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Von Bahram Ghadimi
Übersetzung von Haydar Paramaz

Leila Hosseinzadeh ist Masterstudentin der Anthropologie. Sie hat hauptsächlich an der Universität, als Aktivistin der Studentenbewegung gearbeitet und ist als eine der kämpfenden und widerständigen Frauen im Iran bekannt. Zusammen mit einer Gruppe von studentischen Aktivist:innen wurden sie Ende der 2000er Jahre Zeugin des Scheiterns der „Grünen Bewegung“ an der Universität und erlebte das anschließende erstickende Klima der Gesellschaft. Sie alle waren politisch Links orientiert und in der Regel waren sie Kinder der Arbeiterklasse. Folgendes Interview mit Leila Hosseinzadeh, entstand nur wenige Tage nach ihrer bedingten Entlassung aus dem Gefängnis, unter ständiger Bedrohung durch Regierungskräfte. Damit beabsichtigen wir einen weiteren Teil der sozialen Bewegung im Iran, mit den Worten der Aktivist:innen vor Ort, vorzustellen. (Triggerwarnung: Im Interview erzählt Leila von ihrer Haftzeit und beschreibt Folter und sexualisierte Gewalt.)

Du hast lange Zeit politisch im universitären Umfeld gearbeitet. Wie kam es dazu, dass Deine Arbeit diesen Bereich verließ und ein viel breiteres Spektrum an Menschen ansprach?

Während wir Verbindungen innerhalb von Universitäten knüpften, stellten wir fest, dass unsere Schicksalsgenossen nicht nur an Universitäten sind; Wenn wir das Recht auf kostenlose Bildung wollen, sind wir bereits Verbündete der Lehrergewerkschaftsbewegung, wenn wir gegen Privatisierung sind, sind wir Verbündete der Arbeiterbewegung; Wenn in der Universität der Slogan skandiert wurde: „Student, Lehrer, Arbeiter, Einheit! Einheit!“, hatte es nicht nur eine theoretische oder ideelle Grundlage. Wir setzten eine gemeinsame Verteidigung und einen konkreten Widerstand praktisch um. Als die Regierung Mitte der 2010er Jahre den Praktikumsplan für Hochschulabsolventen und den Kaufplan für Lehrdienstleistungen durchführte, wurde diese Verbindung konkreter.

Mit diesem Plan setzte die Regierung Hochschulabsolventen ein, um die Beschäftigungs- und Gehaltssituation der Erwerbstätigen zu prekarisieren. Jetzt waren wir Studenten, Lehrer und Arbeiter in der selben Lage und stellten uns entsprechend gemeinsam auf. Die Kampagne gegen die Arbeitsausbeutung wurde von Studenten, Arbeitern, Lehrern, Journalisten, Intellektuellen und Rentnern durchgeführt. Aufgrund des starken Drucks unserer Bewegung wurde der Praktikumsplan schließlich abgesagt.

Aber diese Kampagne und Versammlung hatte auch darüber hinaus Wirkung. Die gemeinsame Teilnahme an drei Straßenprotestversammlungen für die Freilassung eines Gewerkschaftsarbeiters, Reza Shahabi, aus dem Gefängnis zum Beispiel. Eine der letzten Nachrichten, die in der Telegram-Gruppe der Kampagne 2017 gepostet wurde, war: „Lasst uns unter dem Eingang der Teheraner Universität versammeln“, Wenige Minuten später wurde der Ort zum einzigen Sammelpunkt in Solidarität mit dem Volksaufstand vom „Dezember 2017- Januar 2018“. Zwei grundlegende Parolen wurden dort zum ersten Mal gerufen: „Reformisten, Fundamentalisten, es ist vorbei“ und „Wir wollen keinen König, wir wollen keinen Mullah, wir wollen die Gründung von Räten“. Ersterer wurde zum Hauptslogan des Aufstands. Sehr bald waren die Mainstream-Medien der Regierung und der Opposition mit dieser Frage beschäftigt, ob es wirklich „vorbei“ sei.

Diese Frage konnte man allerdings nur stellen, wenn man die soziale Situation im Iran irgnorierte.

Das es vorbei sei, war keine Vorhersage der Zukunft, sondern eine Beschreibung des damaligen Stands der iranischen Politik. Diese Parole wurde aus den Herzen jener Kraft geschrien, die jahrelang versucht hatte, die einheitliche Rolle des Staates in der politischen Ökonomie aufzuzeigen  und darlegen wollte dass der Dualismus zwischen Reformlager und konservativen nur ein Scheinverhältnis ist. Es waren die jungen Studenten, die Anfang der 2010er Jahre, besonders mit der Amtseinführung von Rohanis Regierung, zusammen mit vielen anderen Menschen zu der allgemeinen Einsicht gelangt waren, dass diese Kabinette alle gleich sind.

Nach den Aufstandstagen im Januar 2018 schrieben einige in den sozialen Medien mir diesen Slogan zu. Das ist falsch. Die Parole kam aus dem Herzen einer kollektiven Kraft und war das Ergebnis jahrelanger kollektiver Kämpfe und Bemühungen. Die zweite Parole für die Gründung der Räte konnte sich leider nicht durchsetzen, da sie medial boykottiert wurde. Nichtsdestotrotz werden, wo immer es geht, Räte als Machtorgane gegründet: in Gilan, Aserbaidschan, Kurdistan, in der turkmenischen Sahara, in Fabriken, Universitäten etc.

Wie siehst Du, angesichts des hohen Anteils von Studentinnen, die Rolle der Frau in dieser Bewegung?

Als die Studentenbewegung Fortschritte machte und wuchs, konnte sie mit Hilfe einer klaren Klassenlinie ihre objektive Schicksalsgemeinschaft mit anderen unterdrückten Gruppen besser verstehen. Von Anfang an spielten Frauen eine aktive Rolle bei der Entstehung dieser Bewegung und sie kämpften für die Abschaffung der Geschlechterunterdrückung. Das Ergebnis dieses Kampfes war, dass in allen Stellungnahmen der Studentenbewegung Gender-Forderungen betont und Gender-Unterdrückung gesondert und mit Nachdruck dargestellt wurden. Parolen wie „Mädchenwohnheim: Gefängnis!“ gehörten neben anderen Slogans zu den Parolen, die von den ersten Versammlungen der Bewegung erhoben wurden. Der Frauenwiderstand im Herzen der Studentenbewegung brachte auch konkrete Erfolge: Die Wohnheimbewohnerinnen des Mädchenwohnheims der Universität Teheran ignorierten mit kollektiven Protestaktionen in den Jahren 2018-2019 die gesetzlichen Ein- und Ausgangszeiten

Im Mai 2018 organisierte die Studentenbewegung als Reaktion auf die Gründung einer Sittenpolizei auf dem Kampus der Universität Teheran eine Versammlung von 2.000 Studenten, deren Hauptslogan „Brot, Arbeit, Freiheit! Freiwillige Kleidung!“ lautete. Die Studentenbewegung schritt mit einem Verständnis über die Schicksalsgenossenschaft der unterdrückten Gruppen und der Notwendigkeit ihrer Einheit voran. Am Studententag 2017 erzählten in einer Protestversammelung unter dem Titel „Wir sind die Stimme der Geschichte“, Studenten, Arbeiter, Lehrer, Frauen und Vertriebene (wegen Wasserknappheit) über ihre Unterdrückung und über ihren Widerstand und riefen schließlich gemeinsam: „Wir sind die Stimme der Geschichte“. Bei der Protestaufführung in der Allameh-Universität und der Universität Teheran im Jahr 2019, stießen Menschen, die von Nationaler und religiöser Unterdrückung betroffen sind und Migranten dazu. Ich selbst wurde 2018 tagelang in meiner Haft verhört, um preiszugeben, wer den Text der Protestperformance am Studententag verfasst hatte.

Warum wurdest Du verhaftet?

Ich wurde im Januar 2018 wegen meiner Teilnahme an der Kundgebung am 30. Dezember 2017 am Eingangstor der Universität Teheran im Zusammenhang mit dem Volksaufstand verhaftet. Außer mir wurden etwa 50 weitere Studenten im Zusammenhang mit dieser Kundgebung festgenommen. Ich wurde wegen meiner gesamten Tätigkeitsgeschichte bis Dezember 2017 verhört, und schließlich verurteilte mich das Gericht zu sechs Jahren Haft. In der Anklageschrift gegen mich stand, dass ich Sozialistin bin, an Kundgebungen der Studentenbewegung teilgenommen habe, an Kundgebungen für die Freilassung des inhaftierten Arbeiters Reza Shahabi teilgenommen haben, an der Gründung einer Kampagne gegen Arbeitsausbeutung beteiligt war und an der Versammlung im Zusammenhang mit dem 2017-2018 Aufstand teilgenommen habe.

Mit massiven Verhaftungen nach dem Januar-Aufstand wurde die Studentenbewegung stark unter Druck gesetzt. Allein an einer Universität wurden Studenten zu mehr als 100 Jahren Haft verurteilt. Damals dachten wir, die Arbeit der Studentenbewegung sei beendet. Einige kritisierten die Ereignisse und sagten, man hätte eine organisierte soziale Bewegung nicht für einen Straßenaufstand verausgaben sollen. Als ich und eine Gruppe anderer mit der gleichen Haltung dachten, dass die Arbeit erledigt war, und als wir an die langen Jahre unserer Gefangenschaft dachten, sagten wir uns, dass es sich trotzdem gelohnt hatte. Wir hatten unsere historische Pflicht, Studenten zu sein, erfüllt und den unterdrückten Massen zur Seite gestanden. Einige von uns waren nicht dafür gewappnet, diesen hohen Preis zu zahlen. Die Repression war hart. Wir hätten nicht einmal gedacht, dass die Universität nach dieser Repression aufstehen und Widerstand leisten könnte, aber so ist es gekommen. Von März 2018 bis Mai 2018 organisierten mehr als 40 Universitäten und Hochschulen machtvolle Kundgebungen und Proteste, um gegen die hohen Haftstrafen von studentischen Aktivisten zu protestieren.

In der Studentenbewegung haben wir mit leeren Händen begonnen und wir haben die Erhöhung der Sozialkosten für zwei Jahre gestoppt, wir haben die Privatisierung der Wohnheime gestoppt, wir haben die Anzahl der kostenlosen Bildungsjahre mit unserem Widerstand etwas erhöht, aber wir haben uns im Hinterkopf immer einsam gefühlt, zumal all diese Fortschritte nicht nur unter Repression, sondern auch unter schlimmster Stigmatisierung erkämpft wurden. Dann stellten wir fest, dass wir nicht allein waren. Im Gegensatz zu dem, was viele von uns dachten, war die Universität nicht am Ende, sie wehrte sich und ihr Widerstand zahlte sich aus. Die Urteile der Studenten wurden gekippt und viele Urteile konnten nicht vollstreckt werden. Meine Haftstrafe wurde auf zweieinhalb Jahre reduziert.

Die Studentenbewegung ist in Abwesenheit vieler von uns, die sie begonnen hatten, bis Ende 2020 vorangeschritten und erst mit der Sicherheitsschließung der Universitäten von Ende 2020 bis Mai 2022 konnten sie das Voranschreiten der Studentenbewegung abbremsen. Gegen den Widerstand der Universität wurde ihre Schließung durchgesetzt. Aber selbst die Schließung der Universität funktionierte am Ende nicht, und mit der Wiedereröffnung im Mai 2022 nahmen die Studenten ihre Aktivitäten wieder auf und leisteten einen einzigartigen und aktiven Widerstand im Jina Aufstand.

Wurdest Du erneut festgenommen?

Ich wurde im Sommer 2019 erneut verhaftet, diesmal von den Revolutionsgarden, sie fragten nach den Protesten und Streiks der Haftpeh-Arbeiter im November 2018. Damals wurde eine Reihe von Kundgebungen an verschiedenen Universitäten zur Unterstützung von Haftpeh abgehalten. Der Hauptslogan war: „Wir sind die Kinder der Arbeiter, wir stehen an ihrer Seite“.  Sie verhörten mich über marxistische Gruppen und Medien und verurteilten mich schließlich zu 5 Jahren Gefängnis. Die Vorwürfe waren: abhalten einer Kundgebung zur Unterstützung des inhaftierten Derwisch Studenten Mohammad Sharifi Moghadam. Dieses schwere Urteil erschien allen absurd, denn wir hatten lediglich für unseren inhaftierten Freund eine Geburtstagsfeier vor der Sharif University of Technology abgehalten. Mit dieser neuen Akte schickten sie mich ins Gefängnis und vollstreckten die Gefängnisstrafe im Zusammenhang mit der Verhaftung von 2018. Im Gefängnis wurde bei mir eine unheilbare Autoimmunerkrankung diagnostiziert, zwei Monate nach Auftreten der Symptome wurde ich aus medizinischen Gründen beurlaubt. Meine Augen wurden von der Krankheit befallen und mir drohte die Erblindung. Die Rechtsmediziner bescheinigten, dass ich nicht haftfähig bin und meine Freilassung wurde beschlossen.

Im November 2021, als ich mich auf einer Urlaubsreise befand, wurde ich dann erneut vom Geheimdienst in Shiraz festgenommen. Ich wurde im Untersuchungsgefängnis des Shiraz-Geheimdienstes schwer körperlich misshandelt. Die Vernehmungsbeamten übten viel körperlichen und seelischen Druck aus. Sie hatten mich ohne Anklage festgenommen und planten, durch die Inhalte meines Telefons und mit einem Geständnis ein Verfahren gegen mich einzuleiten. Ich habe mich in beiden Fällen dagegen gewehrt. Sie konnten das Passwort des Telefons nicht knacken und ich sagte ihnen: „Ich werde vor euch nicht einmal gestehen, dass ich atme.“ Nach einem Monat psychischer und physischer Misshandlung, wegen denen meine Krankheit wieder ausgebrach, ließen sie mich aufgrund des öffentlichen Drucks gegen eine hohe Kaution frei. Zwei Monate nach meiner Entlassung erfuhr ich, dass ich eine neue Autoimmunerkrankung hatte. Die Repression ließ jedoch nicht nach, sie eröffneten ein Verfahren gegen meinen Bruder und luden ihn vor und sie belästigten meinen Vater immer und immer wieder. Im August 2022 wurde ich in Teheran vor meinem Haus gewaltsam festgenommen.

Dieses Mal weigerte ich mich am Eingang des Teheraner Geheimdienstgefängnisses sogar, meine Personalien preiszugeben. Ich weigerte mich, verhört zu werden, und sie hielten mich rechtswidrig fünf Monate lang in Untersuchungshaft. Sie sagten, dass ich mit einer Gruppe politischer Gefangener bestrebt wäre, eine Erklärung zu veröffentlichen. Sie legten mir den Text der Erklärung vor, es war eine Fünf-Punkte-Erklärung, die die Prinzipien des Kampfes und einer alternativen Regierung spezifizierte. Ich sagte ihnen, wenn ein Text veröffentlicht wird und mein Name darauf steht dann lasst uns reden, aber das war nicht der Fall.

Nach fast einem Monat wurde ich ins Adel-Abad-Gefängnis in Shiraz gebracht, tatsächlich kam ich in eine Art inoffizielle Verbannung, weil Shiraz weder mein Wohnort noch meine Heimat war und auch nichts mit den Anschuldigungen in meiner neuen Akte zu tun hatte. Sie versuchten mich so viel wie möglich zu quälen und zu entrechten. Seit meiner Verhaftung war es mir einen Monat lang verboten gewesen, Kontakte zu haben und als sie mir endlich erlaubten, jemanden anzurufen, entzogen sie mir das Recht, meinen Anwalt zu kontaktieren. Sie entzogen mir medizinische Behandlung und zwangen mir einen Arzt auf, bei dem ich mich gezwungen sah in einen Medikamentenstreik einzutreten. Davor war ich wegen der Verhängung der strenger Einschränkungen schon einmal in einen Hungerstreik getreten, diesen beendete ich als die Auflagen aufgehoben wurden. Diesmal hatte mich die Regierung dank eines Briefes meiner ehemaligen Mitgefangenen aus dem Frauentrakt des Evin-Gefängnisses, der Unterzeichnung einer Petition durch Studenten und Professoren, der Abhaltung von Protestkundgebungen an meiner Fakultät und öffentlichem Protest auf Twitter nach fünf Monaten der rechtswidrigen Inhaftierung freigelassen.

