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Kriegsgegner:innen haben in Russland erhebliche Repression zu befürchten. Trotzdem gibt es keine legalen Einreismöglichkeiten für sie nach Deutschland. Peter Klusmann ist Anwalt in der Gelsenkirchener Kanzlei Meister & Partner und vertritt einen geflüchteten Genossen im Asylverfahren.

Sie vertreten einen Mandanten aus Russland, der in seiner Heimat den Wehrdienst
verweigert und in der BRD Asyl beantragt hat. Warum ist ihr Mandant aus Russland
geflüchtet?

Unser Mandant ist aus Russland geflüchtet, da er als Mitglied der Russischen Maoistischen Partei (RMP) politische Verfolgung befürchtet. Der Mandant selbst trat bei verschiedenen Aktionen und öffentlichen Versammlungen der RMP in Erscheinung. Bereits im Januar 2021 wurde er kurzzeitig in Polizeigewahrsam genommen, nachdem er aus Anlass des Todestages von Lenin am 21. Januar Blumen an dessen Denkmal in Tscheljabinsk (eine russische Großstadt am Ural, d. Red.) niedergelegt hat. Der Mandant erhob dagegen bei der Staatsanwaltschaft ohne Erfolg Beschwerde. Auch weitere Mitglieder der RMP waren respektive sind Verfolgungsmaßnahmen durch die russischen Behörden ausgesetzt.

Gab es auch weitere Repression gegen Ihren Mandanten?

Ja. Am 27. Februar 2022 beteiligte er sich an einer Demonstration in Tscheljabinsk gegen den russischen Angriff auf die Ukraine. Unser Mandant trug dabei ein Transparent mit der Aufschrift „Maoisten gegen den Krieg! RMP“ Bei dieser Versammlung wurde er unter dem konstruierten Vorwurf des Widerstands gegen die Polizei festgenommen, in Gewahrsam genommen und am nächsten Tag in einem Schnellverfahren zu einer Geldbuße verurteilt. Unser Mandant wurde im Polizeigewahrsam menschenrechtswidrig behandelt, er wurde beleidigt und bedroht. Aufgrund dieser Behandlung erlitt er einem Zusammenbruch und musste medizinisch versorgt werden.

Da unser Mandant weitere Repressionen erwartete, ist er im April dieses Jahres zunächst in die Türkei ausgereist. Er ging dabei davon aus, dass er durch die polizeilichen Maßnahmen und seine Verurteilung als Regierungs- und insbesondere Kriegsgegner registriert ist und die russischen Behörden dies früher oder später zum Anlass nehmen würden, erneut gegen ihn vorzugehen. Im Hinblick darauf, dass unser Mandant in der Türkei auf Dauer keinen effektiven Schutz erlangen konnte, wurde ihm dringend nahegelegt, die Türkei zu verlassen und in Europa Schutz zu suchen.

In ihrer Mitteilung sprechen sie von „Putins Angriffskrieg“ und erwähnen die Interessen
der USA und ihrer NATO-Partner im Ukraine-Krieg nicht. Ist das nicht ein etwas einseitiger
Blick auf den Konflikt?

Keineswegs, aber die konkreten Fluchtursachen unseres Mandaten liegen in Putins Angriffskrieg. In der Presseerklärung heißt es, dass die Russische Maoistische Partei (RMP) eine konsequente Linie gegen alle imperialistischen Mächte verfolgt. Hierzu hat die RMP in einer Erklärung vom 3. März 2022 folgendes ausgeführt: „Im aktuellen Konflikt vertritt die russische maoistische Partei (RMP) eine konsequente antikriegerische und antiimperialistische Haltung gegen die Kriegstreiber auf beiden Seiten (NATO/EU und Russland), gegen die imperialistische Aggression in der Ukraine (die berüchtigte „militärische Sonderoperation“, die nicht einmal als Krieg bezeichnet werden darf) gegen den Bürgerkrieg in der Ukraine (zwischen der Ukraine und dem Donbass) in Form einer „antiterroristischen Operation“ (ATO).“

Auf seiner Flucht hat ihr Mandant in der deutschen Botschaft in Ankara ein Visum
beantragt, was abgelehnt wurde. Was war die Begründung und was kritisieren sie an dieser
Ablehnung?

Unser Mandant hatte sich um einen Botschaftstermin bemüht, um ein Visum zu bekommen. Dort verwies man formalistisch auf die Zuständigkeit der deutschen Auslandsvertretungen in Russland und ignorierte damit vor allem die Gefährdung unseres Mandanten bei einer Rückkehr. Das widersprach auch einer Ankündigung des Auswärtigen Amtes und des Bundesinnenministeriums, gefährdeten Personengruppen aus Russland zu helfen. Erst Ende Juni 2022 teilte das Bundesinnenministerium dann mit, dass „im Einzelfall die Möglichkeit einer Aufnahme nach Deutschland zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland auf der Grundlage von Paragraph 22 Satz 2 Aufenthaltsgesetz“ bestehe.

Sie fordern, dass die Bundesregierung ihre Ankündigung, den russischen Kriegsdienstverweigerern effektiven Schutz zu gewähren, „endlich in die Tat umsetzen muss“. Was muss jetzt konkret geschehen?

Notwendig ist die Schaffung legaler Einreisemöglichkeiten für verfolgte fortschrittliche Oppositionelle und Kriegsgegner aus Russland sowie die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus. Die bisherige Beschränkung auf „handverlesene“ Einzelfälle, die der Bundesregierung politisch opportun erscheinen – „Wahrung politischer Interessen“ -, wird dem nicht gerecht.

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Es ist wahrlich keine provokante These, dass auch diejenigen politischen Kräfte, die sich als linksradikal verstehen, vom aktuellen Krieg kalt erwischt wurden. Weder in Russland, noch in der Ukraine, noch im Westen konnten sie sich auf eine Position zum Krieg einigen, oder relevanten Widerstand organisieren. So zu tun, als wäre das eine große Überraschung, wäre falsch, denn warum sollten alle, die sich „linksradikal“ nennen, auf einmal ihre theoretischen Differenzen und ihre organisatorische Schwäche überwinden können, nur weil jetzt ein Krieg von größeren Format losgeht? Als Reaktion darauf lässt sich nicht plötzlich theoretische Klarheit oder organisatorische Einheit und Stärke herstellen. Jedoch erfordert die Situation, die sich von Tag zu Tag verschlimmert und immer mehr Menschenleben kostet, zumindest den Versuch einer Koordination zwischen denjenigen, die den Krieg nicht als Unfall, sondern als ein Resultat der kapitalistischen Weltordnung sehen und willig sind, dagegen einzutreten.

An dieser Stelle sollte keine unnötige Häme gegenüber denjenigen verbreitet werden, die sich schnell mehr oder weniger offen auf eine der Seiten stellten. Versuchen wir sie ehrlich zu verstehen. 

Ein Teil der Linken in Russland und im Westen hatte den Fakt vor Augen, dass die NATO für die Interessen der führenden kapitalistischen Mächte steht. Ohne auf nennenswerten Widerstand zu stoßen, können die NATO-Führungsmächte der ganzen Welt ihre Bedingungen diktieren, Verstöße dagegen wirtschaftlich und militärisch sanktionieren, „harte aber notwendige“ Marktreformen in anderen Staaten mit Nachdruck nahelegen usw. Diese Linken hatten vor Augen, dass die Ukraine seit 2014 Antikommunismus zum Grundstein der neuen nationalen Identität macht und hatten keine Illusion, dass dies nur irgendwelche „falschen“, weil autoritäre Kommunisten betreffe (Lenindenkmale werden nicht gestürzt um für Machnos Ideen Platz zu machen). Das Verschweigen der zivilen Opfer des Kampfes der Ukraine für die Wiederherstellung der staatlichen Souveränität im Donbass in den westlichen Medien sahen sie als Beweis für die Verlogenheit der Meldungen über das Leiden der ukrainischen Zivilist:innen in Folge der russischen Invasion ab Februar 2022.

Ein anderer Teil der Linken, viele in Deutschland, sehr viele in der Ukraine und etliche in Russland, haben vor allem im Blick, dass gerade die ukrainische Bevölkerung darunter leidet, dass der russische Staat ihre Lebensgrundlagen zerstört. Ukrainische Bürger:innen fallen den kriegerischen russischen Aktivitäten als „Kollateralschäden“ zum Opfer oder sind als potentielle Unterstützer:innen der ukrainischen Streitkräfte gezielt mit bisweilen tödlicher Gewalt bedroht. Russland möchte den Ukrainer:innen eine politische Ordnung aufdrängen, die sie offensichtlich mehrheitlich nicht wollen. Den genannten Linken entgeht weder jene chauvinistische Abwertung bzw. Negierung der (wie auch immer definierten) ukrainischen Identität, von der die (pro)russische Propaganda durchtränkt ist, noch die Verschwörungstheorien und auch nicht die Ideologie der „traditionellen Werte“, mit denen Putins Russland um die Zustimmung im In- und Ausland wirbt.

Dennoch meine ich, dass beide dieser linken Fraktionen fatale Fehler begehen und sich auf dem Weg zu einemBurgfrieden mit den kriegführenden bürgerlichen Staaten befinden. Um diese politischen Fehler soll es hier aber nicht gehen. Hier widmen wir uns den blinden Flecken des politisch sympathischen Restes, der sich prinzipiell gegen beide Kriegsparteien stellt, gegen Kriegsmobilisierung agitiert und auf keiner Seite ein „kleineres Übel“ erkennen will. Mit und zwischen diesen Kräften sollte eine Debatte auf einer ganz anderen Grundlage möglich sein, die die eine Perspektive für praktischen Antikriegswiderstand schafft. Doch häufig kommt die Diskussion gar nicht erst zustande, weil sich mit der Verkündung begnügt wird, alle Kriegsparteien seien „gleich schlimm“. Das mag sympathischer wirken als linksverbrämte Vaterlandsverteidigung, als Analyse genügt es jedoch nicht. Es ist im schlechtesten Sinne abstrakt und erklärt wenig. 

Fangen wir damit an, dass die Kriegskontrahenten offensichtlich sehr unterschiedliche Ausgangspositionen haben. Die Ukraine ist ein Land ohne gut funktionierende kapitalistische Wirtschaft, das fest entschlossen ist, Teil von zwei westlichen Bündnissen zu werden: EU und NATO. Zwar sind bei weite nicht alle beteiligten Länder dieser Bündnisse wirtschaftlich erfolgreich, aber immerhin werden sie von den wichtigsten kapitalistischen Mächten angeführt. Die Staaten an der Spitze von EU und (vor allem) NATO sind nicht nur militärisch klar überlegen, sie verfügen auch über Weltwährungen: die USA über den Dollar, die EU über den Euro. In diesen Währungen werden nicht nur die wesentlichen Geschäfte auf dem Weltmarkt abgewickelt, sondern auch viele Vermögen aufbewahrt. Gegenüber Russland, dessen Währung keine Weltwährung ist, haben sie exklusive Druckmittel. Um irgendwas auf dem Weltmarkt zu kaufen, brauchen der russische Staat sowie russische Unternehmen Dollar und Euro. Mehr noch: um diese Kaufaktionen durchzuführen, brauchen sie Konten bei westlichen Banken. Da Russland vor allem Rohstoffe verkauft und Fertigwaren einführt, brauchen russischer Staat und russische Unternehmen sehr viele dieser Devisen und sind sehr anfällig für ökonomische Sanktionen. Zudem muss Russland Staatsschulden in Weltwährungen bedienen. Die ukrainische Regierung samt weiteren Teilen des ganzen politischen Spektrums hingegen hat sich für eine Westorientierung entschieden. Diese Entscheidung ist auch eine in Richtung Euro, für westliche Kapitale als potenzielle Investoren, dafür dass die westlichen Firmen in der Ukraine produzieren, für westliche Länder als Märkte für die eigenen ukrainischen Waren, und nicht zuletzt dafür, die Ware Arbeitskraft der eigenen Staatsbürger in den Westen zu exportieren. 

Russland ist gemäß unzähliger Verlautbarungen der eigenen Führung eine Weltmacht. Seine wirtschaftliche Stärke lässt diesen Schluss allerdings nicht zu. Doch Russland verfügt über ein schlagkräftiges Militär und über Atomwaffen, die für die anderen Weltmächte die Kosten jeglicher militärischer Auseinandersetzung in die Höhe treiben. Russland will nicht mehr wie früher die Sowjetunion „Systemkonkurrenz“ zum „freien Westen“ aufbauen, sondern versucht seit 1991 eine kapitalistische Weltmacht zu werden. Das scheiterte regelmäßig daran, dass der Kapitalismus in Russland schlecht funktioniert. Es ist ein Scheitern im Kapitalismus am Kapitalismus. Die westliche Konkurrenz ist eindeutig stärker und hat nicht vor, ihren Vorsprung aufzugeben. Im Gegenteil: die westlichen Mächte bauen ihren Vorsprung immer weiter aus. Sie fluten den russischen Markt – mit China um die Wette – mit ihren Fertigwaren, sie nehmen Russland politische Verbündete und ökonomische Absatzmärkte weg und verweisen bei allen Protesten Russlands auf die Spielregeln, diebehaupteterweise – „neutral“ für alle gelten. Doch wann Ausnahmen davon möglich sind, entscheidet der Westen und nicht Russland. Was die Regel und was ein Verstoß dagegen sei, entscheiden diejenigen, die die Macht haben, die Regeln durchzusetzen, indem sie einen Verstoß sanktionieren können. 

Russlands Kampfprogramm dagegen ist ein Versuch, mit der verbliebenen militärischen Stärke die Vorteile des Westens im Idealfall auszuhebeln. Die Kampfansage an die führenden kapitalistischen Mächte ist weder eine Kampfansage an den Kapitalismus, noch ein Versuch, irgendwelche neuen Spielregeln für die Weltmarktkonkurrenz durchzusetzen. Es ist ein ziemlich durchschaubares „cosplayen“ des Benehmens der NATO und der USA mit der einfach gestrickten Argumentation: „Wir dürfen es auch, weil wir auch Atommacht von Rang sind“. 

Seinem Weltmachtanspruch möchte Russland auch dadurch Geltung verschaffen, dass es stets betont, nur mit den USA ernsthafte Verhandlungen zu führen und es die ukrainische Regierung ignoriert. Die komplette Absage des Status eines souveränen Subjekts Ukraine durch Russland ist auch eine Antwort auf die Be- und Abwertung Russlands als „Regionalmacht“ durch westliche Politiker. 

Wer über „(legitime) russische Sicherheitsinteressen“ spricht, sollte sich im Klaren sein, was ein souveräner Staat unter Sicherheit versteht. Macht sich ein Staat durch Aufrüstung weniger angreifbar, so fühlen sich andere Staaten in ihrer Sicherheit bedroht. Gehen schwächere Verhandlungspartner mit stärkeren Weltmächten ein Bündnis ein, stiftet dies bei anderen „global playern“ Unruhe. Die Atommächte mögen es schon gar nicht, wenn andere Staaten ihrem Klub beitreten. Das verringert nämliche relativ ihre Möglichkeiten, Druck auszuüben, was die stärkeren Staaten in der Regel gegenüber anderen tun.

Das „Sicherheitsbedürfnis“ eines Staates spielt aber nicht nur in der militärischen Sphäre eine Rolle. Denn wer Handel mit anderen treibt, will auch die Bedingungen für diesen Handel festlegen, am liebsten allein. Dagegen stehen die oft entgegengesetzten Interessen im anderen Staat, der sich eine „Einmischung in die inneren Angelegenheiten“ verbittet. Diese Formulierung wirkt ziemlich naiv – denn was wäre die Diplomatie sonst als ein Versuch, politische Entscheidungen in anderen Staaten zu beeinflussen? 

Die russische Regierung ließ nun 2022 zu den Waffen greifen und die Ukraine angreifen, aufgrund der Sorge, dass bei längerem Zögern das Drohpotential der Gegenseite nur wachsen und das eigene aufgrund ökonomischer Schwächung zumindest relativ schrumpfen würde. Anfang der 2000er, in der Zeit hohen Ölpreise, war Russland eine aufsteigende, heute ist es eine absteigende Macht. Die Antwort Putins ist: schwächere Verbündete des Westens so zu behandeln, wie der Westen „Schurkenstaaten“ behandelt.

Wenn von westlicher Seite vom „russischen Imperialismus“ die Rede ist, so ist damit jegliche Einmischung Russlands in die Politik anderen Staaten und vor allem gegenüber Anrainern gemeint. Dahinter steckt kein irgendwie theoretisch avancierter Begriff von „Imperialismus“. Das sieht man schon daran, dass die Einmischung des Westens, egal wo, prinzipiell nicht als Regelbruch, sondern als regelkonformes Wahrnehmen der eigenen legitimen Interessen wahrgenommen wird. Es gibt Linke, die den Begriff „Imperialismus“ ebenfalls so nutzen, dass ein militärischer Einmarsch von wem auch immer wohin auch immer so betitelt wird ohne weitere Analyse von Interessen und Machtpotenzial der Akteure. Nicht, dass die Gründe Nigerias bei den zahlreichen Interventionen in die benachbarten westafrikanischen Länder irgendwie sympathischer wären als die der USA in Irak, Afghanistan oder Libyen – aber es sind andere.

Der derzeit kursierende Plakatspruch „Es gibt nur einen Imperialismus – den gegen die Menschen“ bereichert die Analyse um keine richtige Erkenntnis. Die führenden kapitalistischen Mächte tragen heute selten Konflikte um Gebietsgewinne aus und versuchen nicht, verfeindete Staaten direkt ihrer Souveränität zu berauben. Sie diktieren vielmehr jene Verträge, die sie als Souverän mit anderem Souverän abschließen, aber zu ihren Bedingungen. So wollen sie die Souveränität anderer Staaten für die Interessen eigener Kapitale und für sich als Staat nützlich machen. Russlands Versuch die ukrainische Souveränität für die eigene Zwecke zu nutzen hat vorläufig nicht geklappt und nun kommt so eine „altmodische“ Methode, wie territoriale Zergliederung zum Einsatz. 

Russland bleibt ein in der Konkurrenz unterlegener Staat, dessen Ressourcen die Kapitale der erfolgreicheren Mächte gerne nutzen würden. Russische Kriegsziele sind deswegen nicht „antiimperialistisch“. Die Invasion der Ukraine istRusslands Versuch, die vorhandenen Gewaltmittel dafür einzusetzen, die Rahmenbedingungen zu eigenen Gunsten zu ändern.Es ist richtig, keine der beiden Kriegsparteien zu unterstützen, für eine echte Position gegen den Krieg können die Unterschiede der Positionen und Praktiken der Kriegsparteien aber nicht ignoriert werden.

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Übersetzung: Dieser Text erschien unter dem Titel „Glaubst du die Linken wollen Krieg?“ auf der Seite des Marxistischen Klubs „Obschtscheje delo“ („Gemeinsame Sache“) aus Belarus

Acht Jahre lang glühte im Osten der Ukraine ein Konflikt, der sowohl die ukrainische, als auch unsere Gesellschaft spaltete. Wie ein Damokles-Schwert stand mal die Bedrohung eines Krieges im großen Maßstab, mal die eines „Kosovarischen Szenarios“ im Raum. Viele Linke unterstützte die Schaffung von selbständigen Republiken in Donbass, die anderen hielten es für wichtiger jeglichem Ausdruck des Imperialismus seitens Russland Widerstand zu leisten. Häufig haben sie ihre Positionen mit humanistischen Werten und guten Absichten begründet.

Wir sollten jedoch bedenken, dass die Gesellschaft nach den materialistischen Gesetzen lebt und unsere Vorstellungen vom Schönen und Gerechten darauf keinerlei Einfluss haben. Die Haltung „Für alles Gute“ und „Gegen alles Schlechte“ teilen wir schon einfach deshalb nicht, weil jeder „klassenlose“ Blick auf die Gesellschaft kontraproduktiv ist. Diese oder jene Ereignisse können nur vom Standpunkt der Interessen der Werktätigen, der Veränderung ihrer Lage, dem Wachstum des Klassenbewusstseins und der Entwicklung der Arbeiterbewegung bewertet werden. Außer dem Tod der Leute im Laufe des Konfliktes, ist die offensichtliche Gefahr für unsere Völker der Aufschwung der nationalistischen Stimmungen. Und zwar auf allen Seiten. Chauvinistischer Dünkel wird maximal genutzt werden, um die Werktätigen für den Schutz ihrer Interessen um die Elite zu scharen.

Die andere Hälfte [der Linken] gerät in die Falle des klassenlosen Pazifismus, denn die Slogans des Widerstandes gegen die Ungerechtigkeit werden mal wieder im Interesse der Gruppierungen von reichen und einflussreichen Menschen zur Umverteilung der Macht und des Eigentums genutzt, worüber wir schon mehrmals geschrieben haben, oder für die Kanalisierung der Proteststimmmungen und Spaltung der Bewegung.

Wird das zur Milderung des Regimes gegenüber den Werktätigen und den Linken führen? Einerseits waren die bisherigen ukrainischen Machthaber nicht gerade Verteidiger der Freiheit und der Demokratie. Trotz des formalen Wechsels der Regierungen und der Einhaltung eines formellen Prozedere, greift die ukrainische Exekutive hart durch. Wir sollten auch nicht die Nazis in Uniform vergessen, die straflos agierenden „Aktivisten“, die auch töten dürfen. Auf der andere Seite wird etwa die „Denazifizierung“ im Zusammenspiel mit der von Putin angekündigten „Dekommunisierung“ Besserung bringen? Die Säuberungen lassen keine friedlichen Lösung zu. Zudem werden diese dann nicht ebenfalls [russische] Ultrarechte durchführen?

Die Bourgeoisie hat sich nie durch Humanität ausgezeichnet und es interessiert dann niemanden, ob du für die Wahrheit oder für die Lüge, für die Linke oder für die Rechte bist, wenn du als Bedrohung ihrer Herrschaft wahrgenommen wirst. Besonderes, wenn die Bevölkerung vor Ort sich als nicht so loyal erweist, wie es sich die Strategen im Stab vorgestellt haben. Kann man auf die Versuche hoffen, die Bevölkerung vor Ort [in der Ukraine] mit irgendetwas wohl gesonnen zu stimmen, was die Lage der Werktätigen bessert? Hypothetisch, kann die Russische Föderation ihre alte Trumpfkarte spielen – Kampf gegen die Oligarchie. Den Oligarchen ihr ganzes Eigentum wegnehmen (außer dem loyalen Medwedschuk) und es den ukrainischen Stiftungen übergeben (damit niemand sagen kann, die Moskowiter hätten etwas geklaut) – und in ein paar Jährchen wird das ganze Eigentum in den Händen der „richtigen“ Kapitalisten landen. Ganz ohne Kriegserklärung. Was ist schon dabei, wenn „ehrliche Unternehmer“ in die „Entwicklung der Regionen“ investieren?

Kurz gesagt, bei allen möglichen Szenarien ist die Verbesserung der Lage der Werktätigen unwahrscheinlich.

5.3.2022
Original hier: https://vk.com/res_publica_marx
Tlgrm: Common_Cause_Minsk

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Im Mai hat die Kiezkommune Berlin-Wedding die Veranstaltungsreihe „Nein zum Krieg“ gestartet. Wir haben mit zwei der Organisator:innen, Noemi und Ernesto, gesprochen, wieso sie diese Reihe machen und was das mit ihrer Basisarbeit zu tun hat.

Wir freuen uns, dass ihr Zeit für dieses Interview hattet. Wollt ihr kurz euch und eure Arbeit vorstellen?

N: Ich bin seit etwa zwei Jahren dabei, ursprünglich wollte ich mich feministisch organisieren und bin so zur „Gruppe Ella Trebe“ gekommen, darüber bin ich quasi auch an die Basisarbeit gekommen und hab mich auch vermehrt in die Kiezkommune eingebracht. Wir arbeiten ja in mehreren Kommissionen, zu verschiedenen nachbarschaftlichen Themen bzw. Lebensbereichen der Arbeiterklasse: Bildung, Gesundheit, Geschichte, Gewalt gegen Frauen,Wohnen usw. Da ich selber auch im Kiez wohne, hatte ich natürlich viele Berührungspunkte mit den Alltagsproblemen, die es hier gibt und habe mich auf die kulturellen und sozialen Aspekte fokussiert.

E: Also bei mir gab es erst einmal eine theoretische Annäherung, ich hab irgendwann angefangen mich mit marxistischer Literatur auseinander zu setzen und kam zu einem kommunistischen Selbstverständnis. Es lag natürlich dann auf der Hand, dass ich mich dann auch praktisch einbringen wollte. Irgendwann kam ich auf den Laden und fand in den nachbarschaftlichen Projekten einen guten Ansatz. Es gibt ja einiges bei uns, so Nachhilfe-Angebote, offene Essensausgaben, Kiezspaziergänge, ein offenes feministisches Cafe & Mieter:innen Stammtische und eben auch verschiedene inhaltliche Veranstaltungen. Z.B hatten wir auch in den letzten Monaten eine Filmreihe gemacht in der wir die verschiedenen Themenbereiche zu denen wir arbeiteten vorstellten.

Ihr habt ja schon eine Filmreihe gemacht, in eurer aktuellen Veranstaltungsreihe zeigt ihr ja auch zwei Klassiker, Tarkovskys „Ivans Kindheit“ und „Dr. Seltsam oder wie ich lernte, die Bombe zu lieben“ . Wie kamt ihr auf diese Reihe?

N: Also es sind ja nicht nur Filme, es gibt auch eine Diskussionsveranstaltung und eine Lesung. Das Kriegsthema ist zurzeit sehr präsent, nicht nur medial sondern auch im Alltag der Menschen im Kiez. Wir kommen ja z.B bei der Essensausgabe oder bei unseren Kiezspaziergängen sehr direkt mit den Nachbar:innen ins Gespräch. Da wird uns viel über die Auswirkungen, die sich in den Preissteigerungen niederschlagen, gesprochen. Teilweise haben Menschen schon Probleme ihre Nahrungsmittel zu kaufen und viele kleine Läden, die eigentlich auch im Kiez verwurzelt sind, heben ihre Preise, weil es sonst einfach nicht klappt. Aber die Frage bleibt ja bestehen: Wie sollen es sich die Menschen noch leisten wenn es immer prekärer wird? Oft ist dann die Haltung wie bei der Bäckerin bei mir um die Ecke, die dann sagt: „NATO und Putin sind doch alle Scheiße.“ Das können wir gut verstehen.

E: Ja vor allem auch seit den letzten Essensausgaben stellen wir uns auch auf Personen ein, die aus der Ukraine wegen dem Krieg fliehen mussten. Also es ist im Kiez schon präsent. Aber ich will auch auf einen anderen Aspekt eingehen. Wir haben die Reihe auch gemacht, weil wir eine Gegendarstellung wollen. Der gängige Diskurs in Deutschland und auch in einigen Teilen der Linken ist eine des Burgfriedens mit den eigenen Herrschenden. Nach dem Motto „Bist du nicht mit uns, dann bist du gegen uns“. Wir halten das für eine falsche Wahl und lassen uns da auch nicht reinzwängen. Trotzdem bestehen ja auch bei uns offene Fragen, wie eine antimilitaristische Praxis heute aussehen sollte. Klar haben wir einige Überlegungen dazu, aber wir denken, da muss aus einer linken und klassenbewussten Perspektive viel mehr gemacht werden. Die Reihe ist für uns ein Denkanstoß.

