Jedes Jahr seit nunmehr über zwei Jahrzehnten kommen in Deutschland kurdische und internationalistische Aktivist:innen im Februar zu einem „Langen Marsch“ zusammen. Gewidmet ist die Aktion dem PKK-Mitgründer Abdullah Öcalan. Das Datum erinnert an die Festnahme des prominenten Vordenkers des Demokratischen Konföderalismus, denn im Februar 1999 wurde dieser auf die türkische Gefängnisinsel Imrali verbracht, wo er bis heute in nur selten unterbrochener völliger Isolation gefangen gehalten wird.
Vorangegangen war dieser Verschleppung eine lange Odyssee Öcalans, der durch türkischen Druck aus seinem Exil in Syrien vertrieben worden war. Öcalan begab sich auf die Suche nach einem Ort, an dem er politisches Asyl bekommen und die Kurdenfrage auf die Tagesordnung der internationalen Politik setzen konnte. Russland, Griechenland, Italien wurden Stationen dieser Reise, doch wo immer sich eine Verschnaufpause abzeichnete, intervenierte die US-Regierung, die ihrem türkischen Partner den gesuchten Staatsfeind in die Arme treiben wollte. Öcalan endete schlussendlich in der griechischen Botschaft in Nairobi, nachdem deutsch-italienische Initiativen für einen Prozess vor einem internationalen Gericht abgewürgt worden waren.
Dort landete am 14. Februar 1999 ein Flugzeug mit malaysischem Hoheitszeichen, in dem sich ein Kommando des türkischen Geheimdienstes MIT befand. Öcalan wurde in die Maschine verschleppt und via Tel Aviv nach Istanbul geflogen. Die kurdische Bewegung geht von einer Mittäterschaft von CIA und Mossad aus und spricht deshalb bis heute von einem „internationalen Komplott“, das nicht nur gegen Öcalan gerichtet gewesen sei, sondern gegen die gesamte Unabhängigkeitsbewegung.
In der Tat erhoffte man sich nicht nur in der Türkei, sondern auch in den USA und Deutschland, das bei der Kriminalisierung der PKK stets eine Vorreiterrolle eingenommen hatte, einen raschen Zerfall der Arbeiterpartei Kurdistans. Doch es kam anders.
Neues internationales Komplott
Abdullah Öcalan nahm Debatten der 1990er-Jahre innerhalb der PKK wieder auf und nutzte die Zeit in Gefangenschaft zur Überarbeitung von Strategie und Taktik der Organisation. Es kam zu einem Paradigmenwechsel und die Orientierung auf die in erster Linie militärische Befreiung eines sodann zu einem sozialistischen Nationalstaat umzubauenden kurdischen Territoriums trat hinter den Aufbauprozess eines grenzüberschreitenden Geflechts politischer, zivilgesellschaftlicher, kultureller und wirtschaftlicher Institutionen zurück. Die Guerilla wurde zur Verteidigungskraft dieses Aufbaus.
Das global bekannteste, keineswegs aber einzige Resultat dieser Neuorientierung trägt den Namen Rojava, Westkurdistan, oder eigentlich korrekter: Demokratische Föderation Nord- und Ostsyrien, und ist seit langem keine rein kurdische Angelegenheit mehr. Vielmehr gelang es, in einem Teil des durch den imperialistischen Krieg und die islamistische Reaktion verwüsteten Syriens ein Gebiet des demokratischen Aufbaus zu errichten, in dem sich unterschiedliche Gemeinschaften auf Basis von Räten selbst organisieren.
Doch der unversöhnliche Hass der Türkei und der imperialistischen Hauptmächte blieb. Die Strategien zur Zerschlagung mögen sich unterscheiden, doch USA, Russland, Deutschland und die Erdogan-Diktatur teilen ein Ziel: Das Experiment in Rojava muss beendet, die PKK zerstört werden. Die Türkei verfolgt dieses Ziel durch rein repressive Mittel: Massenverhaftungen, Invasion und Besatzung, Ermordung und Vertreibung von Kämpfer:innen und Zivilist:innen, Förderung des Dschihadismus von IS bis „Freie Syrische Armee“. Russland lässt Erdogan gewähren und erhofft sich die Zuspitzung von Widersprüchen zwischen Ankara und Washington, die USA wiederum versuchen sich in der Spaltung und Entpolitisierung der kurdischen Bewegung. Deutschland liefert Waffen, nickt militärische Angriffe der Türkei ab und kriminalisiert die große exilkurdische Community hierzulande.
Hungerstreik für Freiheit Öcalans
Für die kurdische Bewegung nimmt die andauernde Inhaftierung Abdullah Öcalans eine zentrale Rolle in diesem Kampf ein. Denn Öcalan gilt Millionen Kurd:innen als legitimer politischer Repräsentant und ohne seine Freiheit bleibt auch nur der Gedanke an irgendeine Verhandlungslösung perspektivlos. Die Türkei hält Öcalan indes wie eine Geisel – und ihre deutschen Verbündeten verbieten sein Konterfei und stampfen seine Schriften ein.
Die kurdische Bewegung begann nun, um die Situation des gefangenen Revolutionärs erneut zum Mittelpunkt politischer Auseinandersetzung zu machen, die Kampagne „Die Zeit ist reif – Freiheit für Abdullah Öcalan“, die von hunderten Organisationen und Einzelpersonen getragen wird. Zeitgleich befinden sich politische Gefangene in der Türkei in einem Hungerstreik, der ebenfalls die Forderung nach Freiheit Öcalans aufgreift.
International gibt es eine Reihe von Beteiligungsmöglichkeiten: Eine Briefkampagne an die Vereinten Nationen, Dauerkundgebungen in Solidarität mit dem Hungerstreik und eben auch die Teilnahme am Langen Marsch, der am 4. Februar in Frankfurt beginnt und am 13. Februar mit einer Großdemonstration in Straßburg endet. In ihrem Aufruf betonen die Organisator:innen die Chance, die diese Aktion darstellt. Aktivist:innen unterschiedlicher Nationen kommen zusammen, um den von Rojava ausgehenden internationalistischen Zusammenschluss zu verbreitern. „Die Philosophie des Demokratischen Konföderalismus, die vom kurdischen Vordenker Abdullah Öcalan entwickelt wurde, lässt sich mittlerweile nicht mehr nur in Rojava oder den Bergen Kurdistans wiederfinden, sondern ist mittlerweile überall dort präsent, wo Menschen sich damit auseinandersetzen“, heißt es im Aufruf zum Langen Marsch.
Von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet, begann am 24. April der Prozess gegen den Dschihadisten Taha Al J., angeklagt wegen des Völkermordes an den Eziden, vor dem Oberlandesgericht in Frankfurt am Main. Taha Al J. war Teil des sogenannten „Islamischen Staat“ (IS). Die Bundesanwaltschaft (BAW) wirft dem 27-Jährigen Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen gegen Personen, Menschenhandel zum Zweck der Ausbeutung der Arbeitskraft, den Mord an einem fünfjährigen ezidischen Mädchen sowie die Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung nach Paragraph 129b vor. Die BAW ließ Taha Al J. am 16.05.2019 in Griechenland festnehmen und nach Deutschland ausliefern, wo er sich seit dem 10. Oktober 2019 in Untersuchungshaft befindet.
Die „Karriere“ von Taha Al J. und seiner Ehefrau Jennifer W. im System „Islamischer Staat“
Bereits im Jahr 2013 schloss sich Taha Al J. im Irak dem IS an. Spätestens ab 2015 fungierte er als Leiter des Büros für „schariagemäße Geisteraustreibung“ in der späteren Hauptstadt des IS Raqqa. Er war als Verantwortlicher für die Unterbringung von Frauen in einer Unterkunft im türkischen Samsun zuständig, wo er seit September 2015 problemlos ein- und ausreisen konnte. Al J.s Ehefrau, die deutsche Dschihadistin Jennifer W., war 2014 über die Türkei in den Irak eingereist und hatte sich dem IS angeschlossen. Sie übernahm die Funktion einer bewaffneten „Sittenwächterin“ zur Einhaltung des stregen Regelwerks des Kalifats. 2015 kaufte der IS-Funktionär gemeinsam mit seiner Ehefrau Jennifer W. die Ezidin Nora T. und ihre fünfjährige Tochter Rania als Sklavinnen auf einem IS-Stützpunkt in Syrien. Beide wurden beim Völkermord an den Eziden im Shengal verschleppt und bereits mehrfach als Sklavinnen weiterverkauft.
Auf seinem Anwesen im irakischen Falludscha hielten Taha Al J. und seine Ehefrau Jennifer W., Mutter und Tochter als Sklavinnen gefangen, misshandelten beide schwer und ließen sie Hunger leiden. Als sich die 5-jährige Rania auf Grund einer Erkrankung einnässte, kettete Taha Al J. sie zur Strafe ohne Trinken und Essen bei circa 45 Grad im Hinterhof an. Die Hitze war so stark, dass das Mädchen vor den Augen der Mutter qualvoll verdurstete. Der Mord an dem 5-jährigen Mädchen geschah, während Jennifer W. Tatenlos dabei zusah.
Die Staatsanwaltschaft in Frankfurt gibt dazu an: „Taha Al J. habe beabsichtigt, mit dem Ankauf der beiden Jesidinnen und deren Versklavung ‒ neben erstrebten Annehmlichkeiten in seinem Haushalt ‒ die religiöse Minderheit der Jesiden im Einklang mit den Zielen des „IS“ zu vernichten.“ Die Staatsanwaltschaft wertet damit den Mord und den Kauf der beiden Frauen als Sklavinnen als Beteiligung am Völkermord.
Die Angaben zum Tod der 5-jährigen Rania stammen im wesentlichen von Jennifer W. selbst. Sie hatte sich einem verdeckten Ermittler in einem verwanzten Auto offenbart, als sie im Juni 2018 dabei war, erneut in den Irak und zurück zum IS zu reisen. Seither sitzt sie in Untersuchungshaft und steht seit 2019 wegen Mitgliedschaft im „Islamischen Staat“, Verstoß gegen das Kriegswaffengesetz und wegen der Beteiligung am Mord an Rania vor dem Münchener Oberlandesgericht. Ranias Mutter nimmt als Nebenklägerin am Prozess gegen Jennifer W. teil und sagte bereits gegen sie aus. Auf die Aussagen von Ranias Mutter stützt die BAW auch das Verfahren gegen Taha Al J. Er war noch im Jahr 2018 bereit in seinem Haus in der Türkei IS-Mitglieder im Umgang mit Sprengstoff zu unterweisen. Der Prozess in München gilt als erster Prozess gegen eine Rückkehrerin des „Islamischen Staates“.
Der Prozess in Frankfurt und der Kampf um Anerkennung
Der Prozess in Frankfurt ist der erste gegen einen anwesenden Täter des Völkermordes weltweit. In Frankreich wurde bereits im vergangenen Jahr ein Verfahren gegen ein IS-Mitglied wegen der Beteiligung am Völkermord 2014 eröffnet, welches jedoch in Abwesenheit des Täters geführt wird, da dieser als tot gilt. Betroffene und Hinterbliebene des IS-Terrors forderten bereits mehrfach einen Internationalen Gerichtshof, der in Syrien stattfinden. Genauso wird gefordert, dass die in der Föderation Nord-Ostsyrien (Rojava) inhaftierten Dschihadisten zurücknimmt und in den jeweiligen Ländern vor Gericht stellt. Bisher mit ausbleibendem Erfolg.
Die Europäischen Staaten halten zum Großteil daran fest, diejenigen die federführend den „Islamischen Staat“ militärisch zerschlagen haben, mit dem Umgang europäischer Dschihadisten, die sich immer noch in Syrien befinden, alleine zu lassen. Selbiges gilt auch für die Bergung der vom „IS“ angelegten Massengräbern, sowie für die Räumungen ganzer Städte von den Minen und Sprengfallen. Nicht zuletzt sind es auch die Menschen vor Ort und internationale Freiwillige, die sich um die Ver- und Aufarbeitung der zahllosen Traumatas bemühen, die der IS mit seinen Gräueltaten und schweren Kriegsverbrechen ausgelöst hat. Das alles passiert in einem Zustand des permanenten Krieges, schwerer Angriffe durch die Türkei und deren dschihadistischen Milizen und dem Ausbleiben internationaler staatlicher Hilfe.
Sollte die Demokratische Föderation Nord-Ostsyrien, auf politischer-internationaler Ebene, weiterhin nicht als solche anerkannt werden, wird sich an den aktuellen Zuständen wenig bis gar nichts ändern.
Wider dem vergessen!
Dem Völkermord des „Islamischen Staates“ sind 2014 mehr als 10.000 Menschen zum Opfer gefallen. Weitere 400.000 wurden aus ihrer Heimat vertrieben. 7.000 Kinder und Frauen wurden entführt und anschließend versklavt. Bis heute gelten mehrere tausend Menschen als vermisst. Die Bilder die wir vor mehr als sechs Jahren gesehen haben, werden mit dem Prozess in Frankfurt wieder präsenter und klarer. Die Bilder fliehender Menschen und unsäglichen Leides. Die Bilder der Kämpfer*innen der YPG/YPJ & HPG welche den eingeschlossenen und vom IS umzingelten Ezid*innen in Shengal zur Hilfe eilten und so den sicheren Tod tausender Menschen verhinderten.
Nun steht mit dem Prozess in Frankfurt einer der Täter und „Handwerker“ des selbsternannten „Islamischen Staates“ vor Gericht. Bei aller Kritik die wir an Gerichten und der Institution Gericht als solches haben, verdient insbesondere dieser Prozess Aufmerksamkeit und (kritische) Beobachtung. Der Prozess bietet die Chance weitere Einblicke in die Strukturen des „Islamischen Staates“ zu gewinnen. Aber auch die Rolle der Türkei als Dreh- und Angelpunkt weltweiter Dschihadisten zeigt sich schon in den bisherigen Erkenntnissen. Zudem sollte es insbesondere darum gehen, den Forderungen der Betroffenen und Hinterbliebenen Nachdruck zu verleihen. Vor allem die Forderung nach Anerkennung des Völkermordes 2014 als solchem, hat nicht an Aktualität verloren und ist verbunden mit dem Wunsch nach „Wiedergutmachung“ und Aufklärung.
Der Prozess in Frankfurt kann zudem weichenstellend für die kommenden 129b Prozesse werden. Denn was ist, wenn dieser Paragraph zukünftig auch gegen diejenigen Internationalist*innen angewandt wird, die gegen die Schlächter des IS gekämpft haben, Sso wie es in anderen europäischen Ländern bereits gängige Praxis ist? Der Prozess in Frankfurt verdient unter all diesen und vielen weiteren Gesichtspunkten mehr Beobachtung und Öffentlichkeit. Insbesondere aus Sicht einer radikalen Linken.