Der Geheimdienst hat mich letzte Woche (3. bis 11. März 2023) erneut vorgeladen. Ich habe gesagt, dass eine telefonische Vorladung illegal ist. Sie sagten, dass sie kommen und mich mitnehmen würden, noch ist nicht klar, wann sie ihre Drohung wahrmachen werden. Als ich vorübergehend im Gefängnis von Adel Abad inhaftiert war, gaben sie mir einen Bescheid über die Vollstreckung der fünfjährigen Haftstrafe. Sie betrachteten mich als abwesend und als flüchtig, weil ich nicht zum Haftantritt erschienen war und jetzt haben sie eine Anordnung erlassen, mein Eigentum zu beschlagnahmen. Jetzt muss ich ihnen erklären, dass ich nicht ins Gefängnis gekommen bin, um die fünfjährige Haftstrafe zu verbüßen, weil ich wegen eines anderen Falls in einem anderen Gefängnis inhaftiert war und nicht von Gefängnis zu Gefängnis kommen konnte.

Wie behandelten die Regierungstruppen Dich und andere Gefangene zum Zeitpunkt der Verhaftung und später in den Gefängnissen?

Die Art und Weise der Behandlung hängt ganz davon ab, wer welcher politischen Kraft angehört und wo man festgehalten wird und auch, wie viel in den Nachrichten über jemanden berichtet wird. Abgesehen davon hängt es auch mit der Zeit der Inhaftierung zusammen. Alle diese Parameter bestimmen das Ausmaß der Gewalt und des Drucks.  Die Situation außerhalb von Teheran ist sehr schlecht. Manche Gefängnisse sind viel schlimmer als andere. In Teheran sind die Haftbedingungen für politische Gefangene besser als in anderen Städten, aber die Bedingungen sind nicht für alle gleich und die Tatsache, dass die Bedingungen besser sind, bedeutet nicht, dass die Bedingungen gut sind. In den letzten Jahren wurden Bektash Abtin und Behnam Mahjoubi im Evin-Gefängnis getötet, indem sie keine medizinische Versorgung erhielten und ihnen die falschen Medikamente verabreicht wurden und das im Evin Gefängnis, das über die besten Einrichtungen unter den iranischen Gefängnissen verfügt.

Machen Regimekräfte einen Unterschied im Umgang mit politischen Gefangenen und Gefangenen, denen keine politische Aktivität vorgeworfen wird?

Ja. Abgesehen von den Festgenommenen aus Massenprotesten, bei denen die Sicherheitskräfte keine Gewaltanwendung scheuen, ist in anderen Fällen die systematische Gewalt der Polizei gegen nichtpolitische Häftlinge, insbesondere bei Mord- und Drogendelikten, weitaus höher als bei politischen Gefangenen. Das gilt jedoch nicht für politische Gefangene von marginalisierten Völkern wie Kurden, Arabern und Belutschen sowie einige andere politische Gefangene, gegen die sehr schwere Anklagen erhoben werden. Wir haben politische Häftlinge, die des Attentats oder der Sabotage angeklagt sind und deren Folterniveau unvergleichlich ist. Häftlinge, denen Mitgliedschaft in politischen Organisationen vorgeworfen wird erleben in der Regel sehr lange Phasen der Isolationshaft und des Drucks. Auch in Haftfällen, die in das Spannungsfeld zweier Geheimdienstbehörden geraten, wie z.B. bei Umweltaktivisten, ist das Ausmaß des Drucks und die Dauer der Inhaftierung in der Sicherheitshaftanstalt sehr sehr hoch.

Diejenigen, die wegen unpolitischen Anschuldigungen festgenommen werden, erfahren jedoch ein höheres Maß an systematischer Gewalt als diejenigen, die als Aktivisten auf ziviler Ebene und mit medialer Berichterstattung festgenommen werden, insbesondere wenn es keine Straßenproteste gibt.

Gibt es einen Unterschied in der Repression gegenüber männlichen, weiblichen & transgender Gefangenen ?

Die Erfahrung der letzten Jahre zeigt, dass der Vernehmungsdruck auf weibliche Inhaftierte um ein Vielfaches gestiegen ist. In den jüngsten Aufständen waren viele Frauen sogar sexueller Belästigung und Übergriffen ausgesetzt. Abgesehen davon wurden viele Frauen beschimpft oder mit moralischen Argumenten stark unter Druck gesetzt. Ich weiß nichts über die Bedingungen von Transgender-Häftlingen, aber ich vermute, sie werden einer größeren Gewaltanwendung ausgesetzt sein als männliche Häftlinge. Das Problem ist nicht, dass Männer nicht Gewalt und Druck ausgesetzt sind, sie werden sogar häufiger geschlagen und körperlich angegriffen. Aber Demütigung, Druck und schlechte Behandlung von Frauen haben stark zugenommen.

Hatten die politischen Gefangenen Kontakt zu denen, die nicht politischer Aktivität beschuldigt wurden? Haben sie sich gegenseitig beeinflusst?

Es hängt davon ab, in welchem Gefängnis man inhaftiert ist und ob es in diesem Gefängnis politische Gefangene gibt oder nicht. In den Gefängnissen, in denen es eine politische Abteilung gibt, wird versucht, die Interaktionen zwischen politischen Gefangenen und nichtpolitischen Gefangenen so weit wie möglich zu minimieren. Es gibt ein Gesetz zur Trennung von Straftaten, das in einigen Gefängnissen streng umgesetzt wird, aber wo immer es eine Möglichkeit für Kontakt gibt, sofern es ein gesunder Kontakt ist, kommt es definitiv zu nachhaltigen gegenseitigen Auswirkungen. Gefängnisbeamte versuchen, politische Gefangene vor nichtpolitischen Gefangenen schlecht aussehen zu lassen. Einerseits versuchen sie, indem sie politischen Gefangenen wenige Privilegien einräumen, ihren Protestgeist zu kontrollieren, andererseits täuschen sie mit diesen Privilegien vor den Augen nichtpolitischer Gefangener Ungleichheit vor. Auf der Grundlage dieser Ungleichheit versuchen sie, politische Gefangene als „Herren“ darzustellen, die nichts über den Schmerz sozialer Gefangener wüssten. Dies ist ein allgemeiner Mechanismus, sie verwenden auch spezifischere Mechanismen. Als sie mich zum Beispiel in die Gemeinschaftszelle der Drogendelikt-Gefangenen schicken wollten, warnten sie die Gefangenen durch den Vertreter des Raums, dass ich psychologische Probleme hätte und verrückt sei. Deshalb sollten sie mich meiden. Die anderen Häftlinge hatten zufällig die Neuigkeiten, die es über mich gab, von ihren Familienangehörigen gehört. Das überzeugte sie, dass ich nicht verrückt war und sie mit mir befreundet sein können.

Schreiben Folterüberlebende Berichte über die Aktionen des Regimes? Wenn nicht, hältst Du es für notwendig, diese Zeugnisse aufzuzeichnen?

Einige schreiben und dennoch erzählen viele von denen, die Folter und Druck erlitten haben, aufgrund des Drucks der Polizei nichts. Andererseits finde ich es wichtig, wie man Druck- und Foltererfahrungen erzählt. Seit vielen Jahren ist im Narrativ über die Folter, die Skandalisierung des Staates hegemonial. Natürlich sollten die Folterer mit jeder Erzählung entlarvt werden, aber wenn der dominierende Diskurs in der Erzählung nur diese Skandalisierung ist, werden andere Aspekte der Erzählung vernachlässigt oder mit der Zeit unwichtig. Eine festgenommene gefolterte Person wird zum reinen „Opfer“, die Fortsetzung dieses Ansatzes führt zum Verlust ihrer revolutionären politischen Bedeutung. Der Skandal stößt an dem Punkt an seine Grenzen, wenn es dem Staat nicht mehr um die Aufrechterhaltung der Legitimität geht und dieses Feld bereits verlassen hat.

In einer solchen Situation ist vielleicht wichtiger als Dokumentationen, den Zugang zur Erzählung zu ändern: Das Erzählen von Folter und Druck sollte Möglichkeiten und Strategien des Widerstands aufzeigen. Wir müssen das Narrativ der Kämpfer aufbauen, die Druck, Folter und Misshandlungen ausgesetzt waren und trotz intensivsten Leidens standgehalten haben, damit wir den Mut und die Bereitschaft in uns selbst stärken, die nötig sind, um Folter und Unterdrückung zu eliminieren. Wir sollten uns mit der Eskalation der Wut über das Verbrechen und der Stärke unserer Hoffnung und unseren Mutes beschäftigen. Dann sind wir in der Lage, die Folterer zu beschämen, während wir uns ermächtigt fühlen, sie zu vernichten. Wir müssen unseren Schmerz und unser Leid, dass uns die Unterdrücker aufgezwungen haben, teilen, um weiter voranzukommen, weiterzumachen und mutiger zu sein, nicht wegen der Hoffnung auf Rache oder der Angst vor dem Monster des Folterers. Wir müssen von Folter und Misshandlungen erzählen, damit wir das Foltersystem als etwas besiegbares begreifen.

Kannst Du uns etwas über die Solidarität und den Widerstand politischer Gefangener erzählen, im Gefängnis oder nach ihrer Entlassung?

Ich denke, dass ein Grund für die Freilassung politischer Aktivisten während einer Generalamnestie darin besteht, dass der Sicherheitsapparat leider besser und früher als die Aktivisten selbst, ihre Potenziale und Möglichkeiten erkennt. Der Prozess, der seit Anfang dieses Jahres stattfindet und bei dem die meisten politischen Aktivisten bereits vor Beginn des Jina-Aufstands auf unterschiedliche Weise ins Gefängnis kamen, schuf Potenziale im Gefängnis. Im Laufe der Zeit wurden diese Potentiale sichtbarer. Kürzlich haben wir gesehen, wie Gefangene kollektive Solidaritätsbotschaften aneinander sendeten und aus verschiedenen politischen Spektren zusammenkamen, um sich gegenseitig zu verteidigen. Diese Solidaritätsbekundungen zwischen verschiedenen Gefängnissen könnten und sollten meiner Meinung nach eine größere und radikalere Ebene annehmen. Es war möglich, dass die Solidarität allmählich und mit dem Fortschritt der Gespräche in den Gefängnissen übergehen würde in die Thematisierung strategischer Punkte. Ich glaube, dass die Regierung diese Gefahr früher als die politischen Gefangenen selbst erkannt hat und deshalb der Freilassung der politischen Gefangenen zugestimmt hat.

Diejenigen, die unter den schlimmsten Belastungen und Leiden zusammengelebt haben, sollten sich nach der Freiheit logischerweise nicht einfach verlassen. Aus diesem Grund bringt das Gefängnis mit all seinen Leiden, Nähe und Sympathie und schafft neue Bindungen. Das heißt, es schafft neue Möglichkeiten auch in der Freiheit. Ich spreche hier vom Gefängnis nach 2018, einem Gefängnis voller junger Menschen, offen und gesprächsbereit, insbesondere in den Frauengefängnissen, wo Sympathien für die aktuellen Probleme des Gefängnisses oft die Barriere früherer Distanzen durchbrechen können. Um ehrlich zu sein, selbst wenn ich frei bin, kann ich nicht umhin, mir Sorgen um Niloufar Bayani oder Mahosh Zabet zu machen. Viele von uns bleiben nach der Haft befreundet und sprechen über politisches Handeln. Diese einfachen Dinge bergen Möglichkeiten. Möglichkeiten, die viele von uns nicht sehen wollen. Ich spreche von der Möglichkeit, andere Kräfte zu sehen und zu berücksichtigen und neuen Aktivismus zu schaffen, einen Dialog zwischen Kräften zu führen, die nicht vereint sind, sich aber in einigen Bereichen gegenseitig unterstützen können. Das ist die Möglichkeit, die das Gefängnis innerhalb und außerhalb seiner selbst für die Solidarität unterschiedlicher Aktivisten schafft.

Wie wirkt sich Deiner Meinung nach die Patenschaft durch Parlamentarier und westliche Staatsmänner auf die Lage der Gefangenen des jüngsten Aufstands und die Abschaffung der Todesstrafe aus?

In meinem Fall habe ich der Diskussion um eine Patenschaft nicht zugestimmt, weil für mich keine unmittelbare Lebensgefahr besteht. Gleichzeitig wollte jemand aus dem Bundestag netterweise meine Patenschaft übernehmen. Für mich blieb die Frage über das Verhältnis zwischen diesen Vertretern und der deutschen Regierung, welche Repressionsinstrumente an die iranische Regierung verkauft, unbeantwortet. Insbesondere, da es hier auch um die SPD geht. Ich kenne mich nicht mit der aktuellen deutschen Innenpolitik aus, aber eine junge Studentin im Iran vergisst nie, dass die deutsche Revolution 1919 von der sozialdemokratischen Regierung unterdrückt wurde und das unter der Herrschaft der SPD Luxemburg und Liebknecht ermordet wurden. Dies war ein wichtiger historischer Moment für das Schicksal des Sozialismus in der Welt. Ich habe die informierten Leute gefragt, und sie sagten, die deutsche Sozialdemokratie sei heute nicht kritischer und linker als damals. Für mich ist das der Grund für meine Ablehnung einer Patenschaft. Ich denke bei Fällen, wo das Leben in Gefahr ist, sollte man bestehende Möglichkeiten nutzen.

Beim jüngsten Massenaufstand im Iran gab es sehr viele Verhaftungen und Folter. Haben sich in einer solchen Situation die Haftbedingungen für politische Gefangene geändert?

Sowohl für die Regierung als auch für die Gefangenen sind die Bedingungen schwieriger geworden. Die Regierung kämpft jeden Tag mehr mit der Haushaltskrise, und die Befriedigung des unersättlichen Hungers der Wirtschafts- und Militärmafia verschlingt einen immer größeren Teil des Budgets. Die Proteste werden breiter und die Unterdrückungsinfrastruktur in vielen Städten reicht nicht aus. Dadurch werden die Bedingungen für die Inhaftierten noch unmenschlicher. Die Bevölkerungsdichte nimmt zu, die Haftplätze sind gering und sie verwenden ungeeignete Orte, um die Häftlinge festzuhalten, diese sind mit Nahrungsmangel konfrontiert und so weiter. Dies war einer der Gründe für die Freilassung der Gefangenen, zumal ich denke, dass die Regierung neue Proteste kommen sah und mit dieser Vielzahl an Gefangenen mit einer ernsten Krise konfrontiert werden würde. Darüber hinaus bringt das Festhalten von Demonstranten unter solchen Bedingungen das Risiko von Ausschreitungen innerhalb des Gefängnisses mit sich.

Was hat Dich ermutigt und Dir Kraft gegeben, auch im Gefängnis Widerstand zu leisten?