Ihr habt euch ja entschieden, auf vier verschiedene Ereignisse des 20. Jahrhunderts zu schauen, wieso genau diese Auswahl?

N: Genau, wir zeigen ja den Film „Iwans Kindheit“, eine sowjetische Produktion zum Zweiten Weltkrieg, haben eine Diskussionsveranstaltung mit Genossen aus dem Iran, die zur Zeit des ersten Golfkriegs den Krieg boykottierten und Menschen zur Flucht verhalfen. Dann gibt es noch den Film „Dr.Seltsam oder wie ich lernte die Bombe zu lieben“, der sich mit dem Thema Atomkrieg auseinandersetzt. Als letzte Veranstaltung ist dann die Lesung aus „Im Westen nichts neues“, der ja der Antikriegsroman schlechthin ist.

E: Auf den ersten Blick scheint es etwas zusammenhangslos, aber wir haben uns bewusst für vier Aspekte entschieden, die uns in den letzten Wochen viel begegnet sind und wo wir denken, dass ein Blick in die Geschichte sehr fruchtbar sein kann. Natürlich ist das nicht ein umfassender Blick und es ist auch keine Analyse der aktuellen Lage. Aber wir denken, dass gerade der Blick in die Geschichte viele Anknüpfungspunkte für uns heute liefern kann.

Gerade die moralistische Argumentation, der wir in Deutschland begegnen, halten wir für gefährlich. Es wird dann Geschichtsrevisionismus betrieben und gesagt, dass es der erste Krieg seit 45 in Europa sei. Als ob es kein Jugoslawien gegeben hätte. Oder es werden gezielt Begriffe wie Vernichtungskrieg und Genozid kultiviert. Dass im Jemen seit 8 Jahren bombardiert wird oder aktuell wieder kurdische und ezidische Gebiete von der Türkei angegriffen werden, spielt dann aber keine Rolle. Vor allem wird sich gesellschaftlich zu selten gefragt, wieso es keine Rolle spielt.

N: Um wieder zu deiner Frage zurück zu kommen. Den ersten Film zeigen wir zum Anlass des Jahrestags der Befreiung. Es gab die letzten Wochen ja vermehrt Anschläge auf sowjetische Denkmäler. Wir denken es ist eine gefährliche Entwicklung, wenn die Befreiung vom Faschismus mit russischem Nationalismus vermischt wird. Es sind genauso wenig „russische“ Denkmäler wie der Angriffskriegs Russlands „antifaschistisch“ ist. Das Gedenken an die 15 Völker der UdSSR und all jene Menschen, die ihr Leben für die Befreiung Europas vom Faschismus gaben, lässt sich für uns nicht nationalistisch vereinnahmen oder verklären.

Zu der Diskussionsveranstaltung in der zweiten Maiwoche: Es war uns wichtig, dass wir Fragen thematisieren können, die auch uns selbst beschäftigt haben. Sollte man sich auf die Seite einer Kriegspartei schlagen? Wie verhält es sich mit dem Recht auf Selbstverteidigung? Was heißt es, zu desertieren? Wir denken, mit Menschen ins Gespräch zu kommen, die in Situationen waren, die Analogien aufweisen, kann uns da voran bringen. Es ist nicht der erste Krieg in der Geschichte und es gibt eben auch Erfahrungen, auf die wir als Linke zurückgreifen sollten, anstatt aus dem Bauchgefühl zu agieren. Vor allem sich dabei auf Ereignisse in Europa zu beschränken und andere historische Erfahrungen zu ignorieren ist kurzsichtig.

E: „Dr.Seltsam“ ist ja recht bekannt. Es geht um den Kalten Krieg,um die Atombombe, es ist eine Satire auf die Absurdität und zugleich das unmessbare Grauen, welches damit einhergeht. Wir sind auf das Thema gekommen, als wir darauf aufmerksam wurden, wie der Vorsitzende der Heinrich Böll Stiftung in Kiew von nuklearen Angriffen auf Russland sprach. Der ganze Diskurs ist absurd aber es werden ja auch konkrete Schritte unternommen. Russland will seine Atomwaffen an die Westgrenzen verlegen, Polen bittet die USA dort Waffen in Stellung zu bringen. Es wird zugleich vor Panikmache gewarnt, aber auch normalisiert, über die Möglichkeit eines Atomkriegs zu fabulieren.

Unsere letzte Veranstaltung soll uns nochmal an das Grauen des ersten Weltkriegs erinnern, daran, dass jeden Tag junge Menschen aus Zwang oder Nationalismus sterben und dass ein kapitalistischer „Krieg bis zum Sieg“ für die einfachen Menschen immer eine Niederlage bedeutet. Dass das „Heilige Vaterland“ gerade hierzulande mit einer heiligen „westlichen Demokratie“ oder „Freien Welt“ ersetzt wird, die Kriegstreiberei der Herrschenden aber die gleiche bleibt.

Ihr habt ja angerissen, dass euch persönlich auch viele Fragen aufgekommen sind, welche waren denn diese?

N: Einiges haben wir ja aufgegriffen, aber klar, es stellen sich auch noch unzählige Fragen z.B auch aus feministischer Perspektive: Es gab es ja auch Fortschritte für queere Menschen in der Ukraine und jetzt sind sie auch nochmal auf anderen Ebenen von den Konsequenzen des Kriegs betroffen, also dass z.B trans Personen das Land nicht verlassen können oder wie geflüchtete Familien von Menschenhandel und sexualisierter Gewalt betroffen sind. Der Krieg ist komplex und dass suggeriert wird, es wäre ja ganz einfach, stimmt nicht. Die verschiedenen Faktoren von Wirtschaftsinteressen und Machtpolitik, der historischen Rolle vom Nationalismus bis zu z.b Rassismus an den Grenzen usw., spielen eben eine Rolle. Wir hoffen, mit unserer Reihe die Diskussion darum, wie antimilitaristische Politik in diesem Zusammenhang aussehen kann und vor allem wie sich eine solche Praxis im Kiez und mit der Nachbarschaft umsetzen lässt, anregen zu können.

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Felix Anton sprach für das LCM mit Yurii, 29 Jahre alt, Anarchist und Internationalist aus Russland über den Krieg in der Ukraine, Widersprüche und Herausforderungen.

Seit dem 24. Februar 2022 greift die russische Armee die Ukraine in einer groß angelegten Invasion aus mehreren Richtungen an. In Deutschland hat das viele schockiert und überrascht. Dich auch?

Nein, wirklich überrascht war ich nicht. Die ersten Nachrichten waren für mich auch nicht schockierend. Stattdessen sah ich, wie recht ich und so viele andere um mich herum mit der Prognose dieser schrecklichen Ereignissen hatten. Viele Jahre lang haben wir versucht, der Welt laut zuzurufen, mit wem sie es zu tun hat. Aber der überwältigende Geldfluss hielt alle taub und stellte das russische Regime als legitim und handzahm dar. Keine Menschenrechtsverletzungen, keine Korruption, kein illegales schmutziges Geld oder irgendetwas anderes hat die Aufmerksamkeit auf uns und die Standpunkte der russischen Opposition gelenkt. Wir waren müde, enttäuscht und verloren unsere Moral. Im aktuellen Krieg ändert sich dies, leider zu einem sehr hohen Preis für alle.

Putin wird in den deutschen Medien pathologisiert. Ein kranker Mann, der nicht mehr vernünftig handelt. Was ist Putins Kalkül hinter dem Krieg und ist er wirklich allein dafür verantwortlich oder gibt es weitere Kräfte, die ein Interesse an diesem Krieg haben?

Ein riesiger Kreis von Oligarchen, Politikern und Religionsführern ist daran beteiligt, zusammen mit Putin als Hauptverantwortlichem, der das ganze Land und die Welt mit der Androhung des Nutzens von Atomwaffen als Geisel hält. In den Augen dieser Kreise soll der russische Einfluss in allen Ländern der ehemaligen Sowjetunion aufrechterhalten werden. Vor den Ereignissen von 2014 war die Ukraine ein guter Nachbar von Russland und dem Westen. Aber nach der Revolution hat die Ukraine einen Kurs eingeschlagen, um sich durch „Reformen“ der westlichen Welt anzunähern und sich von der Einflusslinie Russlands zu trennen. Das rief den Zorn der Eliten hervor, weil diese nicht nur ihr Einflussgebiet verloren, so wie es bspw. in Georgien geschah, sondern mit der Ukraine auch einen sehr wichtigen Wirtschaftskanal Russlands. Der größte Teil der Gas- und Öllieferungen an die EU läuft durch die Ukraine. Es steckt keine Ideologie oder etwas anderes hinter diesem Krieg. Es geht nur um Geld und Einfluss. Jede Person dieses Kreises um Putin und ihre Familien sind sehr daran interessiert, ihr eigenes Stück vom Kuchen zu bekommen und ihre Einflussgebiete und Reichtümer zu sichern. Alle anderen angeblichen Kriegsgründe sind Fälschungen und Lügen.

Wie schätzt du die Gefahr einer Eskalation zwischen Russland und der NATO ein?

Heute warnt Russland Finnland, Schweden und Bosnien-Herzegowina vor den Folgen eines Beitritts zur NATO. Ich denke, Russland hat keine Chance, weiter zu gehen. Es ist nicht mehr die UdSSR. Es gibt keine Moral, keine Macht, keine Ressourcen, die mehr oder weniger mit dem heutigen NATO-Niveau vergleichbar wären. Alles ging in der Ära von Boris Jelzin Anfang der 1990er Jahren verloren. Das, was übriggeblieben ist, ist der Versuch, mutig auszusehen, das ist alles. Jeder kleine Schlag wird Artikel 5 der NATO auslösen, der zu einem Blutbad im Westen Russlands führen wird. Wir sollten nicht vergessen, wie groß Russland ist. Nur wenige Kilometer trennen uns von Japan, dessen Beziehungen zu Russland nicht gerade die besten sind. Wenn etwas passiert, werden sie wahrscheinlich versuchen, diese Chance zu nutzen, um eine zweite Front aufzubauen, da bin ich mir mehr als sicher.

Die aktuellen Sanktionen gegen Russland sind die schärfsten Sanktionen aller Zeiten. Spürst du das im Alltag selbst? Wie wirken sie sich auf das Leben der Menschen aus, auf die Lohnabhängigen und Studierenden?

Die Sanktionen haben einen Schneeballeffekt. Im Moment spürt der oberste Kreis um Putin die Sanktionen stärker denn je. Für die Bevölkerung, Arbeiter_innen und Studenten_innen ist es noch zu früh, um das ganze Ausmaß der Sanktionen zu erkennen. Bereits jetzt sind die Preise für Lebensmittel um 20-40% gestiegen. Für Renter_innen ist es jedoch bereits jetzt schwer von 130-150$ pro Monat zu leben, wovon fast die Hälfte für die Miete und Nebenkosten wie Strom, Wasser und Gas aufgewendet werden muss. Den Arbeiter_innen geht es genauso, denn das Gehalt liegt in den meisten Städten bei 200-300$. Fabriken und Unternehmen sehen sich mit Kettenreaktionen konfrontiert, einem Währungssprung um das 1,5-2-fache pro Dollar und keiner Möglichkeit, Komponenten, Technologien und vor allem die fehlenden menschlichen Ressourcen durch Einheimische zu ersetzen. China könnte ein Partner für die russische Regierung sein, um diese Lücken zu ersetzen.

Werden die Sanktionen den Widerstand gegen Putin verstärken oder werden sie die Unterstützung der Bevölkerung für seine Linie erhöhen?

Putin lebt sicherlich seine letzten Jahre auf diesem Planeten und er möchte als „Sammler russischer Ländereien“ in die Geschichte eingehen. Indem er dies tut, versucht er auch, seine Popularität innerhalb des Landes zu steigern. Es funktioniert aber nicht so gut, wie er es sich vorgestellt hat. Konflikte tauchen auf allen Ebenen der Gesellschaft auf und die Stimme der Opposition wird lauter werden. Leider ist das nicht genug, um radikale Schritte zu unternehmen, die die Situation verändern könnten. Russland braucht einen Mentalitätswandel.


Wir erhalten viele Bilder von großen Antikriegsdemonstrationen in Russland. Wer organisiert diese Proteste und wie sehen die Aussichten für die russische Opposition aus?

Die meisten Demonstrationen wurden von dezentralisierten Initiativgruppen oder großen Namen wie dem Team von Navalny mit Aufrufen auf den Plätzen „zur gleichen Zeit am gleichen Tag“ organisiert. Im Moment sehe ich keinen Kern, der die russische Opposition in naher Zukunft anführen könnte und es würde mich überraschen, wenn sich daran in naher Zukunft etwas ändern würde.

Du hast Nawalny angesprochen als teil der russischen Opposition. Unumstritten ist er ja nicht…

Leute wie Nawalny sind Verräter. Sie haben Daten über diejenigen gesammelt, die für sie gearbeitet und sie unterstützt haben, und sie an die russischen Sicherheitsdienste weitergegeben. Die größte Hoffnung revolutionärer Kräfte wäre aktuell ein gemeinsamer ukrainisch-belarussisch-russischer Partisanenkampf. Aber Stand jetzt, können wir lediglich belarussische Oppositionsbrigaden in der Ukraine sehen, keine russischen.

Kannst du mehr über solch ein mögliches „Partisanen-Bündnis“ sagen?
Wir brauchen einen Partisanenkampf und wenn er beginnt, wird er uns den Schwung geben, sowohl die Faschisten zu bekämpfen als auch die Regime zu beenden und den Weg für unsere Zukunftsvision zu ebnen.

Ich kenne viele Linke, die in der Ukraine an der gleichen Front gegen Russland kämpfen, wie es die Neonazi-Bataillone tun. Natürlich sind sie nicht in der gleichen Position. Es muss aber darum gehen, wer in der Nachkriegszeit Vorrang haben wird. Dies sollten natürlich die Linken und nicht die Faschisten sein. Dafür ist es wichtig, dass sie sich am Kampf beteiligen.

Zwischen den russischen und den westlichen Großmachtsfantasien zu manövrieren scheint schwierig. Welche Möglichkeiten siehst du hier?

Wir sollten gute nachbarschaftliche Beziehungen zu den postsowjetischen Ländern pflegen, ohne uns gegenseitig zu behindern. Unabhängig und stark gegenüber dem Westen und dem Osten. Angehörigen des Regimes, die in den 90er Jahren alles zerstört haben, was wir hatten, sollten gefasst werden, ihre Ableger enteignet und dem Volk übertragen werden. Alles wird hier gestohlen und verkauft. Der oft propagierte Umsturz des russischen Staates mit dem Ziel einer Angleichung an westliche Staaten ist nicht die beste Lösung für die Gesellschaft. Der westliche Block, der versucht zu lehren und zu diktieren, dass sein Weg und seine Vision der einzig richtige Weg seien, bringt nicht das süße freie Leben. Im Westen wird mit zweierlei Maß gemessen, wenn man von Menschenrechten und privaten Rechten von Menschen in anderen Staaten spricht und sie gleichzeitig auf dem eigenen Territorium missbraucht und verneint. In der Vergangenheit gab es in Russland ein gewisses Maß an Volksdemokratie, die jedoch vom Regime abgeschafft wurde. Diese sollte in einer neuen, basisdemokratischen Form wiedereingeführt werden.

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Mit der Auffassung, dass Töten und Sterben freiwillige Angelegenheiten sein sollten, steht man derzeit so alleine da wie seit Jahrzehnten nicht. Unter dem Eindruck von Putins Angriffskrieg, der zuletzt fast 10.000 Menschen getötet und zwei Millionen Menschen aus dem Land vertrieben hat, entdeckt die deutsche Öffentlichkeit ausgerechnet ihre Liebe zu den eigenen Streitkräften wieder. Die Rüstungsindustrie, mal in Gestalt der CDU, mal ganz unverhohlen als sie selbst, frohlockt naturgemäß über diese Entwicklung.

Bis zu 3000 neue Arbeitsplätze und zwei Milliarden Euro zusätzlichen Jahresumsatz verspricht sich beispielsweise Rheinmetall-Chef Armin Pappberger angesichts des neu beschlossenen Wehretats – und kann vor lauter Tatendrang kaum noch stillsitzen: „Wir könnten sofort anfangen, zu produzieren“, zitiert ihn die Nachrichtenagentur dpa. Der parlamentarische Arm der Waffenhersteller stellt sogleich weitere spannende Ideen in den Raum. Warum nicht in ein Raketenabwehrsystem für Berlin investieren, fragt der verteidigungspolitische Sprecher der CDU-Bundestagsfraktion Florian Hahn, der nebenbei auf der Gehaltsliste der Interessengemeinschaft Deutsche Luftwaffe steht. Die Ende Februar durch die Decke geschossenen Aktienkurse deutscher Rüstungsunternehmen pendeln sich gerade auf einem Niveau ein, von dem sie davor nur träumen konnten. Alles in allem also goldene Zeiten für das Geschäft mit Menschenleben.

Rufe nach der Wiedereinführung der Wehrpflicht sind die logische Konsequenz in solchen Zeiten. Längst sind es nicht mehr nur die Bundeswehr und ihr Rattenschwanz aus Rüstungslobby, konservativen Medien und Kriegsenthusiasten diverser Parteien, die die Deutschen wieder in Reih und Glied sehen wollen. Eine repräsentative Umfrage im Auftrag des Business Insider von Anfang März ergab eine Befürwortungsquote von 75 Prozent für „ein soziales Pflichtjahr, zum Beispiel Wehr- oder Zivildienst“.

Die Umfrage zeigt exemplarisch das Problem, an dem die ganze Debatte krankt. Denn ihr Gegenstand wird nicht klar benannt. Ist es ein Wehrdienst mit Verweigerungsoption wie jener, der 2011 abgeschafft wurde, oder eine allgemeine Dienstpflicht, quasi ein Zivildienst mit Waffenoption? Wer denkt, das sei juristische Erbsenzählerei, hat zwar nicht ganz Unrecht, möge sich aber dennoch vor Augen führen, dass der wissenschaftliche Dienst des Bundestags höchstselbst letzteres völlig zurecht als Zwangsarbeit und damit als Menschenrechtsverletzung einordnet. Der Dienst an der Waffe mit wahlweisem sozialen Ersatzdienst ist im Gegensatz dazu menschenrechtskonform, was wiederum die Absurdität dieses Regelwerks aufzeigt, uns aber nicht weiter beschäftigen soll.

Die Bundesrepublik debattiert also fleißig, ohne zu wissen, worüber. Einen Lichtblick mögen die Zyniker unter uns darin sehen, dass all das spätestens mit dem Eintritt des Spannungsfalls hinfällig wird, der automatisch alle deutschen Männer zwischen 18 und 60 Jahren zum Ausbaden desselben verpflichtet. Dafür braucht es eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag, die die Ampelfraktionen zusammen mit der Union stellen könnten. Und weil bei offenen Grenzen ein militärischer Einberufungsbescheid nur so viel wert ist, wie das Papier, auf dem er steht, ist in einem solchen Fall mit einem Ausreiseverbot für Wehrpflichtige zu rechnen.

Die Ukraine setzt diese Regelung derzeit rigoros durch. Wehrfähige Ukrainer dürfen das Land nicht verlassen und werden an den Grenzen abgewiesen. Nur vereinzelt und zaghaft regt sich Kritik an Selenskyjs Praxis, ein Drittel der eigenen Bevölkerung zum Verbleib in einem Kriegsgebiet zu zwingen. Ein Verbleib, der angesichts der russischen Angriffe auf zivile Ziele in jedem Fall lebensgefährlich ist.

Ja, es geht um das Fortbestehen der Ukraine als autonomer Staat und ja, jeder Mensch hat ein angeborenes Recht auf Selbstbestimmung und darauf, unter Einsatz des eigenen Lebens dafür zu kämpfen. Aber das Leben eines anderen ist unantastbar, egal mit welchem Ziel und aus welcher Position heraus. Das muss auch und gerade für den Staat gelten, auch und gerade für einen Staat im Überlebenskampf. Wo das Recht auf Leben ultimativ Gegenstand hoheitlicher Entscheidungsgewalt ist, verblassen alle Rechte, die die „freie Welt“ ihren Bürger:innen zugesteht. Wer jemanden verpflichtet, gegen seinen Willen seine eigene Autonomie mit dem Leben zu verteidigen, macht sich des unverzeihlichen Verbrechens an diesem Leben schuldig.

Die Rechnungsadresse dieses Verbrechens liegt, global betrachtet, natürlich in Moskau. Dort wird indes nicht nur mit Zwang, sondern auch mit einer perfiden Ausnutzung des militärischen Gehorsams gearbeitet. Wo das Propagandamärchen, die Ukraine zu entnazifizieren, nicht ausreicht, stellt man das menschliche Kriegsmaterial vor vollendete Tatsachen. Eigentlich dürften bei Militäroperationen laut russischen Gesetzen nur Berufssoldaten zum Einsatz kommen. Trotzdem landen Rekruten im Krieg. Die Bekundungen der russischen Regierung, diese Gesetzesverstöße zu ahnden, sind Makulatur: Berichten zufolge werden junge, in der verpflichtenden Grundausbildung befindliche Rekruten kurzerhand zur Vertragsunterzeichnung in eine Reihe gestellt und wenig später unwissend an die Front gekarrt. Kontaktmöglichkeiten zur Außenwelt werden abgeschnitten, die Familien völlig im Dunkeln über den Verbleib ihrer Söhne gelassen.

Man darf also in diesem Krieg nicht den Fehler machen, scharf zwischen zivilen und militärischen Todesopfern zu trennen. Zu Putins Verbrechen am ukrainischen Volk tritt zusätzlich das Verbrechen am eigenen. Die Bundesrepublik beweist mit kopflosen Wehrpflichtdebatten und Militärausgaben in schwindelerregenden Höhen, dass die Kriegslogik nicht nur in ihrer Verfassung, sondern auch in den Köpfen fest verankert ist. Es braucht nur einen Befehl, eine einzige Unterschrift eines mächtigen Mannes, und ein ganzer Kontinent frisst seine Kinder.

# Titelbild: Nationalfriedhof in Arlington, Virginia, USA

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Einfach gegen Krieg zu sein, ist noch keine politische Position. Die Friedensbewegung in Deutschland aber muss eine klare Haltung einnehmen – sonst droht ihr, dass sie für die Interessen des Kapitals instrumentalisiert wird.

Krieg, bis Putin aufgibt!

Berlin erlebte am Sonntag nach Beginn der Invasion der Ukraine durch den russischen Staat die größte „Friedensdemonstration“ seit dem Irakkrieg. Über 100.000 Menschen seien auf die Straße gegangen. Die Teilnehmer:innen gehörten unterschiedlichen politischen Richtungen an – von linksorientierten Menschen bis hin zu Vertreter:innen von FDP/CDU/SPD/Grüne. Der Tenor allerdings war, dass „Putins Krieg“ gestoppt werden müsse. Und zwar in dem Sinne, dass Putin als alleiniger Verantwortlicher für den Krieg in der Ukraine kritisiert wurde.

So eine Sicht auf den Krieg verschleiert aber seine Ursache: den Konflikt zweier imperialistischer Blöcke, nämlich einerseits dem Block NATO/EU und andererseits dem russischen Imperialismus mit seiner Eurasischen Wirtschaftsunion und seinem Militärbündnis OVKS (Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit). Der Angriff des russischen Staates ist ein katastrophaler Eskalationsschritt – aber eben ein Schritt, dem viele weitere vorausgingen. Seit dem Ende der Sowjetunion waren es NATO und EU, die ihren Machtbereich nach Osten ausdehnten und Russland dabei zunehmend einkreisten. Die Ukraine wurde besonders seit den Maidan-Protesten 2013/14 Schauplatz des Konfliktes der beiden imperialistischen Blöcke, wobei auch hier NATO und EU ihren Einfluss aggressiv ausweiteten.

Bei der Mehrheit der ersten „Friedensdemonstrationen“ ging es nicht um diesen imperialistischen Konflikt. Sie positionierten sich nicht gegen den imperialistischen Krieg, sondern allein gegen den russischen Staat. Auf den wenigsten Demonstrationen wurde Kritik an NATO/EU geübt, die mit ihrer seit 30 Jahre anhaltenden Offensive zur Eskalation beitrugen und beitragen. Unterm Strich deckt sich die Stoßrichtung von „Friedensdemonstrationen“ wie der genannten in Berlin also in wesentlichen Punkten mit dem Interesse des Blocks NATO/EU.

So eine „Friedensbewegung“ ist nicht nur bequem für den deutschen Imperialismus, sondern spielt ihm sogar in die Karten: Bundeskanzler Scholz zog die „Friedensdemonstrationen“ in seiner Regierungserklärung heran, um weitere Eskalationsschritte und die zusätzlichen 100 Mrd. Euro für die Bundeswehr zu legitimieren. Und auch in der Springer-Presse gab es Lob für die Demonstrationen. Obwohl die meisten Demo-Teilnehmer:innen sich sicher aufrichtig Frieden wünschen, kann die Botschaft solcher Veranstaltungen von den Herrschenden leicht als „Krieg, bis Putin aufgibt!“ ausgelegt werden.

Wo steht der Hauptfeind?

Weil die aktuelle militärische Offensive vom russischen Staat ausgeht, kommt der Bevölkerung Russlands im Kampf gegen den Krieg zentrale Bedeutung zu. Sie befindet sich in der Position, dem russischen Imperialismus von innen empfindlichen Schaden zufügen und ihm die Kriegsführung erschweren zu können.

Es gibt in Russland bereits zahlreiche Proteste gegen den Krieg, woran sich auch Linke beteiligen. Sie müssen propagieren, den Krieg zwischen Nationen in Klassenkampf umzuwandeln – gegen Putin und die hinter ihm stehenden Großkapitalisten. Die Masse der Bevölkerung Russlands hat in diesem Ukraine-Krieg nichts zu gewinnen. Sie muss dessen immense Kosten tragen, unter Sanktionen leiden und ihre Söhne als Kanonenfutter hergeben.

Auch in Deutschland müssen Linke die Invasion der Ukraine durch den russischen Staat verurteilen und sich mit der Anti-Kriegs-Bewegung in Russland solidarisieren. Dabei sollte aber auch klargemacht werden, dass es sich um einen imperialistischen Krieg handelt und dass solche Kriege eine notwendige Folge des Konkurrenzkampfes im imperialistischen Weltsystem sind.

Die Hauptaufgabe von Linken in Deutschland ergibt sich allerdings aus der Position, in der sich die Arbeiter:innenklasse Deutschlands befindet. Denn sie lebt unter der Herrschaft eines der wichtigsten Staaten des NATO/EU-Blocks und der deutsche Imperialismus bemüht sich seit Jahren, seine Machtposition in Europa und darüber hinaus auszubauen. Dabei soll auch militärische Stärke eine wichtige Rolle spielen, weshalb Politiker:innen fast aller bürgerlicher Parteien sich seit Jahren für eine Aufrüstung der Bundeswehr aussprechen.

