilanzbetrug seit acht Monaten bekannt war. Und so bleibt auch der parlamentarische Untersuchungsausschuss, der im Juni 2021 seinen Abschlussbericht vorlegt, ohne Konsequenzen.

96 Prozent können darüber hinwegsehen

Man muss keine Kommunistin sein, man muss nicht einmal links sein, um zu erkennen, dass Olaf Scholz kein Sozialdemokrat ist. Die „Parteilinke“ mit Kevin Kühnert an der Spitze wettert bei jeder Gelegenheit gegen ihn – bis August 2020. Die Vorsitzenden Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans schlagen Scholz als Kanzlerkandidat vor, denn seine Umfragewerte sehen gut aus. Der Parteivorstand, dem auch Kühnert angehört, nominiert ihn einstimmig, der Parteitag stellt ihn schließlich mit 96 Prozent auf. Und plötzlich sind alle Kritikpunkte in einer geradezu Scholzschen Amnesie vergessen, wer auf sie hinweist, wird des „Bashings“ und der Spaltung beschuldigt. So wird ein Mann, der wegen einer von Umfragewerten geleiteten Entscheidung ein Menschenleben auf dem Gewissen hat, wegen Umfragewerten zum Kanzlerkandidaten gewählt. Und die gesamte deutsche Sozialdemokratie zieht mit.

# Titelbild: Olaf Scholz und seine Amnesie in einem Kleingartenverein, Dirk Vorderstraße

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Ich bin mal wieder einige Tage zu spät, aber ich habe den Islamismus-Artikel von Kevin Kühnert im Spiegel gelesen und er ist dümmer als ich dachte. Ich dachte, ich wüsste was so ungefähr die Thesen sind: „Die Linke muss sich zu Islamismus verhalten und das Thema nicht den Rechten überlassen“. Der Artikel aber er ist noch ein bisschen flacher als das und im Wesentlichen ein Mix aus grobem Unsinn und leeren Phrasen.

Er beruft sich dabei auf einen abstrakten Humanismus, der es immer schlecht findet, wenn Menschen sterben. Das ist schön und gut, aber jetzt auch nicht sonderlich links. Dann meint er man solle mal „Hegel, Feuerbach, Marx lesen“, was mich die Frage stellen lässt, ob er auch nur die leistete Ahnung hat, wer diese Personen sind und was sie überhaupt geschrieben haben. Ich gehe davon aus, dass er auf eine Art Religionskritik anspielen will, wobei unklar bleibt, was das Argument sein soll, außer dem Allgemeinplatz, dass Religion Privatsache sein sollte. Die Ideologiekritik von Marx zu verstehen jedoch heißt vor allem, dass man den Islamismus nicht bekämpft, indem man sich “zu Wort meldet“, sondern indem man die politischen Interessen dahinter erkennt und die gesellschaftlichen Ursachen nachhaltig bekämpft.

Der Beitrag glänzt vor allem mit Abstraktion und ist erstaunlich unpolitisch. Es geht um Islamismus, der eine nicht näher bestimmte „Ideologie“ ist.
Wie sie inhaltlich aussieht und wie sie funktioniert, was sie von anderen unterscheidet oder mit anderen gemein hat, kommt nicht vor. Es geht um „die Täter“, aber es gibt keine politischen Akteure mit Interessen und keine gesellschaftlichen Institutionen, die das tragen. Er adressiert die „politische Linke“, aber wer das konkret sein soll und vor allem was diese abstrakte Gruppe – außer „sich zu Wort melden“ – tun soll, bleibt offen.

Dass es eine riesige linke Bewegung gibt, die in den letzten Jahren den IS besiegt und einen Völkermord verhindert hat, nämlich die kurdische Freiheitsbewegung, wurde bereits zuhauf angeführt. Umgekehrt ist es wahr, dass es in Deutschland einen bürgerlichen Antirassismus gibt, der ein Einfallstor für Islamismus bietet. Eine Art von Diversity-Politik, die islamischen Religionsunterricht und islamische Theologie in deutschen Bildungsinstitutionen von Verbänden, wie DITIB oder IGS organisieren lässt. Diese unterstehen jeweils dem türkischen bzw. dem Iranischen Regime. Antirassismusdemos, die mit eben solchen Verbänden gegen antimuslimischen Rassismus demonstrieren.
Eine Antidiskriminierungsstelle des Bundes, die Inklusionsprojekte mit führenden Figuren der Milli Görüs Bewegung finanziert. Im SPD-Vorstand soll der Zentralrat der Muslime ein- und ausgehen. Erdogan persönlich instrumentalisiert gerade einen antirassistischen Duktus, um seine türkischislamische Großmachtpolitik zu legitimieren. Kühnerts Kritik bleibt abstrakt, weil eine konkretere Auseinandersetzung mit den Akteuren dieser „linken“ Politik bedeuten würde, dass sie vor allem von den mitte-links Parteien getragen und forciert werden, vor allem weil sie sich dadurch eine große Wählerbasis erhoffen. Dass da ein „unangenehmes Schweigen“ herrscht aus Angst, man könnte Wähler verlieren ist klar.

Besorgniserregend naiv ist dagegen die Vorstellung, ihre Politik wäre geleitet von abstrakten Werten, auf die man sich wieder besinnen müsse und nicht knallharten Interessen, über die man sich bewusst ist. Deshalb muss man auch kein Wort verlieren, über Waffendeals mit Erdogan, die direkt an seine IS-Söldner gehen oder an Saudi-Arabien, die den Islamismus nicht erst seit gestern global und nicht zuletzt auf dem afrikanischen Kontinent finanzieren. Es wirkt an dieser Stelle fast redundant zu ergänzen, dass der politische Islam im letzten Jahrhundert vor allem von den Westmächten als Bollwerk gegen den Sozialismus hochgezogen wurde.

Die breite Zustimmung, auch die der Rechten, zu seinem Beitrag, ist nicht überraschend, denn genau auf diese Zielgruppe zielen solche Beiträge ab. Die verlogene Rhetorik einer Politik, die von menschenrechtlichen Prinzipen geleitet sein will, fällt dabei besonders ins Auge, weil sie seit jeher als Legitimation für Militäreinsätze herhalten musste.
So war es bei Jugoslawien, beim Irak und bei Libyen. Kühnert hat in der Vergangenheit schon deutlich gesagt, dass er militärische Interventionen im Ausland nicht ausschließt. Wir dürfen gespannt sein, wie er dafür auf diese Argumentation nochmal zurückkommen wird.
Nebenbei: Dass Kühnerts Beitrag viel Lob aus der linken Parteienlandschaft erhalten hat, ist auch nicht weiter überraschend. Die Linkspartei gibt sich schließlich regierungsfähig und staatstragend.

#Titelbild: Stefan Müller (climate stuff)/CC BY 2.0

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Seit einigen Jahren bemüht sich der „linke Flügel“ der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) ihre Partei in neuem Glanz erscheinen zu lassen. Die zwei „linken“ Vorsitzenden Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken sollen der in der Wählergunst dramatisch abgesunkenen SPD einen neuen roten Anstrich verpassen. Und wo es ganz viel Glaubwürdigkeit braucht, um den ewig gleichen Kompromiss mit Staat und Kapital als jugendlich-rebellisch zu vermarkten, wird Juso-Chef Kevin Kühnert aus dem Hut gezaubert, der in sich selbst und alle Zuhörer*innen erniedrigenden Reden sogar die Ernennung von Olaf Scholz zum Kanzlerkandidaten zur „linken“ Errungenschaft umdeutet.

Nun ist es zwar so billig wie richtig, einem Kühnert zu attestieren, er sei eine Art Sigmar Gabriel auf Speed – denn letzterer brauchte vom Antimilitarismus-Referenten bei den Falken bis zum Kriegstreiber und internationalen Waffendealer wenigstens noch ein paar Jahrzehnte. Oder eine Saskia Esken an ihre eigenen Versprechen zu erinnern – etwa, was die Kinder von Moria betrifft –, deren Ablaufdatum jedes Lidl-Gemüse in den Schatten stellt. Die Sozialdemokratie hat in weiten Teilen der Bevölkerung den Ruf, keinerlei Rückgrat zu haben. Wenn sie sagt, es kommt keine GroKo, weiß man, es kommt eine. Wenn sie sagt, Rüstungsexporte werden weniger, weiß man, sie werden steigen. Und wenn sie sagt, sie werde sich jetzt wieder mehr den Beschäftigten und Erwerbslosen widmen, bekommt man es mit der Angst zu tun.

Warum ist das so? Woran liegt es, dass eine Partei, die gerade nach eigenem Bekunden einen „Linksruck“ vollzogen hat, jemanden wie Olaf Scholz zum Kanzlerkandidaten macht? Woran liegt es, dass eine Partei, die sich „sozialdemokratisch“ nennt, Hauptverantwortlich für das größte Paket antisozialer Reformen der letzten Jahrzehnte ist? Warum pflegt eine Partei, die sich „internationalistisch“ nennt, wenn sie regiert, engste Beziehungen zu Faschisten wie Bolsonaro, Erdogan oder Trump? Oder gehen wir weiter zurück: Warum rief dieselbe Partei noch am Beginn des 20. Jahrhunderts die Arbeiterklasse aller Länder zur Einheit, während sie 1914 die Vaterlandsverteidigung für unumgänglich hielt und die deutsche Arbeiterklasse zum Morden und Sterben in den Weltkrieg führte? Warum ist es eine Partei, die behauptete, für den Sozialismus zu sein, die zusammen mit proto-faschistischen Freikorps rebellierende Arbeiter*innen ermorden und Räterepubliken niederschlagen ließ?

Es hat wenig mit dem jeweiligen Personal zu tun. Man kann Kevin Kühnert attestieren, ein witziger Typ zu sein, der wirklich glaubt, irgendwas für die Menschen in diesem Land tun zu können; und man kann Saskia Esken durchaus für eine sympathische Person halten – zumindest im Vergleich zu den Amthors und Scheuers des großen Gegners und Langzeitpartners CDU/CSU. Und dennoch braucht man weder von dem einen, noch von der anderen irgendetwas zu erwarten.