Vieles hat mich am Laufen gehalten. Als ich 2019 im Gefängnis war, ging ich in Gedanken Schritt für Schritt zum logischen Ende von allem. Oft habe ich mir folgende Fragen gestellt: Wie weit will ich noch weitermachen und wozu? Ich suchte in meinem Kopf und das ausschlaggebendste Bild, das meine Frage beantwortete, war das Bild meiner Eltern. Diejenigen, die mir ständig und jedes Mal sagten, ich solle wegen ihnen aufhören mit meinem Aktivismus, ich solle abbrechen und aussteigen. Sie waren mein Hauptgrund, zu überleben und weiterzumachen. Mein Vater hatte gearbeitet, seit er sechs Jahre alt war, er hatte die Schule wegen der Arbeit versäumt. Aber nicht nur wegen der Arbeit. Sein Vater hatte ihn zur Einschulung mitgenommen, der Schulleiter hatte Geld verlangt, das sein Vater nicht zahlen konnte und er hat deswegen die Schule versäumt. Später lernte er von seinem Vorarbeiter lesen und schreiben und noch später nahm er an Abendschulprüfungen teil. Er hat immer gesagt, dass er bereit ist, alles zu geben, damit wir studieren können und er war wirklich bereit und ist es noch heute, wo er fünfundachtzig Jahre alt wird.

Meine Mutter hat wie mein Vater ihr ganzes Leben lang gearbeitet, nicht nur im Haushalt, sondern seit ihrer Kindheit Teppiche geknüpft. Sie hat Teppiche geknüpft, bis die Nerven in ihren Händen geschädigt wurden, sie Rückenleiden bekam, ihre Augen schwächer wurden und sie an Lungenproblemen erkrankte. Auch sie hat es versäumt, zur Schule zu gehen, denn sie wurde sehr schnell verheiratet und hat ihr ganzes Leben lang dafür gearbeitet, dass sich unser Leben ändert. Nein! Ich mag es wirklich nicht, dass die Welt so weitergeht, wo manche Menschen die einfachsten Gaben des Lebens und der Gesellschaft verpassen und ihr ganzes Leben lang arbeiten. Als ich an meine Eltern dachte, wollte ich kämpfen, bis ich sterbe. Und auch wenn wir nicht gewinnen, bin ich froh, dass ich für eine gerechtere Welt gekämpft habe.

In Adel Abad brauchte es keine Vorstellungskraft und Bilder, denn die Not der Frauen stand vor meinen Augen. Ich war unter den Drogengefangenen, und vor meinen Augen waren die Sehnsucht nach Schule, die Arbeitslosigkeit, die Kinderehe, die Nöte der Alleinerziehung. Ich war mitten in der Hölle, gegen die ich kämpfte. Viele Male, besonders wenn mich das Leiden meiner Schwestern im Gefängnis wütend machte, dankte ich in meinem Herzen der Regierung dafür, dass sie mich hergeschickt hatte, um Zeuge jener Hölle zu werden, die sie für das Leben der Menschen geschaffen hat. Einmal sah ich eine Frau in Adel Abad, die minderjährig verheiratet worden war (wie die meisten inhaftierten Frauen in Adel Abad), ihr Mann hatte sie jahrelang vergewaltigt und sie durfte sich nicht scheiden lassen. Wenn ich „Vergewaltigung“ sage, ist das keine Metapher, ich übertreibe nicht, ich verwende dieses Wort nicht symbolisch. Im Laufe der Jahre hatte ihr Mann kein einziges Mal Vaginalsex mit ihr, er hatte sie mit Gewalt zu Analsex gezwungen. Um die Geschichte zusammenzufassen: Sie war wegen des Verbrechens der erzwungenen Scheidung zu 25 Jahren Haft verurteilt worden. Ja, wegen des Verbrechens der erzwungenen Scheidung, weil sie ihren Ehemann als Geisel genommen und einen Mullah entführt hatte, damit er das Scheidungsurteil erlässt. Ihr Komplize wurde hingerichtet.

Dies ist eine der traurigsten Geschichten von Frauen im Adel-Abad-Gefängnis. Sag mir, warum wir  nicht bis zum Tod kämpfen sollten? Was wollen wir außer einer menschlicheren Situation, außer einer gerechten Situation, in der die politische und wirtschaftliche Struktur und der Staat die Menschen nicht zu Wölfen machen? Unsere Hände sind leer, wir haben nichts außer unseren müden und leidenden Körpern. Was haben wir zu verlieren? Unsere Leben? Ist sich irgendjemand dieses elenden Lebens sicher genug, um sich zurückziehen? Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass meine Wut, mein Glaube und mein Kampfgeist gewachsen sind, als ich meine Schwestern in Adelabad sah.

#Titelbild: eigenes Archiv.

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Was sich vor, während und nach linken Großdemonstrationen oder Protestaktionen in der Öffentlichkeit vollzieht, lässt sich mittlerweile als eingespieltes Ritual bezeichnen. Die Vorgänge um die Räumung des Dorfes Lützerath im rheinischen Braunkohlerevier sind da keine Ausnahme. Bevor es losging, gab es erst mal von vielen Seiten unverbindliche Sympathiebekundungen für die Anliegen der Klimaschützer*innen, verbunden mit Appellen, die Räumung doch bitte friedlich über sich ergehen zu lassen. Die Polizei erklärte sinngemäß, dass es ihr furchtbar leidtäte, dass sie Lützerath räumen müsse. Sie sei aber nun mal gehalten, Recht und Gesetz Geltung zu verschaffen. Während des Einsatzes gab es dann eine überbordende Berichterstattung, Liveticker und jede Menge Videoschnipsel in den sozialen Netzwerken.

Nach der Räumung schließlich stand, wie immer, Aussage gegen Aussage. Die Aktivist*innen klagten in einer Pressekonferenz über Polizeigewalt und haufenweise Verletzte. Die Polizei wies das zurück und macht ihre eigene Bilanz von 70 verletzten Beamt*innen auf, wobei dabei bekanntlich schon leichte Kopfschmerzen oder ein eingerissener Fingernagel als Verletzung gewertet werden. Die Bild-Zeitung, die Polizeigewerkschaften und reaktionäre Politiker*innen von SPD bis Union und AfD fanden – auch wie immer -, dass die Gewalt von den Aktivist*innen ausgegangen sei und die Polizei einen guten Job gemacht habe. Damit ist das Ritual vollendet und die bürgerliche Öffentlichkeit geht zur Tagesordnung über – bis zum nächsten größeren linken Protest.

Auch wenn diese Feststellung ein wenig resigniert klingen mag, ist das nicht die Absicht. Es geht vielmehr darum, sich keinen Illusionen hinzugeben, wer in dieser Gesellschaft die Ansagen macht. Dass die öffentliche Debatte um mehr oder weniger linke Protestaktionen immer so gleich, so ritualisiert verläuft, ob nach 1.-Mai-Demonstrationen oder den Ereignissen beim G-20-Gipfel im Sommer 2017 in Hamburg, ist systembedingt. Man muss sich immer wieder in Erinnerung rufen, dass Konzernmedien und die staatstragenden öffentlichen Rundfunkanstalten die Öffentlichkeit dominieren – und die simulieren einen kritischen Diskurs nur. An den Grundpfeilern des Kapitalismus wie dem Eigentum wird nicht gerüttelt.

Auch rund um die Räumung Lützeraths hat sich wieder gezeigt, dass vor allem das Thema Gewalt immer dann medial nach vorn geschoben wird, wenn die bürgerlichen Sympathien für linken oder links erscheinenden Protest drohen, zu groß zu werden. Kein Thema eignet sich besser, um Widerstand zu diffamieren und zu delegitimieren, einen Keil in Bewegungen zu treiben. So werden Steinwürfe auf Polizeibeamt*innen skandalisiert, die Polizeigewalt erscheint dabei in der Regel als Reaktion auf die angebliche Gewalt von Aktivist*innen.

Die Polizei weiß, dass sie sich auf ihre Unterstützer*innen in Politik und Medien verlassen kann. In Lützerath war das auch daran zu erkennen, dass die Cops den Protest gegen die Räumung erbarmungslos niederknüppelten, vor allem bei der Großdemonstration am 14. Januar. Man störte sich nicht im Geringsten daran, dass sämtliche Medien der Republik vor Ort waren und überall Kameraobjektive präsent waren, um das Geschehen abzufilmen. Die Beamt*innen sprühten Pfefferspray im Strahl auf friedliche Demonstrant*innen, schlugen mit dem Schlagstock gezielt auf den Kopf oder in die Kniekehlen. Warum auch nicht, sind juristische oder personalrechtliche Konsequenzen für Polizist*innen in der BRD doch extrem selten.

Im Innenausschuss des Landtags von Nordrhein-Westfalen waren in der Woche nach dem Einsatz alle Parteien von Bündnis 90/Die Grünen bis AfD voll des Lobes über das Verhalten der Polizei.

Innenminister Herbert Reul (CDU) wollte Fehlverhalten einzelner Beamt*innen nicht ausschließen, suchte die Schuld dafür nach dem oben geschilderten Muster aber bei den Demonstrant*innen. Er machte „Linksextremisten“ aus, die aus der Demo ausgebrochen seien, und die Auseinandersetzung mit der Polizei gesucht hätten. Denen sei es ja gar nicht um Klimaschutz gegangen, so Reul, der mit diesem Auftritt exemplarisch vorführte, wie die Spaltungspolitik der bürgerlichen Parteien funktioniert.

Immerhin war dieser Einsatz dafür gut, dem einen oder der anderen die Augen zu öffnen. Er sollte auch der letzten naiven Klimaschützer*in vor Augen geführt haben, wer in diesem System das Sagen hat. Wenn es um Interessen von Konzernen wie RWE geht, wirft der Staat seine ganze Repressionsmaschine an und kennt kein Pardon. Es ist zu hoffen, dass die Räumung in Lützerath zumindest zur Radikalisierung von Aktivist*innen beigetragen hat.

#Titelbild: Libertinus 

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Von Bahram Ghadimi und Shekoufeh Mohammadi

Unter dem Schutz von Schreien, welche die Nacht durchdringen, nimmt eine Frau ihr Kopftuch ab und wirft es tanzend in das auf der Straße lodernde Feuer, damit aus dem Herzen von mehr als vier Jahrzehnten Unterdrückung und Repression ein Weg zu Licht, Freiheit und Gerechtigkeit eröffnet werden kann. Es gibt viele solcher Brände und unzählige dieser Frauen, welche die Flammen mit dem Schleier nähren, der ihnen vom Regime der Islamischen Republik Iran als Kleiderordnung auferlegt wurde, um sie zu unterdrücken. Unerschrocken weben sie mit ihren Haaren ein Seil aus Bewusstsein und Widerstand, um den Gefängniszaun zu umgehen, der uns seit Jahren mit Mauern der Armut, Dächern der Erniedrigung und Fenstern aus Lügen gefangen hält.

Der Funke dieses Feuers wurde entzündet, als das Lächeln im Gesicht einer kurdischen Frau namens Mahsa (Gina) Amini ausgelöscht wurde. Eine 22-jährige Frau, die mit ihrem Bruder nach Teheran gereist war, um Verwandte zu besuchen, wurde von der Sittenpolizei der Islamischen Republik unter dem Vorwand verhaftet, sie halte sich nicht an die Kleiderordnung. In Gewahrsam schlug ihr ein Polizist auf den Kopf, so dass sie das Bewusstsein verlor. Mahsa wurde ins Krankenhaus eingeliefert und starb einige Stunden später. Schon in den ersten Stunden des Wartens und der Protestaktionen vor dem Kasra-Krankenhaus in Teheran war die Familie von Mahsa Amini nicht allein; die Mütter aller anderen Wegbereiter auf dem Weg in die Freiheit haben sie begleitet, damit dieser Kampf ein weiterer Stern am Himmel dieser dunklen Nacht wird, in der seit Jahren der Traum von einem hellen Horizont geträumt wird: mit dem Aufstand der Hungrigen im Winter 2018, mit den Protesten im Herbst 2019, mit dem Aufstand der Durstigen (Proteste gegen Wasserknappheit) im Sommer 2021 und mit Hunderten von Protesten und Streiks von Arbeitern, Lehrern, Rentnern, Studenten und Gewerkschaftern im ganzen Iran. So wird der Schrei „Tod dem Diktator“ und die Parole „Brot, Arbeit, Freiheit“ zu einer gemeinsamen Stimme, der die Ohren der Unterdrücker nicht mehr entkommen können.

Und wir können unsere Mobiltelefone keinen Moment aus den Augen lassen: Telegram ist der Kanal, der uns mit einer Heimat verbindet, die wir vor Jahren zurücklassen mussten und in die wir immer noch zurückkehren wollen. Jeden Augenblick erhalten wir von unseren Freunden im Iran Nachrichten über die Geschehnisse in verschiedenen Städten und Ortschaften, ein Foto, ein Video, eine Meldung:

Eine Person wird in Teheran verhaftet. Wir haben diesen Satz noch nicht zu Ende gelesen, als die Nachricht der Verhaftung von Aktivisten in der Provinz Aserbaidschan eintrifft… dann wird Minu Majidi in Kermanshah durch einen direkten Schuß der Polizei getötet… die Studentenwohnheime der Universität von Shiraz werden angegriffen… in Ashnaviyeh greift die Polizei die Menge an und tötet zwei Menschen…in Izeh wird der Belagerungszustand ausgerufen… überall im Iran schlagen Flammen aus den Barrikaden und die Menschen sind auf den Straßen… in Quchan wird das Gebäude der Staatsanwaltschaft in Brand gesteckt… in Anzali hat das Volk die Stadt erobert… in Esfarayen reißen sie die riesigen Transparente mit Bildern von Khamenei und anderen Persönlichkeiten des Regimes herunter… in Ahvaz, wo sich die Menschen seit Jahrzehnten gegen die rassistische staatliche Repression wehren und der Kampf der Arbeiter immer noch stark ist, verwandelt die Solidarität mit den Protestierenden in anderen Städten, insbesondere in Kurdistan, die Straßen in ein Schlachtfeld… Die Stadt Qom, eines der religiösen Symbole des Regimes, ist zu einem Kriegsgebiet geworden, und in der konservativen Stadt Mashhad, einem der wichtigsten Stützpunkte des Staates, wird ein Polizeipräsidium angegriffen und mit allen darin befindlichen Patrouillen in Brand gesetzt… In Teheran wird von einem Polizeipräsidium aus auf Demonstranten geschossen, einige Stunden später steht das Gebäude in Flammen.

Die Parole „Frau, Leben, Freiheit“, welche der Ruf der ersten spontanen Proteste war, umfasst immer noch die wichtigsten Forderungen des iranischen Volkes. Dieser Slogan, einer der wichtigsten Slogans der Frauen von Rojava gegen den männlichen Chauvinismus, hat aus symbolischen Gründen ein starkes Echo im Iran gefunden: In der kurdischen Sprache hat Gina eine gemeinsame etymologische Wurzel mit dem Wort Jian, das Leben bedeutet. Gleichzeitig ist es eine Parole gegen den staatlichen Machismus, der seit mehr als vierzig Jahren im Namen des Islam die verschiedenen Mechanismen des Kapitalismus im Iran anführt: Privatisierung, die Schaffung von Freihandelszonen und Industriekorridoren, unkontrollierte Ausbeutung und die Zerstörung des Lebens von Arbeitern und verarmten Menschen. Gleichzeitig ist die Ermordung von Gina ein weiteres Beispiel für die von der Islamischen Republik unterstützten Feminizide; und schließlich ist seit dreiundvierzig Jahren die Freiheit, sowohl politisch als auch gesellschaftlich, eine der zentralen Forderungen im Iran.

Und wir warten immer noch auf Nachrichten, die aufgrund der landesweiten Blockade des Internetzuganges durch den iranischen Staat nur tröpfchenweise kommen. Währenddessen steigt die Zahl der verletzten und getöteten Demonstranten weiter an.

