Bijî Yek Gulan! Coronakrise und 1. Mai in Westkurdistan

5. Mai 2020

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Gastbeitrag

Traditionell wird auch in Rojava der 1. Mai mit Demonstrationen und Kundgebungen begangen. Das Thema der Arbeiter*innenrechte ist seit Beginn der kurdischen Befreiungsbewegung ein Kernthema. Dieses Jahr ist jedoch vieles anders. Nachdem im März schon Newroz – das kurdische Neujahrs- und Frühlingsfest – wegen der Corona-Pandemie abgesagt wurde, sind nun auch die Feierlichkeiten zum 1. Mai verboten. Es herrscht Quarantäne, es wird Mundschutz getragen, die Straßen sind leer, die meisten Geschäfte haben geschlossen, ebenso die Universitäten und Schulen; Fahrzeuge werden überprüft ob die Insassen eine Genehmigung haben.

Doch die Kämpfe für Freiheit und Gerechtigkeit gehen weiter – die Revolution kennt keine Quarantäne. Die Pandemie ist nur eins der allgegenwärtigen Themen: die ökonomische Krise, die Folgen der türkischen Invasion, die anhaltenden militärischen Angriffe und last but not least: der Ramadan bilden den Kontext des täglichen Lebens.

Corona-Krise im Kontext des andauernden Krieges

Bisher ist der große COVID-19-Ausbruch ausgeblieben, in dieser Woche allerdings gab es die ersten beiden bestätigten Fälle und die Stimmung ist angespannt. Ein Ausbruch kann hier katastrophale Folgen für die gesamte Gesellschaft haben: das Gesundheitssystem ist nach neun Jahren Krieg erschüttert und nicht tragfähig. Der Aufbau neuer Gesundheitsstrukturen läuft, wird aber immer wieder durch militärische Angriffe der Türkei aufgehalten. Es mangelt an Geld für Equipment und Medikamente, vor allem aber an qualifiziertem ärztlichen Personal und solider medizinischer Ausbildung.

Dazu kommt, dass an Orten wie Al Hol, einem Flüchtlingscamp mit knap 70.000 Bewohner*innen – viele von ihnen IS-Anhängerinnen –, die Menschen dicht beieinander leben, es keine Möglichkeiten für Isolierung und nur wenige medizinsiche Einrichtungen gibt. Käme es hier zu einem Ausbruch, wäre eine Versorgung der Kranken nicht möglich sein. Aber nicht nur die Situation in den Flüchtlingscamps ist besorgniserregend. Auch die durch Krieg vertriebenen Menschen, die nicht in einem der Camps leben, sind stark von der Krise betroht. Momentan befinden sich ca. 80 000 Menschen im Nordosten Syriens auf der Flucht, sie alle haben kaum Zugang zu Gesundheitsversorgung und leben dicht gedrängt und ohne Isolierungsmöglichkeiten.

Aber bereits vor dem drohenden Ausbruch ist die Bevölkerung durch die Corona-Krise unmittelbar betroffen: die Quarantäne-Maßnahmen führen dazu, dass Menschen nicht arbeiten können und kein Einkomen mehr haben, dazu kommen Preissteigerung von Lebensmitteln und durch die Schließung der Grenzen kommt es zu Lieferengpässe für Lebensmittel, Hygieneartikel, Medikamente, medizinische Materialien.

Offiziell gilt eine Waffenruhe, doch die Türkei und ihre verbündeten Milizen führen weiterhin Angriffe in Afrin, Kobane und Sehba durch und besetzen zentrale Landesstraßen, sodass Lieferungen nicht mehr in den Westen des Landes gebracht werden können. Internationale Aufrufe verurteilen die Türkei und verbündete Milizen für die Unterbrechung der Waffenruhe. Diese Aufrufe bleiben aber ohne spürbare Konsequenzen.