Denn das Problem der Sozialdemokratie liegt tiefer. Und es besteht seit weit über hundert Jahren. Es ist aber auch ein sehr interessantes Problem, denn es zeigt, wie eine Partei, die zur Befreiung des Proletariats und mit ihm der gesamten Menschheit antrat, eine Hauptstütze von Kapitalismus und Krieg wurde. Die Geschichte dieses Wandels sagt aber nicht nur etwas über die SPD; in ihr spiegelt sich die gewisse Zukunft jedes „reformistischen“ Politikansatzes.

Vom gemeinsamen Band umschlungen

Am 4. August 1914 begründete der Fraktionsvorsitzende der SPD, Hugo Haase, im Reichstag die Zustimmung der Sozialdemokratie zu den Kriegskrediten. Wie? Das erste Element ist, den Krieg als ein „Verteidigungskrieg“ darzustellen und den „russische Despotismus“ als eine Gefahr für das gesamte deutsche Volk. In der Stunde der Not rücken alle zusammen, aber nicht etwa ohne Unterschied der Nation global alle Unterdrückten und Ausgebeuteten, sondern alle innerhalb einer Nation. „Unsere heißen Wünsche begleiten unsere zu den Fahnen gerufenen Brüder ohne Unterschied der Partei.“

Der Weg war frei für das millionenfache Sterben, für den Hurrapatriotismus, das Schlachten und Geschlachtetwerden in den Gräben von Verdun und an der Marne. Die Einheit der Weltarbeiterklasse gegen die Kapitalisten war anderen Slogans gewichen: Jeder Schuss ein Russ, jeder Stoß ein Franzos. Rosa Luxemburg, eine der schärfsten Kritiker*innen des Kriegskurses der SPD, merkte an: „Der welthistorische Appell des Kommunistischen Manifests erfährt eine wesentliche Ergänzung und lautet nun […]: Proletarier aller Länder, vereinigt euch im Frieden, und schneidet euch die Gurgeln ab im Kriege!“

Was war geschehen? Noch im ausgehenden 19. Jahrhundert und am Beginn des 20. hatte es an Friedensbotschaften aus der SPD wahrlich nicht gemangelt. Ähnlich wie andere sozialdemokratische Parteien sah sie die internationale Solidarität der Arbeiter*innenklasse als Garant dafür, dass die Bourgeoisie nicht willkürlich Massen gegeneinander in den Kampf schicken könne, um ihre eigenen Expansionsinteressen zu verwirklichen.

Reisen wir sechs Jahre in die Zukunft. Der Krieg ist vorbei, Deutschland hat verloren, war aber nun bürgerliche Republik. Heinrich Rieke, SPD-Alterspräsident des Reichtags, erklärt in der Sitzung vom 24. Juni 1920 an die Adresse der bürgerlichen Parteien: „Die gemeinsame Not unseres Landes wird uns manchmal enger zusammenschmieden – so hoffe ich – als der hinter uns liegende heftige Wahlkampf, als der traditionelle Zwiespalt der Parteien in Deutschland es vermuten lässt. Denn schon bisher hat am ehesten dann ein gemeinsames Band die äußerste Linke mit der äußersten Rechten umschlungen, dann, wenn es galt, irgendwo in unserem Lande plötzlich aufgetretene Not helfend zu lindern.“

Etwas mehr als ein Jahr war es da her, dass die „äußerste Linke“ in Gestalt des SPD-Politikers Gustav Noske zusammen mit der „äußersten Rechten“, proto-faschistischen Freikorpsmilizen, die beiden Kriegsgegner*innen Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht sowie hunderte weitere kommunistische Arbeiter*innen ermordet hatten, weil diese eine Räterepublik erkämpfen wollten. Diese Art des Zusammenstehens in der „gemeinsamen Not“ wird sich in den folgenden Jahrzehnten wiederholen: Die SPD wird maßgeblich an der Zerschlagung der bayerischen Räterepublik mitwirken, im Blutmai 1929 dutzende unbewaffnete Arbeiter*innen niederschießen lassen und die Notstandsdiktatur Heinrich Brünings stützen.

Seit 1914 ergibt sich ein sehr klares Bild der Sozialdemokratie: Sie sieht in dem deutschen Staat etwas, das man verteidigen muss – ob gegen den äußeren Feind im Weltkrieg oder gegen den inneren Feind in Gestalt kommunistischer oder anarchistischer Arbeiter*innen. Natürlich streitet sie gelegentlich weiterhin mit bürgerlichen Parteien; und natürlich sieht sie auch in den Faschisten einen Gegner. Aber letztlich hat sie sich eingerichtet und meint, der bestehende Staat sei derjenige, der ihrem politischen Projekt schrittweiser Reformen den besten Spielraum bietet.

Der Proletarier hat doch ein Vaterland

Vorangegangen war diesem Schwenk schon in den 1890er-Jahren eine breite Debatte über die „Revision“ der marxistischen Theorie. Eduard Bernstein, der prominenteste Theoretiker dieser Strömung, unterlag zwar scheinbar mit seinem Anliegen, den revolutionären Marxismus durch eine Theorie der Sozialreform zu ersetzen – aber viele seiner Thesen lagen in der Luft des Zeitgeistes und gingen Schritt für Schritt in den common sense der Sozialdemokratie über. Jahrzehnte später, im Jahr 1964, wird der SPD-Funktionär Carlo Schmid zurecht feststellen: „Eduard Bernstein hat auf der ganzen Linie gesiegt.“

Bernsteins Angriff auf den Marxismus hat dabei eine innere Stringenz: Er setzt an Marxens Analyse der immanenten Widersprüche des Kapitalismus an, verwirft sie, um Platz zu machen für seine These, dass noch innerhalb des Kapitalismus und unter Herrschaft des bürgerlichen Staates ein schrittweises Voranschreiten durch Reformen in Richtung Sozialismus möglich ist. War das objektive Interesse des Proletariats im Marxismus noch unversöhnlich dem von Kapital und bürgerlichem Staat entgegengesetzt, betritt mit Bernstein die bis heute gängige „Standortpolitik“ die historische Bühne. Wenn die (kapitalistische) Gesellschaft im Ganzen reicher wird, wird der Spielraum für Reformen im Dienst der Arbeiter*innenklasse größere. „Je reicher die Gesellschaft, um so leichter und sicherer die socialistischen Verwirklichungen“, behauptet Bernstein.

Der Arbeiter ist nun organisch verbunden mit „seiner“ Nation, weshalb Bernstein den berühmten Satz von Karl Marx, der Proletarier habe kein Vaterland, für veraltet erklären muss. „Indeß dieser Satz konnte allenfalls für den rechtlosen, aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossenen Arbeiter der vierziger Jahre zutreffen, hat aber heute, trotz des enorm gestiegenen Verkehrs der Nationen miteinander, seine Wahrheit zum großen Theile schon eingebüßt und wird sie immer mehr einbüßen, je mehr durch den Einfluß der Sozialdemokratie der Arbeiter aus einen Proletarier ein – Bürger wird“, schreibt er in Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie im Jahr 1899.

Kolonien, Kriege, Standortsicherung

Es ist zwar kein Monopol der Sozialdemokratie, aber mit der Verengung der Klassenanalyse auf das „nationale“ Proletariat ist der Weg in den Untergang beschlossene Sache. Die deutschen Proletarier sind nun nicht in erster Linie ein Segment der Weltarbeiter*innenklasse, sondern „Bürger*innen“ Deutschlands, die eben auch noch Arbeiter*innen sind und deshalb in ihrer Nation für Reformen zu kämpfen haben.

Es ist logisch, dass aus dieser Sicht etwa Kolonien nicht grundsätzlich abzulehnen sind. Bernstein befürwortet den Kolonialismus gelegentlich zur Hebung der „Kultur“ der „unzivilisierten“ Völker, an einer Stelle allerdings spricht er auch den Kern der Sache aus: „Die Ausdehnung der Märkte und der internationalen Handelsbeziehungen ist einer der mächtigsten Hebel des gesellschaftlichen Fortschritts gewesen. Sie hat die Entwicklung der Productionsverhältnisse in ausserordentlichem Grade gefördert und sich als ein Factor der Steigerung des Reichtums der Nationen bewährt. An dieser Steigerung haben aber auch die Arbeiter von dem Augenblick an ein Interesse, wo Coalitionsrecht, wirksame Schutzgesetze und politisches Wahlrecht sie in den Stand setzen, sich steigenden Anteil an derselben zu sichern.“ Logo, wenns der Nation gut geht, geht‘s den Arbeitern gut, und damit es der Nation gut geht, dürfen sich die primitiven Länder nicht ihrer Einbindung in den Weltmarkt widersetzen.

Von hier an ist es nicht mehr weit zur „Vaterlandsverteidigung“, die von Verdun bis zum Hindukusch in der DNA der deutschen Sozialdemokratie verblieb. Bernstein: Klar, man sei für Frieden, aber nichts gebiete der SPD, „dem Verzicht auf Wahrung deutscher Interessen der Gegenwart oder Zukunft das Wort zu reden, wenn oder weil englische, französische oder russische Chauvinisten an den entsprechenden Maßnahmen Anstoß nehmen.“ Und mehr noch: Die „Internationalität [kann] kein Grund schwächlicher Nachgiebigkeit gegenüber den Prätensionen ausländischer Interessenten sein.“

Wer Bürger einer Nation ist, die beständigen Fortschritt garantiert, muss sich aber nicht nur gegen Bedrohungen von außen, sondern auch gegen die von innen stemmen. Und das sollten, was Bernstein noch nicht wissen konnte, nach dem von der SPD mit befeuerten Ersten Weltkrieg vor allem kommunistische Arbeiter*innen werden.