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Von A-Küche

Am 27.04.2022 verstarb Marcel K. an den Folgen des Polizeieinsatzes vom 20.04.2022 in Berlin Schöneweide. Die Polizei lügt und leugnet die Tat. Marcel war 39 Jahre und krank. Er hatte Krätze, oft Krampfanfälle und eine offene Wunde am Bein. Marcel trank Alkohol seitdem er 6 Jahre alt war. Er lebte auf der Straße. Oft war er in sozialen Einrichtungen untergebracht, die er aber schnell wieder verließ und in sein Kiez, nach Schöneweide, zurückehrte. Hier hatte er Freunde und fühlte sich zu Hause. Er war im Kiez bekannt, Feuerwehr, Rettungskräfte und die Polizei kannten seine Krankheiten, wussten von seinem Schmerzen. Notunterkünfte mochte er nicht, hier wurde er beklaut oder durch kleine Tiere gebissen.

Sein letztes Lebensjahr begann am 22.12.21 im Krankenhaus. Wenige Tage später wurde er mit seiner offenen Beinverletzung aus dem Krankenhaus geschmissen. Er ging zurück in den Kiez in eine Filiale der Deutschen Bank. Dort war es warm, da waren seine Freunde. Aktivist:innen kamen vorbei, brachten warmes Essen und versorgten sein Bein. Die Wochen vergingen und oft kamen die Cops und warfen die Menschen aus der Filiale. Das ärgerte ihn, denn danach war sein ganzes hab und Gut meist weg. Oft musste er auf Grund der Krampfanfälle ins Krankenhaus, das er nach einigen Tagen wieder verlassen musste. Dann beschloss die Deutsche Bank, ihre Filiale aus Sicherheitsgründen für ihre Kund:innen über den Winter zu schließen. Marcel saß nun tagsüber in der Kälte auf einer Bank und schlief mal auf einen Dachboden, in einen Hauseingang oder in einen Hinterhof. In eine Notunterkunft wollte er nie wieder, nachdem sich die Wunden der Tierbisse von dort entzündeten.

Den Aktivist:innen fiel es immer schwerer, seine Wunden auf offener Straße zu versorgen. Ins Krankenhaus wollte er nicht, denn da wurde ihm nie geholfen. In den folgenden Wochen kam es immer wieder zu kurzen Krankenhausaufenthalten, sein Bein entzündete sich immer schlimmer und er konnte kaum noch laufen. Die Polizei ging eines Nachts durch den Kiez, um obdachlose Menschen zu vertreiben. Es wurden immer weniger um ihn herum. Ende März 2022 saß er mit Freund:innen auf einer Bank und sie hörten im Radio einem Fußballspiel zu. Sie freuten sich schon auf warmes Essen, das, wie jeden Freitag, von Menschen aus dem Umland gekocht wurde. Plötzlich flogen Eier aus dem Wohnhaus gegenüber und verfehlten Marcel nur knapp. Kurze Zeit später kam die Polizei und ermahnte Marcel und die anderen wegen Ruhestörung. Er war wütend, dass die Cops nicht zum Wohnhaus sind, denn man wollte ihnen mit den Eiern wehtun. Marcel hatte Hunger und die Menschen mit dem Essen kamen zum Verteilen. Doch die Bullen gingen dazwischen und erklärten ihnen „sie möchten doch bitte wo anders Essen verteilen, die würden ja hier drauf warten und so würde man sie ja nicht los“. Außerdem wäre das jetzt eine polizeiliche Maßnahme und da wäre es „eh nicht drin“. Die Menschen drehten mit dem Essen um und Marcel musste hungrig einschlafen.

Am 16.04. gab es dann eine Kundgebung gegen die Verdrängung obdachloser Menschen in Schöneweide auf Grund dieser Vorfälle. Marcel genoss den Tag, es gab warmes Essen und gute Musik, für ihn war es eine Party. Er bedankte sich bei den Organisator:innen, besorgte eine Schachtel Pralinen für alle. Seinen Freund:innen erzählte er noch einen Tag später, dass es der schönste Tag seines Lebens war. Noch nie hatte es so eine Party für ihn gegeben.

Am 20.4 suchte er am Abend mit zwei Freunden einen Schlafplatz. Diesmal wollten sie im Innenhof der Brückenstr.1 hinter dem Waschcenter schlafen. Sie legten sich hin, Marcel trank noch ein Schluck Bier, stellte seine Flasche hin und schlief ein. Gegen 23 Uhr, wurde er durch lautes Gebrüll wach. Er und seine Freunde sprangen auf. Es war die Polizei. Marcel verspürte starken Schmerz am verletzen Bein, er schrie vor Schmerz, schmiss dabei seine Flasche Bier um. Es war ein Cop, der an sein Bein zog. Seine Freunde rannten weg. Sie konnten nur aus der Ferne zusehen wie immer mehr Cops auf Marcel einschlugen, sie setzen Pfefferspray ein. Marcel lag leblos am Boden, ein Krankenwagen wurde gerufen. Marcel wurde reanimiert und ins Krankenhaus gebracht.

In der Pressemittelung der Polizei vom 21.04.2022 stand später: „Der alkoholisierte 39-Jährige versuchte weiter, sich den polizeilichen Maßnahmen zu entziehen, litt dann aber plötzlich unter Atemnot und verlor das Bewusstsein. Die Beamtinnen und Beamten leiteten umgehend Reanimationsmaßnahmen ein und alarmierten einen Rettungswagen. So konnte er stabilisiert werden und kam mit dem Rettungswagen zur weiteren Behandlung und stationären Aufnahme in ein Krankenhaus.“

Aktivist:innen versuchten später seinen Verbleib ausfindig zu machen. Bei Anrufen in Krankenhäusern wurde Marcels Aufenthalt stehts verneint. Der Rettungsdienst behauptete, es hätte keinen Transport in ein Krankenhaus aus Schöneweide gegeben. Beim Versuch, die Tat öffentlich zu machen, wurden Aktivist:innen von der Polizei kriminalisiert. Am 2.6 erfuhren dann seine Freund:innen, dass Marcel tot ist. Er starb am 27.4.2022 an den Folgen des Polizeiangriffs vom 20.04.2022. Marcel ist tot, die Polizei hat ihn ermordet.

Mehr Infos bei der A-Küche

#Titelbild: Malteser Obdachlosenhilfe

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Am 12.05 verbat die Berliner Polizei zahlreiche palästinensische oder palästinasolidarische Veranstaltungen, die den jährlichen Nakbatag (15.05.) begehen oder an die Ermordung der palästinensischen Journalistin Shireen Abu Akleh (11.05.22) durch die israelische Armee erinnern wollten. Das OVG Berlin bestätigte diese Entscheidung am 13.05. Unmittelbar nach dem Bekanntwerden der Demoverbote hat sich ein Bündnis gegründet. Unser Autor Mohannad Lamees hat mit Aktivist:innen aus dem Bündnis über ihre Arbeit gesprochen.

Was bedeuten diese Demoverbote aus Eurer Sicht? Wie bewertet Ihr diese Entwicklung?

Wir begreifen die Verbote als Angriffe auf das palästinensische Leben in Deutschland, auf den palästinensischen Widerstand und auf das palästinensische Gedenken. Die Verbote stehen in einer langen Tradition von Repression gegen pro-palästinensische Bewegungen in Deutschland und sind, auch wenn sie sicherlich eine neue Stufe des schamlosen Gebarens der BRD darstellen, an sich nichts neues. Bereits vor einigen Wochen hatten die Berliner Behörden palästinensische Demos pauschal und präventiv verboten. Letztes Jahr gab es massive Polizeigewalt gegen palästinensische und palästinasolidarische Demonstrierende. Trotzdem wächst die Unterstützung für die palästinensischen Bewegungen in der Bevölkerung. Und nicht nur das, die Unterstützung wächst ganz konkret für junge revolutionäre pro-palästinensische Bewegungen, die die Rolle des deutschen Staates als Mittäter begreifen. Es ist deswegen nicht überraschend, dass die Behörden mit solcher Härte gegen die Demos vorgehen und verhindern wollen, dass sich die Solidarität mit Palästina auf den Straßen Bahn bricht. Ganz nüchtern müssen wir feststellen: Der deutsche imperialistische Staat reagiert auf die palästinensische Bewegung so, wie auf alle anderen revolutionären Bewegungen auch – also mit offener Gewalt.

Ihr habt unmittelbar nach dem Bekanntwerden der Demoverbote ein Bündnis gegründet. Warum?

Die Antwort ist recht einfach: Wir haben aus unseren Fehlern gelernt. Nach den Angriffen letztes Jahr auf die Nakba-Demos in Berlin haben wir organisierte Gruppen es weder geschafft, die Repressionen ausreichend zu thematisieren noch die direkt Betroffenen in irgendeiner Weise zu begleiten oder zu unterstützen. Auch bei dem Demoverbot Ende April gab es zwar kämpferische Statements – eine Reaktion auf der Straße konnten wir aber nicht zeigen. Dieses Mal konnten wir diese Fehler korrigieren, indem sich sofort nach Bekanntwerden der Verbote einige palästinensische und palästinasolidarischen Gruppen getroffen haben und ein gemeinsames Ziel festgelegt haben. Dieses Ziel war, organisiert und geschlossen eine Reaktion gegen die Repression auf die Straßen Berlins zu tragen. In der kurzen verbliebenen Zeit – das Bündnis hatte nur 4 Tage, um sich zu formieren und zu organisieren – konnten wir durch die gebündelten Kräfte trotzdem einiges an Energie freisetzen.

Was ist dann am Nakbatag in Berlin passiert? Wie bewertet ihr die Ereignisse?

Wir haben die Ereignisse in Berlin im Bündnis als Erfolg ausgewertet. Es ist gelungen, den Verboten zu trotzen und ganz eindeutig ein Zeichen von den Straßen Neuköllns in die ganze Welt zu senden, nämlich dass die Verbote nicht hingenommen werden, dass die Angriffe den palästinensischen Widerstand nicht aufhalten können, dass die gemeinsamen Rufe revolutionärer Gruppen für die Freiheit des palästinensischen Volkes nicht verstummen.

Es gab an dem Tag eine Demonstration durch den Berliner Stadtteil Neukölln gegen Umweltzerstörung im Globalen Süden. Dort wurde nicht nur Klimagerechtigkeit und das Ende der imperialistischen Ambitionen des deutschen Staates auf der ganzen Welt gefordert, sondern natürlich wurden immer wieder lautstark und gemeinsam Rufe für die Freiheit des palästinensischen Volkes angestimmt. Auf der Sonnenallee, also auf der Straße, die immer wieder im Visier rassistischer staatlicher Repression steht, wurde die Demonstration dann von aggressiven Polizeitrupps ausgebremst, in eine Seitenstraße gelenkt und dort zum Stehen gebracht. Zahlreiche Anwohner:innen und Passant:innen zeigten sich spontan solidarisch mit der Demonstration und stimmten in die Rufe ein. Die Polizei drang schließlich gewaltsam in die Demonstration ein und nahm einige Personen fest. Von ausnahmslos allen Demonstrierenden wurden die Personalien festgestellt, es wurden Bußgelder und Gewahrsam angedroht sowie weiträumige Platzverweise ausgesprochen.

Nur wenige Hundert Meter entfernt kam es dann fast zeitgleich bei einem pro-palästinensischen Flashmob ebenfalls zu massiver Repression.

Das Vorgehen der Bullen war dabei brutal. Teilweise wurden willkürlich am Straßenrand stehende Personen festgenommen, nur weil sie arabisch aussahen oder Dinge trugen, die als pro-palästinensisch identifiziert wurden. Es wurde mehr als deutlich, dass die Polizei racial profiling, Einschüchterung und Gewalt bereitwillig eingesetzt hat, um ihre Ordnung durchzusetzen.

Überall auf den Straßen Neuköllns zeigten die Menschen deutlich, auf welcher Seite sie stehen, überall gab es Solidarität und Freude über die Aktionen für Palästina. Den ganzen Tag wurde auf der Sonnenallee darüber gesprochen, wie es gelungen war, eine pro-palästinensische Demo abzuhalten, obwohl die Bullen pausenlos im Vorfeld mit Wannen Streife fuhren und die Kreuzungen belagert hatten. Für uns steht deshalb fest: Der Nakbatag war ein Kampftag gegen die Repression und gegen die ganze Mittäterschaft des deutschen Staates in der Unterdrückung der Palästinenser:innen.

Die brutale Repression gegen Palästinenser:innen und Palästinasolidarische in Deutschland hat Tradition. Man denke an die Abschiebungswellen gegen dutzende Palästinenser:innen in Folge des Verbots der Generalunion Palästinensischer Studenten (GUPS) und Generalunion Palästinensischer Arbeiter (GUPA) 1972/73. Bei der Deutschen Welle gab es Anfang 2022 eine Säuberung, bei der mehrere Mitarbeiter:innen ihren Job nach inquisitionsartigen Befragungen zum Thema Israel-Palästina verloren. Letztes Jahr haben in ganz Deutschland, auch in Berlin, Demonstrationen und Kundgebungen zum Nakbatag stattgefunden, die Polizei ist hart in die Veranstaltungen reingegangen. Dieses Jahr wurden alle Veranstaltungen in Berlin verboten; wer eine Kufyie anhatte oder „Free Palestine“ rief, wurde verhaftet. Wieso sind Palästinenser:innen und Palästinasolidarische so gefährlich für den deutschen Herrschaftsapparat?

Hier müssen wir ein wenig ausholen. Zuallererst lässt sich feststellen, dass die Bundesrepublik quasi seit ihrer Gründung nach dem Zweiten Weltkrieg in einem besonderen Verhältnis zum zionistischen Staat Israel steht. Das auch heute allgegenwärtige moralische Argument, wonach die BRD die deutsche Schuld über die industrielle Vernichtung der jüdischen europäischen Bevölkerung schultert und deswegen fest an der Seite des zionistischen Staates Israels stehen müsse, hat seinen Ursprung in den 1950er Jahren. Der im September 1952 zwischen der BRD und Israel unterzeichnete Vertrag über Reparationszahlungen an den Staat Israel wurde damals von der deutschen Regierung, allen voran Konrad Adenauer, als moralische Pflicht inszeniert. Wir wissen aber, dass diese Moral nur vorgeschoben war, und der Vertrag viel eher zustande kam, weil sich den imperialistischen Interessen der Westmächte, vor allem der USA, gebeugt wurde. Durch den Vertrag mit den Zionist:innen wurde außerdem die Tür für Verhandlungen mit den Westmächten über wirtschaftliche Vorteile für die junge BRD aufgemacht. Ganz nebenbei erfüllte dieses moralische Argument auch die Funktion, von der Nazi-Vergangenheit zahlreicher BRD-Staatsapparate und BRD-Staatsmänner abzulenken. 

Warum ist das so wichtig? Zum einen verhalf die BRD mit diesem Vertrag und den vereinbarten Zahlungen, sowie den sich in den 60er Jahren anschließenden und bis heute laufenden militärischen Unterstützungen, dem damals wirtschaftlich schwachen Israel zu großer Stärke. Westdeutschland ermöglichte so unter anderem die israelische Kriegsführung in den 50er und 60ern gegen die Palästinenser:innen und gegen die arabischen Nachbarstaaten. Zum anderen war die Unterstützung Israels damals  – und ist es auch noch heute  – das goldenene Ticket für den wiedererstarkten deutschen Imperialismus. Wenn wir also danach fragen, wieso seit den 60er Jahren so vehement gegen Palästinenser:innen in Deutschland vorgegangen wird, dann muss die Antwort lauten: Weil der deutsche Imperialismus die bedingungslose Solidarität mit dem Zionismus nicht nur mit Verträgen mit und Waffenlieferungen an Israel zur Schau stellt, sondern eben auch durch hartes Durchgreifen im eigenen Land.