Traditionell wird auch in Rojava der 1. Mai mit Demonstrationen und Kundgebungen begangen. Das Thema der Arbeiter*innenrechte ist seit Beginn der kurdischen Befreiungsbewegung ein Kernthema. Dieses Jahr ist jedoch vieles anders. Nachdem im März schon Newroz – das kurdische Neujahrs- und Frühlingsfest – wegen der Corona-Pandemie abgesagt wurde, sind nun auch die Feierlichkeiten zum 1. Mai verboten. Es herrscht Quarantäne, es wird Mundschutz getragen, die Straßen sind leer, die meisten Geschäfte haben geschlossen, ebenso die Universitäten und Schulen; Fahrzeuge werden überprüft ob die Insassen eine Genehmigung haben.
Doch die Kämpfe für Freiheit und Gerechtigkeit gehen weiter – die Revolution kennt keine Quarantäne. Die Pandemie ist nur eins der allgegenwärtigen Themen: die ökonomische Krise, die Folgen der türkischen Invasion, die anhaltenden militärischen Angriffe und last but not least: der Ramadan bilden den Kontext des täglichen Lebens.
Corona-Krise im Kontext des andauernden Krieges
Bisher ist der große COVID-19-Ausbruch ausgeblieben, in dieser Woche allerdings gab es die ersten beiden bestätigten Fälle und die Stimmung ist angespannt. Ein Ausbruch kann hier katastrophale Folgen für die gesamte Gesellschaft haben: das Gesundheitssystem ist nach neun Jahren Krieg erschüttert und nicht tragfähig. Der Aufbau neuer Gesundheitsstrukturen läuft, wird aber immer wieder durch militärische Angriffe der Türkei aufgehalten. Es mangelt an Geld für Equipment und Medikamente, vor allem aber an qualifiziertem ärztlichen Personal und solider medizinischer Ausbildung.
Dazu kommt, dass an Orten wie Al Hol, einem Flüchtlingscamp mit knap 70.000 Bewohner*innen – viele von ihnen IS-Anhängerinnen –, die Menschen dicht beieinander leben, es keine Möglichkeiten für Isolierung und nur wenige medizinsiche Einrichtungen gibt. Käme es hier zu einem Ausbruch, wäre eine Versorgung der Kranken nicht möglich sein. Aber nicht nur die Situation in den Flüchtlingscamps ist besorgniserregend. Auch die durch Krieg vertriebenen Menschen, die nicht in einem der Camps leben, sind stark von der Krise betroht. Momentan befinden sich ca. 80 000 Menschen im Nordosten Syriens auf der Flucht, sie alle haben kaum Zugang zu Gesundheitsversorgung und leben dicht gedrängt und ohne Isolierungsmöglichkeiten.
Aber bereits vor dem drohenden Ausbruch ist die Bevölkerung durch die Corona-Krise unmittelbar betroffen: die Quarantäne-Maßnahmen führen dazu, dass Menschen nicht arbeiten können und kein Einkomen mehr haben, dazu kommen Preissteigerung von Lebensmitteln und durch die Schließung der Grenzen kommt es zu Lieferengpässe für Lebensmittel, Hygieneartikel, Medikamente, medizinische Materialien.
Offiziell gilt eine Waffenruhe, doch die Türkei und ihre verbündeten Milizen führen weiterhin Angriffe in Afrin, Kobane und Sehba durch und besetzen zentrale Landesstraßen, sodass Lieferungen nicht mehr in den Westen des Landes gebracht werden können. Internationale Aufrufe verurteilen die Türkei und verbündete Milizen für die Unterbrechung der Waffenruhe. Diese Aufrufe bleiben aber ohne spürbare Konsequenzen.
Die Revolution der Frauen
Soweit die aktuelle Lage hier. Nun ein Blick auf die Situation der Frauen. Wir können auf 40 Jahre kurdische Frauenbewegung, acht Jahre Selbstverwaltung in Rojava und beeindruckende Schritte von der ambitionierten Theorie in Richtung Praxis zurückblicken. Die kurdische Frauenbewegung hat viele Erfolge in ihrem Kampf gegen die Ungerechtigkeit und Unterdrückung zu feiern: Frauen sind mittlerweile in allen Bereichen der Gesellschaft und des Berufslebens präsent: sie sind Juristinnen, Journalistinnen, Ärztinnen, Studentinnen, und sie stellen einen wichtiger Teil der Selbstverdeitigungskräfte Rojavas, mit ihrer eigenen Armee YPJ (Yekîneyên Parastina Jin, Frauenverteidigungseinheiten). Durch die Frauengesetze von 2014 wurden Gesetze zur Gleichberechtigung und Abschaffung von Unrecht erlassen. Die wichtigsten darunter sind die Abschaffung der Kinderehe und der Polygamie, ein Verbot von Sexismus und Gewalt gegen Frauen sowie das Recht auf gleiche Chancen und gleichen Lohn in der Lohnarbeit. Die Einführung des Co-Vorsitzeslegt fest, dass in allen wichtigen Ämtern eine Frau und ein Mann gemeinsam entscheiden, sowohl in militärischen wie in zivilen Strukturen. Doch alle diese Änderungen brauchen Zeit, um sich in der Gesellschaft durchzusetzen und ihren Weg von der Theorie in die Praxis zu finden. Vor allem in der arabischen Bevölkerung führen viele Frauen noch immer ein Leben in Unterdrückung und Ungerechtigkeit.
In Zeiten der Corona-Pandemie macht sich dies zum Beispiel in den Zahlen für häusliche Gewalt bemerkbar. Frauen, die ihr Haus nicht verlassen können und deren frustrierter, gestresster Ehemann nun rund um die Uhr zu Hause ist, werden noch mehr als sonst geschlagen und misshandelt – psychisch und physisch. Für den Monat März wurde ein deutlicher Anstieg häuslicher Gewalt gegenüber dem Vorjahr erfasst – ganz zu schweigen von der Dunkelziffer. Und das gilt nicht nur für Nordostsyrien. Weitere Pobleme, mit denen Frauen konfrontiert sind, sind die Versorgung der Kinder, die den ganzen Tag zu Hause sind, und die durch die Krise entstandenen finanziellen Einbußen.
Widersprüche überwinden, eine andere Gesellschaft aufbauen
Angesichts dieser schwierigen Gesamtsituation und des Lebens in Widersprüchen beeindruckt und inspiriert die Entschlossenheit der kurdischen Revolutionsbewegung, sich nicht von der Realität, vom temporären Scheitern oder von Angriffen von außen aufhalten zu lassen, sondern weiterzumachen. An vielen Fronten gleichzeitig für Freiheit und Gerechtigkeit zu kämpfen: der realen militärischen Front, aber auch in den Familien, Schulen, Frauenhäusern, Rehablitationshäusern der Kriegsverletzten, den Gerichten und vielen anderen Orten. Ich wünsche mir, dass wir davon etwas lernen können. Nämlich das Ganze zu sehen, nicht aufzugeben, sich der Realität anzupassen aber nicht von ihr erdrücken zu lassen, kreativ zu sein und vor allem: sich zusammenzutun und gemeinsam zu kämpfen!
Wenn wir nicht anfangen, Gemeinsamkeiten statt Unterschiede zu finden, unsere Kämpfe als verschiedene Ausdrücke des gleichen Problems zu sehen und unsere persönlichen Differenzen zu überbrücken, dann werden wir nicht zu einer Bewegung, die stark genug ist, die Gesellschaft und irgendwann auch „das System“ zu verändern. Und wenn nicht jetzt, in diesen Zeiten der Krise und des Ausnahmezustands, wann dann?
Und wer, wenn nicht wir als Frauen, wir als arbeitende Frauen – und dazu zählt jede Mutter, jede Frau, die eine Familie versorgt, ebenso wie jede Frau, die einem Beruf nachgeht – kann hierbei vorangehen und Vorbild sein? Frauen, Arbeiterinnen dieser Welt: bildet Banden, steht auf für eine bessere Welt und lasst euch nicht aufhalten!
JIN JIYAN AZADI
# Text: Evin Azad, Aktivistin und Ärztin aus Berlin. Seit Anfang des Jahres zum zweiten Mal als Internationalistin in Rojava . Schwerpunkte: medizinischer Support, Aufbau des Gesundheitssystems und medizinischer Bildung, Frauenrevolution, Frauenrechte, Feminismus, Jineoloji, Widerstand, Berichterstattung.
# Titelbild: Corona-Ausgangssperre: Leerer Markt von Souk, Evin Azad
Am 22. November traten Sarah
(FFF Frankfurt/Main) und Carlos
(FFF Berlin) in einen befristeten Hungerstreik, der am 29. November
zu Ende ging. Im Rahmen ihrer Aktion stellten die beiden
Aktivist*innen drei Hauptforderungen an die Bundesregierung: Die
Rücknahme des Klimapakets und Umsetzung der Forderungen von Fridays
For Future (inklusive der Forderungen an der Basis); ein politisches
Streikrecht für alle; und die offene Verurteilung des Krieges der
Türkei in Rojava und der Aufstandsbekämpfung in Chile, sowie eine
umfassende Einstellung sämtlicher Rüstungsexporte in die Türkei.
Für Lower
Class Magazine werten die beiden Young-Struggle- und
FFF-Aktivist*innen nun ihre Aktion aus und formulieren Überlegungen,
wie es mit der Bewegung weiter gehen kann.
Wie kamen wir dahin, wo wir sind?
Vergangenen
Freitag, am 13.12., war das einjährige Jubiläum von Fridays For
Future Deutschland. Seit einem Jahr nun wird in zahlreichen Städten
Deutschlands ununterbrochen jede Woche von Jugendlichen für einen
Wandel in der Klimapolitik gestreikt; am größten Streiktag in
unserer Geschichte, dem 20. September, sind wir in Deutschland mit
1,4 Millionen Menschen gemeinsam auf der Straße gewesen. Innerhalb
dieses einen Jahres hat sich eine Bewegung von einer Größe
entwickelt, wie sie Deutschland seit Jahren nicht gesehen hat – und
die international noch in einem viel riesigeren Zusammenhang steht;
eine Bewegung von Jugendlichen, denen das Recht und die Fähigkeit,
politisch zu sein und mitzubestimmen, immer abgesprochen wird –
genau wir „unreifen“ Jugendlichen haben eine Kraft geschaffen,
die die politische Elite sprachlos und verwirrt zurücklässt wie ein
Kind, dessen Playmobil-Figuren plötzlich wirklich lebendig werden
und nicht mehr schweigend da sitzen bleiben, wo es sie hingesetzt
hat.
Ein Jahr Streik und
nichts passiert
Obwohl
Aktivist*innen von Fridays For Future mit etlichen Politiker*innen
geredet und alle betont haben, wie toll sie es doch finden, dass wir
Jugendlichen so politisch werden, sind faktisch keine politischen
Veränderungen geliefert worden.
Es
war ein Schlag ins Gesicht von uns allen, als am Tag des bisher
größten Klimastreiks am 20. September die Ergebnisse des
Klimapakets veröffentlicht wurden: Die beschlossenen Maßnahmen sind
allenfalls Tropfen auf den heißen Stein und die Erkenntnis, dass die
bürgerliche Politik sich unbeeindruckt zeigt nach einem Jahr des
Protests, hat sich in den Reihen unserer Bewegung breit gemacht. Mit
dieser Erkenntnis ging jedoch an vielen Orten auch eine
Desillusionierung, eine Frustration einher. Immer mehr Diskussionen
gingen in eine Richtung von Perspektivlosigkeit; das Gefühl,
machtlos zu sein gegenüber einer Politik, die die Klimakrise
weiterhin bereitwillig in Kauf nimmt.
Neben
dieser Kopf-in-den-Sand-Stimmung nahm jedoch auch eine Diskussion um
Strategien der Klimagerechtigkeitsbewegung an Fahrt auf. Und genauso
wie sich am 13.12. der Geburtstag von Fridays For Future Deutschland
jährte, war es auch der Tag, an dem Köln und Berlin die letzte
wöchentliche Demo gemacht
haben. Denn in praktisch allen Städten sehen wir, dass nach einem
Jahr der ununterbrochenen Streiks die Teilnehmer*innenzahlen immer
niedriger werden.
Der Hungerstreik als Aktionsform
Hungerstreiks
haben immer, noch mehr als viele andere Aktionen, Ziele in zwei
Richtungen: du zielst nicht nur auf deine*n Unterdrücker*in, sondern
besonders auch auf die eigene Bewegung. Wenn wir zum Beispiel den
Hungerstreik von
Leyla Güven in Nordkurdistan betrachten, dann sehen wir, dass
der wichtigste Erfolg der Hungerstreikphase nicht die Aufhebung der
Isolation war, sondern das Aufbrechen der Angst und die neue
Mobilisierung der Bewegung.
In
dieser Phase aufkommender Frustration, aber auch strategischen
Diskussionen in Fridays For Future hatten wir mit dem Hungerstreik
das Ziel, die Frustration zu bekämpfen und die Diskussion
voranzubringen. Wir wollten erreichen, dass die Aktivist*innen sich
noch einmal neu hinterfragen: haben wir wirklich schon alles
in
unserer Macht Stehende getan, indem wir Freitags die Schule bestreikt
haben? Sind Appelle an die bürgerliche Politik wirklich die richtige
Herangehensweise an die Lösung der Klimakrise, welche bis jetzt von
ebenjener Politik nicht nur geduldet, sondern mit Hilfe von
Subventionen von fossilen Brennträgern und vielen anderen Mitteln
weiterhin aktiv gefördert wird?
Mit
dieser Perspektive haben wir die Aktion zeitlich befristet. Wir
wollten die Frage, wohin wir wollen und was dafür nötig ist, noch
einmal mit neuem Nachdruck in unsere Bewegung hineintragen und der
Strategiedebatte eine neue Dringlichkeit und Ernsthaftigkeit geben.
Wir sind der Überzeugung, dass bei dieser Debatte noch einmal klarer
werden wird, dass ein ökologischer Kapitalismus unmöglich ist und
dass wir die nötige Wende nicht durch wöchentliche Latschdemos
erkämpfen werden. Wir sind der Überzeugung, dass wir in der Zeit
nach dem 29. November einen Schritt weiter gehen werden, in der
Theorie wie in der Praxis – denn davon hängen das Überleben und
besonders der Erfolg unserer Bewegung ab. Wir wollten klarmachen:
gerade haben wir, durch einen Hungerstreik, einen der letzten
Schritte der Symbolpolitik erreicht. Ab jetzt werden wir gänzlich
neue Schritte wagen müssen, wenn wir erkennen müssen, dass Symbole
– egal, ob es Millionen Menschen auf den Straßen oder Jugendliche
mit leerem Magen sind – ignoriert werden.