Für die Interessen des hinter ihm stehenden Kapitals hat auch der deutsche Staat zur aktuellen Eskalation des Konflikts mit dem russischen Imperialismus beigetragen. Deutlich wird das unter anderem daran, dass ernsthafte Verhandlungen mit der russischen Regierung verweigert wurden. Diese hatte im Dezember 2021 Forderungen gegenüber USA und NATO aufgestellt. Darunter: keine weitere NATO-Osterweiterung und der Abzug von NATO-Waffen, die sich in Nähe der Grenze Russlands befinden. Doch für die NATO kam es nicht in Frage, ernsthaft über diese Forderungen zu sprechen und Kompromisse einzugehen – nicht einmal, als die NATO-Geheimdienste wussten, dass es bei weiterer Verhandlungsverweigerung zu Krieg kommen werde. Die Regierungen der NATO- und EU-Staaten nahmen und nehmen die tausenden Kriegstoten wohl wissend in Kauf.

Seit Beginn der Invasion verfolgt der deutsche Imperialismus diese Linie weiter: mit Waffenlieferungen an das ukrainische Militär, Sanktionen gegen den russischen Staat, der Forderung, die Ukraine solle EU-Mitglied werden – und vor allem mit der Ankündigung massiver militärischer Aufrüstung. Deeskalationsversuche gab es keine. Die Interessen des Kapitals sollen ohne Rücksicht auf Verluste durchgesetzt werden.

Das ist die Politik des deutschen Staates. Dieser sollte im Fokus der Friedensbewegung in Deutschland stehen. Er ist ihr direkter Gegner und auf ihn kann sie am besten Druck ausüben – nicht auf die russische Regierung 1.800 Kilometer entfernt. Zudem ist der Kampf für das Ende des Krieges in der Ukraine unmittelbar verknüpft mit dem Kampf gegen die Wurzel der ständigen Kriegsgefahr, also dem Kampf für die Überwindung des Kapitalismus bzw. Imperialismus. Und den kann man nur Zuhause führen.

So wie die Anti-Kriegs-Bewegung in Russland Druck auf den russischen Staat macht, den Krieg zu beenden, muss auch die Friedensbewegung in Deutschland Druck auf den deutschen Staat machen. Statt dass dieser den Konflikt weiter mit eskaliert, muss seiner Aggression Einhalt geboten werden. Er muss dazu gedrängt werden, Verhandlungen zwischen den Konfliktparteien zu ermöglichen, damit das Blutvergießen ein Ende haben kann und es Aussicht auf einen Abzug der russischen Truppen gibt. Ein Ende der Kämpfe zwischen den kapitalistischen Staaten löst zwar den imperialistischen Konflikt nicht auf, aber je länger der Krieg dauert desto mehr Verluste müssen die Bevölkerungen hinnehmen, desto größere wirtschaftliche Kosten müssen sie tragen und desto gefährlicher kann sich die internationale Lage zuspitzen.

Die Heuchler entlarven

Die kapitalistischen Parteien und die großen Medien in Deutschland sind sich aktuell weitgehend einig. Kritik an weiterer Eskalation und Aufrüstung gibt es kaum. Man steht zusammen im „Konflikt zwischen Putin und der freien Welt“ (Scholz). Oder wie ein Vorgänger von Scholz es zu Beginn des Ersten Weltkriegs ausdrückte: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche!“ Die Einheit von herrschender Politik und großen Medien ermöglicht ihnen, die Bevölkerung Deutschlands von allen Seiten mit ihrer imperialistischen Propaganda einzudecken und NATO/EU als die „richtige Seite“ in einem Kampf von Gut und Böse darzustellen.

Aber dennoch besteht aktuell großes Potential, die in der Bevölkerung weit verbreitete Erzählung der Herrschenden ins Wanken zu bringen. Denn an zahlreichen Beispielen können Linke zeigen, dass es den Herrschenden nicht um das Wohl von Menschen geht, wie sie selbst ständig behaupten, sondern dass sie die Interessen des Kapitals vertreten und dafür buchstäblich über Leichen gehen. Hier sind einige eindrückliche Beispiele entlarvender Widersprüche:

  • Politiker:innen und Journalist:innen zeigen sich jetzt tief betroffen angesichts des Leids der Kriegsopfer in der Ukraine. Doch wie war das bei den Kriegen von NATO-Staaten wie in Jugoslawien, Afghanistan und dem Irak? Da haben die gleichen Parteien und Medien Kriegspropaganda betrieben und das Leid ihrer Opfer runtergespielt.
  • Plötzlich müsse man sofort hart gegen den russischen Staat vorgehen, um den Krieg in der Ukraine zu beenden. Aber kein Wort und keine Kritik bezüglich der Bomben, die der türkische Staat als NATO-Mitglied in den gleichen Tagen auf mehrheitlich kurdisch-besiedelte Gebiete in Rojava/Nordsyrien und Kurdistan-Nordirak wirft – stattdessen gibt es sogar freundschaftliche Social-Media-Posts. Und genauso wenig Kritik gibt es auch am saudischen Staat, der seit Jahren mit Waffen aus USA und Deutschland ausgerüstet die Bevölkerung des Jemens massakriert.
  • Als Azerbaidschan mit Hilfe des NATO-Mitglieds Türkei 2020 Armenien überfiel wurde das nicht nur nicht verurteilt, Politiker:innen aus CDU/CSU ließen sich für Kriegslobbyismus sogar von Azerbaidschan bezahlen.
  • Menschen, die jetzt vor dem Krieg aus der Ukraine flüchten, wird aktuell von Politik und großen Medien viel Aufmerksamkeit gegeben und Verständnis entgegengebracht – aber eben nur den passenden Flüchtenden. Diejenigen Menschen, die von Afrika über das Mittelmeer flüchten, sollen dort weiter ertrinken. Selbst an der Grenze Ukraine-EU müssen unzählige in der Kälte zu überleben versuchen, weil sie nicht dem Bild der Herrschenden der EU-Staaten entsprechen. Und auch Ukrainer:innen in Deutschland waren und sind der kapitalistischen Politik egal, solange sie nur überausgebeutete Arbeiter:innen sind, durch deren Arbeit deutsche Unternehmen Extraprofite erzielen können; als LKW-Fahrer, Pflegerinnen oder Reinigungskräfte. Es geht eben nicht um Schutz für Geflüchtete oder das Wohl von Ukrainer:innen – es geht darum, Notlagen von Menschen für imperialistische Propaganda auszunutzen.
  • Häufig hört man auch, dass man einem Diktator wie Putin härter hätte entgegentreten sollen und dass man mit Diktatoren eben nicht zusammenarbeiten dürfe. Aber das gilt natürlich nur, wenn der entsprechende Diktator ein Bösewicht ist, also nicht den NATO/EU-Block unterstützt. Im Februar noch war Außenministerin Baerbock in Ägypten. Dort herrscht eine brutale Militärdiktatur, unter der faktisch jede Opposition verboten ist und zehntausende politische Gefangene in den Knästen sitzen, in denen auch gefoltert wird. Aber mit Militärdiktator Sisi arbeitet der deutsche Staat gerne zusammen, weil der ägyptische Staat als Partner im internationalen Konkurrenzkampf des Imperialismus nützlich ist und den EU-Staaten außerdem lästige Geflüchtete vom Hals hält. Allein 2021 gab es aus Deutschland Waffen im Wert von 4,34 Mrd. Euro für die Diktatur.
  • Schließlich die 100-Mrd.-Euro-Aufrüstung: Sie macht eindeutig klar, dass die kapitalistischen Parteien die Bevölkerung all die Jahre angelogen haben, als sie sagten, menschenwürdige Pflege, mehr Rente oder bessere Bildung oder nur Luftfilter in Schulen während der Corona Pandemie könnten nicht finanziert werden.

Was soll man diesen Leuten noch glauben? Es ist offensichtlich, dass es ihnen nicht um das Wohl der Bevölkerung geht, sondern um die Interessen des Kapitals.

Die tatsächliche Friedensbewegung

Erfreulicherweise werden aktuell zunehmend linksorientierte Kundgebungen und Demonstrationen in Abgrenzung zu FDP/CDU/SPD/Grüne organisiert. Sie verurteilen den Angriffskrieg des russischen Staates, stellen sich aber auch gegen die massiven militärischen Aufrüstungspläne der Bundesregierung. Es beteiligen sich dort Gruppen mit durchaus unterschiedlichen Positionen und nicht alle sind antikapitalistisch. Aber hier kann sich eine Massenbewegung für den Frieden herausbilden, die vom deutschen Imperialismus unabhängig ist und den Eskalationskurs der Bundesregierung nicht mitgeht.

Es ist unsere Aufgabe als Linke, uns an dieser Bewegung zu beteiligen und deutlich zu machen, dass die Bevölkerung Deutschlands nicht zwischen russischem und NATO/EU-Imperialismus wählen muss. Denn diese Alternative ist falsch. Es gibt keinen friedlichen Imperialismus. Kein Imperialismus nutzt der Masse der Bevölkerung – weder in der Ukraine oder in Deutschland noch sonst wo. Stattdessen braucht es einen Kampf gegen die Herrschenden im eigenen Land und eine Befreiung vom Kapitalismus, um eine dauerhaft friedliche Welt zu ermöglichen.

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Der ukrainischer Präsident Wolodymyr Selenskyj ist Held der Stunde. Die deutschen Medien und ihr Publikum bewundern den smarten Ex-Komiker, der sich in schwerer Stunde als tapferer Staatsmann erwiesen hat. „Der melancholische Wolodimir Selenskij hat uns all die Jahre kaum interessiert. Nun sollten wir von ihm lernen“ schreibt die Süddeutsche Zeutung über den Politiker, der so auftritt als könnte man ihn „beim Elternabend treffen“.

Dabei wurde Selenskyj, der im Mai 2019 Präsident wurde, lange Zeit wenig ernstgenommen. Anfänglich galt er als eine Marionette des Oligarchen Ihor Kolomojskyj, der sich mit Selenskyjs Amtsvorgänger Petro Poroschenko überworfen hatte. Frisch gewählt erzwang Selenskyj im Juli 2019 die Neuwahl des Parlaments, die seine Partei „Sluha Naroda“ („Diener des Volkes“) mit 43,16 % haushoch gewann. Gegen die Macht der Oligarchen, gegen die er im Wahlkampf wetterte konnte er aber trotzdem wenig bewirken. Sobald es um Gesetze ging, die die Interessen von Kolomojskyj betrafen, wurden sie von unzähligen Änderungsanträgen fraktionsübergreifend torpediert. Gleichzeitig verlangte der IWF, von dessen Krediten die Ukraine abhängt, immer weitere „Strukturanpassungsmaßnahmen“, sprich eine neoliberlae Umgestaltung des Staatsapparates und immer mehr Maßnahmen gegen die Korruption. Der von der besagten Korruption durchtränkte Staatsapparat verweigerte sich jedoch dem Kampf. Mit großer Mühe setzte der Präsident eine Landreform durch, die es ausländischen Unternehmen erlaubte, Land in der Ukraine zu besitzen, was für Proteste inner- und außerhalb des Parlaments sorgte.

Verschiedene Ansätze, Reformen durchzuführen, wie etwa den georgischen Ex-Präsidenten und marktradikalen „Wunderreformer“ Michail Saakaschwili ins Land zu holen und ihn zum Vizepräsidenten zu ernennen, oder das Parlament durch die Stärkung des Präsidialamtes zu schwächen, glückten zunächst nicht. In nur zwei Jahren wurden vom Parlament drei Regierungschefs gewählt. In dieser Situation begann Selenskyj, ursprünglich als gemäßigte Alternative zur Poroschenko auftretend und sich auf die russischsprachige, wenn auch pro-westliche Wähler stützend, sich durch Unnachgiebigkeit gegenüber Russland zu profilieren. Auch das führte zunächst zu wenig politischem Erfolg, weil die westlichen Partner, allen voran die aus der EU, eher zu Mäßigung drängten und die Wiedereroberung der Krim und vom Donbass scheinbar für wenig realistisch hielten. Deutschland und Frankreich verweigerten die von Selenskyj erhoffte Revision der Minsker Abkommen, während die rechte Opposition um Poroschenko ihm deswegen Verrat und Schwäche vorwarfen.

Die Corona-Pandemie brachte das Land in eine noch desolatere Lage. Die Ukraine schien zu einem failed state zu werden und als solchen betrachteten die Kontrahenten aus Moskau sie anscheinend bei Kriegsantritt. Da Selenskij einerseits seine Wahlversprechen kaum erfüllen konnte, andererseits an der Wiedergewinnung der 2014 verlorenen Gebiete festhielt, wirkte er von Moskau aus gesehen wie ein schwacher Präsident, der reichlich provozierte. Dass Selenskyj durch seine Mediengesetzgebung der russlandfreundlichen „Oppositionsplattform – Für das Leben“ (OP) um den Oligarchen Wiktor Medwedtschuk ihrer wichtige Ressourcen beraubte und anschließlich Medwedtschuk selber verhaften ließ, machte für Russland deutlich, dass die Chancen, einen Kurswechsel parlamentarisch herbeizuführen immer weiter in die Ferne rückten. Die fleißige Umrüstung der ukrainischen Armee – die Ukraine hat für die Armee mehr ausgegeben, als jedes andere postsowjetische Land außer Russland –, samt der Rhetorik, die keinen daran Zweifel ließ, dass Ukraine die Revision der Ergebnisse des Krieges von 2014 anstrebte, wurden von der russischen Propaganda dankbar aufgegriffen. Noch kurz vor dem Krieg sprach Selenskyj von der prinzipiellen Möglichkeit die Produktion von den Atomwaffen in der Ukraine zu starten.

Selenskiyj wirkte wie ein Politiker mit schwindendem Rückhalt. Doch wie sich kurz nach dem russischen Einmarsch zeigte, basierten die Pläne Moskaus auf einer eklatanten Fehleinschätzen des ukrainischen Nationalismus. Die Erwartung, weite Teile der Bevölkerung würden sich gegenüber dem Staat – dessen Unabhängigkeit bei der Gründung ein umstrittenes Projekt war – und nationalistscher Mobilisierung indifferent Verhalten, wurde durch einen beachtlichen „Wehrwillen“ karikiert. Entgegen Hoffnungen der Macher des im offiziellen Sprachgebrauch „Spezialoperation“ genannten Krieges, kündigte die russischsprachige Bevölkerung nicht massenweise dem ukrainischen Staat die Loyalität. Selenskyj wurde auch weder von Militärs, noch von rechten „Falken“ entmachtet, sondern wurde auf einmal parteiübergreifend als Führer der Nation in der Stunde der Not akzeptiert. Die Strategien, die darauf zielten, ihn Anhand seines früheren Berufes als Clown, Anhand seiner Herkunft als Jude oder anhand des in seinem Amt kaum vermeidbaren Umgangs mit den radikalen Nationalisten als Nazi in Augen der ukrainischen Öffentlichkeit zu diskreditieren, bringen nicht den gewünschten Effekt.

Die russische Führung und mit ihr loyale Medien teilen die Sicht, dass in der Ukraine die Würdigung der historischen Rolle der ukrainisch-faschistischen „Organisation der Ukrainischen Nationalisten“ (OUN) beim Kampf um den ukrainischen Nationalstaat zur kompletten Übernahme deren Programm führt. Freilich hat Ukraine eine blühende rechtsradikale Szene, deren bescheidene Erfolge bei den Wahlen in keinem Verhältnis zu ihrer Präsenz auf der Straße und an der Donbassfront stehen. Obwohl sich die ukrainischen Rechtsradikalen immer wieder an der jüdischen Herkunft von Selenskyj und Kolomojskyj, der armenischen Herkunft von Ex-Regierungschefin Julia Timoschenko und Ex-Innenminister Arsen Awakow, sowie der tatarischen des Oligarchen Renat Achmetow stören, steht die Vaterlandsverteidiung auf der Prioritätenliste ganz oben. Zudem sind einige OUN-Nostalgiker durchaus bereit, die jüdische Bevölkerung in die Nation einzugemeinden. Das aber nur solange sie loyal zur Ukraine sind und der Geschichtsversion, bei der die Beteiligung von Ukrainern an der Shoa schlicht geleugnet wird, nicht allzu laut widersprechen.

Die unerwartete Bereitschaft der ukrainischen Staatsbürger:innen, sich partei- und klassenübergreifend dem nationalen Konsens anzuschließen und die Staatlichkeit der Ukraine zu verteidigen, wird von den westlichen Verbündeten gewürdigt. Die Ukraine ist nicht Afghanistan, wo Armee und Bevölkerung nicht bereit sind sich für den Staat zu opfern. Es lohnt sich, Waffen dort hin zu schicken und die Kosten für Kriegsführung gegen zahlenmäßig überlegenen Feind zu übernehmen, jubeln die westlichen Medien. Selenskyjs Entscheidung wahllos Schusswaffen an die Zivilist:innen zu verteilen, würde woanders als Ende des staatlichen Gewaltmonopols gewertet, in diesem Fall rührt es die westliche Öffentlichkeit zu Tränen. Die Ukrainer:innen sind doch ein richtiges Volk, weil sie bereit sind einen Krieg für den eigenen Staat zu führen, trotz aller sonstigen Interessenkonflikte. Während in der Ukraine die versprengten Linken sich über besonderes eifrige Landesverteidigung zu profilieren versuchen, kommen die Kräfte, die auf die Russland gehofft haben im Unterschied zu 2014 gar nicht zum Vorschein. Diejenigen, denen an der Unabhängigkeit der Ukraine wenig gelegen ist, sind von der Öffentlichkeit endgültig ausgeschlossen. Putin meinte zwar, Lenin habe die Ukraine geschaffen, aber den entscheidenden Beitrag zur Schaffung eines ukrainischen Nationalbewusstseins scheint er gerade selber mit der „Spezialoperation“ zur Ordnung der politischen Verhältnisse geschaffen zu haben.

# Titelbild: sowjetisches Antikriegsplakat

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Es ist Krieg in Europa. Zwar nicht, wie man derzeit viel hört, der erste seit 1945, denn der war in Jugoslawien. Aber zumindest der erste, bei dem Deutschland nicht auf Seite der angreifenden Armee mitspielt. Dementsprechend aufgewühlt ist die öffentliche Stimmung und dementsprechend ungern gesehen sind Misstöne, die das Narrativ der deutschen Nation stören. „Wir“ sind endlich auf der richtigen Seite und das soll uns jetzt auch kein Nestbeschmutzer madig machen.

Was also sagen Linke zum Krieg?

„Die größten Verlierer des Krieges sind die Arbeiter, die Armen, die Frauen und die Jugend“, heißt es in einer Stellungnahme mehrerer sozialistischer Parteien aus der Türkei und Nordkurdistan. Die Völker müssen sich nicht zwischen der NATO auf der einen und Russland auf der anderen Seite entscheiden. Vielmehr stehe man auf der Seite der Menschen überall auf der Welt, die sich gegen den Krieg wehren. „Alle Nationalitäten, Arbeiter und Werktätigen unseres Landes müssen sich gegen Krieg, Militarismus und Chauvinismus vereinen.“

In eine ähnliche Kerbe schlägt die Stellungnahme der Kommunistischen Partei Griechenlands: „Die Antwort aus der Sicht der Interessen unseres Volkes liegt nicht darin, sich dem einen oder anderen imperialistischen Pol anzuschließen. Das Dilemma ist nicht USA – Russland oder NATO – Russland. Der Kampf der Arbeiterklasse und des Volkes muss sich einen eigenständigen Weg bahnen, fern von allen bürgerlichen und imperialistischen Plänen.“

Diese Position – so oder so ähnlich formuliert von sehr vielen anarchistischen, sozialistischen und kommunistischen Gruppen weltweit – klingt auf den ersten Blick nachvollziehbar, vernünftig und massentauglich. Wer will schon sein Leben für die jeweilige herrschende Klasse in die Wagschale werfen? Wer, der noch halbwegs bei Verstand ist, würde für die russischen, deutschen, US-amerikanischen oder ukrainischen Eliten andere einfache Leute anderer Nationalitäten umbringen und sich im Vollzug dieses Verbrechens töten lassen?

Nun braucht aber jeder Krieg das schlachtwillige Fußvolk und die richtige ideologische Vorbereitung der Bevölkerung, an deren Widerwillen er sonst scheitern könnte. „Der Krieg ist ein methodisches, organisiertes, riesenhaftes Morden. Zum systematischen Morden muss aber bei normal veranlagten Menschen erst der entsprechende Rausch erzeugt werden. Dies ist seit jeher die wohlbegründete Methode der Kriegführenden“, schrieb Rosa Luxemburg. Jede Nation muss ihren Anhängern mitteilen, warum sie für sie im Zweifelsfall sterben sollen. Und so muss die einfache, vernünftige Position diffamiert werden als Verrat am Vaterland, an der Freiheit oder am Menschenleben. Und es muss ein Mythos hegemonial gemacht werden, der die Untertanen zu Heldentaten anspornt.

Der heilige Verteidigungskrieg

Eines der zentralen Elemente dieser Erzählung ist, dass von jeher der Gegner derjenige ist, der angreift. Die Barbarei des Krieges ist so augenfällig, dass sogar die reaktionärsten Regime ihn als letztes Mittel zur Verteidigung verklären müssen.

Als Deutschland in den ersten Weltkrieg zog, betonte Wilhelm der II., es sei Verdienst seiner Regierung gewesen, so lange den Frieden gewahrt zu haben. „Fast ein halbes Jahrhundert lang konnten wir auf dem Weg des Friedens verharren. Versuche, Deutschland kriegerische Neigungen anzudichten und seine Stellung in der Welt einzuengen, haben unseres Volkes Geduld oft auf harte Proben gestellt“, eröffnete er die berühmte Thronrede vom 4. August 1914. Man habe bis zu letzt das „Äußerste“ abwenden wollen, aber nun: „In aufgedrungener Notwehr mit reinem Gewissen und reiner Hand ergreifen wir das Schwert.“

Hitler hielt unmittelbar nach der Machtübergabe an die deutschen Faschisten eine viel beachtete Friedensrede und wenige Jahre später wurde „zurückgeschossen“. Lyndon B. Johnson erklärte zum Vietnamkrieg, dass die USA dort Krieg gegen eine „kraftvolle Aggression“ des „kommunistischen Expansionismus“ führten. Und Harry S. Truman führte die amerikanischen Truppen in den Koreakrieg, um die „Aggression“ der Kommunisten einzudämmen und „den internationalen Frieden und die Sicherheit“ zu bewahren.

Auch Putin muss seiner eigenen Bevölkerung den Einmarsch in der Ukraine als defensiven Akt verkaufen. In ausschweifenden Reden erklärt er den präventiven Charakter seines Einmarsches in der Ukraine. Das zentrale Motiv seiner Rechtfertigungen sind „diese fundamentalen Bedrohungen, die Jahr für Jahr, Schritt für Schritt grob und ungeniert von unverantwortlichen Politikern im Westen gegen unser Land gerichtet werden. Ich meine damit die Ausdehnung des Nato-Blocks nach Osten, die Annäherung seiner militärischen Infrastruktur an die Grenze Russlands“, so der russische Autokrat in seiner Kriegserklärung vom 24. Februar.

Putins Medien und seine Think-Tanks ergießen dieses Narrativ in die russische Öffentlichkeit, so wie die unserer Herren das ihre in unsere. Es sind keine schrägen AfD-Komiker, die in Russland diese Erzählung vorantreiben, es ist der dortige Mainstream. Die „konstruktive Destruktion“ sei die neue außenpolitische Doktrin Putins, schreibt ein mit vielen Titeln behangener Professor auf RT. Diese aber sei „nicht aggressiv“. Russland „wird niemanden angreifen oder in die Luft jagen“, doziert er an dem Tag, an dem Russland angreift und in die Luft jagt. Denn: „Mit einer großen Ausnahme. Die Expansion der NATO und der formale oder informelle Einschluss der Ukraine [in das System der NATO] stellt ein Risiko für die Sicherheit des Landes dar, das Moskau einfach nicht akzeptieren kann.“

Nun ist es keine allzu schwere kognitive Leistung aus der historischen Distanz die Propaganda Kaiser Wilhelms oder aus der geographischen Distanz die Wladimir Putins zu entlarven. Aber wie steht es mit der aktuellen „eigenen“?

Kriegsvorbereitung als Friedenssicherung

Die Stimmung in Teilen der deutschen Bevölkerung ist seit dem Einmarsch Russlands gekippt. Noch unmittelbar vor Putins Invasion sprach sich eine Mehrheit in Umfragen gegen Waffenlieferungen in die Ukraine aus – jetzt ist man dafür. Auch das gigantische 100-Milliarden-Paket für die Aufrüstung der Bundeswehr scheint, glaubt man den Umfragen, auf Zustimmung zu stoßen.

Die Ideologie hinter diesem Gesinnungswandel kommt aus den Schreibstuben der Bundesregierung und wird durch die stets heimattreuen Medien in unterschiedliche Nuancen verpackt in die letzten Winkel der Republik gedrückt. Man kann sich die Dosis westliche Selbstvergewisserung ungefiltert als Trommelwirbel bei Springer oder mit eher antipatriarchalen Nuancen bei der taz abholen, am Ende bleibt die selbe Story übrig.

Das zugrunde liegende Geschichtsbild gibt Olaf Scholz vor: „Es gibt kein Zurück in die Zeit des 19. Jahrhunderts, als Großmächte über die Köpfe kleinerer Staaten hinweg entschieden. Es gibt kein Zurück in die Zeit des Kalten Krieges, als Supermächte die Welt unter sich aufteilten in Einflusszonen“, erklärte der Bundeskanzler zu Beginn des Krieges dem nach Orientierung dürstenden Publikum. Der Westen hat Werte – Solidarität, Demokratie, Freiheit -, der Feind will Einflusssphären.

Diese Geschichtsphilosophie besagt: Es gibt eine internationale Friedens- und Rechtsordnung, die durch den Westen garantiert wird und die auf Gleichheit, Unabhängigkeit, Souveränität fußt. Der russische Feind ist angetreten, um uns alle, die wir glücklich in diesem Schlaraffenland leben, zu drangsalieren und da wir keine andere Wahl haben, müssen nun auch wir reinen Gewissens zu den Waffen greifen, um uns zu verteidigen. Wobei wir zunächst einmal, denn der Feind hat Atomwaffen, nur zu den Waffen greifen, um sie an die wahren Verteidiger Europas zu verschicken, die Ukrainer. Was später kommt, wird die Zeit zeigen.

„Abschreckung“ ist das Gebot der Stunde. Und „Abschreckung“ bedeutet Aufrüstung. Wer diese nicht will, ist entweder Egoist oder gleich Vaterlandsverräter – vulgo: Putin-Troll. Die Vorbereitung auf die Verteidigung des Vaterlandes muss alle Bereiche der Gesellschaft einbeziehen. Die eben noch als unmittelbar zu vollziehende „Energiewende“ weicht der Notwendigkeit Anlande-Terminals für US-amerikanischen Fracking-Gas zu bauen, denn ohne das Freedom-Gas aus den USA hätte uns der Russe im Kriegsfall im Würgegriff. Die Rückwirkungen der Sanktionen auf die von Inflation und Lohnstagnation gebeutelte Durchschnittsbevölkerung muss euphorisch als „Preis der Freiheit“ in Kauf genommen werden. Noch die letzten Putin-Versteher müssen aus dem Kunst-, Kultur- und Medienbetrieb entfernt werden. Supermärkte listen russische Produkte aus, Restaurants erklären, keine Russen mehr beherbergen zu wollen.