Dass diese Politik nichts Moralisches an sich hat, verstehen mittlerweile immer mehr Menschen in Deutschland. Es ist absurd, dass Bundespräsident Steinmeier letztes Jahr im Juli, nur einige Wochen nach den massiven israelischen Angriffen auf die palästinensische Zivilbevölkerung, einen Staatsbesuch in Israel machte und dem Rassisten Naftali Bennet die Hand schüttelte. Absurd ist auch, mit welcher Wucht der deutsche Staat und die bürgerliche Öffentlichkeit gegen jedwede Solidarität mit dem palästinensischen Volk vorgehen – es hagelt Verbote, Entlassungen, Strafen und Abschiebungen. Deutschland ist mittlerweile das reaktionäre Zentrum des Anti-Antisemitismus, mit dem jedweder Antizionismus, eigentlich sogar jeder Anti-Imperialismus, pauschal als antisemitisch bezeichnet und verfolgt wird. 

Zwar wird das noch immer mit der deutschen Schuld und der angeblich vorbildhaften Aufarbeitung der Nazi-Herrschaft begründet. Den eigentlichen Grund dafür können wir aber nur verstehen, wenn wir erkennen, dass der deutsche Imperialismus, gerade in einer Zeit der Krise und Schwäche, sich mit aller Macht gegen laut werdenden Widerstand und Protest zur Wehr setzt. Die Palästina-Frage offenbart wie kaum ein anderes Thema, mit Ausnahme vielleicht der Kurdistan-Frage, den imperialistischen Charakter dieses deutschen Staates. Und dieser Staat bekämpft die pro-palästinensische Bewegung genau deshalb, weil die Angst groß ist, dass aus der Palästina-Bewegung eine breitere anti-imperialistische Bewegung wachsen kann, die den deutschen Imperialismus selbst ins Visier nimmt.

Nach der Repression am Tag der andauernden Nakba forderte die CDU, Palästinenser:innen und solche, die sich mit ihnen solidarisieren, im Vorfeld von Demos in Gewahrsam zu nehmen. Was würde das bedeuten?

Eine Sache ist uns wichtig, bevor wir genauer auf die Frage eingehen: Die Repressionen am Tag der Nakba und im Vorfeld haben uns in Berlin nicht die CDU oder andere als „rechts“ geltende Parteien eingebrockt, sondern die Rot-Grün-Rote Koalition. Die Repression gegen pro-palästinensische Gruppen, aber auch gegen viele andere revolutionäre Organisationen ist keine Sache, die von einzelnen Parteipolitiken abhängig ist – gerade, weil sie aus dem deutschen Imperialismus an sich erwächst, der von allen bürgerlichen Parteien mitgetragen wird. Dass die Berliner CDU nun noch einen draufsetzt, sollten wir erstmal als Oppositionspolitik verstehen – ähnlich hatte beispielsweise auch letztes Jahr nach den Nakbatag-Demos auf Bundesebene die Linkspartei reagiert, als Dietmar Bartsch Horst Seehofer aufforderte, noch härter gegen Antisemitismus auf deutschen Straßen vorzugehen.

Trotzdem zeigen die aktuellen Forderungen, dass sich der deutsche Staat immer weiter die Maske vom Gesicht zieht und seinen wahren, repressiven Charakter zeigt. Dass bereits heute als „antisemitisch“ kategorisierte Geflüchtete abgeschoben werden können und Hunderttausende de facto so eingeschüchtert werden, um sie von politischer Aktivität abzuhalten, ist bekannt. Wenn nun auch mehr und mehr Befugnisse im Vorfeld von eigentlichen Straftaten erteilt werden könnten, so ist das eine Entwicklung, die uns zeigt, dass der imperialistische Staat die Zügel anzieht – und wir noch lange nicht am Ende der Repression sind. Darauf sollten wir aber nicht mit Empörung

reagieren oder überrascht sein – als revolutionäre Kräfte müssen wir darauf gefasst sein und Wege finden, diesem Staat trotzdem Paroli zu bieten.

Ihr hab Euch wegen der staatlichen Repression am Nakbatag verbündet. Mit der Roten Hilfe gibt es bereits eine breite Solidaritätsstruktur gegen staatliche Repression, warum habt Ihr ein eigene Organisierung für notwendig erachtet?

Unser Bündnis versteht sich nicht als Alternativangebot zur Roten Hilfe. Ganz im Gegenteil. Genoss:innen von der Roten Hilfe waren und sind während der Bündnisarbeit extrem wichtig für uns gewesen, indem sie uns beraten haben und mit uns zusammen geplant haben, wie wir eine Reaktion auf der Straße zeigen können. Die Rote Hilfe wird auch direkt Betroffene der Repressionen gegen die Nakbatag-Aktionen unterstützen. Das ist ein wichtiger Schritt für uns alle. Wir können so deutlich zeigen: Die palästinensische Sache muss Sache der Linken sein!

Wird das Bündnis über die Repression im Zusammenhang mit dem Nakbatag 2022 heraus bestehen bleiben? Was sind Eure Ziele?

Ja, das Bündnis bleibt bestehen und soll demnächst auch einen Namen bekommen. Momentan arbeiten wir daran, die weitere politische Arbeit auszugestalten. Unser Ziel ist,die gemeinsame Arbeit revolutionärer Kräfte gegen die staatlichen Repressionen weiter voranzutreiben. Bereits vor dem Wochenende des Nakbatags hatten wir im Bündnis festgehalten, dass es nicht nur um die Demos an diesem Tag und auch nicht nur um die Palästina-Frage geht. Der Staat führt einen Kampf gegen alle revolutionären Bewegungen. Allein im Mai 2022 hat sich bei den Repressionen gegen die revolutionäre Abenddemo am Arbeiter:innenkampftag, am Tag der Befreiung vom Faschismus durch die Rote Armee und bei den Angriffen auf kurdische und türkische Genoss:innen gezeigt, dass wir alle gleichermaßen angegriffen werden. Das Bündnis hat sich zum Ziel gesetzt, die Verbindungen dieser Repressionen zu betonen und gemeinsam Antworten darauf zu geben.

Darüber hinaus wollen wir als Bündnis fest an der Seite derjenigen stehen, die von den Repressionen am Nakbatag unmittelbar betroffen sind. Dazu haben wir bereits in den ersten Tagen nach den Ereignissen ein Offenes Treffen veranstaltet, damit sich niemand mit den Repressionen und Angriffen alleine gelassen fühlen muss. Wir planen, die Rechtsfälle zu begleiten und Unterstützung zu leisten – in Form von Austausch, Beratung, und wenn wir es stemmen können, auch finanzieller Hilfe. Am wichtigsten ist für uns aber die politische, die revolutionäre Antwort auf die Repressionen – wir wollen weiterhin zeigen, dass gemeinsame Organisierung der Weg ist, um trotz Verboten und Anklagen die Straßen freizukämpfen.

Wie kann diese revolutionäre Antwort genau aussehen? Was bedeutet es, „revolutionär“ zu sein in Bezug auf staatliche Repression?

Auch wenn wir jetzt viel über die Demoverbote gesprochen haben: Repression, das ist nicht nur Demoverbot, Platzverweis und Polizeiknüppel. Dieser Staat dient der herrschenden kapitalistischen Klasse und wird mit allen erdenklichen Mitteln immer wieder gegen diejenigen vorgehen, die gegen diese Vorherrschaft kämpfen. Nicht nur auf Demos, sondern jeden Tag im Beruf, in der Schule, auf Ämtern, ideologisch, organisatorisch, politisch – alles was dieser Staat tut, um das Ausbeutungsverhältnis aufrecht zu erhalten, ist Repression. Wenn wir das verstehen, dann wissen wir auch, was die revolutionäre Antwort auf Repression ist. Nämlich nicht der Appell an mehr Menschlichkeit und Zugeständnisse, sondern der konsequente Kampf gegen das kapitalistische System und für den Sozialismus.

Dazu kommt: Dieses kapitalistische System, in dem wir alle leben, erzieht uns zur Passivität und zum Einzelgängertum. Viel zu oft nehmen wir Beschränkungen und Verbote einfach hin. Dass es am Nakbatag geklappt hat, sich trotz eines von den Behörden ausgesprochenen Verbotes und in vollem Bewusstsein über den Aufmarsch von Tausenden Bullen in Berlin-Neukölln trotzdem gemeinsam diesem zu widersetzen, das ist ein wichtiger Schritt, um aus dieser Passivität und Hörigkeit rauszukommen. Deswegen haben wir auch vor und nach den Aktionen Statements und Aufrufe in ganz Berlin verteilt, um allen deutlich zu machen: Wir werden die Verbote nicht hinnehmen! Und wir widersetzen uns, weil wir in die Stärke unserer gemeinsamen Organisierung vertrauen können. Das ist in unserer momentanen Lage das allerwichtigste und das müssen wir immer wieder betonen, dafür müssen wir ein breites Bewusstsein schaffen: Wenn wir uns zusammentun, sind wir stark. Der Erfolg am Nakbatag war ein Beispiel dafür. Wir müssen nun noch viel mehr solcher Beispiele schaffen!

#Titelbild: Bündnisarchiv

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Zwei Jahre nach den rassistischen Morden von Hanau scheinen sich alle einig zu sein: Rassismus ist ein Problem, der Anschlag muss aufgeklärt werden. Die Migrantifa Berlin mit einem Gastbeitrag darüber, warum antirassistische Lippenbekenntnisse angesichts des strukturellen Rassismus, der sich durch „Auklärung“ rassistischer „Einzelfälle“, Rechtssprechung und Politik zieht, bei weitem nicht genug sind.

Vor zwei Jahren, am 19. Februar 2020, wurden Vili Viorel Păun, Said Nesar Hashemi, Gökhan Gültekin, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar, Kaloyan Velkov und Sedat Gürbüz von einem Rassisten ermordet. Zwei lange Jahre sind seitdem vergangen. Jetzt, kurz vor dem 19. Februar 2022, sind die Medien wieder voll mit Beileidsbekundungen und dem Ruf nach mehr Toleranz und “Diversity”. Der Antirassismus (Antira) ist im Mainstream angekommen. Die Antira-Bewegung der letzten Jahrzehnte hat ihn mit Beharrlichkeit und Kraft dorthin geschoben. Das ist aber gleichzeitig Fluch und Segen. Zeit also, die Linse zu schärfen.

Was haben zwei Jahre nach Hanau mit sich gebracht

Seit dem 3. Dezember tagt der Untersuchungsausschuss im hessischen Landtag zum 19. Februar. Dort soll eine Aufarbeitung erzwungen und Antworten auf viel zu viele offene Fragen gefunden werden. Fragen, wie zu den Waffenscheinen des Täters, zur Nichterreichbarkeit des Notrufs, zum verschlossenen Notausgang am zweiten Tatort, zu den ungeklärten Umständen am Täterhaus, zum respektlosen Umgang mit den Angehörigen in der Tatnacht und danach oder zur Rolle des Vaters des Täters. Der Untersuchungsausschuss und der damit angestoßene Aufarbeitungsprozess wurden nur durch die Beharrlichkeit der Angehörigen und Unterstützer*innen erkämpft.

Die Liste der Fälle, die bisher folgenlos blieben, ist immer noch lang. Rassistisches Verhalten der Behörden vor, während und nach der Tat haben keine Konsequenzen gehabt – weder in Polizeibehörden noch beispielsweise im hessischen Innenministerium. 13 Mitglieder der SEK-Einheit, die am Anschlagsort im Einsatz waren, waren Teil einer rechtsradikalen Chatgruppe. Diese SEK-Einheit wurde nach Bekanntwerden aufgelöst, was jedoch nicht bedeutet hat, dass die jeweiligen Polizisten ihren Job los waren.

Im Dezember 2021 hat sich die Generalbundesanwaltschaft mal wieder damit lächerlich gemacht, dass sie die Ermittlungen gegen mögliche Mittäter eingestellt hat. Somit reihen sie Hanau in die unzähligen rassistischen Vorfälle ein, bei denen die Behörden behaupten es handle sich um Einzeltäter, um die strukturelle Dimension von Rassismus auszublenden. Nur so ist es rhetorisch überhaupt möglich Solidarität zu heucheln, ohne sich selbst konsequent in die Verantwortung zu nehmen.

Weiterhin unbekannt ist, wer die Scheiben der Arena Bar zwei Monate nach dem Anschlag eingeschlagen hat. Es gibt auch keine nennenswerten Debatten um die Ignoranz und den Rassismus der sogenannten Mitte: Noch bevor Details zum Anschlag klar waren, mutmaßten einige Medien schon über eine “Milieutat”, die Hanau-Gedenkdemonstration sechs Monate nach dem Anschlag wurde unverhältnismäßig kurzfristig vom SPD-Bürgermeister aufgrund der Infektionslage abgesagt und die CDU wünschte sich nicht lange nach dem Anschlag, dass Hanau wieder zur „Normalität“ zurückkehre.

Wo wir zwei Jahre nach Hanau als Bewegung stehen

Die Angehörigen, die Initiative 19. Februar und die Antira-Bewegung haben es geschafft, die Namen und Erinnerungen an Ferhat Unvar, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Fatih Saraçoğlu, Vili Viorel Păun, Kaloyan Velkov, Hamza Kurtović, Sedat Gürbüz und Gökhan Gültekin in und durch uns weiterleben zu lassen. Serpil Temiz Unvar, die Mutter des ermordeten Ferhats, hat inmitten der Trauer, der Wut und des Schmerzes die Bildungsinitiative Ferhat Unvar gegründet. Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt vernetzen sich über Generationen und Identitäten hinweg, stehen zusammen und schaffen damit neue Allianzen für den Kampf für ihre gemeinsamen Forderungen. Es sind auch diese gemeinsamen Kämpfe, die die Themen Polizeigewalt, rechte Strukturen in Behörden sowie institutionellem Rassismus immer wieder auf die Tagesordnung setzen. Politische und gesellschaftliche Debatten zur (De)legitimierung des Verfassungsschutzes und der Abschaffung der Polizei haben es in die breite Öffentlichkeit geschafft, unter anderem durch die starken und abolitionistisch geprägten #BLM-Proteste unserer Schwarzen Geschwister, die aus den USA kamen und auch hier in rassifizierten Communities verbreitet wurden.

Gleichzeitig erleben wir einen sich immer weiter ausbreitenden liberalen Antirassismus, bei dem nicht um materielle Bedingungen, sondern ausschließlich um “Diversity”, Quoten und individuelles Bewusstseinstraining oder Privilegiencheck geht. Selbst die Bundesregierung hat vor etwa einem Jahr einen 89 “starken” Maßnahmenkatalog beschlossen, als “klares Signal gegen Rechtsextremismus und Rassismus”. Die Bürger*innen sollen zu “wehrhaften Demokrat*innen” erzogen werden, um so dem Rechtsruck entgegen zu treten. Diese extreme Verharmlosung rechter Gewalt und ihrer Netzwerke zeugt von einer fatalen analytischen Unschärfe, innerhalb dessen struktureller Rassismus und Unterdrückung nicht verstanden werden kann. Infolgedessen laufen antirassistische Kämpfe Gefahr, vom herrschenden System vereinnahmt zu werden.

Mehr als nur Aufklärung 

Gerade beim Attentat in Hanau zeigt sich, wie wenig Menschen wirklich verstanden haben, wenn selbst diejenigen, die politisch für den Anschlag mitverantwortlich sind, unreflektiert zum Gedenken aufrufen. Für sie bedeutet Gedenken ein bloßes Erinnern und einen Kranz niederzulegen. Sie sehen nicht, dass Hanau Ursache einer Klassengesellschaft und eines Systems ist, in dem zwangsläufig ein oben und unten existieren. Hanau steht in einer Kontinuität zum Anwerbeabkommen, zum Asylrechtskompromiss und zum NSU-Komplex. Sie verstehen nicht, dass Hanau nicht als einzelner, abgekoppelter Einzelfall betrachtet werden kann, den es zu “lösen” gilt. Jeder einzelne Fall rassistischer und rechter Gewalt könnte wahrscheinlich umfangreicher aufgeklärt werden, wenn der Wille da wäre – doch selbst wenn, würden zu jedem aufgeklärtem Fall zehn neue dazu kommen.

