Ukraine: Krieg und Souveränität im Kapitalismus

26. Februar 2022

“Putin ist verrückt” oder “machthungrig” sind gängige Erklärungen für den Überfall Russlands auf die Ukraine. Alexander Amethystow darüber, warum der Krieg kein Betriebsunfall einer ansonsten normal funktionierenden Weltpolitik ist, sondern die Konsequenz imperialistischer Konkurrenz.

Unfassbar: kapitalistische Staatsinteressen führen tatsächlich zum Krieg, wer hätte es gedacht!

Die Welt ist entsetzt: Das größte Land der Welt zieht gegen das zweitgrößte Land Europas in den Krieg! Die Ukraine, die in den letzten Jahren stets beteuert hatte, williger Verbündeter des Westens zu sein, wird von Russland überfallen und erhält vom Westen keine Unterstützung mit Truppen. Einen vollwertiger Krieg mit der Atommacht Russland ist die Ukraine denjenigen, die sie zu einem Frontstaat aufbauten doch nicht wert.

Seit das postsowjetische Russland beschloss als kapitalistischer Staat in der weltweiten Konkurrenz seinen Erfolg zu suchen, pocht es darauf, als eine Weltmacht ernstgenommen zu werden. Doch die wirtschaftlichen „Erfolge“ reichen dafür offensichtlich nicht. Russland fungiert vor allem als Rohstofflieferant für den Westen. Konkurrenten und Geschäftspartner werden vor allem mit militärischem Potenzial zur Rücksichtnahme auf die eigenen Interessen gezwungen und genau dieses Potenzial versucht die NATO systematisch auszuhebeln. Angesichts der dauerhaften Bemühungen der EU von den russischen Energielieferungen unabhängig zu werden, wird es verständlich, warum die Führung Russlands um den Status ihres Staates in der imperialistischen Konkurrenz so besorgt ist.

Es liegt also nicht daran, dass Putin „verrückt“, „machtbesessen“ oder „Macker“ oder „Gladiator“ ist. Nein, es ist kein Betriebsunfall der Weltpolitik. Und auch die Debatte, welche Interessen Russlands „legitim“ seien, führt nirgendwo hin. Russland möchte Weltmacht sein, die anderen Weltmächte sind der Meinung es braucht keine weitere. Die westlichen Weltmächte stellen Spielregeln auf, Russland möchte Souveränität beweisen, indem es sich nicht einhegen lässt. Einen „Regime change“ in eigenem Interesse durchzusetzen, ist für Moskau der ultimative Beweis dafür, eine souveräne Weltmacht zu sein. Souverän ist, wer über die Souveränität der anderen entscheidet. Dass ist die Lehre, die Putin und Co. aus Jugoslawien, dem Irak, Libyen usw. gezogen haben.

Wer eine Großmacht sein will, darf die Verletzung seiner Interessen nicht hinnehmen. Das wiederholt Putin ständig und verweist auf die Schicksale der Länder, die keine Großmächte sind. Die Russische Führung sieht sämtliche ihrer Ansprüche in Osteuropa übergangen und betrachtet die vollendeten Tatsachen, vor die sie von der EU und der NATO gestellt werden, als die Aberkennung der Bedeutung Russlands in der Staatenkonkurrenz. Daher nimmt Russland sich das Recht, seinerseits Fakten zu schaffen.

Der Kreml inszeniert den Einmarsch ganz im Stil seiner westlichen Kontrahenten als eine humanitäre Aktion. Schon im Vorfeld wurde seitens Russland angekündigt: Wenn die ukrainische Regierung ihr Gewaltmonopol über die abtrünnigen Regionen wiederherstellen möchte, sei das ein Kriegsgrund! Entweder muss der ukrainische Staat faktisch zugeben, kein Souverän über sein eigenes Gebiet mehr zu sein, oder seitens Russlands das erleben, was Jugoslawien und Libyen seitens des freien Westens erlebt haben. Denn ein Kampf gegen bewaffnete Insurgenten auf eigenem Gebiet galt im Fall von Gaddafi als „ein Krieg gegen das eigene Volk“. Da kein Staat die Infragestellung des eigenen Gewaltmonopols in Kauf nehmen kann, käme es für die Ukraine dem Verlust der eigenen Souveränität gleich ein solches Diktat anzunehmen.