Es liegt durchaus auf der Linie derselben Theorie, wenn Gustav Noske nach der von ihm befehligten Ermordung hunderter Arbeiter*innen im Jahr 1919 stolz von der Niederschlagung des Aufstands erzählt, den „wackeren Truppen“ dankt und sich rühmt, „Ruhe und Sicherheit“ wiederhergestellt zu haben. Die Arbeiter*innen nennt er „Bestien in Menschengestalt“ und „Amokläufer“. Seinen Schießbefehl rechtfertigt der SPD-Politiker mit den Worten: „Die Staatsnotwendigkeit gebot, so zu handeln, dass so rasch wie möglich Ordnung und Sicherheit wiederhergestellt wurden. […] Getan habe ich, was gegenüber dem Reich und dem Volk für meine Pflicht gehalten wurde.“

Von der „Volkspartei“ zur Partei des Neoliberalismus

Der Wandel der SPD von der Klassenpartei zur „Volkspartei“ und Stütze der deutschen Nation setzte sich von da an unaufhaltsam fort, bis sie sich in ihrem Godesberger Programm von 1959 endgültig von allen Überbleibseln einer marxistischen Vergangenheit verabschiedete. „Kapitalismus“ kommt in dem Programm nicht mehr vor, der Adressat des Dokuments sind „die Menschen“ oder „das deutsche Volk“, nicht die Arbeitenden und Erwerbslosen. Der Begriff „demokratischer Sozialismus“ kommt als inhaltsleere Phrase zwar noch vor, aber die wirklichen Bezugspunkte sind andere: „Der Staat“ – völlig klassenneutral und überhistorisch –, der allerlei Freiheitsrechte und Versorgung gewährleisten soll und „die Demokratie“, die ebenfalls nicht mehr als „bürgerliche“ oder „sozialistische“ ausdifferenziert wird. Das ganze Programm ist ein Treueschwur zur kapitalistischen BRD und ihren Interessen.

Als Partei mit Arbeiter*innen-Anhang aber pro-kapitalistischem Programm erfüllt die SPD künftig eine immens wichtige Rolle bei der Stabilisierung kapitalistischer Verhältnisse. Insbesondere als im Gefolge der Ausgliederung großer Teile der Industrie in den Trikont seit den 1970er-Jahren, dem Zusammenbruch des sowjetischen Sozialismus und dem Auftreten eines neuen Krisenzyklus der scheinbare Klassenkompromiss der „Sozialpartnerschaft“ durch das Kapital aufgekündigt wird, erfüllt die SPD ihre Rolle mustergültig. Sie wird zur Haupttriebkraft der neoliberalen Umgestaltung.

Das sogenannte Schröder-Blair-Papier markiert den Wandel hin zu einer Partei, die nicht mehr der Illusion anhängt, durch Reformen den Arbeiter*innen im Kapitalismus zur Verbesserung ihres Lebensstandards zu verhelfen, sondern die den Kapitalismus durch Reformen gegen die Werktätigen und ihre erwerbslose Reservearmee „retten“ will. Die Ergebnisse sind bekannt: Eine weitgehende Zerschlagung von sozialer Absicherung, die immense Ausdehnung des Niedriglohnsektors, das Wuchern von Leiharbeit und Werkvertragsunwesen.

Die allgemeine Tendenz vieler sozialdemokratischer Parteien zu Hauptstützen des Neoliberalismus war einer der Faktoren, die den länderübergreifenden Niedergang der einstigen „Volksparteien“ auslöste. Die SPD verlor in den vergangenen drei Jahrzehnten mehr als die Hälfte ihrer Mitglieder, sank von 943 402 im Jahr 1990 auf 419 300 im vergangenen Jahr ab. In der Wählergunst sah die Entwicklung ähnlich dramatisch aus. Von 40,9 Prozent 1998 auf derzeit um die 20 Prozent.

Und täglich grüßt das Murmeltier …

Allerdings bedeutet der Glaubwürdigkeitsverlust einer bestimmten Partei nicht, dass der Reformismus als gesellschaftliche Kraft ausgedient hat. In dem Maße, in dem der „Platz“ der SPD frei wurde, bemühte sich die Partei „Die Linke“ nun diejenigen einzusammeln, die zwar von der Sozialdemokratie, aber nicht von der Illusion eines durch Koalitionsregierungen ausverhandelten gemächlichen Fortschritts innerhalb des Kapitalismus genug haben.

Die „neue“ Sozialdemokratie mag sich gelegentlich noch ungestümer benehmen, als ihr in die Jahre gekommener Vorläufer. Ihr „demokratischer Sozialismus“ mag noch mit der ein oder anderen identitätspolitischen Ausschmückung bunter eingefärbt sein. Und es mag noch den ein oder anderen wackeren Bezirks- oder Landesverband geben, der es ernst meint, mit der Phrase von der „Partei der Bewegungen“. Aber die Weichen werden mehr und mehr gestellt in Richtung einer etwas „linkeren“ Sozialdemokratie für die Mehrheitsbeschaffung einer dann anzustrebenden rot-rot-grünen Verwaltung des deutschen Kapitalismus.

Das Konzept ist bereits dasselbe wie früher in der Sozialdemokratie: Als „Sozialismus“ gilt wahlweise „Umverteilung“ – also nicht die grundlegende Änderung des Systems, sondern das permanente Werkeln an seinen Symptopmen – oder noch schlimmer: Sozialismus ist, wenn „der Staat“ irgendetwas tut. Das jüngste Papier der sogenannten „Reformer“ hält in diesem Kontext sogar temporäre Unternehmensbeteiligungen kapitalistischer Staaten für „klassisch linke Ideen“, reproduziert die Bild-Zeitungsthese, die Bewältigung der Corona-Krise habe irgendwie sozialistische Züge und konstatiert: „Diese Krise hat erneut gezeigt, dass auch in einem kapitalistischen System ein Mehr an Solidarität auch im Hier und Jetzt möglich ist“ – ganz so, als ob irgendeine revolutionaristische Strömung in der Linkspartei die ganze Zeit auf den großen Bruch drängen würde.

Wohin das führt, kann man sich – natürlich mit Unterschieden – am großen Vorbild vieler linker „Reformer“ in Griechenland ansehen. Die dortige Linkspartei Syriza vermochte es, auf einer Welle von Straßenprotesten gegen die Austeritätspolitik zur stimmenstärksten Partei zu werden. Die traditionelle Sozialdemokratie PASOK zerfiel völlig, Syriza nahm ihren Platz ein. Einmal an der Macht konnte dann aber mangels irgendwelcher Ideen jenseits kapitalistischer Sachzwänge nichts anderes tun, als sich gegen eine Volksabstimmung, die den Bruch mit dem neoliberalen EU-Diktat forderte, dennoch erneut eben diesem zu unterwerfen. Die Partei verlor massiv an Popularität und die damals schon für halb tot erklärten Konservativen kamen zurück an die Macht.

Das wiederum ist für die reformistischen Funktionär*innen keine besondere Niederlage, sondern allenfalls ein normaler Fall politischer Konjunktur. Man will ja den Parlamentarismus nicht durch eine neue Form von Demokratie ersetzen, sondern in ihm mitspielen. Und da regiert eben einmal der Gigl und einmal der Gogl.

Wem nutzt der Reformismus?

Der Reformismus in dieser Form hat nichts mit dem gemein, was Rosa Luxemburg „revolutionäre Realpolitik“ nannte und worauf sich die heutige Linkspartei so gerne bezieht. Für Luxemburg – wie für alle Revolutionär*innen – war klar, dass Reformen nie Selbstzweck sind, sondern Mittel zum Zweck der Revolution. Das eigentliche Resultat der Kämpfe um Reformen sind aus revolutionärer Perspektive demnach auch nicht die jeweils errungenen Krümel, sondern das Vorantreiben des Organisierungsgrades der Klasse und die Schaffung von Klassenbewusstsein – daran muss sich linke Politik messen lassen und man wird keinen Beleg brauchen, um die miserable Bilanz der diversen europäischen Linksparteien in dieser Hinsicht zu sehen.

Der systemerhaltende Reformismus hat aber ohnehin ein anderes Ziel. Er weiß, dass er seinen Platz „im Hier und Jetzt“ hat, also innerhalb des Kapitalismus seine Funktion einnimmt. Und gelegentlich wird er als solches auch gebraucht. Denn der kapitalistische Staat hat seinerseits die Aufgabe, das Bestehen des Gesamtsystems auch gegen die Interessen einzelner Kapitalfraktionen durchzusetzen. Er muss Sorge tragen, dass das maßlose Profitstreben der Einzelkapitale nicht in den Ruin führt.

Die Klügeren unter den Reformisten kennen ihre Aufgabe in diesem Rahmen genau. Linkspartei-Ikone Gregor Gysi tourt mit genau diesem Konzept seit vielen Jahren von Unternehmertagung zu Unternehmertagung. In seiner Rede unter dem Titel „Die Gefährdung Europas und die Verantwortung Deutschlands“ bei der Investment Holding Mountain Partners von 2016 formuliert er diesen Ansatz mit wünschenswerter Deutlichkeit. Er spricht über Geflüchtete, die man nicht mehr aufhalten könne und über die immer weiter auseinanderklaffende Schere zwischen Arm und Reich. Dann sagt er: „Wir stehen vor einer Grundsatzfrage: Lassen wir die Schere so weiter aufgehen. Oder drehen wir sie um? Nicht maßlos. Nicht maßlos. Aber drehen wir sie um. Und ich sage ihnen: Die klugen Reichen, die wissen, wenn sie nicht etwas gerechter verteilen, gefährden sie ihre Existenz. Die dummen Reichen sind nur gierig. Ich weiß, dass Sie alle klug und reich sind.“

Gysi hat völlig recht. Genau das ist die Funktion, die er und die Seinen auszufüllen haben. Der Kapitalismus hat in bestimmten Phasen und insbesondere in den imperialistischen Metropolen, denen Extraprofite aus der Ausbeutung der Peripherie zufließen, einen gewissen Reformspielraum. Wie der verteilt wird, darum können all jene ringen, die auf dem bunten Markt des Parlamentarismus das Fell ihrer Wähler*innen feilbieten.

Aber warum nicht?