Wenn wir uns die Geschichte von Aufklärungs- und Aufarbeitungsarbeit seitens der Behörden und des Staates bei rechten, antisemitischen und rassistischen Taten anschauen, müssen wir wohl auch beim 19. Februar davon ausgehen, dass er leider nur begrenzt erfolgreich sein wird. Die unzähligen Untersuchungsausschüsse zum NSU-Komplex, der Ausschuss zur Anschlagsserie in Neukölln und die zahlreichen Gutachten im Fall Oury Jallohs zeigen zum einen, dass die Verantwortlichen sich gegenseitig in ihren Erzählungen und Schuldabweisungen stützen und schützen werden. Zum anderen haben wir strukturell gesehen nicht viel gewonnen. Natürlich ist es enorm wichtig, die verfügbaren rechtlichen Mittel maximal auszuschöpfen, um die konkreten Täter*innen zu benennen, zur Verantwortung zu ziehen und Netzwerke aufzudecken. Kommt ein Untersuchungsausschuss mit dem nötigen Druck zustande, so ist es ein Etappenerfolg innerhalb des herrschenden Systems und aus Sicht der Angehörigen ein kämpferisches Mittel. Deshalb gebührt ihnen die vollste Solidarität und Unterstützung in ihrem Kampf um Aufklärung, Gerechtigkeit, Erinnerung und Konsequenzen.

Wir dürfen jedoch nicht glauben, dass das Zurücktreten von Politiker*in X oder die Versetzung von Beamt*in Y die Revolution herbeiführen wird. Wir dürfen uns nicht der Illusion hingeben, dass das System in sich gut funktioniert und nur hier und da sind noch ein paar Schönheitsfehler durch neues Personal oder Zusatzparagraphen zu beheben. Es kann nicht bei bloßer Aufklärung bleiben. Wir müssen für eine Gesellschaft kämpfen, die rechte Ideologien und Gewalt an den Wurzeln bekämpft – und die sitzen im Herzen des kapitalistischen Systems.

Solange wir in diesem kapitalistischen System leben, werden wir immer wieder konfrontiert sein mit dem Auffliegen von rechten Strukturen innerhalb der Polizei, der Bundeswehr, den Sondereinsatzkommandos und werden hören von Reservisten, die Sprengstoffe horten und Todeslisten führen. Die sogenannte Mitte wird weiterhin nach Abschiebungen von Menschen, die sich „illegal“ hier aufhalten schreien. Die Rechten werden die Erzählung eines „Rassenkrieges“ immer weiterspinnen, bis sie schlussendlich handeln werden. Es werden wieder und wieder Menschen in Gewahrsam zu Tode kommen, ohne jegliche Konsequenzen für die verantwortlichen Polizist*innen. Das EU-Grenzregime wird ungebremst seine Mauern höherziehen und ihre Grenzen “verteidigen”. Und unsere Geschwister im globalen Süden werden Tag für Tag weiter in mörderischen imperialistischen Kriegen um Ressourcen und Macht nicht nur ihr Zuhause, sondern auch ihre Leben verlieren. 

Diese Normalität rechten Terrors müssen wir bekämpfen. Dabei dürfen wir uns nicht von bürgerlichen Parteien, Politiker*innen oder sonstigen staatlichen Bediensteten vereinnahmen lassen. Denn deren einziger Zweck ist es, eben jenes System und den Staat als ideellen Gesamtkapitalisten zu schützen. Zwar versuchen sie es durch eine Reform hier und da weniger brutal erscheinen zu lassen, am Grundproblem ändert sich jedoch nichts.

Warum am 19. Februar auf die Straße gehen 

Die Forderungen nach Aufklärung, Erinnerung, Gerechtigkeit und Konsequenzen der Angehörigen, Betroffenen und der Initiative 19. Februar gilt es zu unterstützen, wo und wie immer wir können. Gleichzeitig werden wir unser Streben nach radikaler Veränderung der Gesellschaft und Selbstorganisierung weiterverfolgen. Wir vergessen nicht, sondern werden weiterhin all diejenigen anklagen, die für das rassistisches Klima verantwortlich sind, die rechte Strukturen schützen, rechten Terror durch rassistische Politik befeuern sowie den Nährboden für Ausbeutung und Ausgrenzung  füttern. Wir können keine Forderungen an einen Staat stellen, der genau das tut und aktiv daran beteiligt ist, zu vertuschen und zu manipulieren. Wir lassen uns nicht mit leeren Worten und Gesten abspeisen, sondern werden selber machen!

Wir wollen eine Alternative schaffen zu diesem ausbeuterischen, kapitalistischen System, in dem es um Profite statt um Menschenleben geht. Wir wollen kontinuierliche Arbeit in den Nachbarschaften leisten, weiter mit unseren Nachbar*innen in Kontakt treten, zuhören, unsere politischen Visionen teilen und gemeinsam organisieren und umsetzen. Die Verankerung und Bezug zur Nachbarschaft ist besonders wichtig, denn hier wachsen wir auf, haben unsere Beziehungen, Geschichten und führen unsere Kämpfe. Nichtsdestotrotz stehen wir Seite an Seite mit unseren Geschwistern und Genoss*innen im globalen Süden, denn nur der globale Kampf kann eine Befreiung aller sein!

Für den 19. Februar 2022 heißt es, Menschen auf die Straßen zu holen, die tagtäglich erfahren was es heißt, diskriminiert, ausgebeutet und entmenschlicht zu werden. Für viele sitzt die Trauer und die Wut um Hanau, aber auch um unzählige andere Fälle rassistischer Gewalt, immer noch tief. Daher werden wir zur Tatzeit gemeinsam auf den Straßen sein, um kollektive Momente der Trauer, der Wut, der Hoffnung, des Widerstands und der Solidarität zu teilen!

Ajde, alerta, haydi, yallah und bijî Migrantifa!

# Titelbild: neukoellnbild / Umbruch Bildarchiv

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Çağan Varol & Berena Yogarajah

Eine Zusammenfassung der Beobachtungen aus der Verhandlung und der schriftlichen Dokumentation des Strafprozesses.

Am 10.01.2022 endete die Verhandlung gegen den ehemaligen Kölner Bezirksvertreter H. J. Bähner nach fast drei Monaten mit einem Urteil. Der 74-Jährige wurde wegen gefährlicher Körperverletzung, (rassistischer) Beleidigung und dem illegalen Besitz von Waffen zu drei Jahren und sechs Monaten Freiheitsstrafe ohne Bewährung verurteilt. Bähner legte durch seine Anwälte zwar Revision ein. Von einem Erfolg ist aber nicht auszugehen.

Rassistischer Blockwart oder christlich-konservatives Opfer?

Bähner hatte in der Nacht vom 29.12.2019 dem damals 20-jährigen Krys M., der mit Freunden unterwegs war, wegen angeblicher Ruhestörung mit einer unregistrierten Waffe aus wenigen Zentimetern Entfernung in den Oberkörper geschossen. Die Kugel ging durch Oberarm und Schulter und verfehlte nur um wenige Zentimeter den Hals. Zuvor hatte der waffenaffine Sportschütze versucht, den Überlebenden durch Provokationen und Beleidigungen wie u.a. „Dreckskanacke“ auf sein Grundstück zu locken, um eine Notwehrsituation herbeizuführen. Bähner ließ sich in seiner Einlassung von seiner Verteidigung verschieden darstellen: als Waffenprofi, verantwortungsvoller Nachbar, entschlossen konservativ und dabei christlich-karitativ, auf gar keinen Fall rassistisch, sondern vielmehr Opfer jugendlich-migrantischer Bedrohung.

Dass Bähner über ein reaktionäres und rassistisches Weltbild verfügt, wurde von der Strafkammer und der Staatsanwaltschaft bestätigt. Er erfuhr Unterstützung durch Ralf Höcker, ehemaliger Bundessprecher der Werteunion, dessen Kanzlei wiederum die AfD vertritt und über knapp eineinhalb Jahre Hans-Georg Maaßen beschäftigte. Höckers Medienkanzlei überzog Pressevertreter*innen mit Abmahnungen und versuchte im Vorfeld zu verhindern, dass Bähners Name erwähnt und über die Tat berichtet wird. Seine Strafverteidiger im Prozess, Mutlu Günal und Boris Krösing, verfolgten eine aggressive und diffamierende Strategie und reproduzierte den Rassismus immer wieder.

Anerkennung muss erkämpft werden

Zu Anfang der Ermittlungen galt der Überlebende in den Kölner Medien als „polizeibekannt“, obwohl er zuvor nicht mit dem Gesetz in Konflikt gekommen war. Krys M. wehrte sich dagegen. Nur durch die ständige Auseinandersetzung mit den Tatvorkommnissen durch eine aktivistische Gegenöffentlichkeit, sowie das vehemente Eintreten der Geschädigtenveränderte sich die Medienresonanz zum Fall. Eine Polizeibeamtin sagte aus, dass auf dem Revier lediglich „Thermik“ geherrscht habe, nachdem ein WDR-Bericht von den Hasspostings Bähners auf Facebook sprach und Rassismus als Tatmotiv ins Spiel brachte. Erst in Folge des Berichts ging man den „Vorwürfen der Ausländerfeindlichkeit“ nach, um sich – nach Aussage des leitenden Ermittlers – zu versichern, dass es keine rechtsradikalen Inhalte auf Facebook gebe. 

Institutioneller Rassismus vom Notruf bis zur Zeugenvernehmung

Der Fall und selbst das anschließende Urteil sind definitiv keine Ruhmesgeschichte für die Institutionen. Vieles bleibt ungehört, unangetastet und wurde als irrelevant eingestuft: Während des Notrufs wurden die Betroffenen gefragt, ob ein Deutscher oder ein Ausländer geschossen habe – warum? 

Die Betroffenen berichteten von Anfang an mehrfach von rassistischen Beleidigungen, die von der Polizei nicht dokumentiert wurden, weil diese Information als unwichtiges Detail erachtet wurde. Die Rassismusvorwürfe des Geschädigten wurden von den ermittelnden Polizist:innen von Beginn an als zu „unkonkret“ abgetan, so wie auch die anderen Betroffenen diesbezüglich nicht ernst genommen wurden. Krys M. sei aufgedreht gewesen, sehr gesprächig, unkonzentriert und auf Adrenalin. Ob das damit zu tun haben könnte, dass dieser gerade von einem alten Mann aus dem Nichts mit einer Waffe in die Schulter geschossen wurde? Auch im Krankenhaus konnte der Betroffene keinen Schutz erwarten. Der Überlebende Krys M. wurde noch in der Tatnacht im Krankenhaus verhört – trotz seiner Schmerzen und des Schockzustands. Der behandelnde Arzt zog sich aus der Verantwortung, da „die Polizei doch wissen müsse, wen sie vernehmen könne oder nicht“. Wieder machte der Geschädigte Aussagen darüber, dass „irgendetwas gegen Ausländer“ gesagt wurde, aber fand weiterhin kein Gehör.

Für die Bewertung der Facebook-Posts von Bähner wurde seitens der Polizei kein:e Expert:in hinzugezogen. Dabei hatte der leitende Ermittler nach eigenen Angaben keinerlei Expertise über politische Begriffe und Thematiken, benutzte diese dennoch ständig. Es wurde der Frage nachgegangen, ob auch Rechtsextremismus, Ausländerfeindlichkeit oder ähnliches als Motiv vorliegen könnte. Das Wort „Rassismus“ wurde kein einziges Mal verwendet. Die Aussagen Bähners auf Facebook beurteilte er als Laie nur als kritische und teilweise grenzwertige Aussagen, ohne die Fachabteilung hinzuzuziehen. Daran zeigt sich, wie leichtfertig mit der Tat umgegangen wurde.

Nicht zuletzt ließ das Gericht zu, dass die Zeugen und der Geschädigte durch die Verteidigung „gegrillt“ und herabgewürdigt wurden – die Betroffenen gingen mit dem Gefühl aus dem Zeugenstand sie seien die Angeklagten, was sicherlich deren Retraumatisierung förderte. Es ist nicht nur die fehlende Sensibilität für Betroffene rechter Gewalt, es ist auch die explizite Reproduktion rassistischer Bilder, die in diesem Prozess griff: Die Verteidigung fragte, ob der Tatort als „Ort marodierender Jugendlicher“ und als „Treffpunkt der Kifferszene“ bekannt sei. Auch schon während der Ermittlungen wurden der Hinweis auf eine „gewisse Szene“ ernst genommen und ein Anruf beim Ordnungsamt getätigt. Die Polizistin fragte dort nach, ob es sich um einen „Brennpunkt für Ruhestörungen“ handele. Die Antwort war negativ. Während den Jugendlichen kaum geglaubt wurde, ging man den Verleumdungen Bähners immer wieder nach. All das verdeutlicht die mangelnde Sensibilität für rassistische Gewalt und ihre Betroffenen.

Weißes Privileg und Ignoranz sind Teil von Rassismus

Dass die Erfahrung Bähners, eines weißen Mannes, anders ist als die Erfahrung der Betroffenen, zeigte sich mehrfach: Trotz des Schusses auf einen Menschen und die Kenntnis, dass der Täter bewaffnet war, wurde in der Tatnacht von der Herbeirufung eines SEK-Teams abgesehen und zunächst ein sechsminütiger Anruf getätigt, um Bähner auf seine Festnahme vorzubereiten. Dieses Telefonat wurde nicht aufgezeichnet. Die Festnahme verlief sanft. Die Begründung des leitenden Ermittlers dafür war sehr banal, aber vielsagend: Es habe sich um ein bürgerliches Haus in einem bürgerlichen Viertel gehandelt: „Wir dachten, das klären wir so“. Für die zuvorkommende Art bedankte Bähners Verteidigung sich im Prozess bei der Polizei. Die Zeugenaussagen der anderen Polizist:innen über Bähners kühles und trotziges Verhalten am Tatort und dessen Aussage „Man muss sich schon selber helfen“ als Indiz für Selbstjustizbestrebungen wurden nicht mit den späteren Erkenntnissen über sein Weltbild in Verbindung gesetzt. Der Tatverdächtige wurde nicht einmal in Untersuchungshaft genommen. Stattdessen wurde der umfassende Waffenfund und die unangemessene Aufbewahrung der Waffen und Munition verharmlost, obwohl die Mordkommission ermittelte.

In den Ermittlungsakten ist außerdem die Rede von einem „Gerangel“ zwischen Bähner und Krys M., was einen körperlichen Konflikt auf Augenhöhe suggeriert. Dabei schilderten die Betroffenen, dass Bähner sie beleidgt hatte. Der Überlebende hatte dann verbale Erwiderungen getätigt, während der Täter versuchte, mit seiner durchgeladenen Pistole auf ihn einzuschlagen. Auf Rückfrage im Gericht, insbesondere nach den Zeugenaussagen, wurde von dem zuständigen Beamten eingestanden, dass es sich dabei um eine „flapsige Interpretation“ handle. Er habe gewusst, dass nur der Täter zugeschlagen habe. Diese „Flapsigkeit“ hätte jedoch enorme Konsequenzen auf den Prozess haben und Bähners Konstruktion einer Notwehrsituation unterstützen können. Wir sehen, Bähner profitierte von weißen Privilegien und Klassenjustiz: Wohlwollen, Unschuldsvermutung bis zuletzt und das Fehlen des Generalverdachts. Ob es noch mehr Gründe für die kooperative Stimmung zwischen Behörden und Bähner gibt, bleibt unklar.