Russland weiß aus der Erfahrung zweier Tschetschenienkriege, dass in der nationalstaatlichen Logik abtrünnige Gebiete dann als feindliches Gebiet behandelt werden müssen, mit entsprechender Behandlung der Zivilbevölkerung. Bei den ukrainischen Versuchen, die eigenen Souveränität qua Ausnahmezustand durchzusetzen, werden – wie es in NATO-Jargon heißt – „Kollateralschäden“ entstehen, sprich Häuser und Infrastruktur zerstört, Zivilisten verletzt und getötet werden, was Russland „Genozid“ nennt. Das ist ein nicht zu überbietender Vorwurf und seit dem Jugoslawienkrieg ultimative Rechtfertigung für sofortiges Ein – und Angreifen.

Russland hat bereits angekündigt, die „Schuldigen“, sprich ukrainische Politiker und (Para)Militärs zur „Verantwortung zu ziehen“. Natürlich im Namen der Menschenrechte, die Russland einfach durchzusetzen hilft. Mit dieser Argumentation ist Putin nicht etwa bei Stalin oder Iwan dem Schrecklichen – wie man gerade allerorten lesen kann – sondern bei den westlichen Führungsmächten in die Lehre gegangen.

# Titelbild: Nein zum Krieg, sowjetisches Antikriegsposter

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2 Kommentare

    Oleg 28. Februar 2022 - 13:09

    Danke für euren Artikel.
    Die Bilder aus der Ukraine sind schrecklich, wir alle haben Mitgefühl mit den Menschen auf der Flucht und mit denen, die in Bunkern und Kellern Schutz suchen. (Anders als bei EU und Frontex ist dieses Mitgefühl bei uns aber nicht nur beschränkt auf weiße Ukrainer, sondern wir fühlen es auch für Iraker, Syrer, Afghanen, Nigerianer und Eritreer).

    Viele haben aber derzeit, angesichts des Schocks über den russischen Angriff auf die Ukraine, anscheinend einige grundlegende Aspekte dieses Konflikts vergessen oder wollen oder können sie nicht sehen.

    Ein paar Beobachtungen zusammengetragen:

    Die meisten vermeintlich linken Kommentare, ob Erklärungen oder in den Kommentarspalten der sozialen Medien, übernehmen bewusst oder unbewusst westliche Sicht- und Erzählweisen. Teilweise mögen es auch schlicht Ungenauigkeiten oder unbedachte Phrasen sein – die Folgen sind aber ebenso verheerend. Die Linke macht sich überflüssig oder, schlimmer, zum Komplizen der westlichen Eliten und ihrer Heuchelei und Doppelmoral.

    Oft wird Konflikt zwischen USA/EU und Russland als ein Machtkampf zwischen zwei Kontrahenten mit jeweils imperialen Ansprüchen geschildert. Gefährlich daran ist die damit oft einhergehende Annahme, dass es sich um Kontrahenten auf Augenhöhe handele und in Folge Russland dieses Kräftemessen nun mit militärischen Mitteln eskaliert. Vielmehr richtig es, dass USA und EU (Interessenskonflikte zwischen diesen Partnern der Einfachheit halber hier bei Seite gelassen) eine Vormachtstellung in der Welt haben und sie ihren Hegemonialanspruch mit aller Macht und mit aller Gewalt durchzusetzen und zu verteidigen gedenken.
    Putin beschreibt das in seiner Rede am 23. Februar zur Begründung des Ukraine-Krieges so: “Alles, was dem Hegemon nicht passt, wird für archaisch, überholt und unnötig erklärt. Und umgekehrt: Alles, was ihnen gerade passt, wird zur endgültigen Wahrheit in letzter Instanz erklärt und auf jede beliebige Weise durchgedrückt – flegelhaft, mit sämtlichen Mitteln. Wer nicht einwilligt, bekommt das Kreuz gebrochen.
    Nach dem Zerfall (der Sowjetunion, Anm.d.Verf.) wurde die Welt faktisch neu aufgeteilt, und die bis dahin geltenden Normen des internationalen Rechts und die auf die Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs gegründeten Prinzipien wurden denjenigen hinderlich, die sich zu Siegern im Kalten Krieg erklärt hatten. Es riss eine Art neuer Absolutismus ein. Beispiele dafür braucht man nicht lange zu suchen.” Es folgen Auflistungen der Interventionen und Kriege des Westens, von Serbien über Libyen, Syrien und natürlich dem Irak, dem wahrscheinlich verbrecherischsten Krieg in dieser Auflistung. Als Linker stimme ich Putins Analyse der internationalen Beziehungen voll zu. (Und nur in Kürze und um nochmal klar zu machen, über welche Konfliktparteien wir hier reden, sei zusätzlich auch nochmal erinnert an die vielen, vielen verbrecherischen Interventionen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit: Von Mossadegh bis Vietnam, von Allende bis zu den Contras, von der Blockade Kubas bis zum Putsch gegen Eva Morales.) Das ich das kann, diese Positionen des Kremls oder Putins für richtig zu erachten, ohne Putin oder die gesamte russische Politik damit generell zu verteidigen oder gar den russischen Staat für einen linken oder anti-imperialistischen Staat zu halten, ist mir klar. Vielen ist das nicht (mehr) klar und die ständige Schnappatmung ist bei den vielen Facebook- und Instagram-Pazifisten nicht überhörbar, zusammen mit dem Vorwurf “Wie kann man nur Putin verteidigen! Schande!”.
    (Es sei nebenbei wirklich allen empfohlen, die Erklärung Putins einmal zu lesen, sie ist u.a. auf den Webseiten der jungen welt dokumentiert)