Wer sich dagegen sperrt, wird aus der nationalen Gemeinschaft ausgestoßen. Denn schließlich dient all das der Friedenssicherung und wer gegen Friedenssicherung ist, ist logischer Weise für Krieg und in diesem Fall sogar für einen Krieg, der vom geopolitischen Feind angezettelt wurde. Aber ist dem so?

Imperialistische Konkurrenz

Nicht, wenn man die zwar mit viel Begeisterung vorgetragene, aber keiner auch nur oberflächlichen Betrachtung standhaltende Selbstverklärung des Westens in Frage stellt. Die Welt ist in keinem post-imperialistischen Zustand internationaler Freundschaft, der allein von Schurkenstaaten in Frage gestellt würde. Sie ist immer noch bestimmt durch Konflikte kapitalistischer Nationen, die bisweilen mit den Mitteln der Ökonomie und des Handels, bisweilen durch Verträge und Diplomatie, bisweilen durch Entwicklungshilfe und gelegentlich, aber immer häufiger eben militärisch ausgetragen wird.

Die USA, zusammen mit denjenigen, die in ihrer Führung die sicherste Art der Aufrechterhaltung des eigenen Geschäftsmodells sehen, sind dabei bemüht ihre ererbte Vormachtstellung auf dem globalen Parkett zu erhalten. Andere, allen voran China und Russland, sehen in der seit langem schwelenden Schwächung des US-Imperialismus die Gelegenheit zur eigenen Erweiterung der Einflusszonen. Im Zuge dieses Ringens hat der „Westen“ in den vergangenen Jahrzehnten zahlreiche „souveräne Nationen“ überfallen, Coups unterstützt, Wirtschaftssanktionen gegen sie eingesetzt, um sie gefügig zu machen. Alleine im Fall des Irak mit über einer Million Toten. In Afghanistan waren es über die Jahre ein paar hunderttausend, im Jemen über eine Viertel Million.

Und der russische – eher „lokal“ handlungsfähige – Gegenspieler versuchte sich an der Niederschlagung ihm gefährlicher „Demokratiebewegungen“ in der direkten Umgebung – zuletzt in Kasachstan – oder an der Erhaltung des ihm treu ergebenen Assad-Regimes in Syrien. Gerade in Syrien versuchte sich Russland zugleich an einer anderen Strategie, die mit dem jetzigen Krieg ihr vorläufiges Ende gefunden hat: Der Einbindung der die Süd-Flanke der NATO bildenden Türkei in die eigene imperiale Machtpolitik.

Für Erdogan wie für Putin galt – und das wurde in Syrien durchexerziert -, dass die Hegemonialmacht USA „Freiräume“ gelassen hatte für eigenständige Ambitionen. Die Player mit eher regionaler Strahlkraft versuchten, diese auszuschöpfen. Nicht nur in Syrien, auch an anderen Konfliktherden – Libyen, Armenienkrieg – wurde die eigenständige Gestaltungsmacht der Gegenspieler des US-Imperialismus graduell größer.

Anders allerdings in Osteuropa. Dort blieb der russische Versuch, sich beanspruchte Gebiete zumindest als Vasallenstaaten zu erhalten, in der Defensive. Die NATO-Osterweiterung ist selbstverständlich gegen Russland (und in the long run China) gerichtet, wer das jetzt aus irgendeiner Halluzination heraus bestreitet, muss nur die eigenen Strategiepapiere der NATO lesen. Wozu sonst sollte sie überhaupt existieren?

Die Ukraine hatte dabei von jeher eine besondere Bedeutung und das Ringen um ihre Ost- bzw. Westbindung begleitet sie seit dem Ersten Weltkrieg. Die Vorgeschichte des nun begonnenen Angriffskriegs liegt in der Maidan-Revolution, in deren Zuge die von Moskau abhängige korrupte Figur Janukowitsch durch eine Reihe von ihr Heil im Westen suchenden Machthabern abgelöst wurde.

Putin machte rasch klar, wie die Reaktion Russlands aussehen würde: Unterstützung des bewaffneten Aufstands im Osten der Ukraine, Annexion der Krim. Der Westen machte rasch klar, wie seine Antwort aussehen würde: Verstärkung der Westbindung, Beitrittsperspektive zu EU und NATO, Waffenlieferungen, Ausbildungsmissionen, Wirtschaftskooperationen, Handelsverträge, gemeinsame Militärübungen. Beide Blöcke zerrten an der Ukraine – das als „Selbstbestimmung“ zu verklären, egal von welcher Seite, verkennt alle machtpolitischen Dynamiken. Dann kam der russische Angriffskrieg.

Die meisten Beobachter hätten die Anerkennung der „Volksrepubliken“ noch als strategisch motivierten Schritt vorhergesagt, aber den jetzigen vollständigen Einmarsch in die Ukraine wohl, wie Left-Review-Redakteur Tony Woods in einem Interview attestiert, nicht. „Die russische Entscheidung zum Einmarsch hat mich überrascht und eine Menge an Russland-Analysten versuchen derzeit irgendwie, ihre Ansichten des Putin-Regimes zu reinterpretieren. Ich hatte in den vergangenen zwanzig Jahren viel Kritik an dem Putin-Regime, aber ich dachte nicht, dass es auf fundamentale Art und Weise irrational sei. Kriminell, ja. Aggressiv, ja. Alle Arten anderer Dinge, auf jeden Fall. Aber fundamental irrational, nein. Doch diese Invasion erscheint mir auf fundamentale Art und Weise irrational.“

Man kann daran einiges richtiges finden. Denn nicht aus einer externen Draufsicht, sondern selbst aus der Sicht der in Russland herrschenden Klasse dürfte dieser Einmarsch kaum die gewünschten Resultate zeitigen. Abgesehen von den Schäden an der russischen Ökonomie, hat er zu einem immensen Schulterschluss innerhalb der NATO geführt. Weit davon entfernt, irgendeine Perspektive auf die Installation eines nachhaltig bestehenden Vasallenregimes in der Ukraine zu haben, stärkt er zudem die Westbindung weiterer Nationen, etwa Finnlands. Eine Exitstrategie gibt es nicht.

Zu erwarten ist vielmehr, dass andere, „abgekühlte“ Konfliktherde neue Fahrt aufnehmen. In Syrien wird die zumindest die Türkei versuchen, das fragile Gleichgewicht zu revidieren und sich erhoffen können, von den USA für ihre Bündnistreue mit neuen Zugeständnissen gegenüber den Kurden bedacht zu werden. Andere Konflikte im Osten warten auf Belebung: Georgien, Armenien/Aserbaidschan, Taiwan.

Was wir zu erwarten haben, ist eine Zeit der Militarisierung der zwischenimperialistischen Konflikte – und damit eine Intensivierung jener Propaganda, die es braucht, um die Bevölkerung auf Linie zu bringen. Das wäre in Zeiten einer massenfähigen Arbeiterbewegung schwieriger gewesen, heute ist es eine Leichtigkeit. Aber was können wir unter solchen Voraussetzungen als Linke noch tun?

Eine Bewegung gegen den Krieg aufbauen

Es mag nach nichts klingen, aber die erste Aufgabe ist, sich von der Propaganda nicht irre machen zu lassen. Man steht mit einer konsequent antiimperialistischen Position zwischen dem – zwar marginalisierten, aber in der Linken noch vorhandenen – Block von Anhängern der russischen Invasion und dem mit großer Übermacht in die Debatte drückenden Block von pro-westlichen Imperialismusfans.

Die linke, antimilitaristische (nicht zu verwechseln mit einer pazifistischen) Position ist marginalisiert, aber sie bleibt nichtsdestoweniger die einzige, die Bestand haben kann: No war but class war. Dieser Krieg, genauso wie irgendeinanderer der imperialistischen Mächte, ist nicht unser Krieg, es ist kein Krieg für Befreiung und Sozialismus, sondern einer, in den Menschen für die jeweiligen Interessen kapitalistischer Nationen geschickt werden, um andere zu töten, die von der gegnerischen Nation geschickt werden.

Es sind die einfachen Forderungen, die wir in den Mittelpunkt der Öffentlichkeitsarbeit stellen müssen: Das nationale „Wir“ ist nicht unser „Wir“, sondern das der Herrschenden. „Wir“ haben kein Interesse an Krieg und wir haben an ihm nichts zu gewinnen, so wenig wie das russische oder ukrainische Proletariat. Keine Aufrüstung, keine Zustimmung zu den Maßnahmen der Kriegsvorbereitung – auch wenn sie noch so „defensiv“ daherkommen. Kein Einstimmen in die Kriegsgesänge, den Nationalismus und die Glorifizierung des „heiligen Verteidigungskriegs“. Zusammenschluss aller gegen den Krieg gerichteten progressiven Kräfte.

Die Losung, die eine Linke popularisieren muss, ist die der Revolution. Es gibt keine „Friedensordnung“ im Kapitalismus, die mehr wäre als ein temporäres Kräftegleichgewicht, das im Krieg untergeht, sobald einer der konkurrierenden Mächte die Zeit günstig erscheint.

Diese Losung steht zwar jederzeit in der Gefahr, von den „Pragmatikern“ des „kleineren Übels“ als Utopismus verlacht zu werden, die Wahrheit ist aber, dass wir in allen Belangen sehen, dass diese „Pragmatiker“ nicht in der Lage sind, irgendeine der Krisen zu bewältigen, vor denen die Menschheit steht: Nicht die der Zerstörung aller natürlichen Lebensgrundlagen und nicht die der drohenden Gefahr eines überregionalen Krieges mit im schlimmsten Fall Atomwaffen. Dass das so ist, ist nicht die Schuld der als „Utopisten“ verschrieenen Revolutionär:innen, sondern gerade der „Pragmatiker“, die stets ein System fortführen, das Ausbeutung, Unterdrückung und Krieg braucht.

Nicht, wer den Umsturz der Verhältnisse organisieren will, verabschiedet sich von der realistischen Lösung der Probleme. Sondern wer in den Trippelschritten des Pragmatismus Mal um Mal mit den Elendsverwaltern des Kapitalismus im Gleichschritt der Alternativlosigkeit in den Abgrund mitläuft.

In dieser Situation können wir als Sozialist:innen und Kommunist:innen nichts anderes tun, als uns in die Tradition stellen, in der wir eben stehen. Als 1914 das deutsche Reich in den heiligen Verteilungsweltkrieg zog, jubelten die Sozialdemokraten mit, das ganze deutsche Volk war in einer hysterischen Kriegsbegeisterung. Jeder Schuss ein Russ, jeder Stoß ein Franzos. Die Losung „Proletarier aller Länder vereinigt euch“ wurde, so schrieb Rosa Luxemburg, zur Losung: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch im Frieden, und schneidet euch die Gurgeln ab im Kriege.“

Es waren international zunächst sehr wenige Sozialist:innen, die der antimilitaristischen Überzeugung der Arbeiterbewegung treu blieben. Sie hatten Kerker und Ächtung zu befürchten, doch sie blieben ihren Überzeugungen treu. In der Zimmerwalder Konferenz taten sie sich über alle nationalen Grenzen hinweg zusammen und sagten ihren Völkern: „Die Kapitalisten aller Länder, die aus dem vergossenen Blut des Volkes das rote Gold der Kriegsprofite münzen, behaupten, der Krieg diene der Verteidigung des Vaterlandes, der Demokratie, der Befreiung unterdrückter Völker. Sie lügen. In Tat und Wahrheit begraben sie auf den Stätten der Verwüstung die Freiheit des eigenen Volkes mitsamt der Unabhängigkeit anderer Nationen.“

Und sie schlossen das Manifest mit dem Aufruf: „Arbeiter und Arbeiterinnen! Mütter und Väter! Witwen und Waisen! Verwundete und Verkrüppelte! Euch allen, die ihr vom Kriege und durch den Krieg leidet, rufen wir zu: Über die Grenzen, über die dampfenden Schlachtfelder, über die zerstörten Städte und Dörfer hinweg, Proletarier aller Länder vereinigt euch!“

Es dauerte Jahre, bis dieser Schlachtruf erhört wurde und es brauchte die mit Leichen gefüllten Gräberfelder Verduns, um den Hurrapatriotismus aus jenen Hirnen zu spülen, durch die noch keine Kugel geflogen war. Tun wir alles, dass es dieses Mal ohne diesen Erkenntnisprozess geht.

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Der bekannteste russische Oppositioneller, Alexei Nawalny meldet sich aus der Gefängnis zum Einmarsch in die Ukraine und wärmt dafür eine Theorie auf, die auch unter Linken beliebt ist. Der Krieg sei doch nur eine Ablenkung von den anderen, „wirklichen“ Problemen:

…Putin geht es um eine Sache: Die Aufmerksamkeit von den wirklichen Problemen der Russen abzulenken: die Entwicklung der Wirtschaft, höhere Preise, regierende Rechtlosigkeit. Die Aufmerksamkeit wird stattdessen auf imperialistische Hysterie gelenkt.

Wann haben Sie das letzte Mal Nachrichten im staatlichen Fernsehen geschaut? Ich schaue derzeit nur das, und ich kann Ihnen versichern: Es gibt da keine Nachrichten aus Russland. Es geht nur um die Ukraine, die USA, Europa. Reine Propaganda reicht den senilen Gaunern nicht mehr. Sie wollen Blut. Sie wollen ihre Panzerfiguren über eine Landkarte der Feindseligkeiten fahren lassen.

Dass die russische Propaganda ständig das Bild des krisengeplagten Auslands als Kontrast zum von Erfolg zu Erfolg eilenden eigenen Land bemüht, mag zwar eine richtige Beobachtung sein, aber als Erklärung, warum Russland trotz aller bisherigen Bekundungen doch die Ukraine attackiert taugt es nicht. Dass der Krieg nicht nur Verluste, sondern auch eine ganze Reihe von neuen ökonomischen Problemen mit sich bringt, ist nicht nur der Regierung bewusst, sondern entgeht auch der Bevölkerung nicht. Es ist aber auch nicht so, dass Russland kurz vor Massenprotesten steht und nur noch ein „splendid little war“ den Kreml retten könnte.

Die stetige Osterweiterung der NATO und der EU, die die russische Führung immer wieder vorbringt, sind durchaus real. Russland ist seit über 30 Jahren ein kapitalistisches Land das in der ökonomischen Konkurrenz mit den Siegern des „Kalten Krieges“ nicht gut da steht. Die Teilnahme Russlands am Weltmarkt ist von den führenden westlichen Mächten erwünscht, russischer Erfolg dort jedoch nicht. Im ökonomischen Wettbewerb unterlegen, hat Russland aber noch ein gewaltiges Militärpotenzial, das es gerade dafür einsetzt, denjenigen Staaten, die die Rahmenbedingungen diktieren wollen, Grenzen zu setzen.

Putin teilte in seiner Rede auch unverhohlen mit, dass er nicht warten möchte, bis der Westen die Ukraine weiter als Frontstaat aufrüstet. Später wären die Kosten noch höher, so sein keineswegs geheimes Kalkül. Seine westliche Amtskollegen sagen der Bevölkerung der Ukraine auch klipp und klar, dass es so einiges kosten wird, der russischen Staatsraison Grenzen aufzuzeigen. Den Aufstieg einer Weltmacht zu verhindern, die ökonomisch gar keine ist, aber sich militärisch den Status nimmt , ist innerhalb imperialistischer Konkurrenz der einzig logische Schritt für die USA und ihre europäischen Noch-Verbündeten und zugleich Konkurrenten.

Die „imperialistische Hysterie“ die Nawalny anprangert ist nur eine Folge von dieser imperialistische Konkurrenz, gegen die er als Liberaler eigentlich nichts einzuwenden hat und die er meint mit rein ökonomischen Mitteln gewinnen zu können – so zumindest sein Programm aus der Zeit als er sich noch für‘s Präsidentenamt bewerben wollte, um selber das gleiche Spiel zu spielen.

# Titelbild: Sowjetisches Antikriegsplakat

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„Putin ist verrückt“ oder „machthungrig“ sind gängige Erklärungen für den Überfall Russlands auf die Ukraine. Alexander Amethystow darüber, warum der Krieg kein Betriebsunfall einer ansonsten normal funktionierenden Weltpolitik ist, sondern die Konsequenz imperialistischer Konkurrenz.

Unfassbar: kapitalistische Staatsinteressen führen tatsächlich zum Krieg, wer hätte es gedacht!

Die Welt ist entsetzt: Das größte Land der Welt zieht gegen das zweitgrößte Land Europas in den Krieg! Die Ukraine, die in den letzten Jahren stets beteuert hatte, williger Verbündeter des Westens zu sein, wird von Russland überfallen und erhält vom Westen keine Unterstützung mit Truppen. Einen vollwertiger Krieg mit der Atommacht Russland ist die Ukraine denjenigen, die sie zu einem Frontstaat aufbauten doch nicht wert.

Seit das postsowjetische Russland beschloss als kapitalistischer Staat in der weltweiten Konkurrenz seinen Erfolg zu suchen, pocht es darauf, als eine Weltmacht ernstgenommen zu werden. Doch die wirtschaftlichen „Erfolge“ reichen dafür offensichtlich nicht. Russland fungiert vor allem als Rohstofflieferant für den Westen. Konkurrenten und Geschäftspartner werden vor allem mit militärischem Potenzial zur Rücksichtnahme auf die eigenen Interessen gezwungen und genau dieses Potenzial versucht die NATO systematisch auszuhebeln. Angesichts der dauerhaften Bemühungen der EU von den russischen Energielieferungen unabhängig zu werden, wird es verständlich, warum die Führung Russlands um den Status ihres Staates in der imperialistischen Konkurrenz so besorgt ist.

Es liegt also nicht daran, dass Putin „verrückt“, „machtbesessen“ oder „Macker“ oder „Gladiator“ ist. Nein, es ist kein Betriebsunfall der Weltpolitik. Und auch die Debatte, welche Interessen Russlands „legitim“ seien, führt nirgendwo hin. Russland möchte Weltmacht sein, die anderen Weltmächte sind der Meinung es braucht keine weitere. Die westlichen Weltmächte stellen Spielregeln auf, Russland möchte Souveränität beweisen, indem es sich nicht einhegen lässt. Einen „Regime change“ in eigenem Interesse durchzusetzen, ist für Moskau der ultimative Beweis dafür, eine souveräne Weltmacht zu sein. Souverän ist, wer über die Souveränität der anderen entscheidet. Dass ist die Lehre, die Putin und Co. aus Jugoslawien, dem Irak, Libyen usw. gezogen haben.

Wer eine Großmacht sein will, darf die Verletzung seiner Interessen nicht hinnehmen. Das wiederholt Putin ständig und verweist auf die Schicksale der Länder, die keine Großmächte sind. Die Russische Führung sieht sämtliche ihrer Ansprüche in Osteuropa übergangen und betrachtet die vollendeten Tatsachen, vor die sie von der EU und der NATO gestellt werden, als die Aberkennung der Bedeutung Russlands in der Staatenkonkurrenz. Daher nimmt Russland sich das Recht, seinerseits Fakten zu schaffen.

Der Kreml inszeniert den Einmarsch ganz im Stil seiner westlichen Kontrahenten als eine humanitäre Aktion. Schon im Vorfeld wurde seitens Russland angekündigt: Wenn die ukrainische Regierung ihr Gewaltmonopol über die abtrünnigen Regionen wiederherstellen möchte, sei das ein Kriegsgrund! Entweder muss der ukrainische Staat faktisch zugeben, kein Souverän über sein eigenes Gebiet mehr zu sein, oder seitens Russlands das erleben, was Jugoslawien und Libyen seitens des freien Westens erlebt haben. Denn ein Kampf gegen bewaffnete Insurgenten auf eigenem Gebiet galt im Fall von Gaddafi als „ein Krieg gegen das eigene Volk“. Da kein Staat die Infragestellung des eigenen Gewaltmonopols in Kauf nehmen kann, käme es für die Ukraine dem Verlust der eigenen Souveränität gleich ein solches Diktat anzunehmen.

Russland weiß aus der Erfahrung zweier Tschetschenienkriege, dass in der nationalstaatlichen Logik abtrünnige Gebiete dann als feindliches Gebiet behandelt werden müssen, mit entsprechender Behandlung der Zivilbevölkerung. Bei den ukrainischen Versuchen, die eigenen Souveränität qua Ausnahmezustand durchzusetzen, werden – wie es in NATO-Jargon heißt – „Kollateralschäden“ entstehen, sprich Häuser und Infrastruktur zerstört, Zivilisten verletzt und getötet werden, was Russland „Genozid“ nennt. Das ist ein nicht zu überbietender Vorwurf und seit dem Jugoslawienkrieg ultimative Rechtfertigung für sofortiges Ein – und Angreifen.

Russland hat bereits angekündigt, die „Schuldigen“, sprich ukrainische Politiker und (Para)Militärs zur „Verantwortung zu ziehen“. Natürlich im Namen der Menschenrechte, die Russland einfach durchzusetzen hilft. Mit dieser Argumentation ist Putin nicht etwa bei Stalin oder Iwan dem Schrecklichen – wie man gerade allerorten lesen kann – sondern bei den westlichen Führungsmächten in die Lehre gegangen.

# Titelbild: Nein zum Krieg, sowjetisches Antikriegsposter

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Kasachstan, das zweitgrößte postsowjetische Land, die stärkste Wirtschaftsmacht in Zentralasien, ist zu Jahresbeginn in die Schlagzeilen der Medien weltweit geraten. Auf die Erhöhung der bisher subventionierten Flüssiggaspreise zum Jahreswechsel reagierten prekäre Teile der Bevölkerung zunächst mit Protesten, die in Straßenblockaden und Streiks übergingen. In einigen Regionen wurden Rohstoffförderung und Metallverarbeitungsindustrie bestreikt, von den Arbeitsniederlegungen waren auch Teile des Transportwesens gelähmt. Verbündete Staaten intervenierten und nach härtester staatlicher Repression hat die Regierung das Land inzwischen wieder unter seine Kontrolle gebracht.

Nachdem der Präsident Qassym-Schomart Toqajew (Tokajew) bereits nach vier Tagen die Preiserhöhung in den von den Protesten betroffenen Region zurückgenommen hatte und am nächsten Tag die Regierung samt Premierminister Asqar Mamin zurücktreten musste, hatte sich die Lage nicht beruhigt. Im Gegenteil, es begannen Überfälle auf Polizei- und Geheimdienstgebäude, Entwaffnungen von Vertreter*innen der Staatsgewalt und Plünderungen. Auch die landesweite Blockade von Internet und Mobilfunk brachte keine Eindämmung der Proteste. In der ehemaligen Hauptstadt Almaty wurden administrative Gebäude, Büros der Regierungspartei „Nur Otan“ und Redaktionen der Staatsmedien gestürmt und teilweise angezündet. Zeitweilig besetzen die Protestiereden den Flughafen. Kolonnen mit Militärtechnik wurden von Demonstrant*innen gestoppt und zum Umkehren gebracht. Der Protest, ohne gemeinsamen Forderungskatalog, namentlich bekannte Anführer*innen oder nennenswerte beteiligte politische Organisationen, schien den kasachischen Staat an den Rand des Kontrollverlusts zu treiben.

Der in allen bisherigen Krisensituationen übliche Appell an die Autorität des ersten Präsidenten Nursultan Nasarbajew, der erst als Parteichef in der Sowjetrepublik fungierte und später zum Staatsgründer des unabhängigen Kasachstans gewählt wurde und das Land bis 2019 regierte, führte diesmal nicht zum von der Staatsspitze gewünschten Ergebnis. Die Protestierenden zerstörten die Denkmäler für „Elbasy“ („Führer der Nation“), so der Titel des noch lebenden Nasarbajew und skandierten „der Alte soll weg“. Ohne zu warten, ob der von selbst diesen Forderungen nachgeht, entband Präsident Tokajew seinen Amtsvorgänger von seinem vorletzten offiziellen Posten: Chef des Sicherheitsrates. Diesen bekleidete Nasarbajew laut Verfassung eigentlich auf Lebenszeit. Den Posten übernimmt Tokajew nun selbst. Seitdem ist der Aufenthaltsort des „Führers der Nation“ – immerhin ein in der Verfassung verankerter offizieller Titel Nasarbajews – unbekannt.

Ein härteres Durchgreifen funktionierte mit dem scheinbar teilweise demoralisierten und sich in der Auflösung befindenden Gewaltapparat mäßig, die Sicherheitskräfte hatten tödliche Verluste zu beklagen. Die Bevölkerung begann sich währenddessen zu spalten – und zwar nicht in Anhänger*innen und Gegner*innen der Regierung. Viel mehr in diejenigen, die die Abwesenheit von Polizei und zurückgelassene Waffen nutzen, um sich Güter anzueignen und diejenigen, die Bürgerwehren gründeten, um ihr Eigentum und das der Nachbarn zu verteidigen. Der Konflikt zwischen der (häufig russischsprachigen) Stadtbevölkerung („Schala-Kasachen“) und kasachischsprachigen jungen Männern vom Land („Mambets“) spitzte sich zu. Während im Industriegebiet im Westen, wo die Proteste begannen, Plünderungen ausblieben, dominierten sie in Almaty bald das Straßenbild.

Der Präsident demonstrierte zuerst Verständnis für die Sorgen des Volkes, sprach dann aber eine verklausulierte Drohung aus, indem er die Jugend ermahnte, an ihre Zukunft zu denken. Schließlich erklärte er die Proteste zu einem Werk von „Verschwörern“ und „im Ausland ausgebildeten Terroristen“. Am 07. Januar 2022 erteilte er einen Schießbefehl. Seitdem sind offiziell nicht weniger als 225 Tote, darunter 19 Sicherheitskräfte und knapp 10.000 Festnahmen gemeldet worden. Schließlich richtete er einen Hilfegesuch an die Bündnispartner von der „Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit“ (OVKS), die umgehend Truppen in das Land schickten. Innerhalb von Tagen war der Aufstand niedergeschlagen.

Zur Einordnung: Kasachstan aus der Sicht des Westens – Eine Diktatur wie Russland, aber nützlich!

In der Berichterstattung der westlichen Medien genoss Kasachstan bisher den Ruf des „Klassenbesten“ unter den postsowjetischen Staaten Zentralasiens. Kirgistan, Usbekistan und Tadschikistan sind auf Geldüberweisungen ihrer Bürger*innen aus dem Ausland angewiesen, wo diese sich als billige Arbeitskräfte verdingen. Turkmenistan hindert umgekehrt Bürger*innen an der Ausreise, um sie in der Rohstoffförderung zu beschäftigen. Im Gegensatz dazu ermöglicht es Kasachstan der Export von Erdöl, Gas, Uran, Kupfer und weiteren Rohstoffe seinen Bewohner*innen bisher einen wesentlich höheren Lebensstandard zu bieten. Das Land zieht Arbeitsmigrant*innen aus dem benachbarten Kirgistan und Usbekistan an, die in der Landwirtschaft oder als Haushaltshilfen beschäftigt werden.