Institutioneller Rassismus ist eine Struktur, sie braucht keine bösen Absichten

Wir wissen: Polizist:innen müssen nicht selbst zu Täter:innen werden oder rassistische Einstellungen teilen, um ein Teil von institutionellem Rassismus zu sein. Der Richter William MacPherson (England) erarbeitete im Jahr 1999 nach dem Mord an einem Schwarzen Jugendlichen, Stephen Lawrence, eine Definition von institutionellem Rassismus. Nachdem dieser 1993 von einem rassistischen Mob erstochen wurde, ging die Polizei trotz der vielen Hinweise und Indizien nicht mit aller Ernsthaftigkeit gegen die Täter vor, welche in der Folge aufgrund von Mangel an Beweisen freigesprochen wurden. Erst Jahre später wurde nach Bestrebungen von Aktivist:innen und der Familie der Fall nochmals aufgerollt und zwei Täter verurteilt. Erst danach wurde MacPherson damit beauftragt, etwaiges behördliches Fehlverhalten zu untersuchen. Sein Bericht definierte den institutionellen Rassismus damals als das „kollektive Versagen einer Organisation, angemessene und professionelle Dienstleistungen für Personen aufgrund ihrer Hautfarbe, Kultur oder ethnischen Herkunft anzubieten. Dies kann in Entwicklungen gesehen oder festgestellt werden. Abwertende Einstellungen und Handlungsweisen tragen zur Diskriminierung und der Benachteiligung Angehöriger ethnischer Minderheiten bei. Dies erfolgt unwissentlich durch Vorurteile, Ignoranz, Gedankenlosigkeit und rassistische Stereotypisierungen.“ [Macpherson-Report, 1999] Hier wird deutlich, dass Motive, Intentionen oder ein spezifisch rassistisches Bewusstsein keine Voraussetzung für institutionellen Rassismus sind.

Es gilt zu dieser Definition hinzufügen, dass die Abwertung und Diskriminierung nicht nur unwissentlich, sondern auch bewusst erfolgen kann und nicht auf einer anderen Hautfarbe oder Ethnie basieren muss, sondern das Ergebnis von Konstruktion und Abwertung von Gruppen durch konkrete Handlungen ist. Die Institutionen schaffen es bis heute sich dieser hartnäckig zu verwehren.

Keine Ausländer:innen, keine Fremde – Rassismus!

Der institutionelle Rassismus materialisierte sich auch im nicht zeitgemäßen und falschen Umgang mit analytischen Begriffen. Während der Verhandlung und seitens der Polizei war stets von Ausländer- und Fremdenfeindlichkeit die Rede. Dabei wissen wir, dass es weder um Nationalitäten, noch um eine vermeintliche „Fremdheit“ geht.. Rassismus trifft eben deutsche Staatsbürger:innen. Die Banalisierung des Rassismus und die Nutzung von Deckmantelbegriffen sind keine Lappalien. Durch die polizeiliche Behandlung der Betroffenen, also auch der traumatisierten Freunde des Angeschossenen, werden alltägliche rassistische Gewalttaten unsichtbar gemacht und tauchen dementsprechend weder in der Statistik noch im öffentlichen Bewusstsein als solche auf. Davon profitiert das Mittel der Täter-Opfer-Umkehr: Es wurde von Beginn an gemutmaßt, dass die Betroffenen aggressiv gewesen sein müssten, eventuell auch kriminell. Obwohl das Vorstrafenregister leer war, bohrte die Verteidigung Bähners mit Erlaubnis des Gerichts hier immer wieder vehement nach.

Noch immer fehlt deutschen Gerichten ein Rassismusverständnis. Bei der Strafzumessung kam der § 46 Abs. 2 StGB strafschärfend zur Anwendung, wobei hier nur das Motiv der Fremdenfeindlichkeit, nicht aber der rassistischen Beweggründe gewürdigt wurde. Eine Erklärung, warum diese Auswahl erfolgte, blieb das Gericht bei der Urteilsverkündung schuldig. Es setzte jedoch die gesamte terminologischen Vorgehensweise des Gerichts fort und fügte sich in die polizeiliche Sprache ein.

Die Kategorie Ausländerfeindlichkeit steht sinnbildlich für das deutsche Rassismusproblem, welches 1945 für beendet erklärt wurde. Die Binarität „Ausländer“ vs. „Deutsche“ ist dabei Ausdruck einer aus dem Kaiserreich stammenden rassialisierten Hierarchie, die noch auf dem alten Blutsprinzip basiert, das jedoch in der Einbürgerungspraxis bis in die 2000er zur Anwendung kam. Die Historikerin Maria Alexopoulou weist darauf hin, dass die Kategorie der sogenannten Ausländerfeindlichkeit noch von behördlicher Seite genutzt wird, obwohl die „biologistische, Herkunft wertende und hierarchisierende und damit an Rassekonzepte anschließende Bedeutungsdimension“ allseits bekannt sei. Es gebe ein geteiltes gesellschaftliches Wissen darüber, dass weiße Personen mit Hintergrund aus europäischern Ländern wie Schweden, Frankreich oder den Niederlanden, nicht in die „Ausländer-Kategorie“ kämen In den 1990er kam dann, mit den erneuten Pogromen, vermehrt der Begriff der Fremdenfeindlichkeit auf. Das Sprechen über Rassismus in Deutschland ist hingegen das Ergebnis der Kämpfe der Migrantisierten, die zuletzt in den 2000ern auch an den Universitäten und in der Zivilgesellschaft geführt wurden. Institutioneller Rassismus hängt eng mit Prozessen der Migration und ihrer begrifflichen Klassifizierung zusammen.

Der Kampf geht weiter!

Die Ignoranz gegenüber den Hinweisen auf Rassismus, die Laieneinschätzung zum Facebook-Profil, der Umgang mit den Betroffenen im Zeugenstand im Vergleich zu dem mit Bähner und den gewissenhaften Ermittlungen zu seiner Tatversion zeigen deutlich, wie tief verankert rassistische Mechanismen in den deutschen Institutionen sind. Solange Klassenjustiz und Ungleichheitsideologie im Polizei- und Sicherheitsapparat greifen, ist es an uns, Gerechtigkeit zu erkämpfen. Der Fall Bähner zeigt deutlich, wo es für die migrantische Gesellschaft wichtig ist, Druck auszuüben: Wir müssen weiterhin den rassistischen Normalzustand aufdecken und hinterfragen. Rassismus erkennen, ernst nehmen, als solchen benennen und entschlossen bekämpfen. Wir brauchen ein Ende der Täter-Opfer-Umkehr. Der Staat und seine Apparate müssen den Betroffenen und ihrer Erfahrung der rassistischen Kontinuität Gehör und Glauben schenken.

#Foto: Initiative Tatort Porz

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„Sein Gewissen war rein. Er benutzte es nie.“ Angesichts dieses mir schon lange vertrauten Zitats des polnischen Aphoristikers Stanislaw Jerzy Lec muss ich immer zuerst an den Mann denken, der vor ein paar Tagen zum Bundeskanzler dieses Landes gewählt worden ist. Olaf Scholz erscheint mir wie ein Prototyp dieses von Lec beschriebenen Menschenschlags. Was bürgerliche Medien bei dem Sozialdemokraten als „Pragmatismus“ bejubeln, lässt sich wohl eher als kalte Arroganz der Macht beschreiben. In Scholz‘ politischer Karriere gibt es genug Ereignisse, die diese Einschätzung bestätigen – aber wohl keines so deutlich wie der Fall Achidi John.

Es ist ein irgendwie seltsam anmutender – aber auch bezeichnender – Zufall, dass der frühere Hamburger Bürgermeister ausgerechnet am 9. Dezember 2021 zum Bundeskanzler gewählt worden ist. Das war auf den Tag genau 20 Jahre nach den Vorgängen im Institut für Rechtsmedizin des Hamburger Universitätsklinikums (UKE), die den Nigerianer Michael Paul Nwabuisi, der sich Achidi John nannte, das Leben kosteten. Mit großer Brutalität wurde dem als Kleindealer verdächtigten und erst 19 Jahre alten Mann am 9. Dezember 2001 dort zwangsweise ein Brechmittel verabreicht, um verschluckte Drogenkügelchen zu Tage zu fördern. John erlitt einen Herzstillstand, fiel ins Koma. Drei Tage später wurde er auf einer Station des UKE für tot erklärt.

Der 20. Todestag von Achidi John wurde in den bürgerlichen Medien, von Ausnahmen abgesehen, in den vergangenen Tagen geflissentlich beschwiegen. In der überbordenden Berichterstattung über die Kanzlerwahl und die neue Bundesregierung, fanden die Verstrickungen von Scholz in die Affären um die Cum-Ex-Deals und Wirecard oder seine Rolle beim G-20-Gipfel im Sommer 2017 in Hamburg gelegentlich Erwähnung. Aber mit dem Thema Brechmittel und seinem Anteil an der Sache wollte man dem neuen mächtigsten Mann im Staat offenbar nicht kommen. Dabei sagen die Vorgänge vermutlich mehr über ihn aus, als vieles andere.

Denn Achidi John kann ohne Übertreibung als direktes Opfer des machiavellistischen Politikansatzes des Olaf Scholz bezeichnet werden. Dazu muss man wissen, dass Scholz im Mai 2001 zum Innensenator Hamburgs ernannt worden war. Damals stand eine Bürgerschaftwahl im September bevor und der SPD und den Grünen drohte der Machtverlust. Die bürgerlichen Medien der Stadt arbeiteten fleißig daran, allen voran die Springerblätter Hamburger Abendblatt (inzwischen Funke-Gruppe), Bild und Welt. Die Kleindealer auf St. Pauli, in St. Georg und im Schanzenviertel, fast durchweg Afrikaner, wurden zum Hauptproblem der Stadt hochstilisiert. Zugleich baute die Presse den durch überharte Urteile aufgefallene Amtsrichter Ronald Schill, den man „Richter Gnadenlos“ getauft hatte, zum Heilsbringer auf.

Scholz versuchte der Schill-Partei, die mit dem Richter als Zugpferd gegründet worden war und rückblickend als Vorläufer der AfD bezeichnet werden kann, das Wasser abzugraben. Und zwar indem er einen harten Law-and-Order-Kurs fuhr. Dazu gehörte auch, dass er die zwangsweise Verabreichung von Brechmitteln gegen als Drogendealer verdächtigte Menschen erlaubte, obwohl es auch damals schon medizinische Bedenken gegen den Einsatz des Brechsirups Ipecacuanha gab. Mit diesem gewissenlosen Profilierungsversuch gab Scholz letzlich nur der rassistischen und protofaschistischen Schill-Partei recht, die folglich bei der Bürgerschaftswahl im September 2001 sensationelle 19,4 Prozent einfuhr und der CDU unter Ole von Beust an die Macht verhalf. Als Achidi John starb, war Schill bereits Innensenator.

Noch heute läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken, wenn ich Schilderungen der Foltertortur lese, die der junge Mann im Institut für Rechtsmedizin am 9. Dezember 2001 erleiden musste. Der Nigerianer wehrte sich verzweifelt gegen die Verabreichung des Sirups. Aber das half ihm nicht. Zuletzt fixierten ihn fünf Polizeibeamte. Mit auf dem Rücken gefesselten Händen hielten sie ihn auf dem Boden fest. Erst nach mehreren Versuchen gelang es der Rechtsmedizinerin Ute L., John eine Magensonde durch die Nase einzuführen und ihm 30 Milliliter des Brechsirups Ipecacuanha sowie Wasser einzuflößen. Später gab es Vorwürfe, L. und die Beamten hätten den Nigerianer anschließend liegen lassen ohne sich um ihn zu kümmern und die Reanimation zu spät eingeleitet. Dieser Verdacht ließ sich aber offenbar nicht wirklich erhärten. 

Weder Ute L. noch einer der beteiligten Beamten wurden jemals angeklagt. Die Staatsanwaltschaft stellte ein Vorermittlungsverfahren gegen die an dem Einsatz Beteiligten im Juni 2002 ein. Ein Klageerzwingungsverfahren des Vaters von Achidi John wurde vom Hanseatischen Oberlandesgericht im Juli 2003 wegen angeblicher Formfehler abgelehnt. Natürlich gab es weder von Olaf Scholz, noch von Klaus Püschel, dem kürzlich pensionierten Leiter des IfR, auch nur das geringste Wort des Bedauerns oder gar eine Entschuldigung. Unter Püschels Leitung wurden auch nach dem Tod von John die Brechmitteleinsätze noch bis ins Jahr 2006 fortgeführt. 

Erst danach wurde die zwangsweise Verabreichung in Hamburg eingestellt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte im Juli 2006 geurteilt, dass die erzwungene Vergabe von Brechmitteln gegen das Folterverbot des Artikels 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention verstößt. Nach Angaben der Hamburger „Initiative zum Gedenken an Achidi John“ wurden zwischen 2001 und 2006 insgesamt 530 Menschen – fast ausschließlich schwarze junge Männer – von der Polizei dem Institut zugeführt und mit einer Zwangseinflößung des Brechmittels bedroht, respektive malträtiert. Was wenig bekannt ist: Die „freiwillige“ Einnahme von Brechmitteln wurde noch bis 2020 fortgesetzt. Wobei von Freiwilligkeit nicht wirklich gesprochen werden kann, wenn einer Straftat Verdächtigte unter Druck gesetzt und Vorteile bei „Kooperation“ versprochen werden.

Die „Initiative zum Gedenken an Achidi John“ hat aus Anlass seines 20. Todestages dem Vorstand des Universitätsklinikums Eppendorf geschrieben und ihn unter anderem gefragt, „wie er heute zu der damaligen menschenrechtswidrigen Praxis am IfR steht, und ob zumindest eine medizin-ethische Aufarbeitung am UKE stattgefunden habe“. Die Antwort des UKE in einem Schreiben vom 12. August sei keine, erklärte die Initative in einer Mitteilung. Das UKE habe lediglich auf Bürgerschaftsdrucksachen verwiesen. „In den Räumen des Instituts für Rechtsmedizin ist gefoltert worden“, wird der Sprecher der Initiative, Daniel Manwire, zitiert. Püschel und seine Mitarbeiter hätten sich den Einsätzen verweigern können und müssen.


Ebenso wie die Linksfraktion in der hamburgischen Bürgerschaft fordert die Initiative eine Entschuldigung der Verantwortlichen und die Einrichtung eines „würdigen Gedenkortes“ für Achidi John und die anderen von der Brechmittelfolter Betroffenen auf dem Gelände des UKE. Daraus dürfte aber nichts werden. Ein entsprechender Antrag der Linken in der Bürgerschaft wurde abgebügelt. Von Vertreter*innen der SPD und der Grünen gab es Worte des Bedauerns, entschuldigen wollten sie sich nicht.

Olaf Scholz wird vermutlich weiterhin gut schlafen können, da er sich wohl – wie immer – nichts vorzuwerfen hat. Das Hermetische seiner Auffassungen macht Angst, mir jedenfalls. Ein langjähriger Abgeordneter der Linken in der Bürgerschaft erzählte mir einmal eine Begebenheit, die viel über den Sozialdemokraten aussagt. Er habe versucht, Scholz seinen Standpunkt zu erläutern, darauf habe dieser zu ihm gesagt: „Das weiß ich doch alles schon. Da sagen Sie mir nichts Neues.“ Diese felsenfeste Überzeugung, alles besser zu wissen, kann gefährlich sein – vor allem wenn jemand an den Hebeln der Macht sitzt. 