Nun könnte man fragen: Warum denn nicht? Ist das nicht auch irgendwie super, besser der Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach. Wenn Gregor Gysis gemächlicher, nicht maßloser Umverteilungskurs den Kapitalisten nützt und gleichzeitig uns andere zumindest weniger arm macht, ist er dann nicht auch irgendwie okay? Man muss ja nicht gleich Kommunist*in sein!

Der allgemeine Haken an der Sache ist, dass der Reformismus Ausbeutung nie beendet, sondern sie nur abmildern will. Aber geschenkt, denn wenn man ohnehin nicht der Auffassung ist, dass man sie beenden kann, zieht das Argument nicht. Nur hat der Reformismus ein weiteres Problem. Er funktioniert auch innerhalb seiner langweiligen und eng gesteckten Ziele nicht – was man ja wiederum sehr gut an der Geschichte der SPD ablesen kann. Nicht sie hat den Kapitalismus gezähmt, sondern der Kapitalismus hat die Sozialdemokratie zu seiner handzahmen Dienerin gemacht.

Im besten Fall ist der Reformismus eine von den Konjunkturen des Kapitalismus abhängige Sisyphos-Arbeit, deren mühsam in der einen Konjunkturphase errungene „Verbesserungen“ in der darauffolgenden flöten gehen. Auch das ist nichts neues, Friedrich Engels schrieb 1891 im Bezug auf die Politik der englischen Trade-Unions, diese würden immer nur „unter ständigen Kämpfen, mit ungeheurem Verschleiß an Kraft und Geld“ durchsetzen, dass die Arbeiter*innen im aus dem Lohngesetz folgenden Normalmaß ausgebeutet werden und nicht noch drunter dahinvegetieren. Und dann „machen die Konjunkturschwankungen, alle zehn Jahre mindestens einmal, das Errungene im Handumdrehen wieder zunichte, und der Kampf muß von neuem durchgefochten werden. Das ist ein verhängnisvoller Kreislauf, aus dem es kein Entrinnen gibt. Die Arbeiterklasse bleibt, was sie war […] – eine Klasse von Lohnsklaven.“

Im schlechteren Fall aber – und das ist der Normalfall im Kapitalismus in seinem heutigen Stadium – wird der Reformismus zur standortpolitischen Verteidigung der imperialistischen Nation gegen die Peripherie, was sich etwa in der ungebrochenen Bereitschaft der SPD zu neoliberalen Handelsabkommen, Austeritätsdiktaten und kriegerischer „Vaterlandsverteidigung“ ausdrückt. Im Imperialismus ist der Reformismus immer auch Verteilungskampf um die dem Rest der Welt abgerungenen Profite, die er schon deshalb nicht in Frage stellen kann, weil dann sein eigener Spielraum für „Umverteilung“ kleiner würde.

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Kommentar

Sorry, aber ich kann die Fresse von dem Mann nicht mehr sehen! Egal, wo man sich in Hamburg bewegt, durch welches Viertel man geht, in welcher S-Bahn oder welchem Bus man sitzt – immer wieder guckt dich überdimensional das bebrillte Gesicht von Peter Tschentscher an. „Die ganze Stadt im Blick“ steht auf den Wahlplakaten neben seinem Konterfei. Die Sozis verkaufen ihren Ersten Bürgermeister und Spitzenkandidaten bei der Bürgerschaftswahl am kommenden Sonntag als seriösen Landesvater, der für alle da ist. Aber dieser Herr, der so staubtrocken daherkommt, als wollte er alle Klischees vom Beamten erfüllen, ist bestenfalls der Prokurist der Pfeffersäcke, wie die herrschende Klasse an der Elbe verniedlichend genannt wird.

Als waschechter Hamburger und radikaler Linke darf ich das sagen: Irgendwie habe ich die Stadt immer für vieles geliebt, für den Michel, die Hafenschlepper unten am Elbrand, für die Atmosphäre auf St. Pauli oder Altona, wo sie von der Gentrifizierung noch nicht völlig gekillt worden ist. Aber in den letzten Jahren halte ich die Stadt kaum noch aus, ja sie kotzt mich immer mehr an. Hamburg, meine Perle, was haben sie aus dir gemacht, diese Sozis und Grünen?! Oder besser: Was haben sie aus dir werden lassen – denn natürlich wird diese Stadt ebenso wenig von Politikerin beherrscht und geprägt wie andere Metropolen. Sie wird vom großen Geld regiert, die Reichen und Einflussreichen haben das Sagen.

Schlaglichtartig hat das der Skandal um die Warburg-Bank und die Kungeltreffen des Warburgs-Chef mit Hamburger SPD-Spitzen allen vor Augen geführt, die sehen wollen. Olaf Scholz, der Hamburg dieses Protzding namens Elbphilharmonie aufs Auge gedrückt hat, hat sich in seiner Zeit als Erster Bürgermeister mit dem Chef dieser tief in die kriminellen CumEx-Geschäfte verwickelten Bank getroffen. Jener Bank, der die Finanzbehörde mal eben 47 Millionen Euro geschenkt hatte. Die ganze Stadt im Blick hatten die Sozis tatsächlich noch nie. Die im Dunkeln, die sehen sie nicht, die wollen sie nicht sehen.

Es ist in einer der reichsten Metropolen Europas mit mehr als 45.000 Millionären so wie anderswo: Die bürgerlichen Parteien sind letztlich nur den Kapitalisten verpflichtet – selbst da, wo sie glauben, etwas für den Ausgleich tun zu müssen und zu können. Weil sie mit Zähnen und Klauen das Privateigentum und die skandalöse Eigentumsverteilung verteidigen. Weil sie dem Irrglauben anhängen, sie müssten „die Wirtschaft“ am Laufen halten, dann würde es allen besser gehen. Das tut es aber nicht. Das Geld landet am Ende immer bei den Aktionären, den Anlegern, bei denen, die schon reichlich davon haben. „Und die Kohle fällt nach oben“, sang einst Klaus Lage, „an solchen Herrn hat sich allein schon mancher einen Bruch gehoben.“

In Hamburg ist die soziale Segregation – oder sollte man nicht besser von einer sozialen Apartheid sprechen – mit Händen zu greifen, die Spaltung der Stadt, das Auseinanderfallen nicht zu übersehen. Ich spüre das jedes Mal, wenn ich vor die Tür gehe. Ein tiefer Ekel überkommt mich, wenn ich mich durch die Quartiere der Reichen bewege, durch Harvestehude, Blankenese, Ohlstedt oder Rissen, mit ihren Protzvillen und Schuhkartonhäusern in sterilem Weiß. Oder wenn ich in Innenstadt bin, wenn ich die Bürohochhäuser sehe, die etwa südlich der Reeperbahn hochgezogen worden sind. In einer brachialen Architektur, die eine beängstigende Kälte verströmt.

Vor und nach Dienstschluss und in den Mittagspausen kann man sie hier herumlaufen sehen, die Leute mit dem Siegergrinsen im Gesicht, Herrenmenschen neuen Typs. Und die vielen kleinen Angestellten, die ihnen nacheifern und sich ihnen zugleich unterwerfen. Allesamt strahlen sie diese Borniertheit, diese Ignoranz aus. Ihre Gedanken und Gespräche kreisen um Geldanlagen, die nächste Kreuzfahrt, ihre dicken SUVs, ihre Häuser oder Eigentumswohnungen. Es sind soziale Autisten. Das Schicksal der Marginalisierten geht ihnen im Großen und Ganzen am Arsch vorbei. Vor sich selbst und anderen gibt man sich durchaus liberal und sozial. Die leergetrunkene Flasche Beck’s stellt man selbstverständlich neben den Mülleimer, um den Flaschensammlern die Arbeit zu erleichtern.

Diese Stadt ist überhaupt nur noch da erträglich, auf die das große Geld mangels Renditeaussichten nicht seine unappetitliche Pranke gelegt hat. Also in den Vierteln deren Bewohner „einkommensschwach“ genannt werden: Wilhelmsburg, Jenfeld, Billstedt zum Beispiel. Statt schicker Boutiquen gibt es hier Ein-Euro-Läden und Billigfriseure, aber ich fühle mich in diesen Stadtteilen hundertmal wohler als in Volksdorf oder St. Georg. Beim Lidl triffst du Leute, deren Gesichter vom Leben gezeichnet sind. Sie leiden am Leben, aber sie leben wenigstens. Für diese Leute, diese Viertel, liebe ich die Stadt noch immer. Die Politiker, die diese Stadt dem Kapital in den Rachen werfen, haben nur Wut und Verachtung verdient. Daran wird der Wahlsonntag nichts ändern.

Titelbild: Aliasdoobs; Steffen Prößdorf; Frank Schwichtenberg/CC BY-SA 4.0; Montage LCM

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Mitgefühl sprach aus den Worten der Korrespondenten der bürgerlichen Presse, die am 30. November aus dem Willy-Brandt-Haus in Berlin berichteten. Der Berichterstatter vom Springerblatt Welt wollte gesehen haben, dass Olaf Scholz mit den Tränen kämpfte. Sein Kollege vom Berliner Tagesspiegel verstieg sich zu der Formulierung „im Moment der größten Katastrophe“ habe der Vizekanzler versucht, „die Fassung zu bewahren“. Er fügte hinzu: „Nun ringt er um Worte, die Gesichtszüge starr“.

Im „Moment der größten Katastrophe“? Nein, es war kein Flugzeug abgestürzt und keine Bombe in einem Hauptbahnhof explodiert. Es war lediglich in der SPD-Zentrale verkündet worden, dass Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans den Mitgliederentscheid der Partei gegen Klara Geywitz und Scholz gewonnen hatten. Die bürgerliche Journaille konnte es nicht fassen und reagierte geradezu hysterisch. „Überraschend“ sei das Ergebnis hieß es allenthalben, eine historische Zäsur et cetera pp. Manche Beiträge lasen sich, als stünde die kommunistische Machtübernahme kurz bevor.