Kämpfe vereinen!
Eine
der strategischen Aufgaben von Fridays For Future und auch von der
gesamten Klimagerechtigkeitsbewegung ist die Verbindung von
unterschiedlichen Kämpfen. Das Bewusstsein, dass unsere Feind*innen,
aber auch unsere Ziele – ein solidarisches Leben ohne Unterdrückung
als Teil eines funktionierenden Ökosystems – dieselben sind,
verbreitet sich immer weiter. Unsere Bewegung hat in der letzten Zeit
auch bedeutende Schritte hin zu einem gemeinsamen Kampf gemacht:
dabei wären vor allem die Bündnisse im Vorfeld des 20. Septembers
zu nennen, insbesondere mit den Gewerkschaften, genauso aber auch die
internationalistischen Arbeiten, die sich in Fridays For Future am
stärksten mit der Solidaritätserklärung für Rojava und dem
#fridaysforpeace-Aktionstag gezeigt haben.
Bei
der Vereinigung verschiedener Kämpfe und Bewegungen geht es bei
weitem nicht nur darum, noch mehr Menschen für die gemeinsame Sache
auf die Straße zu bringen. Die Beschäftigung mit Rojava, die vielen
Jugendlichen bei FFF zum ersten Mal eine revolutionäre Perspektive
eröffnet hat, ist ein Beispiel dafür, was wir alles von anderen
Bewegungen lernen können und was für einen gigantischen politischen
Wert das Zusammenkommen hat.
Der
Schulterschluss mit Arbeiter*innen und Bewegungen von unterdrückten
Gruppen wie Migrant*innen, FLINT,
etc., ist eine entscheidende Herausforderung der
Klimagerechtigkeitsbewegung, um eine revolutionäre,
antikapitalistische Perspektive
wirklich
in Praxis zu
verwandeln. Diese strategische Aufgabe haben wir in der zweiten und
dritten Forderung des Hungerstreiks sowie in den
Solidaritätsnachrichten nach Chile, Bolivien und Rojava
konkretisiert.
Generalstreik und ziviler Ungehorsam
Seit
einem Jahr führen wir, bewusst oder unbewusst, einen Kampf für das
politische Streikrecht, indem wir es uns in den Schulen praktisch
nehmen. Der 20. September hat den Generalstreik nach Jahren der
Stille wieder auf die Tagesordnung gebracht. Mit der
Klimagerechtigkeitsbewegung gemeinsam mit den organisierten
Arbeiter*innen das politische Streikrecht zu erkämpfen, wäre ein
unglaublicher Erfolg und eine weitere Eskalationsstufe, die nicht
unterschätzt werden kann.
Wenn
wir das jedoch wirklich schaffen wollen, müssen wir noch viele
Engstirnigkeiten und rückschrittliche Tendenzen in unserer Bewegung
überwinden: Wir müssen wegkommen von einem antisozialen Begriff von
Klimaschutz, der eine neoliberale CO2-Steuer als Lösung für alles
sieht, während die Arbeiter*innen in Frankreich mit der
Gelbwestenbewegung im Kampf gegen genau solche Maßnahmen – mit
jeder Berechtigung – das ganze Land auseinander nehmen. An Stelle
der Gewerkschaftschef*innen müssen wir viel mehr in mühseliger
Basisarbeit mit den Gewerkschaftsmitgliedern und Arbeiter*innen ins
Gespräch kommen. Wichtig ist aber auch, uns über die Gegenseite
klar zu werden: Wir müssen alles daran geben, um uns durchzusetzen
gegen Integrationsversuche von Gruppen wie „Entrepreneurs For
Future“, die vor dem 20. September Rechtsgutachten machen und
betonen, dass es doch viel sinnvoller wäre, auf Unternehmen, die
ihren Angestellten freistellen als auf einen wirklichen Streik zu
setzen.
Wir
dürfen jedoch nicht auf den Irrweg tappen, Generalstreik und
Revolution zu verwechseln. Ein Streik, an dessen Ende alle mit
ruhigem Gewissen nach Hause und am nächsten Tag wieder auf die
Arbeit und in die Schule gehen, hält sich in engen Grenzen. Nach
einem Jahr des Streiks setzt sich an immer mehr Orten die Erkenntnis
durch, dass das Aktionsrepertoire auf irgendeine Weise, die die
Widersprüche stärker zuspitzt, ausgebaut werden muss.
„Ende
Gelände“ führt unsere Bewegung langsam zu einem militanteren
Bewusstsein und zu der Erkenntnis, dass das Fortlaufen des
zerstörerischen Systems in unseren Händen liegt. Wir dürfen dabei
jedoch niemals vergessen, dass ziviler Ungehorsam zwar an vielen
Stellen seine Berechtigung haben mag, aber auf lange Sicht keinen
ausreichenden Aktionsrahmen für eine Bewegung, die sich revolutionär
nennen möchte, bietet. Wir als Klimagerechtigkeitsbewegung, als
unterdrückte Jugend, wie alle anderen Unterdrückten und
Ausgebeuteten, können uns einer breiten Palette an militanten
Aktionsformen bedienen, die auch heute in Deutschland schon praktisch
machbar und politisch legitim sind. Es liegt an uns, alle
verschiedenen Mittel, die unserer Bewegung zur Verfügung stehen, auf
eine revolutionäre Weise zusammenzubringen.
Es stehen viele Aufgaben vor uns. Viele Herausforderungen und viele Möglichkeiten. Ein Jahr Fridays For Future hat unsere Gesellschaft nachhaltig verändert – ob wir sie auch wirklich revolutionieren werden, wird sich in Zukunft zeigen.
Im Norden und Osten Syriens hat sich in den vergangenen Jahren ein basisdemokratisches, sozialistisches Rätesystem etabliert. Die kurdische, arabische, christliche und assyrische Bevölkerung erkämpfte sich ein Zusammenleben auf demokratischen Prinzipien, Gleichberechtigung der Frauen und kooperativer Wirtschaft. Doch die Türkei, zusammen mit islamistischen Terrorgruppen bedroht dieses Zusammenleben. Felix Anton hat den Prozess im Norden Syriens lange begleitet. Derzeit lebt und arbeitet er in Til Temer. Wir haben mit ihm gesprochen und ihm Leser* innenfragen gestellt.
Am 1. November 2019, rund drei Wochen nach dem Beginn der türkischen Invasion in Nordsyrien, war der kurdische Politiker Gharib Hassou in Dresden zu Gast. Hassou ist Co-Vorsitzender von TEV-DEM (Tevgera Civaka Demokratîk, Bewegung für eine demokratische Gesellschaft in Nordsyrien) und ehemaliger PYD-Außenvertreter im Autonomiegebiet der Kurdischen Regional Regierung im Nordirak. Das folgende Interview führten Sven Wegner, Wissam Abu Fakher und Ricaletto nach einer Diskussionsveranstaltung in der Evangelischen Hochschule.
Die Türkei greift
zusammen mit dschihadistischen Milizen den Norden
Syriens an. Welche realistischen Persepktiven hat Rojava bzw.
die Demokratische Föderation Nord- und Ostsyrien in dieser
Situation?
Vor dem jetzigen
Einmarsch gab es Stabilität und alle Teile der Gesellschaft haben
zusammengelebt auf der Grundlage der Völkerverständigung. Rojava
war im Vergleich zu den Gebieten Assads und denen der syrischen
Oppositionellen, die der Türkei nahestehen, viel besser. Sowohl von
den Bedingungen dort als auch von dem was die Menschen für ihr
tägliches Leben haben und alles Mögliche mehr. Das Ziel der
Operation gegen Rojava und genauer gegen Serê Kaniyê (Raʾs
al-ʿAin) und Girê Spî (Tall
Abyad) ist es, diese Stabilität zu zerstören.
Der Wille der Menschen
vor Ort soll gebrochen werden. Nach dem Einmarsches erlebten wir
einen wirklichen Kriegszustand und wir sehen, dass auf uns ein
Vernichtungskrieg zukommt. Die Türkei verübt zahlreiche
Kriegsverbrechen. Zuletzt benutzten sie sogar Phosphorbomben und die
sind eigentlich verboten.
Die Kämpferinnen und
Kämpfer der YPG, YPJ und der SDF leisten einen großartigen
Widerstand in den Gebieten, aber der türkische Staat macht keinen
Unterschied und bombardiert einfach alles. Die internationale
Gemeinschaft beobachtet das, aber handelt nicht. Außerdem sind alle
internationalen Kräfte, also Russland, die USA, der Iran, die sich
in den Syrienkrieg eingemischt haben, auch in diesem Gebiet.
Meine Frage war aber
eine andere. Es ging mir um die Perspektiven, die Rojava jetzt noch
hat. Da komme ich auf Fragen wie: Wie ist Ihre Sichtweise auf eine
mögliche Zusammenarbeit mit dem syrischen Regime, also mit Bashar
al-Assad oder Russland? Ist man nicht gezwungen mit diesen Kräften
zusammenzuarbeiten? Welche Positionen haben sie dazu?
Wir sehen den
Demokratischen Konföderalismus als einzige Lösung für alle
aktuellen Probleme in Syrien. Wir sehen die Zukunft Syriens nur in
einer demokratischen Föderation, wenn es denn überhaupt eine
Zukunft für Syrien gibt. Wir werden ganz einfach kämpfen, um das
System und diese Idee und Philosophie zu beschützen und den Terror
zu bekämpfen. Wenn unser Modell vernichtet wird, dann wird auch der
Wille der kurdischen Bevölkerung vernichtet, denn Erdogan will die
Gebiete auch ethnisch verändern. Das gleiche hat er auch mit dem
Nordirak vor.
Also steht eine
Zusammenarbeit mit Bashar al-Assad gar nicht auf dem Programm?
Wir haben es ja seit
langem versucht, diplomatische Kanäle mit Damaskus zu öffnen, um
Gespräche zu vereinbaren und Meinungen auszutauschen. Aber sie haben
unsere Anfragen immer abgelehnt und sich dem Dialog verweigert. Es
gab Konferenzen in Bozanê (Ain Issa), in Kobanê (Ain al-Arab) und
in verschiedenen Gebieten, aber das Regime Assads akzeptiert keinen
Dialog. Zuletzt gab es eine Vereinbarung zwischen den SDF und dem
Regime darüber, dass Truppen an die Grenze entsendet werden und
nicht um Gebiete der SDF zu übernehmen. Diese Vereinbarung wurde
durch Russland vermittelt und auch wir wollten dem Regime die Aufgabe
geben, die Grenze zu schützen, damit wir nicht allein diese Aufgabe
übernehmen müssen. Aber genau hier sieht man auch, dass das Regime
gar keine Kraft mehr hat und nichts mehr übernehmen kann. Es gibt
keine Hoffnung, dass das Regime die Grenze sichert. Die Soldaten
wurden mit Tiertransportern transportiert. Wir wissen natürlich
auch, dass es bereits eine Vereinbarung zwischen dem Regime und
Erdogan gibt. Und das gegen den Willen der syrischen Bevölkerung.
Wir wollten dem Regime die Aufgabe des Grenzschutzes übergeben, doch
es hat sich der Verantwortung entzogen.
Es besteht die
Gefahr, dass ihr nun zwischen zwei Fronten zerquetscht werdet. Auf
der einen Seite das Regime und Russland – gut das Regime hat kaum
noch Kapazitäten, aber Russland hat eine Luftstreitmacht – und auf
der anderen Seite die Türkei und ihre dschihadistischen Milizen. Es
besteht also durchaus die Gefahr, dass ihr aufgerieben werdet und die
Zivilbevölkerung darunter leidet, wenn man sagt: „Kämpfen,
kämpfen, kämpfen!“
Wenn das Regime seine
Verantwortung übernehmen würde, dann würde es eine Flugverbotszone
errichten. Russland hätte auch diese Aufgabe erfüllen können.
Beide haben dies aber nicht gemacht, mit der Absicht das unsere
Stützpunkte und Gebiete von der Türkei bombardiert werden. Also
werden wir nun kämpfen, denn es ist unser Traum und unser Land.
Dieser Krieg ist bereits ein großer Krieg. Wem sollen wir die
Gebiete und das Land überlassen? Erdogan und den Dschihadisten aus
al-Raqqa, al-Baghuz, Tabqa und Minbic (Manbidsch), die die auch Efrîn
(Afrin) und Idlib geraubt haben und die jetzt unser Land rauben
wollen? Wir werden das Land nicht dem Besatzerstaat Türkei und nicht
den Dschihadisten überlassen. Wir werden es nicht zulassen, dass die
Türkei uns besetzt und ausraubt.
Mit dem Blick auf
die Flugverbotszone: Welche Rolle kann die EU spielen? Welche Rolle
muss die NATO spielen? Was wären konkrete, realistische Schritte, um
diesen Krieg einzudämmen? Wie ist die Meinung von TEV-DEM dazu?
Wir haben überall
Ausschüsse in Washington, Moskau, der EU und in arabischen Ländern
zu dem Thema und wir haben darüber bereits die notwendigen Schritte
an die entsprechenden Länder übermittelt. Der erste Schritt wäre
eine Flugverbotszone in Nord- und Ostsyrien, damit die türkischen
Luftangriffe aufhören. Zweitens sollten UN-Truppen in die
Grenzregion gebracht werden und die können die Aufgabe übernehmen,
den Krieg auf dem Boden einzudämmen. Die Entscheidungen der UN sind
wichtig und wir heißen UN-Truppen willkommen, aber es gibt bisher
keine Fortschritte oder Entscheidungen in diese Richtung. Auch die
USA haben gesagt, dass sie wirtschaftliche Sanktionen gegen die
Türkei durchsetzen würde, wenn sie gewisse Linien überschreitet.
Doch wo liegen diese Linien überhaupt? Bislang ist alles Theorie,
aber wir hoffen, dass es in die Praxis umgesetzt wird. Die Europäer
haben Angst wegen der DAESH-Gefangenen in unseren Gefängnissen und
Camps, besonders wenn die Türkei diese befreit. Dann wird es eine
große Katastrophe geben.
Gibt es noch
diplomatische Beziehungen oder Kanäle zur Türkei?
Wir haben der Türkei
mehrmals angeboten, dass wir in einen Dialog treten und darüber
verhandeln, wie wir die Grenze sichern können und welchen
Mechanismus wir dafür finden könnten. Die Türkei hat das bislang
verweigert. Wenn sie dazu bereit wären, heißen wir das sehr
willkommen und es könnte als Plattform für weitere Verhandlungen in
der Zukunft dienen. Es wäre ein Vorteil für uns mit ihnen zu
verhandeln, denn die gesamte nördliche Grenze ist eine Grenze mit
der Türkei.