Dass das politische System Kasachstans seit der Unabhängigkeit 1991 aus einem härteren Autoritarismus als Putins Russland besteht, entgeht eigentlich keiner Beobachter*in. Der Personenkult um den Staatschef mag weniger ausgeprägt sein als in Turkmenistan, die Repressionen weniger blutig als die des aus dem Bürgerkrieg entstandenen Regimes in Tadschikistan, von einer Konkurrenz der politischen Kräfte um die Macht qua Wahlen kann jedoch nicht die Rede sein. Die „Stabilität“ in Kasachstan wird lobend erwähnt, weil im Gegensatz zu Russland oder Belarus im Land ein „gutes Investitionsklima“ herrscht. Der kasachische Staat hindert ausländische Kapitalist*innen nicht an Geschäften mit den eigenen Rohstoffen, sondern lockt sie ins Land. Die Aktien der Tochtergesellschaften der kasachischen Unternehmen sind größtenteils in den Händen ausländischer Konzerne.

Zu den Faktoren, die dem ausländischen Kapital die Geschäfte mit den kasachischen Rohstoffen angenehm gestalten, gehört die drakonische Unterdrückung jeglicher Arbeitskämpfe, vor allem in der Rohstoffförderung. Kasachstan ist bisher der einzige Nachfolgestaat der Sowjetunion, in dem gegen Streiks mit scharfem Schusswaffeneinsatz vorgegangen wurde. In der Industriestadt Schangaösen, in der die aktuellen Proteste begannen, kam es bereits im Dezember 2011 zu Streiks und Unruhen, bei deren Niederschlagung die Sicherheitskräfte scharf geschossen hatten. 16 Menschen starben und Hunderte wurden verletzt. In den darauffolgenden Jahren wurden in der Region dutzende Aktivist*innen, Zeug*innen und deren Familienangehörige entführt, getötet, vergewaltigt, verstümmelt und eingesperrt. 2017 wurde die „Konföderation der unabhängigen Gewerkschaften“ per Gerichtsbeschluss aufgelöst. Die Gründung von unabhängigen Gewerkschaften ist seitdem de facto verboten. Gewerkschaftsaktivist*innen werden systematisch bedroht, entführt und wegen krimineller Delikte verurteilt.

All das erregte bei weitem weniger internationale Aufregung, als es Repression gegen Menschenrechtler*innen, Unternehmer*innen und Journalist*innen in Russland oder Belarus tut. Kasachstan ist ein wichtiger Handelspartner der EU, seit 2014 läuft ein erweitertes Partnerschafts- und Kooperationsabkommen. Auf seinen Status als Atommacht verzichtete die Republik nach der Unabhängigkeit 1991 zugunsten einer politischen und ökonomischen Partnerschaft mit den führenden kapitalistischen Staaten, die Kasachstan auf die Dienste an ihrem Ölbedarf reduzierten. Kasachstan unterstützte den „War on Terror“ mittels der Entsendung von Militärs nach Irak, später machte Nasarbajew deutlich, dass die militärische Partnerschaft mit Russland nicht die Unterstützung von Putins Ukraine-Politik bedeute.

In Russland galt Nasarbajews Regime als eigenwilliger, jedoch insgesamt stabiler Verbündeter. Kasachstan ist eine der tragenden Säulen der Eurasischen Zollunion und sein ehemaliger Präsident galt als Gegner des antirussischen Nationalismus. Zwar wurden unter ihm alle wichtigsten Posten von Kasachen besetzt, doch der multiethnische Charakter des neuen Staates, indem Kasachen vor 1991 lediglich eine Minderheit waren, stellte er nicht in Frage.

In liberal-oppositionellen Kreisen wurden vor allem die Erfolge der Wirtschaftsreformen des Regimes, dessen Korruption von niemand ernsthaft in Frage gestellt wurde, sowie die „Weltoffenheit“, sprich Öffnung der Märkte, gefeiert. Im Gegensatz zu Russland und Belarus meidet die Staatspropaganda in Kasachstan antiwestliche Rhetorik. So wurde Kasachstan als effizienteres Modell des Autoritarismus mit Aussicht auf sanfte Reformierung gesehen.

Soziale Revolte und politische Krise

Die Verdopplung der Flüssiggaspreise zu Jahresbeginn traf vor allem diejenigen, die nicht in der Rohstoffbranche beschäftigt sind. Wer mit einem auf Kredit gekauften Fahrzeug Lebensmittel transportierte und damit seine Hypothekschulden für die Wohnung abbezahlte, verlor durch den Wegfall der staatlichen Subventionen seine Existenzgrundlage. Die Proteste im Industriegebiet am Kaspischen Meer beinhalteten anfänglich vor allem soziale Forderungen an den Staat: eine Senkung des Rentenalters, die Erhöhung des Kindergeldes und der Invalidenrente, die Senkung der Lebensmittelpreise sowie die Senkung der Prozente bei Wohnungshypotheken. Später kamen hierzu, vor allem in anderen Regionen, politische Forderungen nach der Rückkehr zu der „alten Verfassung von 1993“, dem Rücktritt von Nasarbajew vom auf Lebenszeit bekleideten Posten des Sicherheitsratschefs und dem Sturz seines über Jahrzehnte aufgebauten Machtgefüges. Während der Staat zunehmend die Kontrolle verlor, richteten sich die Protestierenden mit ihren Forderungen weiter an ihn. Zugleich trafen immer mehr junge Männer aus ländlichen Gebieten in den Städten ein, denen heute die Verantwortung für die gewaltsame Eskalation und Plünderungen zugeschrieben wird. Die Proteste hatten von Anfang an keine koordinierten Strukturen, einige Teilnehmer*innen distanzierten sich von den Plünderungen oder sahen in ihnen Provokationen. Es kam zu Zusammenstößen zwischen den Demonstrant*innen und „zugezogenen“ Plünderern. Gerüchte darüber, dass die Polizeikräfte absichtlich abgezogen wurden und ihre Waffen abgaben machten die Runde.

Der Prozess des „sanften Machttransfers“, den Nasarbajew 2019 mit seinem Rücktritt vom Präsidentenamt einleitete, scheint aus dem Ruder gelaufen zu sein. Damals war die Aufgabe seines Postens mit der Garantie der Sicherheit von Strafverfolgung für ihn und seinen geschäftstüchtigen Familienangehörigen verbunden. Eigentlich wurden von der Regierung unter dem Technokraten Tokajew wirtschaftliche Liberalisierung (Streichung der Subventionen) und politische Liberalisierung (die bis dahin benannte Chefs der Lokalverwaltung werden nun gewählt) erwartet. Bei den Wahlen sollte es in Zukunft Frauen-, Behinderten- und Jugendquoten geben. Die Märkte sollten weiter dereguliert werden.

Nach dem Ausbruch der Proteste kündigte Tokajew an, die Preise für die wichtigsten Lebensmittel einzufrieren. Er drohte zugleich mit Hinrichtungen und Ausbürgerungen von Teilnehmer*innen der Aufstände. In der Krisensituation griff Tokajew zu bewährten paternalistischen Mitteln. Hatte er sich früher als aufmerksamer Schüler seines Mentors Nasarbajew präsentiert und vor jeder Entscheidung stets auf den Ratschlag des „Anführers der Nation“ verwiesen, spielte er jetzt selbst die Rolle des strengen, aber verständnisvollen „Vaters des Volkes“. Das Gehalt der Beamt*innen ist für Jahre eingefroren worden, die Unternehmer*innen wurden aufgerufen, sich „sozial verantwortlich“ gegenüber den Sorgen der „einfachen Leute“ zu zeigen.

Als Hauptverantwortlichen der Lage wurde der engste Nasarbajew-Vertraute und ehemalige Geheimdienstchef Karim Massimow samt einigen ehemaligen Stellvertretern verhaftet. Bald darauf verlor das Unternehmen von Nasarbajews Tochter Darigha einen lukrativen Staatsauftrag. Dass die Proteste eine vorläufige Schwächung des Nasarbajew-Clans zur Folge hatten, führt bei den ausländischen Expert*innen zu Spekulationen, die Proteste seien von oben initiiert worden. Weil eine „Palastrevolte“ an deren Ende stehen könnte, müsse diese auch ihr Zweck gewesen sein, so die Interpretation. Doch allein der Blick darauf, wie sich Zugeständnisse und Drohungen in den Reden Tokajews abwechselten, verrät, dass die Ängste der Machthaber*innen vor der Situation durchaus real waren.

Intervention der OVKS – kurz, aber bedeutend

Für die ursprünglichen Forderungen nach den Preissenkungen zeigte Tokajew Verständnis, weitere Eskalation erklärte er jedoch zum Werk von „Terroristen“ und „Verschwörern“, hinter der nicht näher benannte ausländische Mächte stehen würden. Näher benannt wurden dagegen die ausländischen Mächte, die er zur Hilfe rief: die Bündnispartner Kasachstans von der OVKS. Die Freunde aus Russland, Belarus, Kirgistan, Tadschikistan und Armenien erklären sich rasch bereit, zu helfen. Dies ist der erste Kampfeinsatz seit der Gründung des Bündnisses 1992. Damit bekommt der Aufstand den Status einer äußeren Aggression. Die Entscheidung, Tokajews Gesuch einer Intervention zu folgen, durfte ausgerechnet der armenische Regierungschef Nikol Paschinjan verkünden, der 2017 in der Folge von Massenprotesten die Macht übernahm und seitdem aus Moskau als „unsicherer Kantonist“ misstrauisch beäugt wurde. Auch die Interventionsmacht Kirgistan hat mit Sadyr Dschaparow einen Präsidenten, der nach Massenprotesten gegen seinen Vorgänger an die Macht gekommen war. Dass der gemeinsame Einsatz zustande kam, sendet ein klares Signal – das Bündnis ist trotz allen Differenzen konsolidiert und aktionsfähig. Dass ein Bündnisfall laut den Statuten einen Angriff von außen voraussetzt, fällt nicht ins Gewicht. Tokajew sprach erst vom „terroristischen Angriff“, dann, nach der Wiederherstellung des staatlichen Gewaltmonopols, von einem „Umsturzversuch“. Die für die Gewaltanwendung zuständigen staatlichen Organe scheinen heute wieder zu funktionieren und können weiter Repression auch ohne die Unterstützung der Bündnispartner erledigen. Diese haben inzwischen mit dem Abzug begonnen. Tokajew scheint seine Kontrolle über Kasachstan gefestigt zu haben und seine Verbündeten brauchen wegen ihres Einsatzes keine Sanktionen aus dem Westen zu befürchten. Darüber, dass es beim wichtigen Rohstofflieferanten Kasachstan eine stabile Staatsordnung gibt, scheinen ansonsten verfeindete Staaten einig zu sein.

Nach Tokajews Sieg: Schock und Enttäuschung

Während sich Expert*innen für die Pseudowissenschaft „Geopolitik“ in belarussischen und russischen Medien in Spekulationen über die möglichen „Drahtzieher*innen“ aus den USA, der EU, der Türkei oder China verlieren und in Kasachstan fleißig nach den inneren Verbündeten des äußeren Feindes gesucht wird, haben diejenigen, die in den Aufstand anfänglich viel Hoffnung gesetzt haben, eine erneute Enttäuschung zu verkraften.

Linke, die sich weltweit mit den Protesten solidarisierten, haben es nun mit einem bitteren Nachgeschmack zu tun. Daran ist nicht nur die vorläufige Niederlage schuld. Die Revolte enttäuschte die an sie herangetragenen Hoffnungen. Als die Proteste eskalierten standen keine Avantgarde-Partei mit der richtigen Linie, keine selbstorganisierten anarchistische Gemüsegärten auf der Agenda, sondern die direkte und gewaltsame Aneignung von Produkten, nicht jedoch von Produktionsmitteln. Im Westen des Landes waren die Proteste tatsächlich eher von der Aufstellung von Forderungen und Schaffung eigener Ad-hoc-Strukturen geprägt, während in Almaty der Schwerpunkt auf der Konfrontation mit der Staatsgewalt lag. Eine landesweite Vernetzung kam nie zustande. Die Sicherheitskräfte leisteten zwar anfänglich auffällig wenig Gegenwehr, aber von einem Seitenwechsel im Sinne des Widerstands gegen den OVKS-Einmarsch kann keine Rede sein. Zu dem Zeitpunkt der Intervention waren viele bereits durch Plünderungen abgeschreckt. Die Aktivitäten der wenigen organisierten Linken, wie der Mediengruppe „Rote Jurte“ oder der „Sozialistischen Bewegung Kasachstans“, die bei den Demonstrationen auftraten, konnten die Situation nicht nennenswert beeinflussen.

Der spontane Aufstand scheint alle überrascht zu haben: die Regierung, die organisierte Opposition, Russland und den Westen. Er überraschte auch den Großteil der Bevölkerung, die sich ihm nicht aktiv anschloss. Sein Ergebnis ist jedoch nicht einfach eine Machtverschiebung innerhalb der Staatsführung. Die Angst vor weiteren Erhebungen schlägt sich sowohl in den Zugeständnissen als auch in den konspirativen Theorien über „geheime Pläne“ nieder, die jetzt von staatlichen Medien verbreitet werden.

# Titelbild: Tadschikische Soldaten als Teil der OVKS-Truppen (12. Januar 2022, Wärmekraftwerk Almaty-1), Mil.ru CC BY-SA 4.0

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„Dass man den Krieg auf eine Nation beschränken könnte, das zu denken wäre naiv“, zitiert die BBC einen namentlich nicht genannten hochrangigen „westlichen Geheimdienstfunktionär“. Und weiter: „Lasst uns nicht die Augen verschließen. Wenn Russland ein Szenario irgendeiner Art beginnt, wird es auch Aktionen gegen NATO-Staaten einschließen.“ Spekulationen über einen offenen Krieg zwischen Russland und der vom Westen unterstützten ukrainischen Regierung samt Spekulationen über die Ausdehnung dieses Konflikts bis „weiter nach Europa“ haben in den vergangenen Wochen zugenommen.

Russland soll an die 100 000 Soldaten an die Grenze zur Ukraine und auf die 2014 an Russland angeschlossene Krim verlegt haben. Russland habe bereits große Truppenkontigente aufgefahren und mit „psychologischen Operationen“ begonnen, erzählt der ukrainische General Kyrylo Budanov dem rechtskonservativen US-Magazin Military Times. Man erwarte einen eventuellen Angriff im Januar nächsten Jahres.

Die Verlautbarungen aus dem westlichen Politbetrieb sind einhellig: Es gehe jetzt darum, die „ukrainische Demokratie“ und die „westlichen Werte“ geschlossen hochzuhalten. Sowohl im neuen Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung wie auch in den ersten Reden der Grünen-Außenministerin Annalena Baerbock spielt das Thema eine zentrale Rolle. In Richtung Moskau drohte sie bei ihrem Antrittsbesuch in Paris: „Die territoriale Integrität und die Souveränität der Ukraine sind für uns nicht verhandelbar. Russland würde hohen politischen und wirtschaftlichen Preis für erneute Verletzung der ukrainischen Staatlichkeit zahlen.“ Wenig später erklärte Liz Truss, die Gastgeberin des G7-Außenminister-Treffens: „An diesem Wochenende werden die einflussreichsten Demokratien der Welt Stellung beziehen gegen Aggressoren, welche die Freiheit unterwandern wollen.“ Man wolle klar machen, „dass wir eine einheitliche Front sind“.

Die Darstellung des Konflikts im bei weitem überwiegenden Teil der reichweitenstarken westlichen Presse schlägt in die gleiche Kerbe: Ein machtgieriger Autokrat, Wladimir Putin, will unprovoziert und aus reiner irrationaler Böswilligkeit einen Flächenbrand anzünden. Der uneigennützige Westen eilt der bedrohten jungen Demokratie in Kiev zur Hilfe und stemmt sich dem blutrünstigen Russen entgegen.

Doch die Geschichte geht nicht auf, wenn man auch nur ein klein wenig über den Tellerrand der „eigenen“ Kriegspropaganda blickt. Denn Russland ist zwar eine kapitalistische Autokratie, die ihre geopolitischen Ambitionen durchaus mit militärischer Gewalt behauptet. Aber Russland ist keineswegs der einzige Aggressor in dieser Auseinandersetzung.

Die permanente Erweiterung der NATO gen Osten stellt nicht nur einen Bruch von beim Zerfall der Sowjetunion und der Wiedervereinigung Deutschlands gegebenen Zusagen an Russland dar. In Kombination mit immer wieder stattfindenden – und stets als „defensiv“ deklarierten Militärübungen im Osten, drängt sie Russland an die Wand. Dazu kommt die Einflussnahme auf diverse „Farbenrevolutionen“ im Osten, die stets zwar wenig mit „Demokratie“, aber dafür umso mehr mit Westbindung zu tun haben. Die Ukraine ist dafür ein gutes Beispiel: Immer noch ist sie fest in der Hand von „Geschäftsmännern“ – auch der aktuelle Präsident, Wladimir Alexandrowitsch Selenski, verlor im Zusammenhang mit den panama papers sein Image als vermeintlicher „Saubermann“. Militärisch bestimmt wird das Geschehen unter anderem von starken faschistischen Formationen, etwa dem offen neonazistischen Regiment Azov, das dem Innenministerium unterstellt ist. Finanziert wurde sowohl das Nazi-Regiment wie auch der derzeitige Präsident unter anderem von dem dubiosen Oligarchen Igor Kolomoisky.

Die Ukraine wurde von den USA und ihren Partnern hochgerüstet: Panzer, Panzerabwehrwaffen und türkische Kampfdrohnen. Noch im Oktober fanden im Westen der Ukraine Militärübungen mit NATO-Beteiligung statt.

Was der Westen betrieb, war also keineswegs irgendeine Demokratisierung. Man ersetzte einfach einen an Russland angebundenen Statthalter durch diverse an den Westen angebundene Marionetten.

Und Russland reagiert äußerst „westlich“, nämlich so, wie es die USA seit je her nicht nur in ihrem deklarierten „Hinterhof“ Südamerika, sondern weltweit tut. Mit der organisierten Destabilisierung der Ukraine bis hin zur militärischen Intervention. Die berühmt-berüchtigte Wagner-Group und die bewaffneten Männer ohne Hoheitsabzeichen unterscheiden sich in ihrer Praxis nicht von den US-amerikanischen Kontras in Lateinamerika oder der Söldnerfirma Blackwater.

Was Putin erzwingen will, ist ein Rückzug der NATO-Front – also eine Zusage, dass es keine Aufnahme der Ukraine in das westliche Militärbündnis geben wird. Und was der Westen will, ist genau diese Beitrittsperspektive auf Biegen und Brechen aufrecht zu erhalten, um die Ukraine vollends in den eigenen Einflussbereich zu integrieren. In den Worten von NATO-Generalsekretär Stoltenberg: „Wir können nicht hinnehmen, dass Russland versucht, ein System wiederherzustellen, in dem Großmächte wie Russland Einflusssphären haben, in denen sie kontrollieren oder entscheiden können, was andere Mitglieder tun können.“

Das Festhalten an der Ausdehnung des eigenen Machtbereichs auch gegen russische Drohungen wird zwar derzeit als ein „game of chess“ geframed, in dem man nur hart bleiben müsse, dann werde Putin schon klein beigeben. Aber diese Strategie birgt eine große Kriegsgefahr, die billigend in Kauf genommen wird. Denn an irgendeinem Punkt – wenn nicht bei diesem, dann beim nächsten Truppenaufmarsch – wird die Rechnung nicht mehr aufgehen. US-Amerikanische Think Tanks wie etwa das Atlantic Council haben diese Option längst in ihre Überlegungen eingeschlossen: „Sollte es nun tatsächlich zu einem Krieg zwischen den Vereinigten Staaten und Russland kommen, wäre es für uns sogar von Vorteil, wenn die Ukraine dem Bündnis [der NATO] angehört. Die Ukraine könnte einen ähnlichen Zweck erfüllen wie Westdeutschland während des Kalten Krieges. Das ukrainische Militär verfügt dank des Konflikts im Donbass bereits über umfangreiche Erfahrungen im Kampf gegen das russische Militär, und die NATO-Integration des Landes würde sich als nützlich erweisen.“

Deutschland wäre, sollten diese wahnsinnigen Planspiele Realität werden, auf die eine oder andere Art unmittelbar in einen militärischen Konflikt mit Russland involviert. Und die neue Ampel-Regierung stellt mit grüner Beteiligung genau das richtige Personal für einen solchen Amoklauf. Nicht allein die Reminiszenzen an Joseph Fischer, den Grünen-Außenminister, der die BRD in den ersten Angriffskrieg nach dem Faschismus führte, qualifizieren die ehemalige Partei der Friedensbewegung für den Job. Aktuell legt sie ihren Schwerpunkt auf antirussische (und antichinesische) Rhetorik, verbunden mit dem beschwören der westlichen Wertegemeinschaft. Baerbock stellt dabei noch Sanktionsandrohungen in den Mittelpunkt der Durchsetzung des deutschen Interesses. Die Hardliner der Partei dürfen indessen den Diskurs schon etwas in Richtung Krieg verschieben: Der NATO-Beitritt der Ukraine sei nicht verhandelbar, so Omid Nouripour, ein Transatlantiker, der sich zuvor auch für den rechten Militärputsch des mittlerweile geschassten Anez-Regimes in Bolivien in die Bresche geworden hatte. „Wir dürfen Russlands aggressives Verhalten nicht auch noch dadurch belohnen, dass wir der Ukraine die Nato-Perspektive wieder entziehen“. Nouripour befürworte die Verlegung von NATO-Truppen in den Osten. Und für den Fall eines Einmarsches Russlands seien „alle Mittel auf dem Tisch“.

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Am 17. Dezember verstarb in der Berliner Charité mit 61 Jahren Gennadi Adolfowitsch Kernes an den Folgen einer COVID-19-Infektion. Der Bürgermeister von Charkow war eine der markantesten Figuren der ukrainischen Politik der letzten Jahrzehnte. Anhand seines Lebenslaufs lässt sich die Entwicklung des postsowjetischen Kapitalismus besser verstehen.

Die ursprüngliche Akkumulation

Der 1959 im Charkow geborene Gennadi Kernes schlug sich nach dem Abschluss einer Berufsschule mit Gelegenheitsjobs durch, bis er ein Geschäftsmodell entwickelte, das in einem Staat, der private unternehmerische Tätigkeit für immer abschaffen wollte, schnellen, wenn auch illegalen Reichtum versprach. Die Sowjetunion verbat ihren Bürger:innen den Besitz von Devisen, bot aber gleichzeitig für die ausländische Tourist:innen begehrte, weil in Einzelhandel kaum vorhandene Waren in speziellen Läden an um an harte Weltwährungen zu kommen. Um diese Läden herum blühte ein Schwarzmarkt für Devisen und „Zertifikate“, die zum Betreten der Läden berechtigten. Die Sowjetbürger:innen, die in den Westen auswandern wollten, versuchten ihre Wertsachen gegen im neuen Leben dringend benötigte Dollar einzutauschen. Und genau diese Dollars behaupteten Kernes und seine Geschäftspartner anzubieten. Als besonders effektiv erwies sich, wenn während Übergabe ein woher geschmierte Milizionär (sowjetische Polizei) am Horizont erschien. Die Opfer des Betrugs suchten so ohne Nachzählen mit einem Bündel angeblicher Dollar das Weite. Da die ganze Transaktion illegal war, hatte Kernes nicht zu befürchten, dass sich eines seiner Opfer an die Miliz wenden würde, mit der Beschwerde, statt Dollar eine Packung geschnittenes Papier im Tausch für Edelmetalle oder Rubel erhalten zu haben.

Kurz vor dem Ende der Sowjetunion landete Kernes dann doch noch auf der Anklagebank und wurde zu drei Jahren Haft verurteilt. In die unabhängige Ukraine, der ein Übergang zur Marktwirtschaft bevorstand, kam er dank seiner vorherigen Tätigkeit mit zwei Dingen, die unentbehrlich für eine erfolgreiche Kapitalistenkarriere waren – Startkapital und die richtigen Bekanntschaften.

Politische Ökonomie

Als sich „Gepa“, wie Kernes in einschlägigen Kreisen genannt wurde, 1998 für den Gang in die Politik entschloss, kontrollierte seine NPK-Holding bereits die wichtigsten Medien der zweitgrößten Stadt der Ukraine. Er war eine der Schlüsselfiguren bei der Privatisierung des ehemaligen sowjetischen Staatseigentums. Als Sekretär des Stadtrates und enger Vertrauter und Wahlkampfsponsor des damaligen Bürgermeisters Michail Dobkin konnte er bei der Vergabe von Aufträgen an die Privatunternehmen mitentscheiden.

Die erste „Orangene Revolution“ 2004/2005 zwang ukrainische Politiker:innen zu unangenehmen Entscheidungen: Der Wahlsieg des als prorussisch geltenden Wiktor Janukowitsch wurde von den Anhänger:innen seines prowestlichen Herausforderers Wiktor Juschenko als Resultat massiver Fälschungen beanstandet. Kernes ergriff zuerst entschlossen die Partei für das prowestliche, „orangene“ Lager und überlebte sogar ein Attentat der prorussischen paramilitärischen Organisation „Oplot“. Doch 2010 trat Kernes Janukowitschs „Partei der Regionen“ bei. Im selben Jahr wurde er als Nachfolger Dobkins zum Bürgermeister von Charkow gewählt.

Als im es Winter 2013/14 wieder zu Massenprotesten gegen den inzwischen doch noch zum Präsidenten gewählten Janukowitsch kam, zeigte sich Kernes als bekennender Gegner des „Maidans“. Die neue ukrainische Regierung befürchtete, dass in Charkow, wie in Donezk und Lugansk die prorussischen Kräfte die Oberhand gewinnen könnten. Seite an Seite mit den „Oplot“-Aktivisten traten Kernes und Dobkin bei den Anti-Maidan-Demos auf. Die Tatsache, dass in der neuen Regierung das Amt des Innenministers an den Charkower Multimillionär Arsen Awakow ging, der als Erzfeind von Kernes galt, trug ebenfalls zu Spannungen bei. Nachdem er sich im Februar 2014 in Genf mit dem Oligarchen Igor Kolomoiski traf, der schon früh für den Maidan Partei ergriffen hatte, änderte Kernes seine Position erneut. Er flog nach Charkow zurück und sprach vor pro-russischen Demonstrant:innen darüber, dass Charkow sei ein Teil der unabhängigen Ukraine und werde es immer bleiben.