Die Revolution der Frauen

Soweit die aktuelle Lage hier. Nun ein Blick auf die Situation der Frauen. Wir können auf 40 Jahre kurdische Frauenbewegung, acht Jahre Selbstverwaltung in Rojava und beeindruckende Schritte von der ambitionierten Theorie in Richtung Praxis zurückblicken. Die kurdische Frauenbewegung hat viele Erfolge in ihrem Kampf gegen die Ungerechtigkeit und Unterdrückung zu feiern: Frauen sind mittlerweile in allen Bereichen der Gesellschaft und des Berufslebens präsent: sie sind Juristinnen, Journalistinnen, Ärztinnen, Studentinnen, und sie stellen einen wichtiger Teil der Selbstverdeitigungskräfte Rojavas, mit ihrer eigenen Armee YPJ (Yekîneyên Parastina Jin, Frauenverteidigungseinheiten). Durch die Frauengesetze von 2014 wurden Gesetze zur Gleichberechtigung und Abschaffung von Unrecht erlassen. Die wichtigsten darunter sind die Abschaffung der Kinderehe und der Polygamie, ein Verbot von Sexismus und Gewalt gegen Frauen sowie das Recht auf gleiche Chancen und gleichen Lohn in der Lohnarbeit. Die Einführung des Co-Vorsitzeslegt fest, dass in allen wichtigen Ämtern eine Frau und ein Mann gemeinsam entscheiden, sowohl in militärischen wie in zivilen Strukturen. Doch alle diese Änderungen brauchen Zeit, um sich in der Gesellschaft durchzusetzen und ihren Weg von der Theorie in die Praxis zu finden. Vor allem in der arabischen Bevölkerung führen viele Frauen noch immer ein Leben in Unterdrückung und Ungerechtigkeit.

In Zeiten der Corona-Pandemie macht sich dies zum Beispiel in den Zahlen für häusliche Gewalt bemerkbar. Frauen, die ihr Haus nicht verlassen können und deren frustrierter, gestresster Ehemann nun rund um die Uhr zu Hause ist, werden noch mehr als sonst geschlagen und misshandelt – psychisch und physisch. Für den Monat März wurde ein deutlicher Anstieg häuslicher Gewalt gegenüber dem Vorjahr erfasst – ganz zu schweigen von der Dunkelziffer. Und das gilt nicht nur für Nordostsyrien. Weitere Pobleme, mit denen Frauen konfrontiert sind, sind die Versorgung der Kinder, die den ganzen Tag zu Hause sind, und die durch die Krise entstandenen finanziellen Einbußen.

Widersprüche überwinden, eine andere Gesellschaft aufbauen

Angesichts dieser schwierigen Gesamtsituation und des Lebens in Widersprüchen beeindruckt und inspiriert die Entschlossenheit der kurdischen Revolutionsbewegung, sich nicht von der Realität, vom temporären Scheitern oder von Angriffen von außen aufhalten zu lassen, sondern weiterzumachen. An vielen Fronten gleichzeitig für Freiheit und Gerechtigkeit zu kämpfen: der realen militärischen Front, aber auch in den Familien, Schulen, Frauenhäusern, Rehablitationshäusern der Kriegsverletzten, den Gerichten und vielen anderen Orten. Ich wünsche mir, dass wir davon etwas lernen können. Nämlich das Ganze zu sehen, nicht aufzugeben, sich der Realität anzupassen aber nicht von ihr erdrücken zu lassen, kreativ zu sein und vor allem: sich zusammenzutun und gemeinsam zu kämpfen!

Wenn wir nicht anfangen, Gemeinsamkeiten statt Unterschiede zu finden, unsere Kämpfe als verschiedene Ausdrücke des gleichen Problems zu sehen und unsere persönlichen Differenzen zu überbrücken, dann werden wir nicht zu einer Bewegung, die stark genug ist, die Gesellschaft und irgendwann auch „das System“ zu verändern. Und wenn nicht jetzt, in diesen Zeiten der Krise und des Ausnahmezustands, wann dann?

Und wer, wenn nicht wir als Frauen, wir als arbeitende Frauen – und dazu zählt jede Mutter, jede Frau, die eine Familie versorgt, ebenso wie jede Frau, die einem Beruf nachgeht – kann hierbei vorangehen und Vorbild sein? Frauen, Arbeiterinnen dieser Welt: bildet Banden, steht auf für eine bessere Welt und lasst euch nicht aufhalten!

JIN JIYAN AZADI

# Text: Evin Azad, Aktivistin und Ärztin aus Berlin. Seit Anfang des Jahres zum zweiten Mal als Internationalistin in Rojava . Schwerpunkte: medizinischer Support, Aufbau des Gesundheitssystems und medizinischer Bildung, Frauenrevolution, Frauenrechte, Feminismus, Jineoloji, Widerstand, Berichterstattung.

# Titelbild: Corona-Ausgangssperre: Leerer Markt von Souk, Evin Azad

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