    Klar ist für mich, dass Russland seit Jahren in der Defensive ist. Richtig ist, dass USA/EU/NATO Unterwerfung und nichts anderes akzeptieren. Auf Basis der Logik von kapitalistischem Wettbewerb und Ringen um geostrategische Vorteile, ist die militärische Antwort Russlands verständlich. Und nach welcher anderen Logik könnte der russische Staat (realistisch) sonst handeln? Es geht dabei nicht um hegemoniale Ansprüche, sondern um Selbstverteidigung.

    Für mich beginnt ein Krieg nicht erst, wenn der erste Panzer rollt. Sondern viel früher. Jetzt auf die Straße zu gehen und mit Sozialdemokraten und Liberalen und Konservativen “Stoppt den Krieg!” zu skandieren, negiert die Vorgeschichte, die letztendlich zu diesem Krieg führte. Der VVN/BDA schreibt, die russische Invasion beende “langjährige diplomatische Bemühungen”. Wir sind bei der erwähnten Unbedachtheit oder wie sonst kann man einen solchen Satz verstehen? Welche diplomatischen Bemühungen? Die der USA, als sie ihre US-Dollar in die ukrainische Opposition gepumpt haben? Oder als Westerwelle als amtierender deutscher Außenminister auf dem Maidan stand? Oder als Biden Putin einen “Killer” nannte? Biden, Präsident der USA, sagte dies. Die Verlogenheit ist kaum zu überbieten. Linke Gruppen, die also einen solchen Unsinn wiedergeben, haben keine anti-imperialistische Perspektive auf den Konflikt. Von „Lektionen“ war oftmals in Zusammenhang mit Russland die Rede. Lektionen, die man „den Russen“ erteilen wollte oder sollte. Die einzigen Lektionen, die der Westen dem Rest der Welt in Wirklichkeit erteilen kann, ist, wie man internationales Recht, wie man das Völkerrecht Recht bricht. Und offensichtlich muss man Russland darin keine Lektionen erteilen, sie wissen selber, wie das geht.
    Deutschlandfunk und FAZ, Marieluise Beck und Stoltenberg und seine NATO, das waren die eigentlichen Kriegstreiber auf diesem Kontinent. Wir sollten das nicht vergessen. Aber stattdessen kommen zu dieser bürgerlich-militaristischen Allianz noch hunderttausende Menschen auf den Straßen hinzu, die mit ihrem Statement gegen Russland/Putin als Aggressor diese Politik der letzten Jahre quasi legitimieren als demokratisch vom Volk befürwortet. Es wird dabei Ursache und Wirkung verkannt. Die schrecklichen Bilder aus der Ukraine, das ist die Wirkung. Die Verursacher, die sitzen in Berlin, Washington und Brüssel. Sie sitzen im NATO-Hauptquartier und sie sitzen in ihren 4-Zimmer-Altbauwohungen im Prenzlauer Berg oder Charlottenburg und schwadronieren in ihren Artikeln gegen Russland (wahlweise wegen der Lage der Pressefreiheit dort, wegen Syrien oder was auch immer. Dazu etwas später aber mehr).