Am 7. April wurden in Donezk und Lugansk die Gründung der „Volksrepubliken“ verkündet, am 8. April nahm in Charkow eine aus der Westukraine eingeflogene Polizeispezialeinheit die Anti-Maidan-Aktivisten, die sich in dem Gebäude der Stadtverwaltung verbarrikadiert hatten fest. Im russischsprachigen Charkow fand kein „Russischer Frühling“ statt und die neuen Machthaber ließen Kernes im Amt, obwohl er für sie eine der meist verhasstesten Figuren der ukrainischen Politik war. Schließlich galt er als einer der Geldgeber der „Tituschki“ – Provokateure und Schlägertrupps im Zivil, die in den Tagen der Maidanproteste berüchtigt wurden. Während Kernes weiterregierte, setzte sich der Anführer von „Oplot“, Jewgeni Schilin, der die Kader für „Tituschki“ bereit stellte, erst in die „Volksrepublik Donzek“ und später nach Russland ab, wo er im September 2016 von einem Unbekannten erschossen wurde.

Nun galt Kernes als ein Garant der Stabilität im Region, zumal als ein Schützling von Kolomoiski, dessen Gewicht in der ukrainischen Politik beständig wuchs. Dass die politische Macht in der Ukraine kaum von der wirtschaftlichen getrennt ist, wird zwar von vielen westlichen Beobachter:innen kritisiert, dennoch gelten alle Politiker:innen, die sich gegen die „Volksrepubliken“ entschieden hatten als, vom Standpunkt der „guten Demokrat:innen“, kleineres Übel.

Am 28. April 2014 entging Kernes nur knapp dem Tod, als ihn die Kugel eines Heckenschützes traf. Das Attentat wurde nie aufgeklärt, obwohl der von nun an den Rollstuhl gefesselte Kernes, dem Innenminister Awakow die Schuld gab. Ab diesem Zeitpunkt war der Charkower „Stadtvater“ in Augen seiner Wähler:innen ein Märtyrer. Ein Jahr nach dem Attentat wurde er als erster Bürgermeister in der neueren Geschichte der Stadt für eine zweite Amtszeit wiedergewählt – mit satten 65,8 Prozent der Wähler:innenstimmen.

Kapitalist, Demokrat, König

„Gepa, der König von Charkow“ war in der Tat durchaus populär bei der Bevölkerung. Er gab sich stets als Lokalpatriot, der einerseits gewillt ist, sich mit Kiew anzulegen, andererseits aber auch immer zu Kompromissen bereit ist, wenn sie nur für neue Geldflüsse in die Region sorgten.

Unter Kernes wurden mehrere Industrieanlagen aus der Sowjetzeit stillgelegt und abgerissen, an ihrer Stelle entstanden riesige Wohnkomplexe. Ein Teil der Wohnungen wurde „sozial schwachen“ Familien zugeteilt, während der Großteil profitabel verkauft wurde. Kernes machte Charkow zu einer der saubersten Städte der Ukraine, aber bei jedem Bau- oder Renovierungsprogramm kam es zu Skandalen um Geldwäsche, die Vermittlung der Aufträge und überhöhte Preise, für die die Stadtverwaltung Baumaterialien bei „befreundeten“ Unternehmen bezog. Kernes machte Charkow zur Vorzeigestadt in Sachen Barrierefreiheit – aber erst als er selber auf einen Rollstuhl angewiesen war. Er verhinderte den Abbau der sowjetischen Denkmäler – obwohl er selber vom Zerfall der Sowjetunion unmittelbar profitiert hatte. Er schützte den Status der russischen Sprache – und behielt die Macht, weil er Charkows Verblieb in der Ukraine sicherte. Bei seinen Wahlkämpfen wurde er von Unternehmerverband und Gewerkschaften der Stadt gleichermaßen unterstützt.

Als Faktor in der gesamtukrainischer Politik konnte der „König von Charkow“ nur bedingt wirken. Er galt zwar weiterhin als ein Überbleibsel der Janukowitsch-Zeit. Bei der Präsidentschaftswahl 2019 unterstützte Kernes offiziell den Amtsinhaber Petro Poroschenko, der vom Newcomer Wolodymyr Selenskyj vernichtend geschlagen wurde. Poroschenko war auch mal Mitglied in Janukowitschs „Partei der Regionen“, stand nach dem Sieg von Maidan gerade für unbedingte Westbindung. Selenskyj wurde im Wahlkampf nachgesagt von Kolomojski unterstützt zu werden. Der Kreis der Akteur:innen der ukrainischen Politik scheint sich wenig zu ändern. Noch vom Berliner Krankenbett aus gewann Kernes die Regionalwahlen am 25. Oktober 2020. So treibt nach seinem Tod eine Frage die ukrainische Öffentlichkeit um: Was passiert mit dem Charkower Modell, das voll und ganz durch die Person Kernes zusammengehalten wurde?

Das Gepas Charkow keine Stadt war, wo Kapital frei vor sich hin konkurrieren konnten, weil bereits die Konkurrenz mit außerökonomischen Gewaltmitteln ausgefochten war und ihre Gewinner:innen das Geld aus der Staatskassen in ihre eigene Kassen scheffeln, haben die Anhänger:innen von „richtiger“, „reiner“ Marktwirtschaft häufig moniert. Dies ist aber keine Anomalie, sondern direkte Folge der Einführung des Kapitalismus auf den Ruinen des Realsozialismus. Neukapitalistische Länder müssten sich den Spielregeln stellen, die ihnen keine reale Chancen einräumen. Dass der ukrainischer Staat kein ideeller Gesamtkapitalist wurde, sondern zum umkämpften Instrument solcher Kapitalisten wie Kernes (auf der Regionalen Ebene) oder Kolomojski (auf Landesebene) – das ist nicht einfach nur deren Verkommenheit geschuldet.

# Titelbild: Sergiy Bobok. From Wikimedia Commons. License CC BY-SA 4.0, Massenandrang bei Kernes‘ Beerdigung am 04.01.2021

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Nach den Präsidentschaftwahlen in Moldawien spielt sich dort ein Machtkampf zwischen Maia Sandu von der Partei „Aktion und Solidarität“ (PAS) und Igor Dodon von der Partei der Sozialisten der Republik Moldau (PSRM) ab. Beide gebaren sich als Korruptionsbekämpfer:innen und positionieren sich gegen den einflussreichen Oligarchen Vladimir „Vlad“ Plahotniuc.

Vor den Parlamentsgebäuden in der moldawischen Hauptstadt Chișinău demonstrieren hunderte von Menschen. Sie fordern die Auflösung des Parlaments und sofortige Neuwahlen. Bei der aufgebrachten Menschenmenge handelt es sich um die Anhänger:innen der am 16. November zur Präsidentin gewählten Politikerin Maia Sandu von der liberalen Partei „Aktion und Solidarität“ (Partidul Acțiune și Solidaritate,  PAS). Sandu gewann im zweiten Wahlgang mit 57,72, steht jedoch einer feindlichen Parlamentsmehrheit gegenüber. Die von den Demonstrant:innen verlangten Neuwahlen sollen die Situation ändern.

Vom antioligarchischen Allianz zur Neuauflage des Kampfes um die Wahl der Anlehnungsmacht

Die Harvard-Absolventin Sandu hatte bereits vom 8. Juni bis zum 14. November 2019 das laut Verfassung entscheidende Amt des Premierministers inne, doch ihr Koalitionspartner, die Partei der Sozialisten der Republik Moldau (Partidul Socialiștilor din Republica MoldovaPSRM) des bisherigen Präsidenten Igor Dodon kündigte das Bündnis auf und entzog der Regierung die Mehrheit. Zur Regierungschefin wurde Sandu damals durch die Proteste im Sommer 2019. Damals einigten sich die als pro-russisch geltende PSRM und verschiedene prowestlich-liberale Kräfte gegen die Macht des Oligarchen Vladimir (Vlad) Plahotniuc.

Obwohl seine Demokratischen Partei Moldaus (Partidul Democrat din Moldova, PDM) offiziell keine Mehrheit im Parlament besaß, kontrollierte Plahotniuc faktisch nicht nur das Parlament, sondern auch das Verfassungsgericht. In Moldawien kam Trennung von politischer Gewalt und ökonomischer Privatmacht nie zu Stande – was von den westlichen Betreuer:innen der „Transformation“ vom Realsozialismus zur Marktwirtschaft stets bemängelt wurde. Als Plahotniuc eine Wahlrechtsreform, die ihm Mehrheit sichern sollte in die Wege leitete und den Präsidenten Dodon faktisch entmachtete, kam eine Koalition von Sandus PAS und Dodons PSRM zustande. Plahotniuc musste aus dem Land fliehen, doch das im Februar 2019 gewählte Parlament blieb und dort entscheiden weniger die Mehrheitsverhältnisse der Fraktionen, sondern Plahotniucs Gelder.

Dodon und Sandu beschuldigten sich gegenseitig nicht nur der Korruption, sondern sprachen einander überhaupt ab, ernsthaft für die Unabhänigkeit des Landes einzustehen. Wie es in prowestlichen Kreisen Moldawiens üblich ist, bekennt sich Sandu zur rumänischen Identität und hält die „moldawische Sprache” für ein Konstrukt der sowjetischen Politik. Das ist aus der Sicht von Dodon und moldawischen „Linken” – die sich in vielen Fragen eher wertkonservativ gebähren – ein Verrat. Umgekehrt gilt das gleiche: Dodons Festhalten an sowjetischen Geschichtsnarrativen, seine Verteidigung des Moldawischen als eigenständiger Sprache, sein demonstratives Bekenntnis zur Freundschaft mit Russland gilt seinen Gegner:innen als ein sicherer Beweis dafür, dass er eine „Marionette des Kremls” ohne Sinn für Nationales sei.

Der ganze ideologische Konflikt um die richtige Auslegung des Nationalismus hat jedoch ganz materielle Demension. Denn seit der Unabhängigkeit der ehemahligen Sowjetrepublik müssen immer mehr ihre Bürger:innen ihren Lebensunterhalt im Ausland verdienen. Die chronische Abhängigkeit Moldawiens vom Visumsregime der EU und Russlands schlägt sich auch im Wahlverhalten nieder. Die in der EU arbeitenden Moldawier:innen stimmten geschlossen für Sandu ab. Da sie als Putz- und Servicekräfte, als Bauarbeiter:innen oder Sexworker:innen eben die Weltwährung Euro nach Hause überweisen, sind sie ein wichtiger Faktor des Politik- und Wirtschaftsleben im ärmsten Staat Europas. Dodon versuchte dagegen mit seinen Erfolgen in Verhandlungen um Kredite aus Russland zu punkten.

Die Koalition zwischen Sandu und Dodon zerfiel, als die PSRM ein Gesetz einbrachte, das vorsah, dass Supermärkte 50 % des Sortiments von den heimischen Produzent:innen beziehen müssen – ein Versuch die heimische Landwirtschaft zu retten. Denn diese leidet stark unter von Russland verhängten Einfuhrbeschränkungen. Sandu verweigerte jedoch die Zustimmung zum Gesetz mit dem Verweis auf Auflagen der EU – denn ihre Partei sieht Moldawiens Zukunft nur in der Mitgliedschaft in der Europäischen Union.

Daraufhin stimmten Dodons „Sozialisten“ zusammen mit Plahotniucs PDM ab und setzten eine Regierung der „unabhängigen Experten“ unter dem parteilosen Dodon-Berater Ion Chicu ein. Das konnte Sandu im Wahlkampf als Beweis für Dodons Verrat an den deklarierten „antioligarchischen“ Zielen ausschlachten.

Zudem war das pro-russischer Lager im Wahlkampf gespalten, Platz drei belegte mit 16, 90 % Renato Usatîi, der Bürgermeister der Stadt Bălți. Obwohl seine „Unsere Partei“ (Partidul Nostru, PN) es bei den letzten Wahlen gar nicht ins Parlament schaffte, punktete er unter der russischsprachigen Bevölkerung und unter Jugendlichen von Land mit seinen Hasstiraden auf den Westen und die Korruption. Mit Sandu eint ihn die Wut auf den „Verräter” Dodon. Sein Ruf als prorussischer Politiker wird allerdings dadurch relativiert, dass er von den russischen Behörden wegen illegalen Finanztransaktionen gesucht wird.

Sandus Vision und moldawische Realität

Die Bestandsaufnahme und das Programm der designierten Präsidentin lassen sich kurz zusammenfassen. Die Ursache aller Probleme in Moldawien sei die Korruption. Wenn man stattdessen richtig faire Konkurrenz etabliere, sich allen Anforderungen der EU und des IWF beuge, werde die Republik irgendwann das Lebensniveau der reichen europäischen Länder erreichen.

Im Interview mit dem ukrainischen Journalisten Dmitri Gordon am 12. November kündigte Sandu ihre Agenda als Präsidentin an: „das Gerichtssystem und die Staatsanwaltschaft zu säubern” und die Verteidigung der Interessen der „ehrlichen” Unternehmer:innen, die nicht länger vom oligarchenhörigen Staat drangalisiert werden sollten. „Ich werde die ernsthafte Anwältin des moldawichen Business sein!”. Nicht der eigenen Geschäftsinteressen, wie die „politische Klasse”, die sie säubern möchte, sondern eben Anwältin des Rechts auf kapitalistisches Wirtschaften an sich.

So viel guten Willen sollen die westlichen Demokratien nach ihrer Vorstellung belohnen, indem sie helfen die russischen „Friedenstruppen” aus der international nicht anerkannten Republik Transnistrien zum Abzug zu zwingen.

Weder die durchwachsene Erfolge dieser Strategie in anderen postsowjetischen Republiken, noch die Tatsache, dass sich die Geschäftswelt Moldawiens schlicht nicht in „böse Korrupte” und „ehrliche Unternehmer” sortieren lässt, da Kontakte zur Politik für erfolgreiches Kapitalistsein unverzichtbar sind und die Parteien häufig als Eigentum der Oligarchen fungieren, können Sandu ins Zweifeln bringen. Dass auch Plahotniuc sich zur Westintegration bekannte, während er den Staat zum Instrument seiner privatwirtschaftliche Interessen machte, erklärt Sandu schlicht damit, dass er und ihm nahestehende Politiker:innen „verlogen” seien. Wenn die erneuerten Gerichte endlich die alte politische Klasse kräftig durchsäuberten, würde im armen Moldawien auf einmal kräftig Kapital akkumuliert, so die Logik von Sandus Erneuerungsprogramm.

Ihre Gegner:innen mobilisieren gegen sie mit Ängsten vor „Lockdown-Politik” nach europäischen Vorblid, vor Verlust der Unabhängigkeit oder „westlichem Sittenverfall”. Die Abhängigkeit Moldawiens von Russland wird als Argument gegen Sandus EU-Pläne positiv gewendet.

Kampf um die Kompetenzen

Noch bevor Sandu ihr – laut der aktuellen Verfassung in Kompetenzen sowieso stark eingeschränktes – Amt als Präsidentin antreten konnte, beschloss das Parlament immer neue Gesetze, die die Macht beim Parlament selbst und der Regierung konzentriert. So soll unter anderem der Geheimdienst SIS nun nicht mehr der Staatschefin, sondern dem Parlament unterstellt werden. Zudem kann das Verfassungsgericht die Amtsführung des Präsidenten immer wieder unterbrechen. Da die Abgeordneten im moldawischen Parlament beständig die Fraktionen wechseln, war die Bedeutung der Wahlergebnisse in der Republik schon seit langem relativ klein. Sandu spricht dem Parlament, in dem nach wie vor eine Plahotniuc-hörige Mehrheit existiert, offen die Legitimität ab.

Ähnlich wie ihr ukrainischer Amtskollege Wolodymyr Selenskyj, der ebenfalls mit Antikorruptionsparolen an die Macht kam, stellt Sandu fest, dass die Legislative und die Judikative in ihrem Staat ein einziges Instrument der Oligarchie seien, die Abgeordente und Richter:innen fraktionsübergreifend mit Bestechung und Erperessung dazu bringt in ihrem Sinne abzustimmen. Als Mittel dagegen fällt den selbsterklärten Held:innen des Antikorruptionskampfes Sandu und Selenskyj vor allem die Stärkung der Präsidialmacht ein. Schon vor zwanzig Jahren hat der Lieblingsfeind der beiden, der russische Präsident Wladimir Putin im Bezug auf sein Land und das dortigen Parlament sehr ähnliche Schlüsse gezogen.

# Titelbild: Jennifer Jacquemart, Europäische Union, 2019, Maia Sandu

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Seit rund drei Monaten erlebt Belarus die größten Aufstände seiner Geschichte. Nachdem wir im ersten Teil (Link) näher auf die ökonomische Geschichte des Landes und die Entstehung der Protestbewegung eingegangen sind, wenden wir unseren Blick jetzt in die Zukunft. Welche Szenarien sind im Hinblick auf die ökonomische Krise und verschiedene geopolitische Interessen denkbar? Ist eine neoliberale Entwicklung unvermeidbar oder gibt es eine sozialrevolutionäre Perspektive?

Es gibt dabei verschiedene Richtungen, in die sich die Situation nach dem Sturz Lukashenkos entwickeln kann. Für uns am Wahrscheinlichsten (und deswegen Gegenstand dieses Artikels) sind die Annäherung an den russischen Staat bzw. die EU.

Eine Annäherung an Russland kann auf mehrere Weisen erfolgen. Zum Einen gibt es die Möglichkeit einer militärischen Intervention, so wie 2014 bei der Annexion der Krim im Kontext der Maidan-Proteste. Aktuell ist dies zwar unwahrscheinlich, das könnte sich jedoch ändern sobald die Proteste weniger friedlich verlaufen und sich Russland infolgedessen als Ordnungsmacht präsentiert. Dies wäre für Russland vor allem von Interesse, da es sich schon seit Längerem die Option offen hält, Belarus in das russische Staatsgebiet zu integrieren. Sollten Politiker*innen mit einer pro-russischen Agenda an die Macht kommen, so würden sie sich vermutlich durch Handelsabkommen und Staatshilfen an Russland binden. Das könnte die Übernahme der belarussischen Wirtschaft durch russische Oligarchen beinhalten. Auf der anderen Seite dieses Spannungsverhältnisses steht die EU. Sie repräsentiert für viele Menschen ein gutes Leben in einer gut funktionierenden Wirtschaft sowie einen funktionierenden Rechtsstaat.

Tikhanovskaja, eine wichtige Oppositionsfigur, hat bereits angedeutet, dass sie im Kontakt mit der EU steht und dass nach einem Abdanken Lukashenkos Gelder von dieser Seite fließen würden. Diesen ersten Annäherungen würden wohl Verhandlungen über Handelsabkommen folgen. Sowohl EU-Gelder als auch Handelsabkommen gehen typischerweise mit dem Druck neoliberale Reformen umzusetzen einher, die die Souveränität und das soziale Gefüge von Belarus und seiner Bevölkerung untergraben. Wenn wir von neoliberalen Reformen sprechen, meinen wir die Umgestaltung der Wirtschaft und Gesellschaft nach marktfundamentalistischen Prinzipien: der dogmatische Glaube an Privatisierung, Deregulierung, die forcierte Öffnung lokaler Märkte und Sparprogramme, welche meist hauptsächlich den sozialen Sektor treffen würden. Ein maßgebendes Instrument für neoliberale Reformen sind Kredite des Internationalen Währungsfonds (IWF). Diese sind normalerweise an sogenannte Strukturanpassungsprogramme geknüpft. Durch das de facto-Monopol des IWF für diese Art von Krediten besitzt diese Institution extrem viel Macht. Staaten, die auf Hilfsgelder angewiesen sind, haben meistens keinerlei Verhandlungsspielraum.

Ein gutes Beispiel, wie die neoliberale Umgestaltung ehemaliger Sowjetrepubliken in der Praxis aussehen kann, findet sich im Polen der 1980er und 90er Jahre. Dort schaffte es die Gewerkschaft Solidarność nach fast einem Jahrzehnt im Untergrund mit ihrem neu gegründeten Parteiflügel die Wahl zu gewinnen und die Regierung zu stellen. Nun stand Solidarność vor der Aufgabe, die ruinierte Wirtschaft zu reformieren. Dafür brauchte es dringend Gelder, um den Staatsapparat am Leben zu halten und nicht an den Staatsschulden bankrott zu gehen. Die Gewerkschaft schlug ein ökonomisches Programm vor, in dem Staatsbetriebe in selbstverwaltete Kooperativen umgewandelt werden sollten. Das war jedoch nicht kompatibel mit den Bedingungen, die der IWF für die Vergabe von Hilfsgeldern in Milliardenhöhe aufstellte. Das Abkommen sah die Abschaffung von Preiskontrollen, den Abbau von Subventionen, sowie den Verkauf der staatlichen Minen, Werften und Fabriken vor. Nach kurzer Zeit gab es im schwer verarmten Polen nun zwar wieder Brot in den Supermärkten zu kaufen. Dieses konnte sich jedoch kaum jemand leisten. Die Einkommensunterschiede stiegen rasant, 1994 ging die Arbeitslosenrate auf 16,4% hoch. Außerdem wurden 33% der Betriebe geschlossen. Laut Berechnungen eines polnischen Ökonomen hätte es 2016 1,5 Millionen weniger Arbeitslose gegeben, wenn die Reformierung der Wirtschaft nicht neoliberalen Grundsätzen gefolgt wäre.

Neoliberale Reformen würden für Belarus bedeuten, dass die staatseigenen Unternehmen, in denen 39,2% der Bevölkerung arbeiten, privatisiert und an ausländische Investor*innen verkauft werden. Das würde einen harten Schlag für den belarussischen Staatshaushalt bedeuten. Dadurch könnten internationale Kredite nicht mehr gedeckt werden, woraufhin der IWF nun von der Regierung verlangen könnte, die Wirtschaft durch Strukturanpassungsprogramme zu sanieren. Die Folgen wären absehbar: Abbau der universellen Gesundheitsversorgung und des Bildungswesens, Kürzung der Sozialhilfen, Flexibilisierung von Arbeitsverhältnissen, Streichung von Arbeitsschutzgesetzen. Die daraus resultierende Verarmung der Bevölkerung stellt für die EU eine Chance auf billige Arbeitskräfte dar, welche nur einen Steinwurf entfernt sind. Vom Beispiel Polens lässt sich auch ableiten, welche langfristigen Szenarien bei der neoliberalen Umwandlung der belarussischen Gesellschaft möglich sind. Die doppelte Enttäuschung – erst vom Staatssozialismus, dann von den Arbeitsrechtsreformen westlicher Demokratien – schafft einen Nährboden für das Erstarken faschistischer Bewegungen. Nicht nur der Aufschwung der polnischen rechtskonservativen PiS-Partei, sondern auch die Entwicklungen in Ungarn oder in der Ukraine verstärken das Bild einer (solchen) historischen Konstante.

In beiden oben beschriebenen Szenarien – Annäherung an die EU oder Russland – gehen wir also davon aus, dass sich die materiellen Lebensbedingungen der lohnabhängigen Klassen verschlechtern werden. Die unmittelbaren Verbesserungen, die mit einer Liberalisierung einhergehen können, wollen wir dabei nicht unter den Teppich kehren: aktuell werden Menschen für die Teilnahme an einer Demonstration oder Mitgliedschaft in einer politischen Organisation verhaftet, gefoltert und ermordet. Die Hoffnung, nach dem Sturz Lukashenkos neu gewonnene Freiheiten für eine langfristige Politisierung der Bewegungen nutzen zu können, ist unter diesen Umständen nachvollziehbar und berechtigt. Trotzdem sehen wir in der aktuellen Situation auch das Potential, dass die Proteste nicht nur minimale Verbesserungen, sondern auch aus sozialrevolutionärer Sicht positive tiefgreifende Veränderungen mit sich bringen. Die Nachbarschaftsversammlungen, die inzwischen überall in Minsk stattfinden, sind zu einer wichtigen Basis für die Proteste geworden. „Wir organisieren gegenseitige Hilfe wenn jemand etwas braucht, veranstalten Flohmärkte aus deren Erlös die Bußgelder gedeckt werden, die die Regierung von Demonstrierenden verlangt. Und wir helfen denen, die von der Polizei Gewalt erfahren“, erzählt Jasja bei einem dieser Treffen. „Das sind kleine Schritte, mit denen wir ein wenig Macht erlangen. Wenn wir all diese kleinen Schritte vereinen, haben wir große Macht“, ergänzt Wera ihre Nachbarin. Hier werden revolutionäre Konzepte wie Gegenmacht, gegenseitige Hilfe oder Dezentralisierung gelebt, auch wenn sie nicht immer als solche benannt werden.
Zwar scheinen bisher eher wenige Menschen die Nachbarschaftsorganisierung als Kernstück einer neuen Gesellschaftsordnung zu betrachten. Aber für eine Gesellschaft, die sich jahrzehntelang unter einem repressiven Regime weggeduckt hat, stellt diese Selbstermächtigung einen enormen Schritt dar.

Ähnliches lässt sich über die Selbstorganisierung der Arbeiter*innen sagen. Auch wenn den vergangenen Aufrufen zum Generalstreik, zuletzt zum 26. Oktober, nur einige Betriebe folgten, ist die Idee des Streiks als politischem Instrument dennoch in der Bewegung verankert. Langsam entstehen auch erste Impulse kollektiver Arbeit: Seit drei Jahren besteht in Minsk ein Druckerei-Kollektiv, das inzwischen vier Personen einen Lebensunterhalt garantiert. In den Protesten spielen sie eine wichtige Rolle: „Alle Druckereien hier werden zensiert, so dass sich seit Beginn der Proteste viele weigern, irgendetwas zu drucken, was damit oder der weiß-rot-weißen Symbolik zu tun hat. Aber unser Kollektiv arbeitet von Anfang an ohne jegliche Zensur. Als zum Streik aufgerufen wurde, druckten wir alle Materialien dazu kostenlos oder gegen Spenden“, erzählt ein Mitarbeiter.

Allerdings gibt es verschiedene Hürden, die der Entstehung einer kämpferischen Arbeiter*innenbewegung im Wege stehen. Zum einen die mangelnde Tradition gewerkschaftlicher Organisierung. Die staatlichen Gewerkschaften sind in realsozialistischer Kontinuität vor allem ein Mittel der verstärkten Ausbeutung, jeder Versuch der Selbstorganisierung wird im Keim erstickt. Genau wie in der BRD gibt es in Belarus kein Recht auf politischen Streik, auf die erste Streikwelle im August folgten Massenentlassungen und Verhaftungen. Zum anderen wird jegliche sozialistische oder kommunistische Rhetorik mit dem Lukashenko-Regime und Abhängigkeit von der Sowjetunion in Verbindung gebracht. „Nach 26 Jahren Überleben im „Sozialstaat“ glauben die Menschen nicht an Sozialismus. Durch die lange sowjetische Geschichte und der kontinuierlichen pro-kommunistischen Rhetorik in Fernsehen und Alltag, sind sie skeptisch im Bezug auf Kommunismus.“, berichtet ein belarussischer Anarchist im Interview mit Crimethink. Das macht es auch für jede außerparlamentarische Opposition schwer, revolutionäre Ideen mit realpolitischer Perspektive in der Gesellschaft zu verankern.