Was passiert
momentan mit den DAESH-Gefangenen? Wie ist Ihre politische Haltung zu
diesem Thema?
Die SDF sagen, sie
haben keine Kapazitäten mehr, die Gefangenen zu kontrollieren, weil
sie die Grenze schützen müssen. Ein paar DAESH-Gefangene sind
bereits geflohen und kämpfen jetzt auf der Seite der Dschihadisten
mit der Türkei zusammen.
Merkt ihr in Rojava,
dass hier in Europa tausende Menschen auf die Straße gehen,
demonstrieren, blockieren, besetzen und viele Aktionen in Solidarität
mit Rojava machen?
Ja, wir haben es
gesehen und mitbekommen, dass die Kurden im Exil und deren Freunde
Aktionen machen. Und das freut uns natürlich.
Wir haben bereits
darüber gesprochen, was Sie von der EU und von Staatsregierungen
erwarten. Wie verhält es sich mit der Zivilgesellschaft in Europa?
Was erwarten Sie von ihr?
Man kann Regierungen
nicht vertrauen und wir vertrauen nur der Gesellschaft. Wenn wir von
Gesellschaft reden, dann meinen wir die Gewerkschaften, Vereine und
andere zivilgesellschaftliche Organisationen.
„Man kann Regierungen nicht vertrauen“ – Gharib Hassou im Interview mit lcm; Zeichnung: Ricaletto
Der größte Beitrag,
den die Zivilgesellschaft zum Widerstand in Rojava leisten kann, ist,
Druck auf die Regierungen aufzubauen. Es gibt so viele Videos und
Beweise wie die dschihadistischen Kämpfer Leichname schänden,
„Allah u Akhbar“ rufen, als hätten sie gegen das Regime gewonnen
oder die „Ungläubigen“ komplett zerstört. Da kann die
Zivilgesellschaft helfen, diese Beweise und Videos zu sammeln und zu
verbreiten, damit die Welt besser Bescheid weiß, gegen wen wir
kämpfen.
Sie haben gesagt,
dass man das Modell Rojava bekannter machen soll und wir hatten ja
schon 2017
im Irak über den Aufbau von Räten gesprochen und auch darüber, ob
Parteien überhaupt notwendig sind und ob sie sich nicht einfach
auflösen sollten. Aber nun ist in Rojava ja Krieg und man scheint zu
merken, dass die Entscheidungen nicht durch Räte getroffen werden.
Räte brauchen lange, sie müssen diskutieren. Müssen
die SDF nicht eigenständige Entscheidungen treffen, weil sie unter
militärischem Zugzwang stehen? Ist Krieg nicht das komplette
Gegenteil von Rätedemokratie bzw. Gift für diese?
Die Türkei versucht
den Aufbau unserer Demokratie zu zerstören. Wir haben sieben
demokratische Verwaltungen und 35 arabische, aramäische, assyrische
und kurdische Parteien und diese tauschen sich aus und diskutieren
untereinander und sie liefern ihre Meinungen und Perspektiven an den
Regierungsrat in Nord- und Ostsyrien. Dieser Regierungsrat
entscheidet dann für die SDF. Auch jetzt, in Kriegszeiten, ist es
zwar schwierig, aber die Entscheidungen trifft immer noch der
Regierungsrat und dieser Rat bekommt die Entscheidungen von der
lokalen demokratischen Verwaltung.
Also auch durch die
Räte?
Jede
demokratische Verwaltung untersteht den Räten und so kommen die
Entscheidungen von unten nach oben zu Stande.
Kritiker sagen aber
es gibt diese Räte gar nicht wirklich. Das seien alles Illusionen
und es steht die Frage im Raum, ob es wirklich sein kann, dass Räte
unter Kriegsbedingungen im 21. Jahrhundert existieren?
Als die Türkei mit
ihrem Angriff begonnen hat, hat sich die SDF-Führung mit dem
Assad-Regime auf Hmeimim, einem russischen Militärflugplatz,
getroffen, weil die Verwaltung, die Räte und die Parteien sich
getroffen haben und alle dafür gestimmt haben, mit Assad zu
kooperieren. Das war eine Entscheidung der Basis und deswegen musste
die SDF-Führung sich dort mit dem Regime treffen. Ich will nicht,
dass wir missverstanden werden. Wir wollten nicht mit Assad
kooperieren. Seit drei Jahren haben wir versucht, einen Dialog mit
ihm einzugehen. Nach dem türkischen Angriff waren wir gezwungen, zu
Assad zu gehen und er hat es akzeptiert, aber wir sehen nun, dass er
nicht in der Lage ist die Grenze zu schützen.
Wie bei der
Besetzung von Efrîn?
Genau.
Es gibt immer wieder
Berichte über Zwangsrekrutierungen und die Kritik an der Einführung
der Wehrpflicht in Rojava. Es gibt Berichte von jungen Männern, die
sich in Qamişlo (Qamischli) oder Kobanê verstecken müssen, um
nicht von den Asayîş (Sicherheitskräfte der kurdischen
Selbstverwaltung) verhaftet und zwangsrekrutiert zu werden. Wenn ich
Bilder aus Rojava sehe, dann sehe ich ältere Frauen und ältere
Männer, vielleicht noch ein paar junge Frauen, aber ich sehe kaum
junge Männer, da diese fast alle zum Militärdienst müssen. Welche
Positionen vertreten Sie zu Zwangsrekrutierung, Wehrpflicht und
Militarisierung der Gesellschaft?
Wir wurden missverstanden. Wir sind seit sieben Jahren im Kriegszustand und seit sieben Jahren bekämpfen wir die Terroristen des Islamischen Staates. In der Zeit hat uns niemand für Rekrutierung und Militarisierung kritisiert. Nachdem wir jetzt aber mit Daesh militärisch fertig sind, wird die Aufmerksamkeit auf dieses Thema gelenkt. Al-Nusra erzieht zum Beispiel Kinder zu zukünftigen Terroristen. Bei uns geht es um das Recht auf Selbstverteidigung und wir haben das Recht zu wissen, wie wir uns selber verteidigen können und genau das wollen wir auch erreichen. Wir haben unsere demokratischen Institutionen aufgebaut und diese brauchen nun auch Schutz. Zum Beispiel tragen die Leute nachts in unseren Viertel Waffen, um das Viertel zu verteidigen. Die Menschen müssen einfach wissen, wie man damit umgeht. Ich glaube, dass diese Kritik dazu benutzt wird, den türkischen Angriff zu legitimieren.
# Interview: Sven Wegner Übersetzung: Wissam Abu Fakher Zeichnung: Ricaletto
#Bildquelle: ANF
# Sven Wegner und Ricaletto veröffentlichen Anfang 2020 ihr Buch „Başur“ (Verlag Ichi Ichi) über ihre Reise durch Süd-Kurdistan 2017. Das Buch vereint Interviews und Sachtexte mit Comic- und Portraizeichnungen.
Am 02.11.2019, dem -World Resistance Day- kamen tagsüber mehr als 10.000 Menschen zusammen, um in Berlin gegen den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der Türkei auf Nordost-Syrien Widerstand zu leisten. Bei einer weiteren Demonstration am Abend, setzten rund 2.000 Menschen ein Zeichen gegen die Stadt der Reichen und den Erhalt von alternativen Wohn- und Kulturprojekten. Beide Demonstrationen bezogen sich klar auf Rojava und riefen zum Widerstand gegen Krieg und Faschismus.
Der 2. November ist World Resistance Day, der weltweite Tag des Widerstandes. In mehr als 16 Ländern werden insgesamt mehrere Hunderttausend Menschen in Solidarität mit der kurdischen Befreiungsbewegung und der Revolution in Rojava auf die Straße gehen. Das ist großartig. So wie der Widerstand gegen Unterdrückung und Ausbeutung großartig und schön ist. Und weil es um Widerstand und Rojava geht, will ich die Gelegenheit nutzen, um von ein paar zufällig ausgewählten Menschen zu erzählen, die ich in meiner Zeit dort kennenlernen durfte. Es sind keine berühmten Menschen. Ihre Namen und Gesichter kennt man nicht aus den Hochglanzmagazinen, den Zeitungen oder aus den Talkshows.
***
Es sind Menschen wie Mussa Doschka, den
ich Anfang 2017 im südkurdischen Suleymaniya traf. Ich war mit einer
internationalistischen Gruppe auf dem Weg nach Rojava. Mussa wollte
so gerne, aber konnte noch nicht rüber. Er hatte Arbeit zu tun,
durfte nicht weg. Mussa sprach nur Kurdisch. Ich sprach noch kein
Wort Kurdisch. Also mussten wir mit uns mit Händen und Gestiken
verständigen.
Mussa mochte uns komische Ausländer
sichtlich. Er kam immer an, drückte uns ganz fest. Dann zeigte er
auf seinen Bauch und sagte: Doschka. Er zeigte auf mich und sagte: Tu
jî Doschka. Doschkas, das sind die russischen DschK-
Maschinengewehre, sehr schwer und mit viel Rückstoß, grauenhaft
laut. Ich verstand: Mussa wollte sagen, wir zwei, er und ich, eignen
uns wegen der Statur sehr gut zum Doschka-Schützen. Ein paar Tage
blieben wir zusammen. Dann ging es für mich los, Mussa blieb. Und
mit ihm sein Traum, hinter einer Doschka zu stehen, der er auch
seinen Nachnamen verdankte. Zum Abschied schenkte er mir ein großes
scharfes Klappmesser mit einer Gravur. Als bîranîn,
Erinnerungsstück.
Als
ich dann sieben Monate später, irgendwann am Ende des Sommers 2017
in Qamislo eine Freundin ins örtliche Krankenhaus fahren musste,
hatte ich Mussa Doschka längst vergessen. Zu viele Dinge waren
geschehen, zu viele Menschen hatten meinen Weg gekreuzt. Am Eingang
zum Krankenhaus stand ein kräftiger junger Mann, starrte mich an und
sein Mund verzog sich breit nach oben. Er lachte, so dass man alle
Zähne sah. Ich begann schon reflexartig zu lachen und auf ihn
zuzulaufen, bevor ich noch ganz begriffen hatte, wer das eigentlich
ist. Es war Mussa. Er war Doschka-Schütze geworden, ganz wie er es
sich gewünscht hatte. Und er hatte ein paar Schrapnells im Bauch,
von Gefechten gegen den Islamischen Staat. Ich fragte ihn, wie es ihm
gehe. Er sagte nur:
tişt
nabe, kein Ding, und lachte. Er wollte so schnell wie möglich wieder
an die Front.
Ich
konnte nur kurz mit Mussa reden, jetzt wo wir eine gemeinsame Sprache
hatten. Er erzählte mir von seiner Verletzung und wie gut sie schon
verheilt war. Ich erzählte ihm, was ich in der Zwischenzeit so
getrieben hatte. Zehn Minuten, mehr hatten wir nicht. Aber obwohl wir
vielleicht alles in allem drei, vier Tage miteinander zu tun hatten,
war da eine große Verbundenheit. In der Revolution ist das eine der
wunderbarsten Sachen: die Freundschaft entsteht oft ohne viele Worte.
Ohne lange Debatten. Sie speist sich daraus, auf der selben Seite zu
stehen. Man muss sich nicht viel erklären.
Das
Messer von Mussa Doschka trat wie die meisten Erinnerungsstücke eine
lange Reise an. Ich behielt es über meine gesamte Zeit in Rojava.
Als ich nachhause fuhr, gab ich es meinem Genossen Paramaz, der es
mit nach Afrin nahm. Und als er zurückkam, gab er es an einen
anderen Genossen weiter. Und so hat es bis heute seinen Platz in der
Revolution und manchmal überlege ich, wie witzig es wäre, wenn es
irgendwann wieder bei Mussa Doschka landet.
***
Im Sommer 2017 habe ich meine
militärische Ausbildung im Jesdiengebiet Sengal bei einer Servanen
Nû, einer Kriegsschule der Jesidischen Verteidigungseinheiten YBS
gemacht. Zu irgendeiner Art Special-Forces-Soldat bin ich dabei nicht
geworden, aber es war eine gute ideologische Schule und vor allem
eine in der Kunst des Zusammenlebens in einer Revolution. Die
Mischung unseres Lehrgangs war bunt. Zwei Deutsche – so sehr wir
uns bemühten übermäßig privilegiert, weil in einem Land ohne
Krieg und mit Schulen, mehr oder minder intakten Familien und der
Sicherheit, nicht einfach auf der Straße erschossen zu werden,
aufgewachsen. Und eine Handvoll jesidisch-kurdischer junger Männer
aus feudalen Haushalten. Unser Kommandant, Sehid Mahir
Sengali, hielt den Laden zusammen und brachte uns wirklich viel
bei. In jeder Hinsicht war er wie ein großer Bruder für uns.
Einer der jesidischen Jugendlichen dort
war Heval Renas. Gerade 18 Jahre alt, nie lesen oder schreiben
gelernt, zuhause geprügelt worden, ohne eigentlichen Rückhalt in
der Familie, bitter arm. Renas hatte völlig verlernt, sich selbst
oder andere ernst zu nehmen, hatte keinerlei Ziele in diesem Leben.
Er machte nur Blödsinn, sehr zum Ärgernis aller anderen. Er
fuchtelte mit der Waffe, zeigte mit dem Lauf auf andere, redete
andauernd wirres Zeug. Aber Mahir mochte ihn. Und wir anderen mochten
ihn auch. Wenn er es uns auch schwer machte, weil er uns mehrmals
beinahe aus Versehen umbrachte. Einmal, als er aus Unvorsichtigkeit
unseren Wassertank mit dem dreckigen, öl- und metall- und
gottweißwassonstverseuchten Wasser, das nur zum Waschen der Autos
oder des Bodens taugte, angefüllt hatte und wir alle erst nach
mehreren Gläsern bemerkten, dass doch nicht das normale Chlor so
komisch schmeckt, wurde Renas zum Gegenstand einer Selbstkritik- und
Kritiksitzung samt Strafe. Es war die schwerste Strafe, die in
unserer Ausbildung vorkam: Zigarettenentzug, drei Tage. Renas war am
Boden zerstört, er rauchte sehr gerne.
Aber er begann, sich Gedanken zu
machen. Und Mahir gab ihn nie auf. Ich habe mich oft gefragt, wie
unsere deutsche Linke wohl in der Lage wäre, Menschen wie Renas eine
Perspektive zu geben. Die kurdische Bewegung jedenfalls konnte das.
Renas wurde aufmerksamer, hörte gelegentlich auch mal bei den
achtstündigen in 50 Grad Hitze abgehaltenen Schulungen zur
Geschichte der Befreiungsbewegung zu.