    Die (radikalen) Linken, die Pazifisten, die sich jetzt genötigt sehen, auf die Straße zu gehen – wo ward ihr denn, als tausende Soldaten hier eingeschifft wurden und nach Osten gerollt sind um Manöver gegen Russland durchzuführen? Ihr hattet kein Interesse an diesen Vorgängen Vielleicht hatte man Angst, als “Putin-Versteher” diffamiert zu werden? Am 75. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus haben deutsche Soldaten an gegen Russland gerichteten Manövern teilgenommen. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Oder anders: Man stelle sich vor, am Holocaustgedenktag würde eine deutsche Regierung Sanktionen gegen Israel erlassen wegen Menschenrechtsverletzungen im Westjordanland. Ja, was wäre dann (zu Recht) hier los? 27 Millionen ermordete Sowjetbürger scheinen den deutschen Feuilletons und der politischen Klasse und den Militärs immer noch Untermenschen oder anders minderwertig zu sein – oder warum sonst ist man so geschichtslos, so pietätlos, so respektlos? Die wahrscheinlich einzige wahre sozialdemokratische Rede der letzten 30 Jahre hat Steinmeier gehalten, als er über die ermordeten sowjetischen Bürger im 2. Weltkrieg und das fehlende Bewusstsein für diese Gefallenen in der deutschen Öffentlichkeit gesprochen hat. 27 Millionen. Er hätte die Rede 20, 30 Jahre früher halten sollen. Und er hätte sie immer und immer wieder wiederholen sollen.

    Aber man war anderweitig beschäftigt, besonders nachdem man die verhasste DDR endlich los war. Man zündelte z.B. auf dem Balkan, die Anerkennung Kroatiens und Sloweniens ließ die ökonomischen Konflikte rasend schnell zu nationalistischem Furor und Krieg eskalieren. Dass die bürgerlichen Medien nach der Anerkennung der “Volksrepubliken” Donezk und Lugansk nie auf diesen Fakt, die Verletzung der territorialen Integrität Jugoslawiens durch die BRD, verwiesen, war beachtlich. Genauso beachtlich war es, dass man zwischen schockiert und wutschäumend über den angeblichen “ersten Krieg auf europäischem Boden” offensichtlich vergessen hatte, dass es einmal ein völkerrechtswidriges Bombardement Serbiens durch NATO-Streitkräfte gab. Wenn der Westen Krieg führt, ist das halt anscheinend irgendwie nicht wirklich Krieg für deutsche Journalisten.
    Nebenbei, der Vergleich Donezk/Lugansk mit Kroatien/Slowenien und dem Beginn der sogenannten Balkankriege, der dann doch von manchen Linken zumindest hin und wieder angeführt wird, dieser Vergleich funktioniert auch so: So wie der Westen damals seinen Einfluss und seine Vormachtstellung auf dem Boden des ehemaligen Jugoslawiens festigen wollte, so wollte er vor einigen Jahren auch auf das Gebiet der Ukraine vordringen. Damals wie heute ist die Folge Krieg (ausgetragen von anderen, die Leidtragenden sind natürlich die anderen Nationen).

    Die Medien und die Öffentlichkeit versagen also auf ganzer Linie, schlimmer, sie sind meist Brandbeschleuniger, und man kann sich nun viel besser vorstellen, wie es 1914 gewesen sein muss. Ein Land, ein Kontinent im Rausch. Damals gab es Luxemburg und Liebknecht. Heute gibt es die Partei Die Linke, die sich bei jeder Gelegenheit anbiedert an die Meinungsübermacht in der deutschen Medienlandschaft und fast komplett die Lesart der herrschenden Klasse übernimmt.

    Gerne wird auch in Diskussionen und Beiträgen die in den bürgerlichen Mainstream-Medien vertretene Meinung übernommen, es handele sich bei diesem Krieg um den Versuch, ein groß-russisches Imperium, ein auf nationalistischen Idealen basierendes russisches Reich wiederherzustellen. Noch einmal Putin in seiner Rede zum Krieg: “Die Militärtechnologien entwickeln sich fort, manchmal wird die eine Seite vorn liegen, manchmal die andere. Genau deshalb ist die militärische Aneignung eines Territoriums in unserer unmittelbaren Nähe, die – wenn wir sie jetzt zulassen – auf Jahrzehnte bestehen bleiben wird, für Russland eine ständige, wachsende und unannehmbare Bedrohung. Schon jetzt wird die Situation in dem Maße, wie sich die NATO nach Osten ausdehnt, für unser Land von Jahr zu Jahr schlechter und gefährlicher. (…) Die weitere Ausdehnung der NATO-Infrastruktur und die in Angriff genommene Aneignung des Territoriums der Ukraine für die Zwecke des Nordatlantischen Bündnisses ist für uns unannehmbar.” Das ist kein irrer Despot, der hier spricht. Es sind keine Fantasien von einem russischen Reich. Es ist eine rationale Analyse einer Bedrohungslage, wer das nicht versteht, versteht nichts. Aber diese Leute können ja mal versuchen sich vorzustellen, was passieren würde, wenn China eine militärische Partnerschaft mit Mexico oder besser Venezuela einginge und mittelfristig oder langfristig plane, dort Raketensysteme zu stationieren, die auch als Offensivwaffen nutzbar wären…
    Und wo wir beim Thema sind: Wenn die USA und EU einen Krieg für „Demokratie und Freiheit“ und „regelbasierte Ordnung“ um Taiwan vom Zaun brechen – wo steht ihr dann? Wenn ich Schwachsinn wie von Jule Nagel/Die Linke lese, dass in China „Turbokapitalismus“ herrsche, der (auch) zu kritisieren sei, dann schwant mir nichts Gutes… Die Zeit-online-Leser, wären sie sich der realen Gefahr eines Krieges gegen China bewusst, sie würden wohl schon die Taiwan-Fahnen malen.