Wieder einmal waren die Mainstreammedien Opfer ihrer eigenen Wahnvorstellungen geworden. Sie hatten das Duo Geywitz/Scholz so lange und ausdauernd zu Favoriten der Urwahl hochgeschrieben, dass sie sich einen anderen Ausgang einfach nicht mehr vorstellen konnten. Dabei konnte sich jeder, der auch nur ein wenig von Politik versteht, schon nach dem Ausgang der ersten Runde des Mitgliederentscheids ausrechnen, dass Esken/Walter-Borjans gute Chancen hatten. Indem man nämlich sich die Prozente anschaute, die auf die jene Mitbewerber entfielen, die der großen Koalition ebenfalls kritisch gegenüber stehen. Denn die landeten am Ende bei den Wahlsiegern.

Um aber zur tragischen Figur in dem Spiel zurückzukommen: Ich gestehe, ich habe während der Übertragung aus dem Willy-Brandt-Haus am 30. November mit Schadenfreude und innerer Genugtuung auf den geknickten Olaf Scholz geschaut. Als Lokaljournalist in Hamburg habe ich den Werdegang des Mannes von Anfang an verfolgt und ihn auch einige Male persönlich erlebt. Und daher kann ich mit Fug und Recht behaupten: Da hat einer auf die Fresse bekommen, der es verdient hat.

Der Dauergrinser aus Altona ist der Prototyp des aalglatten Apparatschiks. Olaf Scholz verkörpert die Arroganz der Macht wie kaum ein anderer Politiker des Landes. Er ist ein Opportunist, der sich die Wünsche der herrschenden Kreise längst zu eigen gemacht hat, ein Phrasendrescher und Karrierist, der buchstäblich über Leichen geht. Der Fall Achidi John, der den meisten Linken noch im Gedächtnis sein müsste, ist ein Schlüssel zum Verständnis seiner Person. Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an einen Auftritt von Olaf Scholz, der mir die Augen vor allem über sein moralisches Niveau geöffnet hat.

Vor 18 Jahren, am 12. Dezember 2001, starb der Nigerianer Achidi John in einem Hamburger Krankenhaus. Drei Tage zuvor war ihm im Institut für Rechtsmedizin des Universitätsklinikum Eppendorf (UKE) das Brechmittel Ipecacuanha eingeflößt worden, um Drogenkügelchen zu sichern, die der als Dealer verdächtigte Mann verschluckt haben sollte. Dies geschah so brutal, dass John bewusstlos zusammenbrach. Die Anordnung der Brechmittelgabe war sein Todesurteil.

Achidi war ein direktes Opfer der gewissenlosen Politik des Olaf Scholz. Der Sozi war erst im Sommer Innensenator geworden und versuchte mit einem lupenreinen Law-and-Order-Politik der aufkommenden Partei von „Richter Gnadenlos“ Ronald Schill das Wasser abzugraben. Seinen Willen zum „Durchgreifen“ demonstrierte er vor allem am Drogenhandel, der seit Monaten von der Springer-Presse Hamburgs zum Hauptproblem der Stadt hochgeschrieben worden war. In diese opportunistische Strategie gehörte die Einführung von Brechmitteln im Einsatz gegen mutmaßliche Kleindealer, allen warnenden Stimmen zum Trotz.

Kurz nach dem Tod von Achidi John gab es eine Veranstaltung im Gewerkschaftshaus, bei der Scholz auf dem Podium saß. Ich war als Lokaljournalist dabei und kann mich noch heute gut daran erinnern. Der Saal kochte, unter den 400 Zuhörer*innen waren viele empörte Mitarbeiter*innen der Drogenhilfe, die den Innensenator massiv attackierten. Der aber saß oben auf dem Podium und ließ die ganze Wut und Empörung kaltlächelnd an sich abprallen. Kein glaubhaftes Wort der Entschuldigung, schon gar nicht der Anteilnahme.

Dieser selbstgerechte Auftritt sagt viel über den Politiker Olaf Scholz. Wirkliche Empathie mit den Opfern seiner politischen Entscheidungen ist dem Sozialdemokraten, der als Generalsekretär der Partei die Agenda 2010 umsetzen half, fremd. Er sieht er sich als großer Stratege, der weiß, was richtig und wichtig ist. Die Macht scheint sein Lebenselixier zu sein. Unter Managern und „Multiplikatoren“ fühlt er sich wohler als sagen wir in einer Versammlung von Postangestellten.

Dass er den G-20-Gipfel 2017 gegen Warnungen selbst ranghoher Polizeibeamter in Hamburg veranstalten ließ, ist ein anderes Beispiel für die Hybris des Olaf Scholz. Seine schon wahnhafte Idee, die Hansestadt zu einer Marke in Europa aufzubauen, bestimmte viele Entscheidungen als Erster Bürgermeister. Dazu gehört auch, dass er schon kurz nach Amtsantritt allen Ehrgeiz daran setzte, das vor dem Scheitern stehende Projekt Elbphilharmonie zu retten. Dass dabei einige hundert Millionen Euro Steuergelder in den Luxusbau gepulvert wurden – who cares?

Dass Scholz trotz des Desasters G 20 zum Vizekanzler und Bundesfinanzminister befördert wurde, ist typisch für den Mann. Er fällt wie eine Katze offenbar immer wieder auf die Füße. Denn die Herrschenden wissen, was sie an ihm haben. Sollte seine politische Karriere zu Ende gehen, was sehr zu hoffen ist, wird sich sicher ein warmes Plätzchen in der Wirtschaft für Olaf Scholz finden.

# Titelbild: Frank Schwichtenberg

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Deutschland hat ein existenzbedrohendes Problem. Kriminelle Ausländerclans. Libanesische, arabische, türkische und kurdische Großfamilien halten das Land im festen Würgegriff ihrer orientalischen Hände. Sie kassieren Hartz-IV, während sie in Luxuskarossen durch die Gegend protzen, die sie mit Drogengeschäften und Einbrüchen finanzieren. Sie gehen mit Messern und Schusswaffen aufeinander los, um ihre Reviere abzustecken. Ganze Bezirke kontrollieren sie, machen Teile deutscher Großstädte zu No-Go-Areas. Sie nutzen die Gutmütigkeit der Deutschen, die ihnen Asyl gewährten, schamlos aus, um sich endlos zu bereichern. Hierarchisch gegliedert, gleichen sie einer durchorganisierten Armee, die den Behörden immer und immer wieder durch die Lappen geht. Sie bedrohen unser friedliches Zusammenleben. Sie erpressen, plündern und morden. Wer ihrer Herr werden will, muss Stärke zeigen. Es braucht Law&Order. Es braucht die Abschaffung von Asylgesetzen. Es braucht die Außerkraftsetzung der Unschuldsvermutung. Und es braucht starke deutsche Jungs wie Herbert Reul und Martin Hikel.

So geht jene Erzählung, die seit Jahren gebetsmühlenartig in den Zeitungsartikeln der Leitmedien, in Dokumentarfilmen, Action-Serien, Büchern, politischen Reden und Lageeinschätzungen der Polizei wiederholt wird. Wöchentlich stürmen schwer bewaffnete Polizeieinheiten Shisha-Bars und andere migrantische Gewerbebetriebe – begleitet von den Reporterteams einer sensationalistischen Hauptstadtpresse, deren Berichterstattung zum Thema sich kaum noch von der auf Nazi-Hetzseiten unterscheidet. Frei nach der Devise: Was man sich über den Ausländer schlechthin nicht mehr zu sagen traut, über das Clan-Mitglied darf es gesagt werden.

Der so geschaffene Diskurs verfehlt seine Wirkung nicht: Je weiter man von „Brennpunkten“ wie Berlin-Neukölln oder Dusiburg-Marxloh entfernt lebt, desto eher bekommt man den Eindruck, dort gehe es zu wie in Medellin zur Zeit Pablo Escobars. Wer aber genauer hinsieht, den Stimmen Gehör schenkt, die wirklich in Neukölln leben und von den dutzenden Razzien, den willkürlichen Kontrollen, den rassistischen Zuschreibungen und der medialen Hetze betroffen sind, dem ergibt sich ein anderes Bild.

Wir sind tausend Leute. Natürlich kennen sich da nicht alle“

Einer der Anwohner, die derzeit gegen die Stigmatisierung der Shisha-Bars in Neukölln angehen, ist Mohammed. Zusammen mit anderen Einzelpersonen organisierte er Veranstaltungen, auch einen Flash-Mob zum Shisha-Rauchen. Warum er aktiv wird? Weil er es sich gar nicht so richtig aussuchen kann. „Ich habe eine sehr persönliche Motivation“, sagt er im Gespräch mit lower class magazine. „Ich heiße Mohammed Ali Chahrour. Ich habe einen Nachnamen, der als Clan-Name geführt wird.“

Wenn in den Medien von den „Clans“ die Rede ist, sind es immer dieselben Namen, die auftauchen: Remmo, Al-Zein, Abou-Chaker, Miri – und eben auch Chahrour. Man wird nicht falsch liegen, wenn man behauptet, es gibt kaum libanesische oder palästinensiche Namen, die dem Durchschnittsdeutschen geläufiger sind als diese. Mit Sicherheit würde eine Umfrage ergeben, dass unter den Deutschen ein – sagen wir – Arafat Abou-Chaker deutlich prominenter ist als die libanesische Nationalikone Fayruz oder der palästinensische Dichter Mahmud Darwisch.

Wenn man einen dieser prominenten Nachnamen trägt, begleitet das ein Leben lang. „Als ich noch in der Schule war hatten wir einmal so eine Woche zur Berufsorientierung“, erinnert sich Mohammed. „Ich habe mich bei der Polizei angemeldet. Ich war 15 und dachte, das wäre irgendwie lustig. Ich habe dort dann bei den Eignungstests als Bester abgeschnitten. Dann kamen zwei Polizeioffiziere zu mir und sagten: ‚Das hast du echt super gemacht, Mohammed. Als wir die Namensliste bekommen haben, dachten wir nur: Was kommt da auf uns zu. Wenn du eine Zukunft bei uns einschlagen willst, wir helfen dir. Aber du musst deinen Namen ändern, wenn du bei der Polizei in Berlin anfangen willst.‘ Also bei all dem Lob: Eigentlich bist du raus, es sei denn du verleugnest deine Identität.“ Die Vorurteile haben sich bis heute nicht geändert: „Wenn ich beruflich mit der Polizei telefoniere und meinen Nachnamen nenne, gibt es auf der anderen Seite der Leitung diese kurze Pause, wo du die Verwunderung merkst. Ich nehme das mit Humor“, scherzt er.