Es ging bergauf mit ihm. Dennoch, als
wir die Ausbildung abschlossen, hätte jeder gewettet, dass Renas den
Weg vieler armer Jugendlicher geht: Schnell noch das Gewehr
mitnehmen, um es zu verscherbeln und weg. Monate später, kurz vor
unserer Rückreise nach Deutschland kamen wir zwei Deutschen wieder
in den Sengal. Wir trafen natürlich unseren Kommandanten Mahir zu
einem Anstandbesuch bei Tee und Sonnenblumenkernen. Und was war
passiert: Zwei andere aus unserem Jahrgang waren abgehauen. Aber
Renas stand auf seinem Posten und war jetzt zu einem der Verteidiger
des Sengal geworden.
***
Nach der militärischen Ausbildung ging
ich zurück in zivile Arbeiten. Ich blieb zwei Monate in der Kommune
in Rojava, bevor ich weiterzog nach Raqqa. Davor hatte ich eigentlich
eine Heidenangst. Aber ich hatte viele Menschen getroffen, die mit so
viel Mut und Entschlossenheit bei der Sache waren, dass ich mir
selbst nicht mehr sagen konnte, es sei okay, nicht zu gehen. Sehr
beeindruckt hatte mich zum Beispiel eine Internationalistinnen, die
sich bei uns im Zentrum von ihren Verletzungen erholte.
Heval Dilan kam aus Kanada nach Rojava.
Und sie arbeitete in der YPJ als Frontsanitäterin. Ein knochenharter
Job. Ich kann mich noch an ein Gespräch mit einer anderen Genossin
erinnern, die auch Frontsanitäterin war, bevor wir im Spätsommer
nach Raqqa aufgebrochen sind. Sie wies uns notdürftig in erste
lebenserhaltende Maßnahmen bei Schußwunden ein: „Wenn du Blut
siehst, wenn einer einen Treffer hat, müsst ihr ihn von oben bis
unten abtasten. Gebt euch nicht damit zufrieden, wenn ihr ein, zwei
Löcher findet. Oft sind es mehrere. Und tastet wirklich alles ab,
wir hatten oft große Löcher im Oberschenkel innen.“ Drei Stunden
hörten wir uns die Fallbeispiele an: Menschen, denen der Kiefer
fehlte, denen ein Stück Kieferknochen in der Luftröhre steckte;
Bauchschüsse, bei denen Gedärme austreten; zur U-Form verkrüppelte
Beine mit herausstehenden Knochen. Für die Frontsanitäterinnen war
das Alltag.
Heval Dilan hatte genau diese Arbeit
verrichtet. Und dann hatte sie einen schweren Autounfall. Als sie bei
uns ankam, wirkte sie manchmal kaum ansprechbar. Dilan hatte eine
schwere Gehirnerschütterung. Sie konnte kaum gehen, wenn sie aß,
erbrach sie. Morgens sah sie aus wie aus einer Folge von walking
dead. Ich dachte oft: Würde es mir so gehen, ich würde
versuchen, so schnell wie möglich nachhause zu kommen. Doch Dilan
dachte gar nicht daran. Sie wollten nach Raqqa, dann nach Deir
ez-Zor. Am besten sofort. Und weil es so viele Menschen wie Dilan
gab, wurde es auch für die ängstlicheren wie mich schwieriger, den
eigenen Befindlichkeiten nachzugeben.
***
Die drei – Mussa, Renas und Dilan –
sind völlig zufällige Beispiele für den alltäglichen Heroismus
der Revolution in Rojava. Geschichten wie die ihren sind Alltag in
Rojava. Es ist eine Revolution, die nur deshalb solange bestehen
konnte, weil tausende Menschen den Fortgang dieses Projekts über ihr
eigenes Wohlergehen, über ihr persönliches Geschick stellten. Das
aber ist letztlich die Bedeutung von Widerstand. Er hört nicht da
auf, wo es unbequem zu werden droht. Er fängt dort erst an. Denn er
speist sich aus der empfundenen Einsicht, dass ein Leben auf Knien
kein Leben sein kann.
Die Revolution in Rojava und die kurdische Befreiungsbewegung haben vielen Menschen diese Einsicht wieder ins Gedächtnis gerufen. Und sie hat ihnen eine Heimat gegeben, die auf keinem Territorium, sondern in den eigenen Köpfen liegt. Wenn wir zum 2. November auf die Straßen gehen, um den World Resistance Day zu begehen, protestieren wir nicht nur gegen die Kriegsverbrechen und das vom Feind begangene Unrecht. Wir feiern auch die Schönheit dieses Widerstandes.
Seit neun Tagen halten einige hundert
sozialistische Freiwillige aus den kurdischen Selbst- und
Frauenverteidigungseinheiten YPG/YPJ sowie Kämpfer*innen der
Syrisch-Demokratischen Kräfte eine NATO-Armee davon ab, eine
Kleinstadt einzunehmen. Serekaniye, arabisch Ras al-Ain, liegt auf
syrischer Seite der türkischen Stadt Ceylanpinar gegenüber und ist
schon neun Tage nach der Invasion türkischer Truppen und deren
dschihadistischen Sammeltruppen SNA nur noch Geröll und Schutt.
Seit neun Tagen bombardieren Kampfjets
aus der Luft, Artillerie aus der Ferne und Panzer aus dem
Belagerungsring jedes einzelne Haus in der Stadt – Krankenhaus und
Schulen eingeschlossen. Ein ziviler Konvoi, der zur Unterstützung
der Kämpfer*innen in die Stadt gekommen war, wurde am 13. Oktober
direkt angegriffen. Wie viele Menschen insgesamt in Serekaniye
bislang von Erdogans Truppen ermordet wurden, ist schwer zu sagen. In
das Hauptkrankenhaus in al-Hasakah werden aus Serekaniye Kinder mit
schwersten Verbrennungen eingeliefert, verstümmelte Zivilist*innen,
verletzte Kämpfer*innen in ihren letzten Zügen.
Serekeniye ist eine Hölle aus Feuer
und Asche. Ein Ort, der traurig und wütend macht. Wie ist so etwas
möglich? Wieso werden den schäbigen Interessen imperialistischer,
mörderischer Kriegstreiber so viele Menschenleben geopfert? Wer auf
Ras al-Ain nur aus diesem Blickwinkel sieht, muss verzweifeln.
Doch Serekaniye ist heute mehr als das.
Es ist ein Symbol der Hoffnung – so abwegig das auf den ersten
Blick auch erscheinen mag. Serekaniye ist, wie 2014 Kobane, ein
klares Zeichen einer Bewegung, die keine Unterwerfung – wie widrig
die Umstände auch sein mögen. Jede Nacht kommen die Bomber. Und
jeden Morgen meldet sich Ersin Caksu für die kurdische
Nachrichtenagentur ANF aus den Trümmerhaufen der Stadt, spricht mit
den Verteidiger*innen. Sie wirken nicht traurig. Sie wirken nicht
verzweifelt. Sie wirken wie Menschen, die wissen, wofür sie gerade
kämpfen. Und denen es wichtiger ist, ein möglicherweise kurzes
Leben in Würde als ein langes in Siechtum und Knechtschaft zu
führen.
„Es geht nicht darum, zu leben oder
nicht zu leben, sondern richtig zu leben. Selbst wenn uns das
richtige Leben nicht gelingen sollte, das Wichtigste ist, sich
niemals von dieser Suche abbringen zu lassen und Reisender auf diesem
Weg zu sein“, schreibt Abdullah Öcalan, der inhaftierte Vordenker
der kurdischen Befreiungsbewegung. Und er meint damit nicht die
individuelle Suche nach einem immer neuen Modelifestyle, wie sie ein
an Langeweile zugrunde gehendes liberales Kleinbürgertum betreibt.
Er meint das kollektive Leben in einer Gesellschaft der Gleichen, die
Rehevaltî, die Weggefährtenschaft im Kampf genauso wie das
solidarische, demokratische Zusammenleben im Frieden.
Das, woran sich die NATO-Armee in
Serekaniye seit neun Tagen die Zähne ausbeißt, ist diese
Kollektivität. Es ist nicht der einzelne Soldat, gedrillt wie ein
US-Marine. Es ist auch nicht die Technik, davon haben die
Verteidiger*innen ja nicht allzu viel. Es ist die Freundschaft und
Genossenschaft untereinander, die einen immer wieder durchhalten
lässt, immer wieder weitermachen lässt. Klar, die Spezialkräfte
von YPG und YPJ sind ausgezeichnete Kämpfer*innen. Aber was sie
bestehen lässt, ist das Wissen um ein aus einer gemeinsamen Idee von
Leben gespeisten Netz, das bei ihnen anfängt, sich über die Mütter,
die ihr Brot backen, die Dorfbewohner*innen, die ihnen ihre Tür
öffnen, die Reporter*innen, die bei ihnen bleiben, wenn die bomben
einschlagen, die Ärzt*innen, die ihre Verwundeten zusammenflicken,
bis zu den Genoss*innen in den irakischen Bergen, den türkischen
Metropolen oder ins europäische und US-amerikanische Hinterland
zieht.
Die kurdische Bewegung hat eine
Geschichte geschrieben, die ihre eigenen Landmarken hat. Vom
Gefängniswiderstand im Folterknast Diyarbakir in den 1980er-Jahren
über die Verteidigung Kobanes gegen den Islamischen Staat zieht sich
diese Erzählung bis in die winzig kleine Grenzstadt Serekaniye.
Jeder Schuss, den die Verteidiger*innen Rojavas dort abgeben, ist ein
Buchstabe in dem Buch, das diese Bewegung schreibt.
Und unabhängig davon, ob diese Stadt fallen wird oder sich hält, diese Buchstaben bleiben geschrieben. Die Frage ist, ob sie jemand lesen wird. Ob auch wir hier in Deutschland die Sprache verstehen lernen werden, in der sie verfasst sind.
Am 9. Oktober begann, zunächst mit
Luftschlägen und Artilleriebeschuss, der Angriff der türkischen
Armee auf Rojava, Nordsyrien. Eine von mehreren zehntausend
islamistischen Terroristen verschiedener Fraktionen begleitete,
hochgerüstete NATO-Armee versucht seitdem, in die Städte an der
türkisch-syrischen Grenze einzurücken. Die unter dem Label „Freie
Syrische Armee“ vermarktete Dschihadisten-Streitmacht schließt
nicht nur Kämpfer von Ahrar al-Sham oder dem früheren
al-Qaida-Ableger Nusra-Front ein, sondern nachweislich auch
Kombattanten des Islamischen Staates.
Trotz der technischen Überlegenheit
der Invasionsarmee ist es den Syrisch-Demokratischen Kräften (SDF)
zusammen mit lokalen Militärräten der kurdischen, arabischen und
assyrischen Bevölkerung bisher gelungen, den Einmarsch an vielen
Stellen zurückzudrängen. Ein schnelles Vorrücken ist der
türkischen Armee unmöglich. Insbesondere die „Freie Syrische
Armee“, aber auch reguläre türkische Truppen haben Verluste zu
verzeichnen.
Die türkische Armee greift dabei immer
stärker auf Mittel der Kriegsführung zurück, die international
geächtet, teilweise verboten sind. Schon jetzt sind zahlreiche
Kriegsverbrechen gut
dohttps://twitter.com/glennbeck/status/1182093500218773504kumentiert
und nachweisbar.
Beschuss von Wohngegenden
In mehreren Städten – insbesondere
in Qamislo, Dörfern in der
Umgebung von Derik sowie in Kobane – beschießt die türkische
Armee gezielt zivile Wohngegenden, um die Bevölkerung zur Flucht zu
zwingen. Die Angriffe in Qamislo führten zum
Tod mehrerer Kinder sowie einer
ganzen christlichen Familie. Auch die libanesische Journalistin
Jenan Moussa, eine der wenigen ausländischen Reporter*innen vor Ort,
dokumentiert
die Auswirkungen der Angriffe.
Wie hoch die Zahl der getöteten
Zivilist*innen ist, ist derzeit schwer festzustellen. Ein Arzt des
Kurdischen Roten Halbmondes sprach
am Freitag von 27 Toten und 30-35 verletzten Kindern –
allerdings dürfte das nur einen Teil der Opfer widerspiegeln.
Die Muster der Angriffe zeigen ein
klares Ziel: Vertreibung der Bevölkerung, um deren Unterstützung
für die Verteidigungseinheiten zu brechen. Konservativen Schätzungen
der Vereinten Nationen zufolge befanden sich am Freitag bereits
100 000 Menschen auf der Flucht.
Zerstörung ziviler Infrastruktur
Die türkische Armee zerstört zudem
gezielt zivile Infrastruktur. Schulen
wurden bombardiert, mehrfach wurde die Wasserversorgung zum Ziel
der türkischen Armee. So berichten Augenzeugen
aus Til Temir von der Unterbrechung ihrer Wasserversorgung. Am
Freitag meldete SDF-Pressesprecher Mustafa Bali die weitgehende
Zerstörung
des Alouk-Staudammes, der die Wasserversorgung für 1,5 Millionen
Menschen gewährleistet.
Misshandlung von Gefangenen
Mehrere Videos zeigen zudem die
Misshandlung
von Gefangenen durch die türkische Armee. Aus 2017 und 2018
geleakten Videos ist der Umgang mit Gefangenen durch die türkische
Armee gut dokumentiert. Eines zeigt die Exekution
gefangener Guerilla-Kämpferinnen, ein anderes, wie türkische
Soldaten die Köpfe von (angeblichen) PKK-Kämpfern
abschneiden und in die Kameras halten. Da die Türkei keinen
Unterschied zwischen kurdischen Zivilist*innen und Guerilla macht,
und zugleich offen islamistische Prediger sowie Politiker in der
Türkei ihre Truppen zu maximaler Rücksichtslosigkeit aufrufen, sind
massenhafte Folter sowie extralegale Erschießungen eine erwartbare
Folge der Besetzung nordsyrischen Gebiets.
Kooperation mit dem Islamischen
Staat
Die Zusammenarbeit mit den Terroristen des Islamischen Staates ist während des Vormarsches der Türkei immer deutlicher zutage getreten. Sie besteht nicht allein in dem Umstand, dass die Milizen, mit denen die Türkei kooperiert, sich ideologisch nicht vom IS unterscheiden – sondern weist Anzeichen einer direkten militärischen Kooperation mit IS-Schläferzellen in Syrien auf. Während die Armee Erdogans vom Norden angreift, fanden zahlreiche Attentate statt: Vor einem Gefängnis in Hassakeh explodierte eine Autobombe, in Qamislo ebenso. Die Türkei beschießt direkt Gefängnisse, in denen IS-Kämpfer festgehalten werden. Bei einer dieser Attacken gelang mehreren Terroristen die Flucht. Im berühmt-berüchtigten al-Hol-Camp, in dem 70 000 Dschihadisten und ihre Angehörigen festgehalten werden, kommt es zu Aufständen. Zufall sind diese Aktionen der Fünften Kolonne Erdogans nicht. Bereits in der Vergangenheit wurden Kontakte des türkischen Geheimdienstes MIT zum Islamischen Staat unzweifelhaft dokumentiert.