    Die Frage wäre nun, ob man nun fordern kann, dass Russland diesen Krieg beendet, ohne sich mit den Positionen der westlichen Werte- und Kriegsgemeinschaft gemein zu machen? Ohne sich mit dem verbrecherischen imperialen Wesen von EU/USA gemein zu machen? Ohne Teil der westlichen Arroganz und Doppelmoral zu sein? Die blau-gelbe Flagge auf dem Pappschild oder dem Profil in den sozialen Medien, sie differenziert nicht und nennt nicht die Hintergründe dieses Krieges. Und der ständige Hinweis (liberaler und linker Zeitgenossen) in dieser Debatte, dass Putin ja ein Autokrat sei (den man nicht verteidigen dürfe) und die russische Gesellschaft nicht pluralistisch und offen sei, legt anderes Nahe: Denn in diesem Kontext impliziert diese Aussage, dass der in der Ukraine geführte Krieg ein Krieg um Werte sei. Demokratie/Pluralismus gegen Autokratie/Despotie. Er ist es nicht. Und das muss immer wieder hervorgehoben werden: Es geht in diesem Krieg nicht darum, in welchem Land man eine Regebogenfahne in der Öffentlichkeit tragen kann oder nicht. Westliche Eliten hätten diese Lesart gerne, sie ist aber nicht wahr.

    Und selbst wenn es ein Krieg um Werte wäre: Wir reden von der EU, die ihre eigenen Gesetze und grundlegende Menschenrechte an der polnischen Grenze tagtäglich mit Füßen tritt. Die die Menschen im Mittelmeer ertrinken lässt und Lager baut für die, die nicht ertrunken sind. Die Assange im Knast verrotten lässt während sie Nawalny zum Helden erklärt. Die zuschaut, wenn Erdogan 500.000 Menschen mit Panzern aus den kurdischen Städten treibt. Wenn die Türkei Rojava bombardiert und in Syrien einmarschiert (nebenbei, ja, mit russischer Zustimmung, uns ist klar, dass wir es nicht mit einer linken Regierung in Russland zu tun haben, die es zu verteidigen gelte!). Die westliche Welt, die auf ihren Impfstoffen sitzt und die Patente nicht freigeben will. Und noch einmal, 100.000 Tote im letzten Irakkrieg (manche Zahlen sagen mindestens 300.000 in Folge). Wer wurde dafür zur Rechenschaft gezogen in den Haag? Und werden die Lügner, die diesen Krieg begannen, denn auch als „Kriegsverbrecher“, als „Wahnsinnige“ oder als „Despoten“ benannt, zumindest denn von einer medialen Öffentlichkeit? Nein. Wenn es ein Krieg um Werte wäre, dann wäre es ein Krieg zwischen Pest und Cholera. Es bleibt nur zu sagen, es ist egal, wie liberal die westlichen Gesellschaften im Inneren sind (oder wie wenig es die russische ist): Der Westen ist und bleibt imperialistischer Aggressor, damit verbunden sind Ausbeutung, Hunger und Krieg für den Rest der Welt. Und noch einmal, in diesem Krieg geht es nicht um Werte.

    Auf wessen Seite stehen wir? Meine Befürchtung ist, dass alle, die in Deutschland an den Demonstrationen gegen den Krieg teilnehmen, der herrschenden Klasse und den maßlos verlogenen bürgerlichen Medien letztendlich als Legitimation dienen. Ich möchte nicht Teil davon sein. Meiner Ansicht nach müsste stattdessen jeder linke Beitrag zu diesem Krieg in der Öffentlichkeit heißen:

    Nieder mit der NATO. Nieder mit den USA und der EU.
    Für einen gerechten Frieden weltweit.
    Stoppt den Krieg in der Ukraine.

    […] Ukraine: Krieg und Souveränität im Kapitalismus – Lower Class Magazine […]