Auch im Gespräch merkt man Mohammed an, wie die Debatte auf ihn wirkt. Er betont wieder und wieder, er sei gegen Kriminalität. Und für einen starken Staat – solange auf Grundlage von Rechtstaatlichkeit gehandelt werde. Aber das derzeit gängige Vorgehen gegen die „Clans“ sei weder rechtsstaatlich, noch Teil einer funktionierenden Strafverfolgung. „Es geht um Sippenhaft“, kritisiert Mohammed. „Wovon sprechen wir denn eigentlich, wenn wir von Großfamilien sprechen? Meine Familie, wenn wir alle nach dem Nachnamen nehmen, sind in Berlin um die tausend Leute. Da zu erwarten, dass sich alle kennen, ist Blödsinn“, so Chahrour. Auch dieses Bild von einem Paten, der wie ein König über die Familie herrscht, sei eine Erfindung. Was hier vielmehr gemacht werde, sei eine Umkehr der Beweislast der Strafverfolgung. Nicht kriminelle Handlungen würden verfolgt, sondern Menschen, weil sie Mitglied einer Familie sind – und damit per se als potentielle Kriminelle gelten.

Die offiziellen Papiere deutscher Behörden geben Mohammed Ali Chahrour recht. Der Begriff des Clans bleibt schwammig, das Phänomen wird unter dem abstrusen Titel „ethnisch abgeschottete Subkulturen“ beschrieben. Suggeriert werden soll: Die hängen alle miteinander zusammen. Die „Großfamilie“ ist die kriminelle Organisation. Dieser Narrativ hat Auswirkungen. Er bereitet Familien wie der von Mohammed Ali Chahrour Sorgen. Wenn man, wie Mohammed, im Alter von sechs Monaten das erste Mal einen Abschiebebescheid zugestellt bekommen hat, ist es nicht einfach nur eine Phrase, wenn die Mutter wieder anfängt, zu sagen: Wir sitzen auf gepackten Koffern.

Ähnlich wie er selbst, so sagt Mohammed, sehen das viele in Neukölln. Die andauernden schwer bewaffneten Razzien der Polizei seien für viele eine Demütigung. Für die Barbetreiber, sagt der Neuköllner, sei es sowieso einschüchternd. Aber auch für die Gäste: „Ich habe kürzlich mit jungen Syrern gesprochen, die haben gesagt: Wir sind hier her vor dem Krieg geflüchtet und wir werden hier jeden Freitag, Samstag mit Maschinengewehren durchsucht.“

Abgesehen von den sozialen Auswirkungen sei so ohnehin keine Strafverfolgung zu machen, meint Chahrour. „Um es mal so zu sagen: Ich glaube nicht, dass irgendwer kriminelle Geschäfte in den Bars der Sonnenallee und Karl-Marx-Straße organisiert, wenn man weiß, dass da jeden Freitag Abend die Polizei einreitet. Und dann findet ihr unverzollten Tabak? Sorry Leute, aber dann seid ihr genauso blöd, wie die Bullen aus 4Blocks.“

Die medial inszenierten Razzien, der Generalverdacht gegen ganze Bevölkerungsgruppen – das ist für Mohammed nicht mehr als ein „Spiel mit dem Rassismus“ – gerade auch seitens jener Partei, in der Mohammed Ali Chahrour eigentlich Mitglied ist: Der SPD. Die stellt mit Martin Hikel den Bezirksbürgermeister in Neukölln. Und der möchte sich gerne als der große Saubermann gegen die kriminellen Ausländerclans inszenieren. Tradition hat das in der Neuköllner Sozialdemokratie: Schon Hikels Amtsvorgänger Heinz Buschkowsky nutzte gerne rassistische Ressentiments, um am rechten Rand zu fischen.

Da kommen Stimmen wie die Mohammeds wenig gelegen: „Man versucht, auf mich einzuwirken und mir meine Meinung zu verbieten. Ich finde das schamlos. Die, die mich da angreifen, verstehen nicht, dass da auch meine Nächsten angegriffen werden.“

Maschinengewehre gegen Ordnungswidrigkeiten

Ähnlich wie Mohammed spricht sich auch Melissa König* gegen die Clan-Hetze aus. Die 22-jährige arbeitete in einer Wilmersdorfer Shisha-Bar, hat eine der Razzien miterlebt. Und: in ihrem Freundeskreis sind viele, die „bekannte Nachnamen“ tragen, wie sie sagt. Für die Jungs mit den klingenden Namen bedeutet das aber in den seltensten Fällen eine Eintrittskarte in ein sorgenloses Leben aus Crime&Glamour. Sondern Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt, komische Fragen bei Job-Bewerbungen und racial profiling durch die Polizei. „Einmal war ich mit einem dieser Freunde im Auto unterwegs und wir kamen in eine normale Verkehrskontrolle“, erinnert sich Melissa. „Alle anderen durften nach kurzer Kontrolle weiter, uns haben sie komplett durchsucht und das Auto auseinandergenommen– auch mich als Beifahrerin. Ich habe ja nachgefragt bei der Polizei, warum das jetzt so ist. Aber man konnte mir keine logische Begründung geben.“

Die Stelle in der Shisha-Bar hatte Melissa eigentlich nur als Zweitjob – um nach dem Umzug nach Berlin ein bisschen was dazu zu verdienen. Aber auch sie merkte, wie im Bekanntenkreis die mediale Dauerbeschallung ankommt. „Ich habe irgendwann nur noch gesagt, ich kellnere, wenn mich jemand gefragt hat. Sonst glauben immer gleich alle, man macht etwas mit Geldwäsche.“ Die meisten Klischees über die Shisha-Bars kann Melissa nicht bestätigen. Weder sei ihr Chef kriminell gewesen, noch habe sie sich als Frau unwohl gefühlt. Im Gegenteil, in der „deutschen Gastro, wo ich auch gearbeitet habe, habe ich viel mehr übergriffiges Verhalten erlebt. Und da ist im Unterschied zur Shisha-Bar niemand eingeschritten.“

Auch nachdem sie ihren Nebenjob aufgegeben hatte, war Melissa öfter an ihrem ehemaligen Arbeitsplatz – als Gast. Einmal, als sie mit einer Freundin dort war, wurde sie auch Zeugin der gängigen Berliner Polizeipraxis. „Die sind mit Maschinengewehren reingekommen und haben die Leute da drei oder vier Stunden festgehalten. Meine Freundin wollte aufs Klo, durfte aber nicht. Die Beamten waren sehr unfreundlich. Viele Gäste waren sehr verängstigt“, erzählt König. Das Szenario hinterlässt, auch wenn keine inkriminierenden Gegenstände gefunden werden, Eindruck. „Würde ich meinen Chef nicht kennen und wüsste nicht, was er für ein Mensch ist – ich hätte selber gedacht, der muss ja ein Schwerkrimineller sein, wenn da 70, 80 schwer bewaffnete Polizisten reinstürmen.“

In den meisten Fällen führen die martialisch durchgeführten Polizeieinsätze zu nichts. Gefunden wird unverzollter Tabak oder es werden Ordnungswidrigkeiten festgestellt, wie zum Beispiel erhöhte CO-Messwerte. Wenn kleine Mengen an Drogen auftauchen, über die jeder Berghain-Türsteher milde lächeln würde, gilt schon das als Erfolg. Richtige Funde wie Waffen sind eine äußerste Seltenheit.

Eine Kleine Anfrage der Linken-Politiker Niklas Schrader und Anne Helm dokumentiert die Dimensionen der Show-Razzien eindrucksvoll. Alleine zwischen dem 27. Mai und dem 6. September 2019 rückte in Neukölln 14 Mal eine Armada von Polizisten „im behördenübergreifenden Verbund“ aus, um sich diverse Kleingewerbetreibende vorzunehmen. Dabei waren insgesamt 772 Dienstkräfte im Einsatz, die 4398,5 Einsatzkräftestunden ableisteten. Beteiligt waren neben der Bundespolizei und Berliner Dienststellen der Polizei das Finanzamt, das Ordnungsamt sowie verschiedene Stellen des Zollamts. Im Rahmen der Einsätze wurden „wurden insgesamt 978 Personen, 72 Lokale, 385 Kraftfahrzeuge und 22 sonstige Objekte kontrolliert beziehungsweise aufgesucht.“ Das Ergebnis: 197 Ordnungswidrigen, also Dinge wie „Verstoß gegen ordnungsgemäße Kassenführung“, Verstöße gegen das Nichtraucherschutzgesetz, Jugendliche, die sich in der Bar aufhalten oder Verstöße gegen die Pfandverordnung. Und 56 Mal der Verdacht auf eine Straftat: Darunter entweder der geringe Besitz von Betäubungsmitteln und Delikte wie „Fahren ohne Fahrerlaubnis“ oder Beleidigung – ein Delikt also, der ohne den martialischen Einsatz gar nicht zustande gekommen wären.

Der große Durchbruch bleibt bei den Massenrazzien – erwartungsgemäß – aus. Weder die geklaute Goldmünze aus dem Bode-Museum, noch Drogendepots oder die zur Verurteilung realer oder imaginierter „Clan-Chefs“ so gierig herbeigesehnten Beweise werden sich in Neuköllner Bars finden lassen. Das wissen alle Beteiligten.

Die Wirkung des Vorgehens ist aber eine andere, weiß Melissa König. „Auch mein ehemaliger Chef klagt, dass ihm die Kunden wegbleiben nach der Razzia. Und ich kenne viele andere Shisha-Bar-Betreiber, denen es ähnlich geht.“ Warum die Behörden das machen? Auch darauf hat Melissa eine plausible Antwort: „Der Kiez verändert sich. Die, die jetzt nach Neukölln ziehen, die wollen keine Sishabars oder Männercafes. Mit Kriminalität hat das gar nicht so viel zu tun. Die wollen ja auch keine türkischen und arabischen Gemüsehändler.“

Bankster welcome!