Die ersten Demonstrationen gegen
türkischen Einmarsch in Rojava, Nordsyrien, brachten bundesweit
zehntausende Menschen auf die Straßen. In über 40 Städten wurde
protestiert, die Veranstaltungen waren politisch breit aufgestellt –
migrantische Gruppen, Kommunist*innen, Anarchist*innen, kurdische
Verbände über Parteigrenzen hinweg -, und gemessen an deutschen
Verhältnissen kann man die Stimmung als kämpferisch beschreiben.
Ein Erfolg also? Das kommt darauf an,
wie es weitergeht. Wenn wir die Dynamik nutzen, um mehr und anderes
als Demonstrationen zustande zu bekommen, ja. Wenn wir in
eingespielte Muster zurückfallen, routiniert das Demo-Einmaleins
abspulen, das wir kennen und können, dann nein.
Denn die gelernte und tausend Mal
wiederholte Demo-Performance mag zwar ein wichtiger Teil des
Gesamtkonzepts sein. Aber sie alleine reicht zu nichts. Sie übt
keinen Druck aus. Und im schlimmsten Fall dient sie als eingehegte,
kontrollierte Entladung von Wut: Man sieht das Unrecht, man will
etwas tun, man geht auf die Demo – und hat danach das Gefühl,
seinen Beitrag geleistet zu haben.
Aber das wird dem Anlass nicht gerecht. Während Jugendliche mit selbst zusammengeschraubten Motorrädern, auf denen Doschkas montiert sind, versuchen gegen Leopard-II-Panzer, Artillerie und eine NATO-Luftwaffe syrische Grenzstädte zu verteidigen; während über 70 Jahre alte Frauen, mit nichts als einer Kalaschnikow und einem Funkgerät in der Hand sich zehntausenden anrückenden Dschihadisten in den Weg stellen; und während Freiwillige in improvisierten Krankenhäusern um das Leben von Kindern, die ohne Beine, mit inneren Blutungen und Kopfverletzungen eingeliefert werden, kämpfen – während all das passiert, können wir uns nicht mit unserem Standard-Solidaritätsprogramm zufrieden geben, uns auf die Schultern klopfen, zurück in den Hörsaal, an den Arbeitsplatz oder in die Kneipe laufen und behaupten, wir waren ja auch dabei, beim großen Widerstand.
Wir müssen Druck aufbauen. Aber wie? In erster Linie müssen wir kreativer werden. In Bristol blockierten gestern vier aneinandergekettete Aktivist*innen mehrere Stunden lang den Waffenproduzenten BAE Bristol, auf dem Flughafen in Barcelona fand eine kleine Blockade gegen Turkish Airlines statt. Während des Afrin-Widerstandes haben sich Störungen von Bundespressekonferenzen als probates Mittel erwiesen, mit wenigen Genoss*innen und überschaubarem Repressionsdruck bundesweite und bis in die Türkei reichende Medienöffentlichkeit herzustellen.
Auch aus anderen Kontexten kennen wir
wirksame Mittel, mehr Druck zu erzeugen, als mit dem
Standard-Demoprogramm. Massendemonstrationen in Flughäfen, Ankett-
oder Abseilaktionen an neuralgischen Punkten, Go-Ins bei
Rüstungsfirmen oder in Parteibüros, Outings von Kriegsprofiteuren
in ihrem privaten Umfeld – und vieles mehr.
Sicher, manche dieser Aktionen mögen den Repressionsbehörden missfallen. Wir werden es aushalten. Im Unterschied zu den Jugendlichen, Frauen und Männern Rojavas wird uns selbst bei der entschlossensten Blockadeaktion niemand eine Gliedmaße abtrennen, niemand wird uns durch die Brust schießen und niemand wird unsere Kinder verschleppen und auf Sklavenmärkten verkaufen. Wir verpassen eine Vorlesung, haben etwas Freizeit weniger und im schlimmsten Fall müssen wir Prozesse vor Gericht führen – so what?
Die Revolution in Rojava kämpft ums
Überleben. Und selbst diejenigen, die mit dem politischen Aufbruch
im Norden Syriens nichts anfangen können, sollten verstehen, dass es
sich um einen imperialistischen Krieg handelt, in dem NATO-Staaten
tausende Leben auslöschen werden.
Protest reicht hier nicht aus. Eine Aussicht auf diplomatische Vermeidung des mörderischen Feldzugs gibt es nicht mehr. Wir haben nicht viel an Organisation, Struktur und Logistik in diesem Land. Aber das, was wir haben, sollten wir jetzt in die Waagschale werfen. Ein Später gibt es nicht.
Das Weiße Haus hat dem NATO-Partner in
Ankara grünes Licht für einen Einmarsch im Norden Syriens gegeben.
Die Fraktionskämpfe innerhalb der US-Administration sind
kompliziert, auch die Interessen Russlands und des Irans noch nicht
klar. Wer jede für die Öffentlichkeit bestimmte Meldung für bare
Münze nimmt, wird in einem Chaos der Desinformation hin und her
geschleudert, weiß am Ende nicht mehr, wo oben und wo unten ist.
Doch eigentlich ist die Story nicht
schwer zu verstehen: Wir haben ein faschistisches Regime in Ankara,
das bei allen Friktionen mit den USA und Deutschland verbündet ist;
dazu eine ungelöste „Kurdenfrage“ in der gesamten Region und den
absoluten Willen der türkischen Regierung, jeden Ansatz von
Selbstverwaltung der kurdischen Bevölkerung auszulöschen. Und auf
der anderen Seite haben wir ein demokratisch-sozialistisches Projekt
im Norden Syriens, das darum kämpft, sich gesellschaftlich weiter zu
entwickeln und sich dabei militärisch wie diplomatisch verteidigen
muss – durch unangenehme Bündnisse genauso wie mit zehntausenden
bewaffneten Revolutionär*innen. Und zwar nicht erst jetzt, sondern
seit es existiert. Und nicht nur gegen die Türkei, sondern gegen
alle Global und Regional Player in Syrien sowie diverse
dschihadistische Milizen.
Es prallen zwei Weltanschauungen
aufeinander: die diversen kapitalistischen Nationen, die mit Gewalt
den Mittleren Osten nach ihrem jeweiligen Interesse gestalten wollen;
und die kurdische Bewegung, die auf dem Trümmerhaufen, den der
Imperialismus in der Region hinterlassen hat, eine auf
basisdemokratischer Selbstbestimmung aufbauendes Zusammenleben aller
Völker und Religionsgemeinschaften erschaffen will, das
ökologischen, geschlechtergerechten und sozialistischen Grundsätzen
genügt.
Militärisch wird dieser Krieg nicht
erst seit vorgestern ausgetragen. In Afrin hat er als andauernder
Guerilla-Krieg gegen die Besatzer seit Januar 2018 nie geendet; im
irakisch-türkischen Grenzgebiet sowie in den kurdischen Gebieten auf
dem Territorium der Türkei läuft er seit Jahren auf hoher
Intensität – und ohne jede Beachtung durch die internationale
Öffentlichkeit.
Der nun – aller Wahrscheinlichkeit
bevorstehende – Einmarsch der Türkei in die Gebiete der
Demokratischen Konföderation Nord- und Ostsyriens hat dennoch eine
neue Qualität. Er zielt auf die vollständige Zerschlagung der
kurdischen Bewegung und ihrer Verbündeten in Syrien. Und er visiert
ethnische Säuberungen in einem an die 1990er erinnernden Ausmaß an.
Zudem ist er Teil des Projekts der Türkei, sich eine aus
dschihadistischen Milizionären bestehende Proxy-Armee zu schaffen,
die nach Bedarf in Nachbarstaaten einsetzbar ist.
Die Verteidigungsstrategie der zivilen
wie militärischen Vertreter*innen der Demokratischen Konföderation
ist divers. Bis zur völligen Unvermeidbarkeit des Krieges besteht
sie in diplomatischen Schachspielen. So laufen derzeit Gespräche mit
Damaskus, gleichzeitig wird darauf gesetzt, Widersprüche innerhalb
der US-Regierung zu nutzen, nachdem sich zahlreiche Republikaner wie
Demokraten – zumindest öffentlich – scharf gegen Trumps Deal mit
Erdogan wandten.
Doch auch in Nordsyrien weiß man: Der
Angriff der Türkei wird früher oder später, auf die ein oder
andere Weise kommen, sollte nichts völlig Unvorhersagbares
eintreten. Was aber dann? Leicht bewaffnete Menschen aus dem Volk
gegen eine von den USA, Israel und Deutschland hochgerüsteten
NATO-Staat? Ist das nicht von vornherein eine verlorene Schlacht? Und
sollte man dann lieber nicht gleich die Waffen strecken?
Das zu glauben, die eigene Ohnmacht und Chancenlosigkeit zu zelebrieren, ist eine der herausragendsten Bemühungen jener Spezialkriegsführung, kurdisch: şerê taybet, die mit jeder Militäroperation einhergeht. Das Vertrauen der Unterdrückten in sich selbst, ein Subjekt von Geschichte zu sein, soll zerschlagen werden, bevor der erste Schuss gefallen ist. Regelmäßig werden hochrangige Kader*innen der kurdischen Bewegung für tot erklärt, nur um eine Woche später lächelnd auf Sterk TV aufzutauchen. Dr. Bahoz Erdal wurde türkischen Angaben zufolge bereits 11 Mal „liquidiert“, erfreut sich allerdings immer noch bester Gesundheit. Der angreifende Staat will sagen: Ihr könnt euch nicht wehren. Ihr seid klein. Gebt auf. Die kurdische Bewegung demonstriert seit 40 Jahren: Du bist selber klein. Ein tönerner Riese vielleicht, aber du kannst eine kämpfende Bevölkerung weder verstehen, noch schlagen.
Die Kraft aber, einen so verlustreichen Kampf zu führen, kommt aus der Überzeugung von einem politischen Ziel. Aus einer Ideologie, einer jener totgesagten Großen Erzählungen. Und der Krieg ist dementsprechend auch ein Krieg um die Köpfe. Und dieser şerê taybet kann viele Formen annehmen. Die offensichtlichen sind nicht schwer zu identifizieren: Abertausende nationalistischer Social-Media-Accounts schütten unter dem Hashtag #barispinarharekati – so der Operationsname des geplanten Einmarsches – Kurdenhass, Morddrohungen und Fake-News ins Internet. Im Wochentakt wird seit 40 Jahren wiederholt, man stehe Tage davor, die kurdische Bewegung endgültig und final zu besiegen.
Die nett gemeinte Variante dieses Spezialkriegs sind all jene fürsorglichen liberalen Beobachter*innen, die sich jetzt darin ergehen, „die Kurden“ als schwache, hilfsbedürftige Kinder zu inszenieren, denen unsere tollen Regierungen, sobald sie nur endlich ihre moralische Pflicht begreifen, rettend wie Superman zur Seite springen sollen.
Gerade für die liberalen Formen des şerê taybet sind auch wir Linke und Internationalist*innen sehr anfällig. Formen, die ob unserer Sozialisierung durch Liberalismus, Individualismus und Staatsgläubigkeit in unserer aller Köpfen vorkommen. Die wir reproduzieren, wenn wir schreiben. Und die wir uns abgewöhnen müssen, wenn wir als Revolutionär*innen und Internationalist*innen eine Rolle im Kampf um die Herzen und Gehirne spielen wollen.
Eine dieser Tendenzen ist, eine kämpfende, selbstbewusste, kräftige Bewegung zum bloßen Objekt zu degradieren. Zu armen Opfern, die wie Schafe von einem Global Player zum anderen durchgereicht werden. Hilf- und willenlose Gestalten, bedauernswert und traurig mitanzusehen. „We used the kurds and now we abandon them“, so eine trendige Formulierung dieses liberalen Mitleids aus den Vereinigten Staaten. Wir „verwendeten die Kurden“ – gemeint ist der Kampf gegen den Islamischen Staat -, jetzt geben wir sie auf. Die liberalen Meldungen, die die Revolution positiv wertend als nette „ground forces“ des US-Imperialismus inszenieren, sind da nur die Kehrseite der Russland-, Erdogan- und Assad-Fans, die sie als ebensolche „Proxies“ diffamieren. Dass da eine eigenständige Kraft ist, das können beide nicht begreifen.
Das Komplement dieser verbalen Herabsetzung einer revolutionären Bewegung zu einem vollständig von äußeren Mächten abhängigen Gegenstand ist das ständige appellieren an Staaten. Man bittet wahlweise die Bundesregierung, US-Senatoren, Außenminister, Regierungsparteien oder Regionalmächte jetzt doch endlich etwas moralisch richtiges zu tun – ganz als ob die nicht aus eigenen Interessen, sondern in ständiger Abwägung des sittlich Gebotenen handeln würden. Und man erfreut sich an jedem türkeikritischen Tweet – und komme er vom letzten reaktionären Schwein – als sei nun die Krise abgewendet.
Die Reaktion ist verständlich. Und sie ist erklärbar. Sie kommt aus einem Gefühl der Ohnmacht. Man sieht das Geschehen. Man will etwas tun. Aber es ist gar nicht so leicht herauszufinden, was man denn eigentlich Wirksames machen könnte. Gerade wir in Deutschland, organisiert in zutiefst zerrütteten Kleinstgruppen, haben es schwer, uns selbst etwas zuzutrauen. Wir leben in ständiger Angst. Und weil uns schon die kleinste Kleinigkeit das Schaudern lehrt, hoffen wir, jemand anders könnte jene Angelegenheiten regeln, die schmerzhaft und bedrückend sind.
Die Wahrheit jenseits aller
diplomatischen Höflichkeitsbekundungen ist aber: In Kurdistan geht
es längst um viel mehr als um das physische Überleben. Diejenigen,
die die Revolution vorantreiben, wollen mehr als nur atmen, sich
ernähren und gelegentlich tanzen. Es geht nicht um irgendein
Existieren, sondern um ein Leben in Würde.
Die Mütter in Waffen, die
schwören, ihr Leben bei der Verteidigung ihres Landes und ihrer
Kinder zu geben, sind keine skurrile Propagandaklatsche. Die
revolutionäre Kultur, nicht auf Knien leben zu wollen, ist wichtig
für das, was Rojava ist. Sie ist es, die dafür sorgt, dass dieses
Gebiet etwas anderes ist, als ein x-beliebiger von einer x-beliebigen
Miliz besetzter öder Streifen Land. Es ist ein Aufbruch. Die
Schönheit dieses Aufbruchs, bei all seinen Schwierigkeiten, liegt in
der Unbeugsamkeit der Menschen in Nordsyrien. Als die Türkei im
Januar 2018 in Afrin einfiel, fuhren zehntausende Zivilist*innen
direkt in das Kriegsgebiet. Sie hatten wirklich das Bewusstsein, dass
es ihr eigenes Land ist. Nicht das irgendeiner Bürokratie,
irgendeiner Regierung. Ihres.