Ein mögliches Ende des Regimes wird kein Machtvakuum nach sich ziehen: schon jetzt verhandeln verschiedene oppositionelle und internationale Akteur*innen und Teile der herrschenden Klasse, um die ökonomischen und politischen Verhältnisse des Belarus von morgen neu zu ordnen. Die breite Protestbewegung hat momentan keine gemeinsame Vorstellung davon, was in dieser Situation geschehen soll. Nach monatelangen Protesten und einem ersten Erfolg ist es nicht unwahrscheinlich, dass sich viele durch kleine Zugeständnisse, wie Amnestie für gemäßigtere politische Gefangene, vorerst befrieden lassen. Wenn aber neoliberale Reformen mit der gleichen Geschwindigkeit wie z.B. in Polen umgesetzt werden, muss die Antwort der Bewegung direkt kommen. Wenn es einen Raum für die Mitgestaltung der Veränderung gibt, dann jetzt. Was es braucht, ist eine Organisierung der Gesellschaft an der Basis. Nur wenn sich die Nachbarschaftsversammlungen und Ansätze der unabhängigen Gewerkschaften konföderieren, können sie die Vision so einer Veränderung entwickeln. Die Impulse dafür zu setzen ist Aufgabe einer organisierten Kraft, die das Ende des Lukashenko-Regimes erst als Anfang einer sozialrevolutionären Umgestaltung der belarussischen Gesellschaft begreift

Diese Kraft sehen wir momentan am ehesten in der belarussischen anarchistischen Bewegung. Anarchist*innen haben von Beginn an an den Demonstrationen teilgenommen, sich in den Nachbarschaftsversammlungen eingebracht, Texte gedruckt und Programme veröffentlicht. Tatsächlich ist die anarchistische Bewegung die einzige größere linksradikale Kraft, die die Proteste unterstützt, da ein Großteil der kommunistischen Bewegung in regimetreuen Parteien organisiert ist. Das Potential, dass in der Annäherung der breiten Protestbewegung an libertäre Ideen steckt, hat auch das Regime erkannt: eine Verhaftungswelle folgt der nächsten, der größte Teil der Bewegung ist im Knast oder auf der Flucht, einigen Anarchist*innen droht nun sogar die Todesstrafe. Als Internationalist*innen begreifen wir die Kämpfe in Belarus auch als unser Ringen um eine lebenswerte Zukunft. Nicht aus einem westlichen Paternalismus heraus oder weil es hier nichts zu tun gäbe. Sondern weil auch die Kräfte der Herrschaft und Unterdrückung nicht vor Staatsgrenzen halt machen und ein Kampf um Befreiung genau deshalb nur international sein kann.

Die Kämpfe in Belarus stellen uns vor die Wahl: bleiben wir am Rand stehen als Zuschauer*innen von Kämpfen, deren Ende im Neoliberalismus doch eh schon zu Beginn klar war. Oder aber bringen wir uns ein, organisieren Kundgebungen, sammeln Soligelder, finden heraus, wer hier in der BRD an der Unterdrückung unserer Genoss*innen verdient. Und zeigen ihnen, dass sie nicht allein sind. Belarus befindet sich in einer Zeit des Umbruchs. Nach Jahren des Schweigens und der Isolation spüren die Menschen jetzt, dass die Macht auf der Straße liegt, dass nichts bleiben muss wie es ist.

Wir wünschen ihnen dabei viel Kraft und Hoffnung.

# Titelbild: Ara Holmes, Kim Garcia, Sonntagsdemo am 18.10.2020

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Seit der offensichtlich gefälschten Wiederwahl des belarussischen Präsidenten Lukashenko im August kommt es in dem Land zu der größten Protestwelle seiner Geschichte. Wie bereits zuvor im Lower Class Magazine berichtet, beteiligen sich hunderttausende Menschen an den Demonstrationen und Nachbarschaftsversammlungen. Doch was fordern die Menschen auf der Straße? In welchem Zusammenhang stehen die Proteste zu der tiefen ökonomischen Krise, in der Belarus seit Jahren steckt? Und welche Rolle spielen die politischen Interessen Russlands und des europäischen Auslands? Teil 1 einer Analyse.

Um diese Fragen zu beantworten, hilft ein Blick in die jüngere Geschichte des osteuropäischen Staates. Der Kollaps der Sowjetunion im Jahr 1991 bewirkte, dass ein Großteil der Ex-Sowjetstaaten in eine tiefe politische und ökonomische Krise rutschte. Infolgedessen wurde ein Großteil der ehemals staatlichen Unternehmen an mafiöse oligarchische Strukturen verscherbelt, was weite Teile der Proletarisierten ihrer Lebensgrundlagen beraubte und sie in bittere Armut stürzte.

Das Besondere am belarussischen Staat ist, dass er einen solchen tiefgreifenden ökonomischen und sozialen Wandel verhindern konnte. Besonders im Vergleich zu seinen Nachbarstaaten hat sich Belarus auf wirtschaftlicher und administrativer Ebene seit 1991 erstaunlich wenig verändert. Der seit 1994 amtierende Präsident des Landes Lukashenko regiert ohne nennenswerte Opposition, gestützt auf einen riesigen Bürokratieapparat und ein Netz der Privilegien. Dazu gehören die Polizeibehörden und der Geheimdienst (KGB), welche zahlreich, loyal und gut finanziert sind. Jeder Versuch einer organisierten Opposition – ob selbstorganisiert oder durch Wahlen – wird mit aller Härte unterdrückt.

Auch die belarussische Wirtschaft orientiert sich immer noch relativ stark am Muster der zentral geplanten sowjetischen Industrienationen. Anders als andere ehemalige Ostblockstaaten blieben im Laufe der 1990er Jahre weite Teile der Schlüsselindustrien von Privatisierungen verschont. So arbeiteten 2015 39,2% der Bevölkerung in staatlichen Betrieben, welche einen großen Teil der belarussischen Exportgüter erzeugen. Zwar entstand in den letzten Jahren besonders im Raum Minsk ein florierender IT-Sektor, dieser stellt aber noch einen relativ kleinen Teil des belarussischen BIP dar. Ein Großteil der belarussischen Arbeiter*innenklasse ist Mitglied eines staatlichen Gewerkschaftsbündnis, welches als Relikt der Sowjetzeit relativ loyal zum Regime ist. Dies beginnt sich allerdings in den letzten Jahren unter dem Eindruck der Wirtschaftskrise zu ändern.

Ein weiteres Erbe der sowjetischen Verhältnisse sind die (zumindest bis vor kurzem) guten Lebensbedingungen der belarussischen Bevölkerung: annähernde Vollbeschäftigung, ein relativ gut ausgebautes Bildungs- und Gesundheitssystem, staatlich fixierte Lebensmittel- und Wohnpreise, eine relativ geringe Armutsquote. Es wäre jedoch falsch, den relativen Erfolg der belarussischen Nationalökonomie im Vergleich zu anderen Ex-Sowjetstaaten den besonderen Fähigkeiten des Lukashenko-Regimes zuzuschreiben. Einer der Hauptgründe, weshalb Belarus dieses Modell aufrechterhalten konnte, ist die direkte und indirekte Unterstützung durch den russischen Staat, in Form von Krediten und billigen Öl- und Erdgasexporten. Bis vor wenigen Jahren bezahlten belarussische Unternehmen nur 50% der Weltmarktpreise für Rohölexporte. Diese werden in zum großen Teil staatseigenen Raffinerien weiterverarbeitet und stellen einen Hauptteil der belarussischen Exportbilanz dar.

Dieser Grundpfeiler der belarussischen Wirtschaft gerät jedoch zunehmend ins Wanken: In den letzten Jahren wurden die preislichen Privilegien für den Energiesektor zunehmend revidiert, bereits jetzt verlangen russische Energieunternehmen 80% der Weltmarktpreise, bis 2025 sollen es 100% sein. Einerseits versucht der russische Staat dadurch, Druck auf Belarus aufzubauen um diesen näher an die eigene wirtschaftliche Einflusszone anzubinden. Andererseits spiegelt die Preiserhöhungen die Krise des russischen Energiesektors infolge des globalen Verfalls der Ölpreise wider.

Insgesamt lässt sich also sagen, dass das ökonomische Paradigma des belarussischen Staates – staatlich gelenkte, personalintensive Industrieproduktion einerseits, Verarbeitung und Export von Öl und Gas andererseits – an seine Grenzen stößt. Im Zuge der globalen Verwertungskrise des Kapitals ist also auch das Minsker Regime gezwungen, eine zunehmend marktliberale Politik zu führen. So verabschiedete die Regierung 2017 ein Gesetz, welches Arbeitslosigkeit als „sozialen Parasitismus“ unter Strafe stellt. In den folgenden Jahren kam es infolge von Verhandlungen mit internationalen Kreditinstituten zur Rücknahme der staatlich fixierten Wohnpreise, wodurch seitdem vor allem in den Großstädten die Mieten stark gestiegen sind.

In dieser Situation trifft die Corona-Krise den belarussischen Staat besonders hart, da er es sich schlicht nicht leisten kann, seine schwächelnde Wirtschaft nennenswert durch Schutzmaßnahmen einzuschränken. Dazu kommen mangelnde Gelder für genügend Schnelltests und Schutzausrüstung. In dieser Situation entschied sich das belarussische Regime, den Umfang der Pandemie herunterzuspielen. Lukashenko sprach öffentlich davon, dass das Virus sich durch genügend Saunagänge und Vodka von selbst erledige, während Corona-Tote in den Staatsmedien als einfache Lungenentzündungen registriert wurden. Diese gezielten Desinformationen werden von der breiten Bevölkerung zunehmend als solche erkannt: „In diesem Staat basiert alles auf Lügen. Sie lügen über COVID, sie lügen über die Wahlen, sie lügen in der Schule und sie lügen über die Wirtschaft.“ erzählt uns Wera, 67, bei einer Nachbarschaftsversammlung. Gleichzeitig entwickeln sich verstärkt Netzwerke der gegenseitigen Hilfe, welche versuchen, eine flächendeckende Gesundheitsversorgung aufrechtzuerhalten. Diese Netzwerke bilden eine Grundlage für die Nachbarschaftsversammlungen, welche bis heute das Rückgrat der Protestbewegung darstellen.

Dass es am Wahlabend zu ersten Demonstrationen kam, war also absehbar, neu war aber das Ausmaß. Die Proteste werden von einem breiten gesellschaftlichen Bündnis getragen. „Für eine lange Zeit lebten wir unter diesem Staat nach dem Prinzip: je weniger du sagst, desto sicherer bist du. Aber das ist jetzt aufgebrochen, das hat unsere Realität verändert. Wir wissen jetzt, dass wir zwar alle unterschiedlich sind, aber trotzdem in eine ähnliche Richtung wollen. Wir hören einander zu“, erzählt Wera. Ob das so bleibt, wird sich zeigen. Im Moment sind verschiedene Klasseninteressen vereint, die sich aber bei der Frage einer neuen Gesellschaftsordnung zwangsläufig gegenüberstehen werden.

Die boomende IT-Branche, die vergangenes Jahr für die Hälfte des Wirtschaftswachstums verantwortlich war, würde, genau wie andere Unternehmer*innen von weiteren marktliberalen Reformen profitieren. Sich selbst als progressiv, westlich und anti-sowjetisch verstehend, drohen 300 führende IT-Unternehmen das Land zu verlassen, sollte es nicht zu Neuwahlen und einem Ende der Polizeigewalt kommen. Auch die althergebrachte bürgerlich-intellektuelle Opposition hat wohl ein Interesse an einer Liberalisierung der Märkte, sowie „freien“ Kulturbetrieben ohne ideologische Abteilungen und Zensur. Bei den vielen Jugendlichen und Studierenden ist naheliegend, dass sie im Anbetracht schlechter Zukunftsaussichten in einem Land mit 400 Euro Durchschnittseinkommen für bessere Perspektiven auf die Straße gehen. Dabei wäre es zu kurz gegriffen, diese Perspektiven rein ökonomisch zu betrachten: mit einer Liberalisierung des Landes verbinden viele auch politische und kulturelle Freiheiten, Nachtleben, Befreiung des Alltagslebens und alternative Lebensentwürfe – Dinge, die in der postsowjetisch geprägten belarussischen Gesellschaft oft als westlicher Lifestyle idolisiert werden.

Eine sehr wichtige Rolle spielen aber auch Fabrikarbeiter*innen und Angestellte des Dienstleistungssektors mit ihren Streiks. Die Proteste verbinden viele mit der Hoffnung auf ein Ende der belarussischen Wirtschaftskrise. Dieses breite Bündnis spiegelt sich auch in den Forderungen der Präsidentschaftskandidat*innen wieder. Sie sprechen kaum über ihr politisches Programm, sondern nur über faire Wahlen und ein Ende der Polizeigewalt.

Viktor Babariko, ehemaliger Chef der russischen Belgazprombank, wird wohl russische Kapitalinteressen vertreten und sich eher wenig für die Rechte von Arbeiter*innen interessieren. Nachdem ihm und anderen bedeutenden Präsidentschaftskandidat*innen die Zulassung entzogen wurde oder sie verhaftet wurden, blieb noch Svetlana Tikhanovskaya. Lukashenkos Chauvinismus verhinderte, dass er in ihr als Frau eine Bedrohung sah. Unterstützt von zwei Frauen anderer Wahlkampfstäbe vereinte sie verschiedene oppositionelle Fraktionen. Im Rahmen ihrer Wahlkampftour bot sie in verschiedenen Teilen des Landes Bühnen mit offenem Mikrofon, die Arbeiter*innen und kleinen Unternehmen eine Plattform boten, um sich über ihre Probleme auszutauschen. Diese Kundgebungen entwickelten sich zu den bis dahin größten des Landes in den letzten Jahrzehnten und schufen somit eine weitere Basis für die Aufstände.

Ihr gegenüber stehen einige ebenfalls sehr einflussreiche Blogger*innen, wie der aus dem polnischen Exil arbeitende Telegramkanal Nexta. Auch die anarchistische Bewegung des Landes hat es in den Protesten geschafft, an Einfluss und Popularität zu gewinnen (LCM berichtete). Die Diversität der Protestbewegung trägt mit sich, dass sie kaum durch eine gemeinsame langfristige politische Perspektive geeint wird: sie verbindet vor allem die Wut auf die bestehenden Verhältnisse und die harte Reaktion der Repressionsbehörden. So kommt es, dass das positive verbindende Element der Proteste vor allem Nationalismus ist. Aber die Idee einer unabhängigen belarussischen Nation, die selbstbestimmt über ihr Schicksal entscheidet, entbehrt jeder materiellen Grundlage. Die Wirtschaft des Landes ist strukturell abhängig von Krediten und Subventionen ausländischer Mächte und diese werden ihren Einfluss auf die Neugestaltung des Landes geltend machen. Die tiefgreifenden Veränderungen, die das Land im Falle einer Anpassung an den kapitalistischen Weltmarkt erwarten, werden notwendigerweise Gewinnerinnen und Verlierer erzeugen.

Es ist also klar, dass Nationalismus als Basis einer Protestbewegung, die ein gutes Leben für alle will, ungeeignet ist. Welche klassenkämpferischen und emanzipatorischen Perspektiven es davon abgesehen trotzdem gibt, beschreiben wir im zweiten Teil unserer Analyse.

# Titelbild: Ara Holmes, Kim Garcia, Viertel in Minsk

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Mit einem trilateralen Abkommen zwischen Armenien, Aserbaidschan und Russland wurde nach 44 Tagen der Krieg um die umstrittene Region Berg-Karabach beendet. Analyse eines dramatischen Zerfalls Armeniens und einer neuen politischen Situation in der Region.

Seit dem 10. November schweigen die Waffen. Rund 2.000 russische Soldaten überwachen den Waffenstillstand in der Region, die die Armenier*innen Arzach nennen und das bis vor kurzem die selbst erklärte Republik Arzach war. Der Krieg, der jetzt vorerst vorbei scheint, begann am 27. September mit einem groß angelegten Angriff seitens Aserbaidschans mit Hilfe der Türkei. Obwohl die armenische Armeeam Anfang einige Abwehrerfolge erzielen konnte, wurde mit der Zeit die türkisch-aserbaidschanische Überlegenheit zu groß. Besonders mithilfe der türkischen und israelischen Drohnen konnte Aserbaidschan zusammen mit den von der Türkei rekrutierten islamistischen Dschihadisten an der Südfront vorrücken. Da das Gelände dort flach ist, kontrollierte Aserbaidschan nach rund vier Wochen die südliche Grenze zum Iran, während sich Armenien in die Berge zurückzog. Die Drohnen erwiesen sich als sehr effizient und waren kriegsentscheidend: Obwohl die Verluste Aserbaidschans in die tausenden gehen, konnte damit regelmäßig vorgerückt werden.

Die entscheidende Schlacht begann um die Stadt Shushi, den die Aserbaidschaner*innen Shusha nennen und die im nationalen Mythos eine große Bedeutung hat, weil viele Schriftsteller*innen und Poet*innen aus erStadt kommen, die nur vier Kilometer von der Hauptstadt Azrachs,Stepanakert, entfernt liegt. Am 29. Oktober sagte der Präsident der Republik Arzach, Arayik Harutyunyan, dass die aserbaidschanischen Truppen nur fünf Kilometer vor der Stadt seien: „Wer Shushi kontrolliert, kontrolliert Arzach”, so die Aussage, die auch zutreffend beim letzten Krieg war, als die armenischen Partisan*innen die Stadt im Handstreich erobern konnten und von da an einen strategischen Vorteil hatten.

Doch Shushi wurde de facto ohne Kampf aufgegeben, am 8. November die Evakuierung der Stadt angeordnet. Spätestens als dann der aserbaidschanische Diktator Ilham Aliyev die Stadt für “befreit” erklärte und das Verteidigungsministerium in Baku entsprechende Bilder verbreitete, kam es zu einem beispiellosen Zerfall der armenischen Front, ja des armenischen Staates ingesamt.

Was besagt das Abkommen?

Bis zum Redaktionsschluss war nicht bekannt, wo sich der armenische Premierminister Nikol Paschinyan befindet. Paschinyans Verschwinden hängt damit zusammen, dass sich im Land eine enorme Wut gegen ihn richtet, weil er nach eigener Aussage das trilaterale Abkommen, das den Krieg beendet hat, unterzeichnet hat. Was besagt dieses Abkommen? Im Grunde ist es eine Kapitulation Armeniens und eine nationale Demütigung:

  • Ab dem 10. November tritt ein Waffenstillstand ein, beide Kriegsparteien bleiben an ihren Positionen; russische „Friedenstruppen” sorgen für die Einhaltung dessen
  • Armenien zieht sich in dei Phasen bis zum 1. Dezember aus den sieben umliegenden Provinzen zurück, Aserbaidschan übernimmt
  • Karabach wird de facto aufgeteilt, Aserbaidschan behält die eroberten Gebiete, wie Hadrut und Shushi; der Status der Region bleibt unklar
  • Der Rest von Azrach mit Stepanakert bleibt armenisch, die Versorgung über den Lachin-Korridor unter russischer Kontrolle sichergestellt
  • Die über 90.000 Geflüchteten aus Azrach können in die Restgebiete Karabachs zurückkehren
  • Austausch von Gefangenen und toten Soldaten
  • Aserbaidschan bekommt über Südarmenien eine direkte Verbindung zu seiner Enklave Nachitschewan. Diese Verbindung wird vom russischen Geheimdienst FSB überwacht.

Für Aserbaidschan bedeutet dieses Abkommen einen enormen Gewinn, besonders hinsichtlich der sieben Provinzen und der Einnahme Shushis. Das Land hatte infolge der letzten Kriegsniederlage ein tiefes nationales Trauma erlitten und rund 700.000 Geflüchtete im eigenen Land. Selbst heute noch bilden die Geflüchteten 7 Prozent der aserbaidschanischen Gesellschaft. Einige von ihnen sind zwar zum Beispiel nach Russland immigriert, andere wiederum werden sicherlich in diese Provinzen zurückkehren. Es bleibt aber fraglich, wie ihre soziale Lage inmitten eines hochmilitarisierten Gebiets sein wird, zumal seitens der Diktatur wenig Unterstützung kommen wird. Die Regierung kümmerte sich schon in den 90er-Jahren kaum um die Geflüchteten, sodass diese sogar Jahre später noch in Lagern lebten.

Karte: wikimedia commons emreculha, CC BY-SA 4.0,

Der letzte Punkt wiederum ist vielleicht der brisanteste, auch wenn er derzeit nicht so im Rampenlicht steht: Es ist die Realisierung der panturkistischen Träume von Reçep Tayyip Erdogan, da die Türkei damit eine direkte Verbindung bis nach Baku, zum ölreichen Kaspischen Meer bekommt. Für die Türkei bedeutet das die Etablierung im Südkaukasus, nachdem sie im Krieg quasi Kriegspartei war und an den Planungen und Durchführungen der Militäroperationen direkt beteiligt war. Anfang Oktober schoss ein türkischer F-16-Kampfjet sogar einen armenischen Kampfjet über armenisches Territorium ab; immer wieder heizte Ankara den Krieg unter dem panturkistischen Motto “Eine Nation, zwei Staaten” den Krieg an und drohte offen mit einer direkten Intervention.

Erdogan wird sich in dem Einsatz der islamistischen Söldner bestätigt sehen und diese als nächstes gegen Rojava einsetzen, da sie zusammen mit Aserbaidschan als klare Gewinner des Krieges rausgehen. Zwischenzeitlich war sogar auch von türkischen “Friedenstruppen” die Rede, die ebenfalls zusammen mit den russischen Streitkräften das Abkommen (das zunächst für fünf Jahre gilt) überwachen sollten, aber das wird nicht der Fall sein und wäre angesichts der türkischen Aggressionen blanker Zynismus. Nichtsdestotrotz wird die Türkei ihren Einfluss auf Aserbaidschan ausweiten und sehr wahrscheinlich eine Militärbasis im Land aufbauen. Mehrere hundert Militärangehörige waren die gesamte Zeit über im Land: Der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar war bei der Lancierung des Angriffs sogar im Kommandostab dabei.

Die Türkei hat es damit trotz großer eigener wirtschaftlicher Probleme geschafft, im Südkaukasus einen Zwischenerfolg zu erringen und das in einer Zeit, wo im Land selbst der Hunger wächst, wie der Kolumnist Bülent Mumay für die FAZ schreibt: “Der Konsum roten Fleisches ist im Laufe der vergangenen zwölf Monate um dreißig Prozent gesunken. Der Verkauf von Nudeln, einem der günstigsten Nahrungsmittel, stieg um 25 Prozent. Einer universitären Studie zufolge reicht in 38 Prozent der Haushalte das Geld nicht mehr für den Lebensmittelbedarf aus. Siebzig Prozent der Bürger kommen kaum über die Runden. Aus Verzweiflung häufen sich die Suizide. In den letzten fünf Jahren, die wir in der Wirtschaftskrise stecken, setzten 1380 Personen ihrem Leben aus wirtschaftlicher Not ein Ende.”

Hinzukommen 20.000 Verhaftungen von HDP-Politiker*innen in den letzten vier Jahren, die letzte große Welle gab es jüngst kurz vor Beginn des Krieges. Der Krieg der Türkei in Arzach war damit die Fortsetzung des Krieges im Inneren, aber es wird zu sehen sein, wie lange diese fragile Balance noch anhalten wird.

Die Bourgeoisie führt das Land in den Ruin

Auf der anderen Seite mutierte Armeniens Premierminister Nikol Paschinyan aufgrund der Unterzeichnung des Abkommens zur Hassfigur.. In der Nacht zum 10. November stürmten tausende Demonstrant*innen das Parlament und das Regierungsgebäude. Der Parlamentssprecher Ararat Mirzoyan wurde fast zu Tode geprügelt und liegt im Krankenhaus. Stundenlang war von Paschinyan selbst nichts zu hören, ehe er sich mitten in der Nacht per Livevideo von seinem privaten Facebook-Account meldete — allein diese Tatsache zeigt deutlich den dramatischen Zerfall der armenischen Staatsstrukturen. Die Regierung ist abgetaucht, die Armee in Auflösung begriffen und die oligarchische Opposition um den 2018 gestürzten Sersch Sargsyan in Lauerstellung für einen Putsch. Selbst der armenische Präsident Armen Sarkisyan erklärte, dass er von dem Abkommen durch die Presse erfahren habe.

Es herrscht eine desaströse Situation im Land, wo ein Teil den Kopf von Paschinyan fordert und in ihm den größten Verräter in der armenischen Geschichte sieht. Dieser wehrt sich und erklärte in seinem Livevideo, dass die korrupte Oligarchie um die ehemaligen Machthaber Robert Kocharyan und Sersch Sargsyan die Verantwortung für die militärische Niederlage trage, da sie das Land 25 Jahre ausgeplündert und die Armee unterfinanziert habe. Beide Tatsachen sind unbestritten richtig, aber das Problem sind nicht einzelne Personen, die Oligarchen, sondern die Klassenherrschaft der Bourgeoisie insgesamt. Armenien war im Krieg von Anfang gewaltig im Nachteil, nicht nur was die Ausrüstung anging (Aserbaidschans Militärbudget ist größer Armeniens gesamter Haushalt), sondern auch, was die Unterstützung von außen anging: Russland verhielt sich äußerst passiv und reagierte selbst dann nicht, als kurz vor dem Abkommen ein russischer Militärhubschrauber über Armenien von Aserbaidschan abgeschossen wurde und zwei russische Soldaten starben.

Zwar wurden die moskauhörigen Machthaber wie Kocharyan und Sargsyan nach der demokratischen Massenbewegung 2018 vor Gericht gebracht, allerdings fand eine Verurteilung, geschweige denn eine Enteignung ihrer riesigen Vermögen nie statt. Während es den Selbstverteidigungskräften Arzachs, die zu Recht für ihr Selbstbestimmungsrecht kämpften, sogar Schutzkleidung mangelte, wurde das Vermögen der reichen Bourgeoisie nicht angetastet. Während in der Diaspora für Armenien gespendet wurde und alleine über den zentralen Hilfsfonds Himnadram 160 Millionen US-Dollar zusammenkamen, wurde zur gleichen Zeit einer reichsten Menschen des Landes, Gagik Tsarukyan, aus der Untersuchungshaft entlassen und plant zusammen mit der alten Elite ein politisches Comeback. Er unterzeichnete zusammen mit 16 weiteren (teilweise sehr kleinen) Parteien noch vor der Unterzeichnung des Abkommens ein Dokument, das den Rücktritt der Regierung forderte. Mit dabei ist auch die Partei von Sersch Sargsyan, der aber im Land weiterhin sehr unpopulär ist.

Armenien konnte im Zuge der sogenannten Samtenen Revolution wirtschaftlichen Fortschritt und demokratische Errungenschaften vorweisen. Es bleibt nicht zu vergessen, dass das armenische Proletariat nach jahrzehntelanger neoliberaler Indoktrination am 2. Mai 2018 ein fulminantes Comeback hinlegte und mit einem spektakulären Generalstreik dafür sorgte, dass letztendlich Paschinyan Premierminister wurde. Anfang Dezember 2018 fanden in Armenien nach sehr langer Zeit wieder freie Wahlen statt, auch die Presse- und Versammlungsfreiheit besserte sich. Nun aber stehen diese Errungenschaften auf dem Spiel, weil nicht nur politisches Chaos herrscht, sondern sogar ein Bürgerkrieg droht.