Dass es sich bei der Offensive gegen die „kriminellen Clans“ um einen Teil des Saubermachens für Investoren, Touristen und betuchte Zugezogene handelt, vermutet auch Alia Kutlu. Die Neuköllnerin engagiert sich in verschiedenen Initiativen gegen Gentrifizierung in Neukölln – zum Beispiel gegen den Mega-Neubau am zentralen Hermannplatz. Und auch Kutlu hat an Veranstaltungen gegen den Clan-Generalverdacht mitgearbeitet. „Beides hängt zusammen“, so Kutlu gegenüber lcm. „Das Projekt am Hermannplatz wird das Leben in der Nachbarschaft komplett verändern.“ Für Alia und ihre WG ist es ohnehin schon so, dass sie nicht darauf rechnen, in Neukölln langfristig bleiben zu können. „Wenn wir jetzt aus unser Wohnung raus müssten, würden wir in Neukölln nichts mehr finden. Aber es sind eben nicht nur Mieter betroffen, sondern auch die Gewerbetreibenden. Die passen langfristig nicht zu dem, was hier im Bezirk geplant ist. Gewerbemieten steigen, die kleinen migrantischen Läden, die wir hier haben, werden so nicht weiter hier sein“, befürchtete die Mittzwanzigerin. Gerade in den migrantisch geprägten Teilen Neuköllns spüre die Bevölkerung das. „Die Leute merken ja, dass die Bevölkerung ausgetauscht wird. Sie sehen, dass die neuen Läden, die aufmachen, nicht für sie sind. Ich meine, wer sitzt denn in diesen ganzen Hipster-Läden? Die Leute merken natürlich: Wir sind hier nicht mehr willkommen“, so Kutlu.

Die Razzien seien ein „politisches Muskelspiel“: „Vorreiter war da ja der CDU-Politiker Herbert Reul mit seiner sogenannten Taktik der tausend Nadelstiche. Da wird dann eben jede Kleinigkeit zum Fall für die Kavallerie. Flaschen ohne Pfand, erhöhte Messwerte – und das wird mit Maschinengewehren gemacht.“ Das Vorgehen findet Alia Kutlu rassistisch: „Es reicht, dass du Türke, Kurde, Araber bist. So wird dieser Generalverdacht ausgeweitet.“ Ausgeblendet werde dabei, wo eigentlich die Ursachen von Kriminalität liegen. „Die hat ja Gründe: eine enorme Prekarität. Wo wächst Kriminalität? Wo Leute arm sind, wo keine Perspektive ist.“ Man habe sich viele Jahre überhaupt nicht um Neuköllnerinnen und Neuköllner gekümmert. „Aber jetzt hat man ein Interesse an der Aufwertung des Viertels. Und da erfüllt die ganze Debatte um Clans einen Zweck. So ein Martin Hickel, der freut sich, wenn ein René Benko kommt und Milliarden investiert. Und wenn Leute verdrängt werden, die ärmer sind, damit reichere herziehen können. Kapitalinteressen und Politik verfolgen hier eine gemeinsame Agenda.“

Da übrigens dreht man dann nicht jeden Cent zweimal um auf der peniblen Suche nach dubiosem Geschäftsgebahren. Der Name des österreichischen Immobilienspekulanten Benko, der den Hermannplatz aufhübschen soll, fällt aktuell immer wieder im Spendenskandal um die faschistische Partei FPÖ und ihren geschassten Chef Heinz-Christian Strache. Und Benko ist vorbestraft – wegen Korruption.

*Name von der Redaktion geändert

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Warum der freundschaftliche Besuch des deutschen Chefdiplomaten in Indien, Walter Lindner, beim Führer der hindufaschistischen „Rashtriya Swayamsevak Sangh“ gefährlich ist .

Vergangene Woche, am 17. Juli 2019 hat der Sozialdemokrat Walter Linder, deutscher Botschafter in Indien, den Hauptsitz der hindu-faschistischen Organisation Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS) in Nagpur, Maharashtra besucht.

Auf einem Foto wurde festgehalten, wie Lindner der Statue des Mitgründers und ehemaligen Führer der RSS, K.B. Hedgewar, Respekt erweist, und die Füße der Skulptur berührt. Darüber hinaus wurden Bilder von Lindner veröffentlicht, die ihn mit einem Portrait von Hedgewars Nachfolger, M.S. Golwalkar zeigen. In Kombination ist das ist brisant. Denn M.S. Golwalkar hat begeistert die Rassenpolitik der Nazis unterstützt. Die RSS ist vom Hitler-Faschismus sowie dem italienischen Faschismus unter Mussolini inspiriert und fordert zu deren Nachahmung auf.

Pieter Friedrich, Experte für Südasien-Angelegenheiten, veröffentlichte noch am selben Tag eine Petition zur Abdankung von Walter Lindner aus seinem Amt als Deutscher Botschafter, die mittlerweile von 2500 Personen unterzeichnet wurde. Zentrale Forderung ist dabei „dass Botschafter Walter Lindner, zurücktritt“ und, „falls dies nicht gelingt, zurückgerufen wird.“ Außerdem wird „die sofortige Intervention von Bundeskanzlerin Angela Merkel und Außenminister Heiko Maas, um dieses Ziel zu erreichen“ gefordert.

In der Folge entwickelt sich dieses Treffen zwischen Walter Lindner und der RSS zu einem Skandal, woraufhin Pieter Friedrich am 21. 07. 2019 ein Video hochgeladen hat, in dem er das ideologische Bündnis zwischen RSS und Hitler-Deutschland aufzeigt und zu mehr Teilnahme an der Petition aufruft.

Der faschistische Charakter der RSS

Um zu verstehen, wieso dieses Treffen gefährlich ist, ist es notwendig in die Geschichte der RSS einzutauchen und dieses Treffen im Kontext indischer sowie deutscher Geschichte zu betrachten .

Als Indien noch unter britischer Kolonialherrschaft (1858-1947) stand, wurde 1925 die radikal-hinduistische Organisation RSS ins Leben gerufen. Diese zunächst kleine Gruppe aus 17 Mitgliedern, wurde von dem Arzt Keshav Baliram Hedgewar in der zentralindischen Stadt Nagpur gegründet. Aktuell ist sie mit 5 Millionen Mitgliedern eine der größten Freiwilligenorganisationen weltweit. Die RSS ist eine hierarchisch strukturierte paramilitärische Organisation, die von einer Person, dem sarsanghachalak geführt wird. Die Führung ist meistens von einem Brahmanen besetzt, einem Mitglied der höchsten Kaste.

Ihre Ideologie basiert auf der Hindutva, einem politisches Konzept, das Indien zu einer Hindu-Nation formieren möchte. Vinayak Damodar Savarkar hat 1923 in Nagpur, die Schrift „Hindutva: Wer ist ein Hindu?“ verfasst, in der er erstmals die Idee einer Hindu-Nation, Hindu Rashtra, formulierte, die Hindus als ursprüngliche Bevölkerung Südasiens sieht. Das Konzept geht von einer frühen geeinten Hindu-Gesellschaft aus, die nun in Indien durch religiöse Minderheiten wie Muslime und Christen bedroht ist. Damit ist Hindutva eine Gegenbewegung zum säkularen Staatsmodell, weclhes von Mahatma Gandhi zur Lösung des Konfliktes zwischen Hindus und Muslimen vorgeschlagen wurdet und das heute in der Verfassung manifestiert ist.

Eines der bekannten RSS-Mitglieder war der Hindu-Extremist Nathuram Godse, der mit Gandhis Bemühungen den Konflikt zwischen Hindus und Muslime zu schlichten, nicht einverstanden war und den 78-Jährigen auf dem Weg nach Neu-Delhi, am 30. Januar 1948 ermordete. Daraufhin wurde die RSS verboten. 1949 wurde dieses Verbot jedoch aufgehoben, da die RSS die Regierung überzeugte, Kultur- und Freiwilligenprojekte zu fördern.

Danach betrat die RSS erneut die politische Bühne und versuchte durch Kultur- und Hilfsprogramme für Dalits (die niedrigste Kaste), Menschen für sich zu gewinnen. Die RSS gründete zahlreiche Unterorganisationen, die Frauen, Jugend und Studenten repräsentieren soll. Auch leitet die RSS tausende von Schulen in Indien, um das Hindu-Sein zu verbreiten und die Erziehung von Kindern und Jugendlichen möglichst früh zu beeinflussen.

Prof. Dr. Parnal Chirmuley, Professorin für Deutschlandstudien an der Jawaharlar Nehru University (JNU) Delhi, erklärt in ihrem englischsprachigem Artikel „Far from being indigenous, RSS has championed chauvinist ideas from Europe“ (2018), wie fasziniert RSS tatsächlich von europäischen Faschismus war. Die RSS und die hindunationalistische Bharatiya Janata Party (BJP) stellen sich jedoch als wahrhaftig indigen dar, als der Kern Indiens – während linke Intellektuelle, Frauen-, Dalit- und Bürgerrechtsbewegungen von westlichen Gedanken beeinflusst seien und dabei das „wahre Indische“ unterdrücken.

All jene Gruppen seien deshalb, so die RSS, anti-national, anti-indisch und müssten beseitigt werden, da sie eine Gefahr für Indien darstellen. Kavita Krishnan, Sekretärin der All India Progressive Women‘s Association sowie Mitglied des Politbüros der Communist Party of India (Marxist-Leninist) beschreibt in ihrem ihrem ebenfalls englischsprachigem Artikel „Getting India Wrong“ (2017), wie die RSS mit britischen Kolonialisten kollaborierten. Beispielsweise hat Savarkar der britischen Besatzung während seines Gefängnisaufenthaltes versprochen, loyal zu britischen Kolonialmacht zu sein (aus einem Brief von November 24, 1913). Auch Shyama Prasad Mukherjee, Minister von Bengal, hat den Briten geholfen das Quit India Movement (eine Unabhängigkeitsbewegung gegen die Briten) zu bekämpfen.