Wenn wir über die Revolution aufklären
– und das wird in den kommenden Tagen unser aller Pflicht sein -,
müssen wir genau das der bürgerlichen Berichterstattung – selbst
jener, die oberflächlich betrachtet „freundlich“ ist –
entgegenhalten. Denn: „Was der Feind will, ist unsere
Entmenschlichung, die Niederlage“, schreibt Abdullah Öcalan in
seinem Buch nasil yasamali, „Wie leben?“. Die Entmenschlichung
aber hat viele Gesichter. Die verzerrten blutrünstigen Fratzen eines
Erdogans oder Trumps sind nur die hässlichsten; aber die stets
lächelnden, aalglatten Visagen aus diversen Think-Tanks und
liberalen wie konservativen Kreisen gehören genauso dazu.
„Wir wissen, dass unsere Verbündeten
keine Regierungen, Staaten und deren Armeen sind, sondern alle
Frauen, die sich in allen Teilen der Welt erheben, um das Patriarchat
zu stürzen. Unsere Verbündeten sind die Kräfte, die Tag für Tag
eine andere Welt aufbauen und sich für ihre Verteidigung einsetzen“,
schreibt
die kurdische Frauenbewegung in Europa TJK-E in ihrem Aufruf zur
aktuellen Mobilisierung.
Gemeint damit sind wir alle. Wir können
uns davor nicht drücken. Und wir können es nicht delegieren. Und
angesichts dessen, wie die Linke in diesem Land aufgestellt ist,
sollten wir zumindest versuchen, über uns hinauszuwachsen, wenn der
finale Angriff auf jenen Landstrich beginnt, den viele von uns in den
vergangenen Jahren als Quelle der Hoffnung in düsteren Zeiten lieben
gelernt haben. „Wenn Ihr keine großen Gefühle, großen Gedanken,
großen Handlungen entwickelt, so werdet Ihr Gefangene des Feindes
und zu seinen Instrumenten werden“, schreibt Öcalan. Wir sollten
zumindest versuchen, diese Art der Gefangenschaft zu vermeiden. Auch
wenn das nicht leicht oder bequem wird.
Der lange angekündigte Krieg der Türkei gegen die selbstverwalteten Gebiete im Norden Syriens beginnt. Am Abend des 6. Oktober veröffentlichte die US-Administration eine Stellungnahme, in der sie den Rückzug ihrer militärischen Kräfte von der türkisch-syrischen Grenze bekannt gibt und den bevorstehenden Einmarsch ihres NATO-Partners ankündigt.
Seit Beginn des demokratischen
Experimentes der Selbstverwaltung in der Gegend zwischen Afrin und
Derik nach 2011 droht Recep Tayyip Erdogan mit dessen blutiger
Zerschlagung. In zwei völkerrechtswidrigen Einmärschen – einmal
im Herbst 2016 zwischen Jarablus und al-Bab; einmal in Afrin im
Januar 2018 – annektierte die Türkei bereits syrisches
Territorium, das sie bis heute besetzt hält. Doch um ihr erklärtes
Ziel, die Zerschlagung aller kurdischen Milizen in der Region sowie
die Vertreibung der kurdischen Zivilbevölkerung, zu erreichen, muss
Ankara sich auch die verbleibenden Gebiete aneignen.
Geplante „Sicherheitszone“ nach türkischem Angriff
Die für den Angriffskrieg nötigen
Streitkräfte sind bereits seit geraumer Zeit an der Grenze
zusammengezogen. Er könne noch „heute oder morgen“ vorrücken,
verkündete Erdogan am vergangenen Samstag.
Das Militärbündnis SDF
(Syrisch-Demokratische Kräfte) sowie die zivilen Institutionen der
Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyrien versuchten in den
vergangenen Monaten durch Zugeständnisse an die US-geführte
Anti-IS-Koalition das Unvermeidliche noch hinauszuzögern. Die
Überlegung war: Die USA werden die Errungenschaften im Kampf gegen
den Islamischen Staat nicht den regionalen Annexionsbestrebungen
Erdogans, des offenen Unterstützers aller dschihadistischen Gruppen
in Syrien, opfern. Zudem kalkulierte man, dass die Widersprüche
zwischen Ankara und Washington in der Region wie im internationalen
Konflikt zwischen den USA und Russland groß genug seien, um mit
ihnen zu spielen und durch kluge Diplomatie den Bestrebungen Erdogans
einen Riegel vorzuschieben.
Die Rechnung ging einige Jahre lang
auf. Aber die Strategie war immer ein Spiel auf Zeit. Es war immer zu
erwarten, dass Trump an einem bestimmten Punkt nach dem Sieg über
den IS die früheren kurdischen, arabischen, christlichen und
assyrischen Partner dem Auslöschungswillen der Türkei übergeben
würde. Das ist nun eingetreten.
Was wird jetzt passieren? Die Türkei
wird einmarschieren. Wenn nicht heute, dann morgen, in einer Woche,
in einem Monat. Sie wird mit deutschen Panzern einrücken, wie schon
in Afrin. Es wird zu ethnischen Säuberungen kommen,
Menschenrechtsverletzungen, zahllosen Toten. Die zehntausenden
IS-Gefangenen, die sich in kurdischem Gewahrsam befinden, werden
versuchen, sich zu reorganisieren. Die Region wird erneut
destabilisiert.
Ob die regulären Truppen der SDF in
der Lage sein werden, einen Vormarsch lange aufzuhalten, ist
fraglich. Das Territorium ist gegen eine mit Luftwaffe ausgestattete
Armee noch schwerer zu verteidigen als Afrin. Dennoch wird auch nach
einer türkischen Besatzung keine Ruhe einkehren. Der Guerillakrieg
gegen die Besatzer in Afrin dauert seit Monaten auf hohem Niveau an.
Zudem führt die kurdische Guerilla HPG derzeit Aktionen im gesamten
irakisch-türkischen Grenzgebiet sowie in der Türkei selbst durch.
Mit dem Einmarsch wird der Krieg, den die Türkei gegen alle Kurden –
auf eigenem, irakischem oder syrischem Gebiet – führt, ein neues
Niveau erreichen.
Wie dieser Krieg ausgeht, ist völlig
offen. Und die kurdischen sozialistischen Kräfte sowie ihre
arabischen, türkischen und assyrischen Verbündeten stehen in ihm
alleine. Die Türkei hat alle möglichen Deals durchgedrückt. Mit
der NATO auf der einen, mit Russland und dem Iran auf der anderen
Seite. Der diplomatische Spielraum scheint zumindest im Moment
ausgeschöpft, der alte kurdische Spruch „Keine Freunde außer die
Berge“ erweist sich ein weiteres Mal als angemessene Beschreibung
der Wirklichkeit.
Mit einer Ausnahme: All jene
internationalistischen Unterstützer*innen dieser Revolution müssen
jetzt die Karten auf den Tisch legen. Wie viel sind wir in der Lage
mit den geringen Kräften, die wir haben, dazu beizutragen, dass
dieses Verbrechen nicht still und heimlich über die Bühne geht? Wie
viel Druck können wir auf die deutsche Regierung ausüben, die
Erdogan mit Waffen unterstützt und deren Gesandter, Innenminister
Horst Seehofer, wohl bei einem Treffen mit seinem türkischen
Amtskollegen vor zwei Tagen grünes Licht aus Berlin für Erdogans
Ansiedlungsplan von hunderttausenden Geflüchteten im Norden Syriens
gegeben hat – samt Milliardenhilfen aus der EU.
Es ist jedenfalls nicht an der Zeit,
die Köpfe zu senken und zu verzweifeln. Liberale Hilferufe an die
USA sind dafür genauso schädlich wie der resignierte Rückzug.
Unsere Freund*innen vor Ort werden kämpfen. Viele von ihnen werden
fallen. Wir als Internationalist*innen müssen lernen, das als
Verpflichtung zu sehen. Wenn es eine Maxime der kurdischen Revolution
gibt, die auch wir zu lernen haben, dann ist es, auf die eigenen
Kräfte zu vertrauen – mögen sie auch noch so klein erscheinen.
Vom 1. bis zum 9. September 2019 fand, in Unterlüß bei Celle, das zweite Rheinmetall Entwaffnen Camp statt. Mehrere hundert Menschen haben sich hier zusammengefunden um die Waffen- und Munitionsfabriken des Rüstungskonzerns Rheinmetall zu Blockieren. Erfolgreich wurden so, zwei Tage lang, die Abläufe gestört. Wir waren dabei und wollen unsere Eindrücke teilen.
Im Nordirak und
in der Südtürkei greift die türkische Armee kurdische Gebiete an.
Erdogans Feldzug könnte sich auch auf das nordsyrische Rojava
ausweiten.
Die Kamera zeigt
einen steinigen Hügel. Langsam kriecht ein LKW die enge
Schotterstraße hinauf. „Hazir bê“, mach dich bereit, sagt eine
Stimme auf kurdisch. Und wenig später: „Bitaqine“, lass es
explodieren. Der LKW verschwindet in einer Wolke aus Feuer und Staub.
Die Erklärung der kurdischen Volksverteidigungskräfte HPG im
Abspann des Videos bilanziert: Drei türkische Soldaten sind bei der
Aktion getötet worden.
Anschläge wie
diesen in der kurdischen, im Südosten der Türkei gelegenen Provinz
Hakkari (Colemêrg) sind derzeit häufig. Die Guerillakräfte der
Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) veröffentlichen fast täglich die
Ergebnisse der Aktionen und Gefechte: Am 16. Juli griff die
Frauenguerilla YJA-Star einen Wachposten einer Militärbasis bei
Bajêrgan an; am 18. Juli wurden im Gebiet Dola Çingene türkische
Soldaten von zwei Seiten angegriffen, die von Transporthubschraubern
im Gelände abgesetzt werden sollten; am 19. Juli starben bei einer
Sabotageaktion in Şirnex eine ungeklärte Anzahl an
Besatzungsoldaten.
Die Schwerpunkte der aktuellen Kämpfe erstrecken sich rund um das türkisch-irakische Grenzgebiet, von den Provinzen Şirnex und Colemêrg bis weit in den Süden, auf irakisches Territorium. Dort versucht Ankara sich seit mehreren Monaten festzusetzen und – ähnlich wie seit Anfang 2018 in der nordsyrischen Kurdenprovinz Afrin – ein Terrorregime gegen die lokale Bevölkerung zu errichten.
„Operation
Klaue“
Ende Mai begann, so ist türkischen Regimezeitungen zu entnehmen, die Militäroperation „Klaue“, deren Ziel die „Auslöschung“ der kurdischen Befreiungsbewegung in den gebirgigen Regionen zwischen dem Irak und der Türkei ist. Dort liegen die sogenannten „Medya-Verteidigungsgebiete“, die als Hauptquartier der seit 40 Jahren gegen NATO und türkischen Kolonialismus kämpfenden kurdischen Befreiungsbewegung. „Diese Gebiete sind Stützpunktgebiete der Guerilla, aber sie sind vor allem das ideologische Herz der Partei“, erklärt Özgür Pirr Tirpe, ein Vertreter der kurdischen Revolutionären Jugendbewegung „Tevgera Ciwanên Şoreşger“ (TCS) gegenüber dem LCM. „Hier werden die Kader*innen ausgebildet. Strategische Zentren sind hier ebenfalls angesiedelt. Seit mehr als 30 Jahren nutzt die Bewegung diese Berge in Südkurdistan als Hauptquartier und Rückzugsgebiet zugleich.“
Irakisch-türkisches Grenzgebiet auf einer Karte der türkischen Propagandamedien – Gare, Metina, Zap, Xakurke zählen zu den von der PKK gehaltenen Gebieten
Die türkische Regierung weiß: Wenn sie diese Berge nicht knacken kann, kann sie die militärische, letztlich genozidale „Lösung“ der Kurdenfrage nicht umsetzen, die sie zum eigenen Machterhalt braucht. Deshalb steht dieses Gebiet seit Jahren unter Dauerbombardement der Luftwaffe. Doch allein durch Drohnen und Kampfjets ist den Guerillakämpfern nicht beizukommen. Ein weit verzweigtes Höhlensystem und jahrzehntelange Erfahrung im Konflikt mit der NATO-Armee garantieren die Sicherheit der PKK-Kämpfer*innen.
Deshalb verheizt die
Türkei in regelmäßigen Abständen Soldaten beim Versuch, auch am
Boden in die Medya-Verteidigungsgebiete einzudringen. „Die Region
ist schwer zugänglich und äußerst bergig. Dementsprechend war es
für die türkische Armee auch nie möglich, hier vollständig
einzudringen. Es war immer nur möglich einzelne Hügel zu besetzen,
aber unter dem Druck der HPG-Gerila mussten sie sich immer wieder
zurückziehen“, sagt Özgür Pirr Tirpe.
Dementsprechend setzt sich auch die Strategie der derzeit laufenden, direkt im Anschluss an „Operation Klaue“ begonnenen „Operation Klaue 2“ aus verschiedenen Elementen zusammen. Der Luftraum wird andauernd mit Drohnen überwacht, Kampfjets bombardieren alles, was sich bewegt – meistens Zivilist*innen aus den Dörfern rund um die umkämpften Regionen. Gleichzeitig versuchen Hubschrauber Spezialeinheiten auf Hügeln abzusetzen, die dort Stützpunkte errichten sollen. Die allerdings haben oft eine relativ kurze Halbwertszeit, bevor die Guerilla sie wieder einreißt oder sprengt.
Kurdische
Kollaborateure
Hauptschauplatz
dieses Kampfes ist die Region Xakurke (Hakurk) im Nordirak. Und hier
kommt eine weitere Kraft ins Spiel: Die „Demokratische Partei
Kurdistans“ (KDP). Die eng mit Deutschland, den USA und der Türkei
verbundene Gruppe herrscht in Teilen der Kurdischen Autonomiegebiete
im Nordirak. Basierend auf einem feudalen Clansystem lebt sie vom
Ausverkauf der Ressourcen des Landes, stets bereit den ausländischen
„Partnern“ jeden Dienst zu erweisen, der ihr die Macht über die
eigene Bevölkerung sichert.