Das Abkommen zementiert auch die politische Herrschaft des Kremls über Armenien: Russland zwang dieses Abkommen Yerevan auf und verwandelt das Land damit in seine eigene Kolonie. Die Tatsache, dass Arzach aufgeteilt und unter russischer Herrschaft gestellt wird, ist eine Tatsache, eine andere, dass der FSB die Routen Armeniens mit Aserbaidschan und dem Iran überwacht. Russland ist schon länger für die Überwachung der Grenzen zur Türkei und dem Iran zuständig und hat eine eigene, souveräne Militärbasis im Land und weitet diese Präsenz nun weiter aus. Das Abkommen ist auch eine Bestrafungsaktion dafür, dass die liberale Regierung es wagte, sich mehr in Richtung Westen zu bewegen, freilich ohne mit Moskau zu brechen (im Gegensatz etwa zu den rein westlich orientierten ehemaligen Präsidenten Michail Saakaschwili in Georgien oder Petro Poroschenko in der Ukraine).

Dieser Krieg hinterlässt eine tiefe Wunde im nationalen Bewusstsein der Armenier*innen, nicht nur weil es eine Niederlage gab, sondern wie diese Niederlage zustande kam. Tausende Soldaten starben, mehr als 90.000 Menschen sind geflüchtet, sodass gleichzeitig eine ethnische Säuberung stattfand und die Bilder der flüchtenden Konvois nur allzu sehr an die Bilder auf Afrin 2018 erinnern, die ebenfalls Opfer der türkisch geführten Aggression wurden. Zusammen mit der heftig wütenden Corona-Pandemie im Land und einer kommenden politischen Machtprobe befindet sich das Land am Abgrund und so wie es aussieht, wird die nächste Regierung sowieso unter der Kontrolle Russlands stehen.

Aber das ist die Geschichte Armeniens über Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg, eine Geschichte des Überlebens. Auch wenn die unmittelbare Zukunft düster aussieht und viel Ungewissheit mit sich bringt, bleibt der Geist der Massenmobilisierungen und des Generalstreiks im Gedächtnis.

# Titelbild: ANF, Ein zerstörtes Haus in Shuhsi

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Zwischen Armenien und Aserbaidschan herrscht Krieg. Am 27. September verhängte Armenien, Mitglied der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) das Kriegsrecht und rief zur Mobilmachung auf. Als Grund dafür werden Angriffe des benachbarten Aserbaidschan auf die formell unabhängige, aber de facto zu Armenien gehörende Republik Bergkarabach (Arzach) genannt. Der Nachbar leugnete seinerseits die Offensive nicht und verweist darauf, dass es sich beim attackierten Bergkarbach völkerrechtlich gesehen um sein eigenes Territorium handelt, weshalb es sich eigentlich um eine Befreiung von einer fremden Besatzungsmacht handle. Das völkerrechtliche Argument aufgreifend meldete sich auch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan zu Wort und wünscht Aserbaidschan viel Erfolg und wenig Störung von außen.

Der Militäretat des erdölreichen aserbaidschanischen Staates übersteigt das gesamte Staatsbudget von Armenien beim weitem. Armenien ist zwar über die OVKS nicht nur mit Belarus, Kasachstan, Kirgistan und Tadschikistan, sondern auch mit der Atommacht Russland verbündet. Aber formell führt Aserbaidschan seinen Krieg nur gegen die von niemandem, nicht mal von Armenien selbst anerkannte Republik Bergkarabach — für die OVKS liegt also kein Bündnisfall vor.

Die mit zahlenmäßiger und technischer Übermacht konfrontierte Regierung in Jerewan ergreift die letzen Strohhalme, indem sie darauf verweist, dass a) Armeniern ein neuer Genozid drohe (Appel an die Weltöffentlichkeit), b) in Wirklichkeit auf der Gegenseite türkische Truppen oder zumindest islamistische Söldner aus Syrien kämpfen (Appel an russische Interesse am Erhalt des eigenen Machtbereiches in der Region) und schließlich (c) darauf, dass man eine „junge Demokratie“ sei, während in Aserbaidschan eine korrupte Dynastie diktatorisch regiert (Appel an die westlichen Mächte, die sich als Betreuer der Demokratie weltweit aufführen).

Niemand bestreitet ernsthaft, dass der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew die Ölreserven des Landes faktisch zum Eigentum seiner Familie machte, womit die politische wie wirtschaftliche Konkurrenz in der Republik ihre Ende nahm. Auch dass die Türkei sich ganz ohne Rücksicht auf ihre NATO-Partner in einen laufenden Konflikt einmischt ist kein Geheimnis.

Doch zugleich ist Aserbaidschan ein wichtiger Handelspartner sowohl Russlands als auch aller westlichen Mächten – unter anderem ist es der größte Wirtschaftspartner der Bundesrepublik in Transkaukasien. Die Weltmächte kommen ihrer Pflicht nach, indem sie von beiden Konfliktparteien Feuereinstellung verlangen, was allerdings zunächst keinerlei Wirkung hat. Die Türkei und Afghanistan stellen sich offiziell auf die Seite Aserbaidschans und betonen dabei den eindeutigen völkerrechtlichen Status der besetzten Gebiete.

Recht der Völker vs. Völkerrecht

Beim Zerfall der UdSSR beriefen sich sowohl Armenier wie auch Aserbaidschaner auf das von der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) propagierte „Recht auf nationale Selbstbestimmung“ , die Prinzipien der Sowjetunion gegen die sowjetische Realität wendend. Dabei kam es zu einer Situation, bei der dasselbe Gebiet von zwei Nationalismen gleichzeitig mit dem selben Rechtstitel beansprucht wurde.

In Moskau, Jerewan und Baku betonte man gleichzeitig die Wichtigkeit des Rechtes der Nationen. Offen blieb, was das real bedeutet, wenn in Bergkarabach Gruppen beider konkurrierender Nationen leben und beide auf ihre nationale Souveränität pochen.

Als Argumente dienten archäologische Funde, mittelalterliche Chroniken und Ornamente auf alten Ruinen – daran sollte festgemacht werden, wer sich zuerst wo angesiedelt hat und nun über die anderen mit der eigenen Staatsgewalt regieren darf. Wenig überraschend konnten sich Historiker, Archäologen und Linguisten der beiden Seiten nicht einigen. Zwei gleiche, aber einander ausschließende Rechtsansprüche standen im Raum – dazwischen konnte nur Gewalt entscheiden, die nicht auf sich warten ließ.

Aserbaidschan reklamierte für sich noch ein weiteres Recht – andere Staaten erkannten es in den alten sowjetischen Grenzen an, inklusive dem umstrittenen Karabach. Auch nachdem Armenien den Krieg gewann, ein Viertel des aserbaidschanischen Staatgebietes besetzte und Aserbaidschaner vertrieb sowie zahlreiche armenische Flüchtlinge dort ansiedelte, also vollendete Tatsachen schuf, ist die Leitlinie der aserbaidschanischen Politik, dass das Territorium eigentlich Aserbaidschan gehört. Die Parole ist: Auf diesen Boden gehören Leute mit anderem Blut, als die, die dort tatsächlich wohnen. Die ganzen vergangenen Jahre bereitete der aserbaidschanische Staat den aktuellen Wiedereroberungsfeldzug vor.

Die reale Grausamkeit der beiden Rechtskonzeptionen – Völkerrecht und Recht der Völker – zeigt sich im Karabachkonflikt in ihrer ganzen Pracht. Seit Ende der 1980er-Jahre fielen ca. 20.000 Menschen dem Konflikt zum Opfer, Hunderttausende wurden zur Flüchtlingen. Die Forderung nach der „historischen Gerechtigkeit“ bedeutet blutige Korrekturen der bestehenden Grenzen und der Bevölkerungszusammensetzung.

Neues Armenien – Probleme mit den alten Verbündeten

Seit der gegenwärtige armenische Regierungschef Nikol Paschinjan 2017 die zwanzigjährige Herrschaft der mit Russland eng verbündeten „Republikanischen Partei“ (RPA) beendete, steht Armenien unter besonders aufmerksamer Beobachtung ihres bisher wichtigsten Verbündeten. Die neue Regierung beteuert zwar, weiterhin zum Bündnis mit Moskau zu stehen, die Kampagne gegen die Korruption der bisherigen Regierung traf aber wichtige politische und wirtschaftliche Partner Russlands im Land.

Die gesamte ehemalige Führung der RPA wurde von den Ermittlungen erfasst, erst die Straf- und dann auch die Verfassungsrichter wurden aus ihren bisherigen Positionen gedrängt, um die Verurteilungen in den Prozessen zu ermöglichen. Paschinjans Regierung kam mit der Vorstellung an die Macht, das nationale Glück wäre von einer verdorbenen und verantwortungslosen politischen Klasse vereitelt worden. Die hohen Arbeitlosen- und Armutsqoten sollten vor allem durch konsequentes Auswechseln und Einsperren des Führungspersonals bekämpft werden. Dadurch solle das Land attraktiv für ausländisches Kapital werden.

Dieser Ansatz ändert aber nichts an der Mittelosigkeit und Ohnmacht des armenischen Staates, der Russland um politische Preise für Energie bitten muss. Die als „Reform“ deklarierte Antikorruptionskampagne kommt zudem bei Moskau nicht gut an. Als der ehemalige Präsident Robert Kotscharjan vor Gericht gestellt wurde, erreichten die Beziehungen zu Russland den bisherigen Tiefpunkt. Russische Medien beschuldigten Armenien „antirussische NGOs“ zu beherbergen und Anlehnung an die EU zu suchen. Im August 2020 schränkte Armenien die Ausstrahlung von russischen Fernsehkanälen ein.

Die Peinlichkeit nun Russland offiziell um militärischen Beistand zu bitten, spart sich Paschinjan. Von den anderen OVKS-Staaten ist ohnehin nicht zu erwarten, dass sie sich mit Aserbaidschan und perspektivisch mit der Türkei auch nur diplomatisch anlegen. Armeniens Hoffnung bleibt einfach, dass die Angst vor Erdogans Machtzuwachs im Westen oder bei Russland doch noch überwiegt.

#Titelbild: Ministry of Defense of the Republic of Armenia

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Belarus/Weißrussland gilt in hiesigen Medien vor allem als eine Diktatur. Für viele Linke in den postsowjetischen Ländern galt das Land als Hoffnungsträger und es wurden lange Debatten darüber geführt, ob die dortige Gesellschaft als sozialistisch zu betrachten sei.

Was macht die Republik Belarus so besonderes?

Tatsächlich unterscheidet sich die Entwicklung des Landes nach dem Zerfall der Sowjetunion stark von denen der Nachbarländer. Nachdem 1994 Alexander Lukaschenko die Präsidentschaftswahlen gewann, wurde der Kurs auf Privatisierungen und Stärkung des antisowjetisch-antirussischen Nationalbewusstseins ad acta gelegt. Der neue Präsident appellierte an die durch die ersten Reformen schnell entstandene Sowjetnostalgie und sah die Rettung der marktwirtschaftlich unrentablen aber weiterhin funktionierenden Industrie als nationale Priorität an.

Mit massiven Subventionen laufen in Belarus weiterhin die zur Sowjetzeit gebauten Werke. Die „harten aber notwendigen Maßnahmen“, von denen die Reformer*innen in Polen, in den baltischen Ländern und Russland sprachen, blieben der Republik erspart. Das sowjetische Sozialsystem wurde zwar runtergefahren aber nicht komplett vernichtet. Im Unterscheid zu den Nachbarländern gibt es in Belarus kaum absolute Armut, keine organisierte Kriminalität und keine unter sich konkurrierende Oligarchenklasse, die die Politik kräftig mitgestaltet.

Unter den positiven Eigenschaften des untergegangenen Realsozialismus, die er in seinem Staat nicht missen möchte, zählen für Lukaschenko neben der funktionierenden Industrie und der russischen Sprache auch die ominöse Einheit zwischen dem konsolidierten Volk und der Staatsführung. Weswegen es in Belarus auch keine ernsthafte Konkurrenz bei den Wahlen, keine unabhängigen Gewerkschaften, nur eingeschränkt oppositionelle Medien und kaum legale Protestmöglichkeiten gibt.

An die Macht gekommen löste Lukaschenko das Parlament auf, änderte kurzerhand die Verfassung und regierte von nun an ohne Gewaltenteilung weiter. Es gibt in Belarus keine herrschende Partei, Staatsideologie oder Massenbewegung, auf die sich die Herrschaft stürzt. Die zentrale Institution von Lukaschenkos Modell ist der Präsident selbst. Sein Verdienst, dem Land die Massenschließung der Betriebe zu ersparen, schaffte ihm reale Unterstützung in der Bevölkerung. Der durch die staatlichen Medien geschaffene Kult und die Zensur gegen die Opposition leisteten ebenfalls einen Beitrag zu seinen wiederholten Wahlerfolgen.

Trotz der omnipräsenten sowjetischen Symbolik gibt es in Belarus selbstverständlich Privateigentum an den Produktionsmitteln und eine Marktwirtschaft. Bis 1998 wurden etliche Betriebe privatisiert. Jedoch verhindert der Staat durch seine Eingriffe die Pleite und darauffolgend Schließung von strategisch wichtigen Betrieben – was bei westlichen Experten für entsetztes Kopfschütteln sorgt. Der Staat drängt die Banken dazu, Kredite an die minusmachenden Betriebe zu vergeben. Aus Sicht der belarussischen Staatsführung ein Erfolg, werden doch dadurch Infrastruktur und Arbeitsplätze erhalten. Aus Sicht der „wohlmeinenden“ westlichen Beobachter eine grobe Verletzung der Regeln, die den längst überfälligen Marktabgang der Konkurrenzverlierer verhindert.

In der Landwirtschaft wurden die sowjetischen Kolchosen in Aktiengesellschaften umgewandelt. Auch hier kommen die staatlichen Subventionen massiv zum Einsatz, was die „Ernährungssouveränität“ der Republik gewährleisten soll. Die Lebensmittelpreise reguliert der Staat ebenso wie den Zugang der ausländischen Investoren (die es ja durchaus gibt) zum eigenen Markt.

Was hat das alles mit Russland und der EU zu tun?

Da Belarus auf Exporte angewiesen ist, braucht es, wie schon davor die UdSSR, Devisen für die Betätigung auf dem Weltmarkt. Lukaschenko redet seit seinem Machtantritt von der „Unabhängigkeit“, hat aber real mit einer doppelten Abhängigkeit zu tun. Seine antiimperialistische Rhetorik und Verweigerungshaltung gegenüber der EU und der NATO prämierte der große Nachbar im Osten mit Lieferungen von Energie zu „politischen“ Preisen. Erdöl und Gas fließen jedoch nicht nur von Russland nach Weißrussland, sondern auch von dort weiter in den Westen. Die noch aus der Sowjetzeit stammenden Raffinerien verarbeiten die Rohstoffe und verkaufen sie weiter ins Ausland. Rohstoffe aus Russland unter dem Marktpreis beziehen, mit der erhaltenen Industrie verarbeiten und dann zu Marktpreisen weiterverkaufen, die Gewinne zur Subvention der eigenen Wirtschaft verwenden und deren Produkte dann zollfrei nach Russland absetzen – das ist die ökonomische Formel des belarussischen „Sonderweges“.

Auch wenn Lukaschenkos Reden sich bisweilen wie die Verlautbarungen von Antiglobalisierungsforen anhören, ist das Land sehr wohl Teil des Weltmarktes und zudem extrem von Öl- und Gaspreisen abhängig. Sollte also Russland sich dazu entscheiden, die Bedingungen zu ändern oder aus dem Westen neue Sanktionen wegen Nichteinhalten von demokratischen oder marktwirtschaftlichen Regeln kommen, sollten sich die Weltmarktpreise ändern, dann gerät Lukaschenkos Modell mächtig ins Wanken. Eine Lösung in der Vergangenheit war, sich neue Absatzmärkte unter den ähnlich verfemten Staaten (Venezuela, Iran, Sudan usw.) zu suchen – was neue Sanktionen aus dem Westen einbrachte. Seit über zehn Jahren versucht Belarus, sich auch Hilfe von der anderen Seite zu verschaffen. Für die Staaten, die akute Probleme mit Zahlungsfähigkeit haben, bittet die IWF Kredite an, um die sich Belarus immer wieder bemüht. Doch die Kredite gibt es nicht ohne Bedingungen, deren Erfüllung einer Demontage von Lukaschenkos Wirtschaftsmodell gleich kämme. Die belarussische Wirtschaft soll sich endlich unsubventioniert der internationalen Konkurrenz stellen.

Je mehr die Nachbarländer zu Mitgliedern oder Vertragspartner*innen der EU werden, umso wichtiger wird Russland als Absatzmarkt für die belarussischen Waren. Da Russland nun mal auch ein kapitalistischer Staat ist, gibt es regelmäßig Krach zwischen Käufer und Verkäufer, wobei Russland – große Überraschung – den „politischen“ Preis für Öl und Gas als einen politischen Hebel benutzt. Sobald die Preise erhöht werden, wachsen belarussische Schulden. Als Schuldner sitzt Belarus gegenüber dem Gläubiger am kürzeren Hebel.

In Folge solcher Interessenkonflikte fror Minsk das bis dahin forcierte Projekt der Schaffung eines russisch-weißrussischen Unionsstaates ein. Ein Projekt, von dem sich viele sowjetnostalgischen Linken eine Wiedergründung der neuen UdSSR auf freiwilliger Basis versprachen, existiert seit 15 Jahren nur noch auf dem Papier. Dafür gibt es seit 2014 die Eurasische Wirtschaftsunion mit einem Binnenmarkt, jedoch ohne Perspektive von weiterer Verschmelzung zu einem Staat.

2009 trat Belarus dem „Östliche Partnerschaft“-Programm der EU bei. 2016 wurden die EU-Sanktionen gegen die „letzte Diktatur“ Europas aufgehoben. Womöglich spielte dabei Lukaschenkos Haltung in Ukrainekonflikt eine entscheidende Rolle. Die von den russischen Gegensanktionen betroffenen EU-Agrarprodukte werden über Belarus und unter dem belarussischen „Label“ nach Russland eingeführt. Es ist also nicht so, dass Lukaschenko nicht kompromissbereit oder für seinen westlichen Verhandlungspartner nutzlos wäre. Nur in puncto Machtteilung wollte das Minsker „Väterchen“ keine Abstriche machen. Da aber die EU durchaus begründet der Meinung ist, die Opposition sei noch kompromissbereiter und nützlicher, unterstützt sie fröhlich jeden Protest gegen Lukaschenko und verlangt von ihm „Demokratisierung“. Weil er ja kein Demokrat sei, läuft es auf Abgang aus.

Warum Proteste und wer protestiert gegen was?

Bei jeder Wiederwahl von Lukaschenko gab es Proteste, mal größere, mal kleinere. Jedes Mal wurde der Präsident mit Hilfe polizeilicher Mitteln damit fertig und verwies dabei auf die Unterstützung der „einfachen Leute“, die hinter ihm stehen. Ausgerechnet 2020, im Jahr der Präsidentenwahl kam die Corona-Krise. Lukaschenko zog konsequent die „pandemieskeptische“ Linie durch, was zur Folge hatte, dass es im Unterscheid zu Russland und den EU-Ländern keine staatlichen Hilfen und Entschädigungen für niemanden gab. Die innige Liebe der „einfachen Leute“ auf die das „Väterchen“ bisher stets verwies, dürfte infolge der Maßnahmen, die in Belarus in den letzten Jahren zwecks Wirtschaftsstabilisierung ergriffen wurden, Schaden erlitten haben. Noch vor Russland wurde in Belarus 2017 das Rentenalter erhöht, Streiks sind de facto verboten, Kündigungsschutz existiert nicht, die meisten Arbeiter*innen werden mit den einjährigen Kontrakten beschäftigt. Besonders originelle Maßnahme war die Einführung von „Steuer auf Arbeitslosigkeit“ die „Sozialschmarotzer“ zu Kasse bieten sollte 2017.

Da keine zuverlässigen soziologischen Umfragen zugelassen wurden, rankten sich schon im Vorfeld der Wahlen wilde Spekulationen, wie es um die Zustimmung zum Präsidenten real bestellt sei. Die Logik einer „konsolidierten“ Demokratie verlangt aber, dass die Wahlergebnisse auf gar kein Fall schlechter ausfallen als die bisherigen, denn ansonsten würden die Maßnahmen wie die bisherigen Verfassungsänderungen fragwürdig erscheinen. Da die Wahlergebnisse sehr schnell und einfach als Ergebnis von „Eingriffen“ zu überführen waren – und dass, nachdem die aussichtsreichsten Kandidaten bereits im Vorfeld aus dem Verkehr gezogen wurden. Damit schuf Lukaschenko den unmittelbaren Anlass für die Proteste, bei denen sich alle Motive für Unzufriedenheit mit seiner Herrschaft nebeneinander artikulieren.

Oppositionelle Parteien und Organisationen wurden ohne Rücksicht auf politische Ausrichtung aus der Öffentlichkeit gedrängt. Es stimmt zwar, dass bisher die größten oppositionellen Gruppen mit einem national-liberalen Programm auftraten, aber auch einige sozialdemokratische, kommunistische und anarchistische Gruppen wurden mit Repression überzogen. Bei den gegenwärtigen Protesten spielen die alten „nationalen“ Oppositionsparteien (Christdemokraten, Belarussische Volksfront, Vereinigte Bürgerpartei) eine auffällig kleine Rolle. Bezeichnenderweise spricht einer der führenden Köpfe der Proteste, der Manager einer dem russischen „Gazprom“ zugehörigen Bank Wiktor Babariko besser russisch als belarussisch und akzentfreier als Lukaschenko. Dass der Minimalkonsens der Protestierenden die Forderung nach faireren Wahlen bildet, ist schon vielsagend und keineswegs so neutral, wie es unbedarften Beobachter*innen vorkommt. Von der Forderung der Herrschaftsermächtigung nach Regeln versprechen sich diejenigen am meisten, die Lukaschenkos System zugunsten von „normalem“ Kapitalismus, den es allerdings in Belarus noch aufzubauen gilt, verwerfen wollen. Als Rettung der infolge der Ölpreisflaute erschütterten Wirtschaft fallen denen zuallererst die Kredite des IWF ein. Der Blogger Sergei Tichanowski berichtet gern über die heldenhaften Farmer*innen und Kleinunternehmer*innen, die unter der staatlichen Bürokratie leiden. Seine Ehefrau und Ersatzkandidatin Swetlana spricht in ihrem Wahlprogramm davon, dass die „Menschen sich selber Arbeitsplätze schaffen sollen“. Dafür sollen für „kleine und mittelständische Unternehmen Barrieren abgebaut werden“. Weitere neue Arbeitsplätze sollen durch ausländische Investitionen geschaffen werden. Die rentablen Staatsbetriebe sollen weiterlaufen, über alle anderen dürfen „die Spezialisten entscheiden“. Babariko verlangt eine Liberalisierung der Wirtschaft und den Austritt des Landes aus dem Militärbündnis mit Russland. Der langjährige Mitstreiter Lukaschenkos Waleri Zepkalo verspricht jedem Bürger drei Hektar Land als staatlich geschenktes Privateigentum. Die stolzen Belarussen sollen nicht länger ihr Dasein als Lohnarbeiter*innen in Kolchosen und Sowchosen fristen, sondern „Herren ihres Landes werden“. Das bedeutet aber nicht, dass alle Protestierenden Anhänger*innen solcher Forderungen seien. Die Zusammensetzung des am 18. August gebildeten Koordinationsrates der Opposition lässt jedoch kaum daran zweifeln, dass in Falle der Abganges Lukaschenkos „schmerzhafte, aber notwendige“ Marktreformen anstehen. Der einzige Vertreter der streikenden Arbeiter*innen, Sergei Dylewski, trägt zwar ein Anarchie-Zeichen-Tattoo, sagt aber von sich, keine politische Ansichten zu haben. Nach den eigenen Angaben hat er früher für den Oppositionellen Schriftsteller Wladimir Nekljajew gestimmt. Jetzt unterstützt er Swetlana Tichanowskaja.

Die Arbeitsniederlegung der Arbeiter*innen in den Staatsbetrieben versetzte zwar dem offiziellen Bild Lukaschenkos als Beschützer der „einfachen Menschen“ einen schweren Schlag, jedoch weitete es sich nicht zur einem Generalstreik aus. Bestreikt wurden eben nur staatlichen Betriebe, während die Opposition gerade Polizist*innen dazu aufruft zu kündigen und ihnen neue Jobs bei oppositionellen Arbeitgeber*innen verspricht. Gerade fungieren die Streikkomitees nicht als proletarisches Korrektiv oder gar Gegengewicht zum bürgerlich-liberalen Koordinationsrat der Opposition.

Die oppositionellen linken Organisationen nehmen aktiv am Protest teil, haben sich aber bisher wenig mit einem eigenem Programm profiliert. Die belarussische vereinigte Linkspartei „Gerechte Welt“, gegründet von den oppositionellen Mitgliedern der Kommunistischen Partei ist inzwischen eher eine gemäßigte Kraft, die ihre Zukunft als ein Teil des pluralistischen Parteispektrums nach Lukaschenko sieht. Die Belarussische Partei der Werktätigen (BPT) mit etwas mehr als 1.000 Mitgliedern hat keine offizielle Registrierung. Sie orientierte sich lange Zeit an der Gewerkschaftsbewegung, arbeitete aber auch mit der liberalen Opposition zusammen. Der marxistische Zirkel „KrasnoBy“ interveniert in die Proteste mit den Aufrufen, Streikstrukturen auszubauen und sich dabei von dem Koordinationsrat unabhängig zu machen.

Im anarchistischen Spektrum läuft seit längerem eine Auseinandersetzung zwischen linksnationalistischen Gruppen wie „Poschug“, die belarussische Identität stark machen und dem gegenüber allen Nationalismen kritisch eingestellten Kollektiv „Pramen“. Daneben machte die militant-plattformistische „Revolutionäre Aktion“ von sich reden. Die betonte Gewaltlosigkeit der aktuellen Proteste steht aber in starken Kontrast zu deren bisherigen Aktionismus.

Es gibt auch die linken Verteidiger des Präsidenten, vor allem die Kommunistische Partei von Belarus (KPB), die zur Pro-Lukaschenko-Kundgebungen mobilisiert. In einer gemeinsamen Erklärung mit den kommunistischen Parteien Russlands und Ukraine gibt sie ihre Gründe zur Protokoll: „Es ist notwendig, das zu bewahren, was im Laufe vieler Jahre geschaffen wurde“. Zur Seite springt auch der Führer der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (KPRF) Gennadi Sjuganow, der sich vor allem um die russischen Nationalstaatsinteressen seinen Kopf zerbricht: „Schließlich werden in Belarus sogar Fahrgestelle für ›Jars‹- und ›Topol- M‹-Raketen hergestellt. Wir selbst sind nicht in der Lage, sie zu produzieren. Sogar unser U-Boot-Flotten-Managementsystem befindet sich größtenteils auf dem Territorium von Belarus. Alle unsere Öl- und Gaspipelines, alle unsere direkten Verbindungen nach Europa führen durch Belarus. Daher ist die Frage für uns absolut prinzipiell.“

#Titelbild: Marco Fieber, CC BY-ND 2.0, Proteste gegen Lukaschenko 2015

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