Die ideologische Verbundenheit der RSS mit dem europäischem Faschismus zeigt auch ein Treffen zwischen B.S. Moonje, ein früher Verbündeter und Mentor von K.B. Hedgewar und der erste Präsident der 1915 entstandenen Rechtspartei Hindu Mahasabha, und Benito Mussolini. Moonje besuchte Mussolini in Italien und schaute sich faschistische Militärakademien an. Dies alles ist in Moonj’s Tagebuch dokumentiert, Teile davon sind online zu lesen. Moonje beglückwünscht Mussolini für die heranwachsende faschistische Jugend und die Militärorganisation. Indien bräuchte ähnliche Organisationen. Zurück in Indien propagierte er eine Militarisierung der hinduistischen Gesellschaft Indiens, orientiert am Beispiel der faschistischen Jugendorganisationen in Deutschland und in Italien.

Besonders in den 1930er-Jahren war die Diskussion um eine Hindu-Militarisierung sehr prominent. Hedgewar organisierte 1934 eine Konferenz mit Mussolini, in der Moonje die abschließende Rede hielt. Die Militarisierung und Faschisierung sollte schon sehr früh in der Jugend beginnen.

Madhav Sadashiv Golwalkar, der 1940 der zweite sarsanghachalak der RSS wurde, sprach sich mit Faszination für die Nazis aus. Besonders begeisterte ihn die NS-Rassenpolitik gegenüber Jüd*innen. Dies wäre ein Model, von dem Indien profitieren könnte, suggerierte er. Die drei größten internen Bedrohungen für ihn waren Muslime, Christen und Kommunisten. Er lobte Nazi-Deutschland als Vorbild für „Rassenehre“, an dem Indien sich ein Beispiel nehmen sollte.

Golwalkar schrieb in seinem Buch „We or Our Nationhood Defined“ (1939): „Die fremden Rassen in Indien müssen entweder Hindu-Kultur und -Sprache annehmen, die hinduistische Religion respektieren und als Referenz betrachten, sie müssen alle Ideen fallen lassen, außer jener der Verehrung für die Hindu-Rasse und Hindu-Kultur, also für die Hindu-Nation und so ihre separate Existenz aufgeben und sich in die Hindu-Rasse verschmelzen, oder sie können zwar im Land bleiben, aber der Hindu-Nation völlig unterworfen, ohne etwas zu fordern, ohne irgendwelche Privilegien, viel weniger noch irgendwelche Vorteile, ja nicht einmal Bürgerrechte. (…) Der deutsche Rassenstolz ist heute das Thema des Tages geworden. Um die Reinheit seiner Rasse und Kultur zu erhalten, schockierte Deutschland die Welt durch die Säuberung des Landes von der semitischen Rasse – den Juden. Rassenstolz zeigt sich hier in seiner höchsten Form. Und Deutschland hat auch gezeigt, wie unmöglich es für Rassen und Kulturen, deren Differenzen bis an die Wurzel gehen, ist, in ein vereintes Ganzes assimiliert zu werden – eine gute Lektion für uns in Hindustan, von der wir lernen und profitieren können.“

2006 versuchte die RSS sich von diesen Schriften Golwalkar’s zu distanzieren, doch ihre Taten sprechen nicht dafür. Die Organisation führt Kampagnen durch – beispielsweise die Kampagne „inner faith love“ -, die sich an Nazi-Ideologie und den Rassengesetzen der Jim-Crow-Ära anlehnen.

Einfluss in der Regierungspartei

Der Hindunationalist Narendra Modi wurde 2014 mithilfe von RSS-Kampagnen zum 15. Premierminister Indiens gewählt. Islamophobe Gewalt war für seinen Erfolg und seine Wahl ein großer Faktor. Durch die hindu-nationalistische Bharatiya Janata Partei (BJP), die Partei Modis, versucht die RSS die Politik zu bestimmen. Der Premierminister Modi, der Präsident Ram Nath Kovind und einige Mitglieder des Indischen Kabinetts sind ebenfalls RSS-Mitglieder. Schon 2001 machte die RSS Wahlkampagnen für Modis Wahl als Chief Minister für den Bundesstaat Gujarat.

Modi lässt sich in politischen Angelegenheiten von der RSS beraten, die folglich effektiv Einfluss nehmen kann. Bis Juli 2015 hat sich die RSS aus der Politik öffentlich zurückgehalten. Man wollte eher als eine moralische Kraft gesehen werden, denn als politische. Doch als Modi Premierminister wurde, wuchs der RSS-Einfluss und die Gruppe heizt heute Lynchmorde von Muslimen unter verschiedenen Vorwänden an. Modi beteuerte, dass er ein stolzes Mitglied der RSS sei. In den Parlamentswahlen von April-Mai 2019 in Indien gewann die BJP-Partei landesweit die absolute Mehrheit der Wahlkreise (303 von 543) und eine absolute Mehrheit der Sitze im Unterhaus (545 Sitze). Damit gewinnt die RSS an Bedeutung und ihr politischer Einfluss befindet sich momentan auf dem Höhepunkt.

Die RSS hat jetzt das Ziel, mehr Befürwortung, Legitimation und Respekt zu erlangen. Krishnan beschriebt dies im Gespräch mit dem LCM: „Sie laden zahlreiche wichtige politischen Personen ein, um sie zu besuchen, wie beispielsweise den ehemaligen indischen Präsidenten Pranab Mukherjee, Nobelpreisträger Kailash Satyarthi, und nun den deutschen Botschafter!“

Mit dem wachsenden Einfluss der RSS in der Politik und Modi als stolzem RSS-Mitglied fühlen sich religiöse Minderheiten in Indien, Christ*innen und Muslim*innen, eingeschüchtert. Mehr als 14 % der Inder*innen bekennen sich zum Islam. Sie sind die größte religiöse Minderheit in Indien.

Walter Lindners Besuch

Deutschland hat nach wie vor ein Problem mit Rassismus, mit Faschismus, mit Neonazis. Über die Pogrome der 1990er-Jahre über den NSU-Terror bis zum gegenwärtigen Erstarken offen rassistischer Kräfte zieht sich das deutsche Versagen, seiner Verantwortung aus dem Imperativ „Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus!“ gerecht zu werden.

Ein deutscher Diplomat für Indien, der Deutschland mitsamt seiner brutalen Geschichte repräsentiert, besucht – während daheim Neonazis erstarken und sich im halben Staatsapparat festgesetzt haben – die Hauptzentrale der RSS, die Nazi-Ideologie verherrlicht. Auf einem von Lindner hochgeladenem Foto auf Twitter ist zu sehen, wie er sich vor der Statue M.S. Golwalkars verbeugt und seine Füße berührt. Sich in Indien vor jemandem zu verbeugen und die Füße zu berühren, demonstriert außerordentlichen Respekt, da die Füße als das unreinste Körperteil gelten und man bereit ist, selbst diese Stellen zu würdigen. Die Geste Lindners ist außerordentlich inakzeptabel.

Aber mehr als das: Die RSS bezieht aus genau solchen Besuchen europäischer Diplomat*innen ihre Legitimation und verschafft sich dadurch Respekt. Es geht nicht wirklich um die Personen an sich, um Walter Lindner, oder die Person Mohan Bhagwat. Diese Personen halten ein bestimmtes Amt inne, das an Macht gekoppelt ist. Sie sind verantwortlich für die Repräsentation dieser Postionen und Ämter. Der deutsche Botschafter ist nicht frei von Verantwortung. Für ein Land wie Deutschland, das immer noch seine Vergangenheit aufarbeiten muss, ist es sehr beunruhigend, einer Organisation Legitimation zu verschaffen, die historisch nachweisbar Nazi-Ideologien und faschistische Charakterzüge haben. Dies bewirkt nur, dass solches faschistisches, menschenfeindliches Gedankengut weiterhin unterstützt und toleriert wird.

Zudem aber bestärkt Lindner damit auch jenes Klima des Terrors, das die Hindunationalist*innen schaffen wollen. Vor allem seit der absoluten Mehrheit der BJP verspüren viele Minderheiten Angst, dem faschistischen Hindunationalismus ausgesetzt zu sein. Die antimuslimische Rhetorik war schon immer da, doch sie hat jetzt einen Höhepunkt erreicht, erklärt Dr. Chirmuley gegenüber dem LCM. Öffentliche Lynchmorde von Muslim*innen in Indien werden toleriert, wie kürzlich der Mord an Tabrez Ansari im Juni 2019, der von einer Gruppe von Männern zu Tode geprügelt wurde, die ihn davor zwangen, rechte hinduistische Parolen zu rufen.

Es bleibt nicht nur bei einem Treffen zwischen einem deutschen Botschafter und dem RSS-Führer. Dieses Treffen wird Konsequenzen haben. Die Legitimation und der Respekt für solche Organisationen, die Genozide von Minderheiten befürworten und öffentliche Lynchingmorde zu verantworten haben, wird wachsen. Dafür ist auch Walter Lindner verantwortlich.

Und wenn letzterer nun versucht, sich zu verteidigen, indem er bekundet, er habe nur das „indische Mosaik verstehen“ wollen und sei rein aus Bildungszwecken bei den Faschisten zu Besuch, ist dem die Antwort Krishnans entgenzuhalten: „Warum sind Faschisten Teil eines „Mosaiks“, wenn es um Indien geht? (…) Sie hätten Dalits, Arbeiter*innen, Frauenbewegungen treffen müssen. Das haben sie nicht. Sie haben sich Nazis ausgesucht. (…) Ist Deutschland offiziell einverstanden, einen Nazi-liebenden, Muslimen-hassenden Fanatiker zu ehren?“

#Titelbild: Aufmarsch der RSS, Quelle: Wikipedia

Anmerkung

Dieser Artikel ist aus Gesprächen mit Kavita Krishnan, Sekretärin der All India Progressive Women‘s Association sowie Mitglied des Politbüros der Communist Party of India (Marxist-Leninist), sowie Prof. Dr. Parnal Chrimuley der Jawaharlar Nehru University (JNU) des Zentrums für Deutschlandstudien entstanden.

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