„Die KDP beschreibt sich selbst als patriotisch-nationalistische Partei die für die Freiheit Kurdistans kämpfen würde“, lacht Özgür Pirr Tirpe. „Tatsache aber ist, dass diese Partei in den letzten 16 Jahren der Herrschaft des Barzani-Clans nichts anderes war, als ein die Bevölkerung ausbeutendes Machtinstrument. Das gesamte Ölgeschäft, welches einen Großteil des Reichtums Südkurdistans darstellt, ist in den Händen dieser Familie zentralisiert. Auch sämtliche Posten innerhalb der KDP bleiben innerhalb der Familie Barzani.“
Der Barzani-Clan unterhält indes enge ökonomische Beziehungen zum Erdogan-Regime in der Türkei. Die Sprösslinge des Clans sind häufig in Ankara zu Gast. Und im Gegenzug für die Gunst der AKP-Diktatur hilft die KDP, wann immer sie kann, bei den Angriffen auf andere kurdische Parteien, insbesondere jenen, die der PKK nahe stehen. Derzeit stellt die KDP Stützpunkte ihrer Peschmerga-Truppen der türkischen Armee zur Verfügung, lässt türkische Soldaten frei in den Städten der Kurdischen Autonomieregion operieren und deckt den türkischen Geheimdienst MIT.
Unter der Ägide der
KDP wurde in den vergangenen Jahren der Nordirak zu einem Gebiet, in
dem es keine eigenen Hoheitsrechte mehr gibt. Die Türkei kann –
auf dem Boden wie in der Luft – kommen und gehen, wie es ihr
beliebt. Genau das dürfte ohnehin eines der Ziele der
Besatzungsoperation sein: Das Erdogan-Regime hat mehr als einmal
erklärt, es möchte sich Gebiete des früheren osmanischen Reichs
wieder angliedern. Und dazu gehört eben auch die heute umkämpfte
Region.
Ausweitung auf Nordsyrien?
Der Feldzug Erdogans
könnte sich in naher Zukunft erneut ausweiten. Das erklärte Ziel
der türkischen Regierung ist es, die Selbstverwaltungszone im Norden
Syriens, die unter dem Namen Rojava internationale Bekanntheit
erlangte, zu vernichten. Mit der seit 2018 andauernden Besatzung in
einem Teil dieses Gebiets, dem nordwestsyrischen Afrin, begann dieser
Angriff. Doch auch die verbleibenden Provinzen zwischen Kobane und
Derik möchte die Türkei besetzen. Dass sie das bislang nicht
konnte, liegt an den internationalen Konstellationen in Syrien: Die
Interessen der USA und Russlands, von Damaskus und dem Iran ergaben
bisher keinen Spielraum für einen Einmarsch.
Die Türkei
beschießt zwar regelmäßig über die Grenze kurdische Dörfer und
Städte, rüstet Islamisten auf, die Terroranschläge durchführen
und setzt Felder in Brand, um die Bevölkerung zu vertreiben. Doch
ihr Wunsch, einzumarschieren und sich das Gebiet einzuverleiben,
blieb bislang ohne Genehmigung aus Russland oder den USA.
Dennoch könnte, so
sind sich die kurdischen Verbände in Syrien einig, bald ein Vorstoß
aus dem Norden drohen. Die Volksverteidigungseinheiten YPG und die
Frauenverteidigungseinheiten YPJ bereiten sich auf den Krieg vor. Und
das multiethnische Militärbündnis SDF (Demokratische Kräfte
Syriens), das der Selbstverwaltung in Nordsyrien unterstellt ist,
kündigte an, im gesamten Grenzgebiet der Türkei zu Syrien
zurückschlagen zu wollen, sollte Ankara angreifen.
Auch Özgür Pirr Tirpe hält das Szenario nicht für allzu unwahrscheinlich: „Derzeit sieht es so aus, als könnte sich der bisherige Krieg niederer Intensität zu einem Krieg hoher Intensität entwickeln.“
Am Freitag den
12. April 2019 begannen sechs Internationalist*innen in Berlin einen
dreitägigen Solidaritätshungerstreik mit der kurdischen
HDP-Politikerin Leyla Güven, welche sich seit letztem Jahr im
Hungerstreik befindet.
Es ist kalt, es
schneit und es ist mitten im April 2019. Auf dem Kreuzberger
Heinrichplatz, mitten in SO36, wird ein Zelt aufgebaut. In diesem
begann am Freitag den 12. April der dreitägige Hungerstreik von
Internationalist*innen in Solidarität mit dem Massenhungerstreik
politischer Gefangenen in der Türkei. Sechs Aktivist*innen, alle
organisiert im Berliner Widerstandskomitee – einem Zusammenschluss
linker und revolutionärer Gruppen – nehmen Teil.
Der IS
kontrolliert keine Gebiete in Syrien mehr. Das ist ein Grund zur
Freude. Doch der Krieg ist keineswegs vorüber.
Im Spätherbst 2014 standen Milizionäre der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) in der nordsyrischen Kurdenmetropole Kobanê. Es sah schlecht aus. Dschihadisten twitterten schon, man werde die Stadt von den ungläubigen Kommunisten säubern. Der IS kontrollierte damals ein riesiges Gebiet, sowohl auf dem Territorium des Irak, wie auch in Syrien.
Doch der Jubel der
islamistischen Mörder war verfrüht. Sie hatten die Rechnung ohne
jene Bewegung gemacht, die seit über 40 Jahren im Kampf gegen die
NATO, insbesondere den türkischen Staat, im Mittleren Osten
überlebt. Knapp fünf Jahre später sieht die Karte Syriens und des
Iraks vollständig anders aus. Der IS hat die letzten Gebiete, die er
verbissen hielt, verloren. Viele seiner in- wie ausländischen
Anführer sind tot oder in Gefangenschaft der Syrisch-Demokratischen
Kräfte (SDF), des Bündnisses zwischen kurdischen, assyrischen,
arabischen Milizen zur Verteidigung des Aufbaus eines Rätesystems im
Norden Syriens.
Nicht nur Syrien
kann aufatmen. Der blutige Krieg, das haben die Sprecher*innen der
kurdischen Volks- und Frauenverteidigungseinheiten (YPG und YPJ)
immer wieder betont, war einer für die gesamte Menschheit. Sein
Resultat ist die Zurückdrängung einer politischen Kraft, deren
Herrschaft für Millionen Menschen, insbesondere für Frauen, im
Mittleren Osten nichts als Unterdrückung, Tod und Erniedrigung
bedeutete. Man muss es so deutlich sagen: Die immer noch in den USA
wie Europa verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) hat zusammen mit
ihren syrischen Verbündeten von YPG und YPJ weitere Genozide etwa im
irakischen Jesidengebiet genauso verhindert wie Terroranschläge in
Europa oder den Vereinigten Staaten.
Wie kam dieser Sieg
zustande? Klar, eine kluge Bündnispolitik spielte eine Rolle; und
klar, viel Diplomatie mit denen, die nur darauf warten, das
demokratische Projekt in Nordsyrien auszulöschen, wurde betrieben.
Aber all dies wäre nichtig gewesen ohne die hunderttausenden Menschen, die im zivilen politischen Aufbau und in den militärischen Selbstverteidigungseinheiten tagtäglich ihr Bestes gaben. Und viele von ihnen gaben das letzte, was ihnen noch geblieben war: Ihr Leben. Der Preis für diesen Sieg war hoch. Alle, die in diesem Krieg oder im zivilen Aufbau im Norden Syriens einen Beitrag leisteten, haben Menschen verloren, die ihnen sehr nahe standen. Es gibt keine Mutter im Norden Syriens, die nicht eine Tochter oder einen Sohn beweint; keine Schwester, die nicht ihren gefallenen Bruder vermisst und kein Kind, das nicht seinen Onkel oder seine Tante in den Krieg ziehen und nicht mehr wiederkommen sah. Und es gibt unter den Internationalist*innen niemanden, der/die nicht Trauer und Wut über den Verlust von Anna Campbell, Kevin Jochim oder Lorenzo Orsetti fühlt.
Die Trumps und Macrons dieser Welt können sich den Sieg auf die Fahnen schreiben, errungen haben nicht sie ihn, sondern die tausenden Genoss*innen, die in den Schützengräben und Stellungen, auf den Häuserdächern und in den verschachtelten Straßen im Häuserkampf fielen. Dieser Sieg ist ein Sieg der Şehîds, der Gefallenen. An sie sollten wir denken, wenn wir in diesen Tagen jubeln und feiern.
Und wenn wir an sie
denken, merken wir auch: Wir haben eine Schlacht gewonnen, aber der
Krieg geht weiter. Denn das, wofür sie starben und wofür wir
anderen überlebten, ist nicht nur die Zerschlagung einer besonders
grausamen Miliz. Sie fielen im Kampf für eine bessere Welt, eine
Welt jenseits der kapitalistischen Moderne und jenseits staatlicher,
imperialistischer und kolonialer Unterdrückung.
Dieser Krieg geht
weiter. Im Mittleren Osten lauern diejenigen, die das kleine befreite
Gebiet im Norden und Osten Syriens auslöschen wollen: Das
Erdogan-Regime, das es militärisch überrennen will; die
Trump-Administration, die es in die Knie zwingen und entpolitisieren
will; Moskau und Damaskus, die es dem Assad-Regime unterwerfen
wollen. Die Phase, die nun beginnt, wird eine der Neuordnung der
Bündnissysteme sein. Die USA wollen ihren Krieg gegen den Iran, die
Türkei streben nach der Expansion des von ihr kontrollierten
Territoriums. Die Karten werden, wieder einmal, neu gemischt.
Doch der Krieg geht
nicht nur irgendwo weit weg, jenseits der Empörungsschwelle der
Bevölkerungen der reichen westlichen Nationen weiter. Er geht auch
hier weiter. Auch in Deutschland wird der Staat erneut ausholen, um
die Kurdinnen und Kurden, die türkische Exilopposition und alle, die
mit ihnen zusammenarbeiten, anzugreifen, zu verfolgen und
einzusperren.
Wenn es soweit sein wird, dann sollten wir daran denken: Wir alle haben eine Schuld abzutragen. Wir als revolutionäre Linke sowieso, denn es war die kurdische Bewegung, die uns auf einen gangbaren Weg zurückführte, auf dem wir heute unsere ersten kindlichen Schritte gehen können. Aber auch alle anderen stehen in der Schuld der Gefallenen der Syrisch-Demokratischen Kräfte. Es wird genügend Gelegenheiten geben, um zumindest anzufangen, diese abzutragen.
Cemil Bayik ist Gründungsmitglied der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und Co-Vorsitzender des Exekutivrats der Koma Civakên Kurdistan (KCK). Im ersten Teil des Interviews spricht er über den Abzug der US-Truppen aus Syrien, das Kopfgeld der USA, das auf Murat Karayilan, Duran Kalkan und ihn ausgesetzt wurde, und die Eskalation der Iranpolitik der USA. (mehr …)
Als das Erdogan-Regime das nordsyrische Afrin Anfang 2018 militärisch besetzte, wurden hunderttausende Menschen vertrieben. Ein Besuch bei Geflüchteten in Til Temir.
Seit einigen Wochen werden die Angriffsdrohungen der Türkei gegen die verbleibenden beiden Kantone der demokratischen Selbstverwaltung im Norden Syriens, Kobane und Cizire, konkreter. Der türkische Autokrat Recep Tayyip Erdogan will die Auslöschung aller kurdischen Verbände. Schon Anfang 2018 durfte er, unterstützt von den USA, Russland und Deutschland, diesen Vernichtungswillen an einer nordsyrischen Provinz – Afrin – erproben. Das Gebiet wurde besetzt, türkisiert, geplündert, hunderttausende wurden vertrieben. Heute wird Afrin von islamistischen Terrorbanden und der türkischen Armee verwaltet.
Unser Reporter in Syrien, Bernd Machielski, besuchte Ende November Til Temir, eine Stadt, in deren Umgebung zahlreiche geflüchtete Familien aus Afrin Zuflucht fanden. Er sprach mit dem Vorsitzenden der lokalen Kommune, Bave Demhat, über den Krieg in Afrin.(mehr …)
Der türkische Autokrat Recep Tayyip Erdogan droht mit einem Einmarsch in Syriens Kurdengebieten. Dort bereitet man sich auf einen großen Krieg vor. Interview mit Mordem Welat
Mordem Welat ist Mitglied der Tevgera Ciwanên Şoreşgerên Welatparêz ênSûriyêye (Bewegung der revolutionären und patriotischen Jugend Syriens, TCŞWS). Die TCŞWS ist der größte Dachverband von Jugendgruppen in der Demokratischen Konföderation Nordsyriens. LCM-Reporter Bernd Machielski traf ihn in der nordsyrischen Kleinstadt Tirbe Spi, an der syrisch-türkischen Grenze.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat erneut angekündigt, den Angriffskrieg gegen Rojava und Nordsyrien auszuweiten. Laut Eigenangaben der dschihadistischen Freien Syrischen Armee – früher FSA, jetzt NSA genannt – stehen 15.000 Kämpfer bereit um gegen die Revolution in Rojava zu kämpfen. Damit erreicht der Krieg nach den Angriffen und der Besetzung und faktischen Annektion des nordsyrischen Kantons Afrin durch die Türkei ein neues Niveau. Wie ist die aktuelle Lage?
Diese Woche ließ der türkische Präsident Erdogan auf einer Konferenz verlauten, dass er in einigen Tagen eine weitere Operation gegen sogenannte „separatistische Terroristen“ durchführen will. Am Donnerstag, den 13. Dezember, griffen dann am späten Abend türkische Kampfflugzeuge das Flüchtlingslager Maxmur in Südkurdistan und die Stadt Sinjar im Sengalgebirge an. Die Verwaltung Rojavas hat inzwischen die Mobilmachung eingeleitet. Unsere Kräfte bereiten sich auf alle Eventualitäten vor. Wir nehmen solche Drohungen natürlich ernst. (mehr …)
Jedes Jahr seit nunmehr über zwei Jahrzehnten kommen in Deutschland kurdische und internationalistische Aktivist:innen im Februar zu einem „Langen Marsch“ […]
Im Norden und Osten Syriens hat sich in den vergangenen Jahren ein basisdemokratisches, sozialistisches Rätesystem etabliert. Die kurdische, arabische, christliche […]
Am 02.11.2019, dem -World Resistance Day- kamen tagsüber mehr als 10.000 Menschen zusammen, um in Berlin gegen den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg […]
Seit neun Tagen halten einige hundert sozialistische Freiwillige aus den kurdischen Selbst- und Frauenverteidigungseinheiten YPG/YPJ sowie Kämpfer*innen der Syrisch-Demokratischen Kräfte […]
Die ersten Demonstrationen gegen türkischen Einmarsch in Rojava, Nordsyrien, brachten bundesweit zehntausende Menschen auf die Straßen. In über 40 Städten […]