#Foto: Wikimedia Commons

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Anetta Kahane ist bei den Sicherheitskräften des Landes ein gern gesehener Gast. So referierte sie Mitte November bei der Herbsttagung des Bundeskriminalamtes (BKA), einer Veranstaltung, bei der die Bundesbehörde regelmäßig den Diskurs simuliert, aber tatsächlich vor allem ihre Forderung nach mehr Geld und Befugnissen argumentativ absichert. In einem moderierten Gespräch äußerte sich Kahane per Videoschalte zur Zusammenarbeit von Polizei und „Zivilgesellschaft“ – und zwar an der Seite von Thilo Cablitz, dem Pressesprecher der Polizei Berlin. Das zeigt vor allem eines: Die Gründerin und Vorstandsvorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung (AAS) hat keine Berührungsängste, jedenfalls wenn es um die Behörden geht, die in der BRD für Repression und Machtabsicherung zuständig sind.

Nicht nur für diesen Kuschelkurs zieht die in Heidelberg sitzende Stiftung schon seit längerer Zeit Kritik von radikalen Linken auf sich und das durchaus zu Recht. Wie der aktuelle Zoff um einen Tweet von Dan Kedem, einem der Landessprecher der Linksjugend Solid Berlin, erneut gezeigt hat, sind Kahane und ihre Stiftung Teil eines sich linksliberal gebenden Milieus, das tatsächlich staatstragend und systemerhaltend agiert, sich von den Herrschenden für ihre Zwecke einspannen lässt und daher im Ergebnis mehr Schaden anrichtet, als zu helfen.

Die Nähe der AAS zu den Sicherheitsorganen ist kein Zufall, sondern Ausdruck einer politischen Positionierung. Es ist bezeichnend, dass Kahane und ihre Stiftung nicht nur mit der Polizei gut können, sondern auch mit dem Verfassungsschutz keine grundsätzlichen Probleme haben. Mit Stephan J. Kramer sitzt der Chef des thüringischen Landesamtes für Verfassungsschutz im Stiftungsrat. Der als Erwachsener zum Judentum konvertierte Kramer war lange Generalsekretär des Zentralrats der Juden, bevor Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linkspartei) ihn Ende 2015 an die Spitze seines Verfassungsschutzamtes holte mit dem Ziel, dieses zu „demokratisieren“. Im Stiftungsrat der AAS saß der Jurist schon bevor er den Behördenposten übernahm.
Das hielt diverse antirassistische Initiativen, darunter die Kölner Initiative „Keupstraße ist überall“, die Opfer des NSU-Terrors unterstützt, im Juli 2016 nicht davon ab, in einer Erklärung Kritik zu üben. Moniert wurde dabei nicht nur das Verbleiben Kramers im Stiftungsrat der AAS, sondern auch ein Auftritt Kahanes bei einem Symposium ostdeutscher Verfassungsschutzämter. Eine Zusammenarbeit mit Geheimdiensten sei „für uns nicht vereinbar mit der Arbeit gegen Rassismus und Antisemitismus“, konstatierten die Initiativen. Kahane erklärte damals gegenüber der Zeitung Neues Deutschland, an Kramer festhalten zu wollen. Die AAS werde weiterhin mit Vertreter:innen des Verfassungsschutzes sprechen und versuchen, Reformen durchzusetzen.

Kahanes Äußerungen sind ebenso wie das Vorhaben von Kramer und Bartsch, den Verfassungsschutz „reformieren“ zu wollen, Ausdruck einer Haltung, die mit naiv noch schmeichelhaft umschrieben ist. Da versucht offenbar der Schwanz mit dem Hund zu wedeln. Diese Haltung ist typisch für das erwähnte sich meist linksliberal gerierende Milieu, das seinen Frieden mit dem System gemacht hat. Weil es von einer tiefer gehenden Analyse der Verhältnisse absieht, unterschätzt es die Macht der Apparate, deren Eigendynamik und schlechten Absichten, glaubt an die „wehrhafte Demokratie“, wie sie der Koalitionsvertrag zwischen SPD, Grünen und FDP gerade postuliert hat.

Die Amadeu Antonio Stiftung ist sozusagen qua Amt zu diesem Glauben und dem Verzicht auf fundierte Kritik verpflichtet. Wer jedes Jahr Millionen vom Staat bekommt, um die „demokratische Zivilgesellschaft zu stärken, die sich konsequent gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus wendet“ (Selbstdarstellung), der wird es sich mit diesem Staat nicht verderben wollen. Dass Kahane und die AAS bei den Repressionsbehörden hoch willkommen sind, hat aber noch einen anderen Grund. Leistet die Stiftung doch für die Legitimation der Apparate und dieses Staates unschätzbare Dienste, die weit über den Verzicht auf Fundamentalkritik hinausgeht. Es ist eine Art Ablasshandel oder wie man heute eher sagen würde: ein Win-Win-Geschäft.

Mit den Millionen an Steuergeldern, die an die Stiftung zur Förderung von Projekten überwiesen werden, kauft sich der Staat frei von der Verpflichtung, rechts genauer hinzusehen. Das wird kurzerhand an die AAS und ähnliche Träger delegiert. Zugleich stellen Kahane und ihr Laden den Herrschenden nach der Devise „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing“ einen Persilschein aus. Und die Amadeu Antonio Stiftung hat ihren Geldgeber:innen noch mehr anzubieten. Sie hetzt gegen alle, die Rassismus und Rechtsextremismus nicht als bedauerlichen Auswuchs einer ansonsten ganz wunderbaren Ordnung, sondern sie als systemisch, als logische Folge der kapitalistischen Verhältnisse begreifen. Dazu nutzt die Stiftung extensiv den Antisemitismus-Vorwurf, was immer wieder zu Zoff mit radikalen Linken führt.

Kritik an Israel und jegliche Unterstützung für die Palästinenser:innen wird von der AAS in einer besonders penetranten Weise mit Antisemitismus gleichgesetzt. Für die Stellungnahmen von Kahane sind solche Sätze typisch: „Antisemitische Zuschreibungen gegen Israel als jüdischen Staat sind die moderne Form des Antisemitismus, die Rechtsextreme über muslimische Milieus bis hin zur Linken eint. Unter dem Mantel der Israelkritik und des Kapitalismus-Bashings werden Juden zum Opfer von Hass und Gewalt.“

Wer es wagt, diese absurde Darstellung zu kritisieren, findet sich schnell im Mittelpunkt eines Shitstorms wieder. So wurde Dan Kedem von der Linksjugend Solid Berlin, selbst Jude, Mitte November Opfer einer regelrechten Hetzkampagne. Er hatte einen Post retweetet, in der die AAS erklärte, wer sich mit der Forderung nach Freiheit der Palästinenser:innen „from the river to the sea“ gemein mache, fordere die Zerstörung Israels. Als Kommentar schrieb Kedem dazu:

„Amadeu Antonio Stiftung liquidieren!“

Auch wenn das Verb im Zusammenhang mit einer Stiftung deren Auflösung meint, war diese Wortwahl mindestens ungeschickt. Kedem zog den Tweet dann auch schnell zurück und twitterte: „Zur Klarstellung – dieser Tweet war ein Shitpost. Die AAS halte ich für eine problematische Stiftung, die Arbeit leistet, die mich und viele andere linke Juden extrem beeinträchtigt. Wie man das anders lesen kann als „ich finde die AAS doof” ist mir wirklich unerklärlich.“

Diese Entschuldigung bewahrte ihn aber nicht vor der alsbald losgetretenen Kampagne, an der sich auch die Führung des Landesverbandes seiner Partei beteiligte. Die nutzte die Gelegenheit mit Kritik an Kedem und den neuen Sprecher:innenrat von Solid Berlin anzuschließen. Der hatte nämlich zuletzt die „Reformer“ der Berliner Linkspartei und ihre Orientierung auf eine Koalition mit SPD und Grünen massiv von links kritisiert.

Auf der Website klassegegenklasse.org wurde zur Solidarität mit Kedem aufgerufen. Jüdische und migrantische Stimmen würden insbesondere dann diskreditiert, „wenn sie nicht mit der staatstragenden Ideologie einhergehen“, hieß es dort. Stiftungen wie die Amadeu Antonio Stiftung und auch Die Linke stellten sich „hier immer wieder auf die Seite der Kriminalisierung von Widerstand gegen Besatzung und Unterdrückung“. Auch bei Twitter gab es neben Kritik auch Zuspruch für den Berliner Solid-Landessprecher. Die Bewegung „Palästina spricht“ twitterte: „Sie will Aufklärungsarbeit leisten, sich gegen Rassismus einsetzen & eine demokratische Zivilgesellschaft stärken. Doch statt diese Ziele durchzusetzen, bleibt die Amadeu Antonio Stiftung selber lieber unaufgeklärt, verbreitet antipalästinensischen Rassismus & zionistische Propaganda.“ Ein User warf der AAS bei Twitter vor, Menschen, die Kapitalismuskritik üben, als antisemitisch zu framen.

Dass Kahane tatsächlich kein perfides und reaktionäres Argument zu viel ist, wenn es darum geht, linke Kapitalismuskritiker:innen zu diffamieren, hatte sie im Sommer 2017 bewiesen. Im Juli des Jahres, kurz nach dem G-20-Gipfel in Hamburg, fiel sie der Protestbewegung im stiftungseigenen Portal Belltower News in den Rücken. „Linksextremismus ist keine Kinderkrankheit, sondern eine autoritäre, antidemokratische Ideologie“, schrieb sie damals. Dreist reduzierte die Autorin die Kapitalismuskritik auf „Feindseligkeit gegenüber Eliten“, die kein rechts und links kenne, und schlug mühelos die Brücke von dort zum Antisemitismus-Vorwurf: Der sei „das Grundgeräusch des Eliten-Bashings“. Wortreich verteidigte Kahane den Kapitalismus und die Globalisierung.

Fassungslos machen die kritische:n Leser:in folgende Sätze aus dem Beitrag: „Linke kritisieren den Kapitalismus in globalisierter Form grundsätzlich und sehen hier nur Elend und Zerstörung. Ihre Antwort für die Menschen in den Entwicklungsländern: „Lieber arm als ausgebeutet“ oder „lieber authentisch als industrialisiert“ ist ignorant, zynisch und in ihrem Wesen auch rassistisch.“ Diese Linken wollten „den Menschen in der nicht-weißen Welt die Art von Fortschritt vorenthalten, den sie selbstverständlich für sich selbst in Anspruch nehmen“.

Bleibt nur hinzuzufügen: Von Kahane und ihrer Stiftung geht vielleicht mehr Gefahr aus als von denen, die sie angeblich bekämpft, den Rassist:innen und Nazis. Denn sie verwirren die Maßstäbe und entziehen letzten Endes einem entschlossenen Kampf gegen Rechts jede Grundlage. Man kann also davon ausgehen, dass die Amadeu Antonio Stiftung auch unter der „Ampel“-Koalition weiter mit Steuergeldern gemästet wird.

# Titelbild: Kuscheln mit Bullen – Anetta Kahane zusammen mit dem Berliner Polizeisprecher Thilo Cablitz auf der Herbsttagung des Bundeskriminalamtes (BKA), Foto: BKA

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Die Europäische Union wird, das will sie uns glauben machen, wieder einmal erpresst. Im polnisch-belarusischen Grenzgebiet harren etwa 3500 Menschen ohne humanitäre Versorgung aus. Beim Versuch, die Grenze zu überwinden, werden sie von den inzwischen 20.000 Mann starken Grenztruppen bei Minusgraden mit Wasserwerfern beschossen. Die selben Grenzer blockieren medizinische Hilfe, Nichtregierungsorganisationen berichten von geheimen Hilfsaktionen im Grenzgebiet, wo sie auf frierende, hungernde und dehydrierte Menschen treffen und sie in aller Eile versorgen. In der Zwischenzeit verlassen die Ersten das Gebiet freiweillig Richtung Irak.

Es ist alles so wie vor knapp zwei Jahren. Ende Februar 2020 öffnete der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan unter großen Ankündigungen die Grenzen für Geflüchtete aus Syrien und Afghanistan. Tausende machten sich auf den Weg Richtung Griechenland, teilweise wurden sie mit Reisebussen aus dem Landesinneren an die Grenzen gebracht, wohl unter dem Versprechen, endlich in die EU einreisen zu können. Es folgten Tränengas, Schlagstöcke, Gummigeschosse. Und es folgten Krisengespräche. Die Grenzen auf türkischer Seite gingen einen Monat später wieder zu und fast eine halbe Milliarde Euro flossen nach Ankara. So einfach war das.

Was will Lukaschenko? Wie Erdoğan hat er natürlich ökonomische Interessen. Die im Juni diesen Jahres beschlossenen Sanktionen gegen Belarus sollen beendet werden. Während man bei Erdoğan mit viel Verständnis reagierte und seinen Zug als „Hilferuf“ betrachtete, wird jetzt bei Lukaschenko zu den Waffen gerufen.

Das Argument der wirtschaftlichen Last für die Türkei, mit dem diese unterschiedliche Behandlung gerechtfertigt wird, ist in Anbetracht des sogenannten Flüchtlingspaktes hinfällig. Die EU hat bisher fast sieben Milliarden Euro an die Türkei gezahlt. Die türkische Regierung gibt an, die Versorgung der knapp vier Millionen Geflüchteten hätte sie 40 Milliarden Dollar gekostet, eine Behauptung, die sich nicht überprüfen lässt und für jeden, der über die Thematik halbwegs im Bilde ist, absurd anmutet.

In dem Land gibt es keine Sozialhilfe- oder Pflegeversicherung – nicht einmal für Staatsbürger. 2018 lebten vier Prozent der Geflüchteten in Lagern, inzwischen sind es sogar nur noch 1,7%. Anspruch auf staatliche Unterbringung oder Zugang zu Sozialwohnungen haben sie nicht. Die Milliarden, die die EU für die Versorgung der Geflüchteten zahlt, werden derweil anderweitig eingesetzt. Das Asylum Information Database (AIDA) berichtet in einem Report von 2018, dass EU-Gelder, die für Geflüchtetenunterkünfte gezahlt wurden, stattdessen für den Bau hochmoderner Abschiebezentren ausgegeben wurden. Ein von der Organisation Pro Asyl in Auftrag gegebenes asylrechtliches Gutachten kommt zu dem Ergebnis: Schutzsuchende haben in der Türkei keine Versorgung und keine Perspektive, es handelt sich um keinen sicheren Drittstaat.

Nun lässt sich die EU nicht etwa von Erdoğan veralbern, natürlich handelt man in Brüssel im vollen Bewusstsein über all diese Tatsachen. Dass man dem NATO-Partner durchgehen lässt, was Belarus gegenüber zu Kriegsandrohungen führt, darf nicht überraschen. Die Leidtragenden dieser offen zur Schau gestellten Doppelmoral sind auf beiden Seiten die Geflüchteten: in der Türkei leben sie unter prekären Bedingungen, haben so gut wie keinen Zugang zur Gesellschaft und werden zunehmend angefeindet. In Belarus harren sie an der Grenze aus, werden krank, erfrieren, verdursten.

Lukaschenko und Erdoğan handeln perfide und menschenverachtend, wenn sie unter Ausnutzung der rassistischen europäischen Abschottungspolitik wissentlich Menschenleben gefährden. Die EU handelt perfide und menschenverachtend, wenn sie sich im Wissen der lebensgefährlichen Lage der Geflüchteten weiterhin abschottet. Es ist falsch, irgendeiner Seite die moralische Oberhand zuzusprechen. Denn sie alle nehmen für ihre geopolitischen Interessen eines billigend in Kauf – das Elend unschuldiger Männer, Frauen und Kinder.

# Titelbild: Alexander Lukaschenko und Recep Tayyip Erdogan, Quelle: BelTA, https://deu.belta.by/politics/view/erdogan-gratuliert-lukaschenko-zum-wahlsieg-51897-2020/

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Die Abschottungspolitik der Europäischen Union führt immer wieder zu Eskalationen an den Außengrenzen der Staatengemeinschaft. Zuletzt hat sich die Lage an der polnisch-belarussischen Grenze zugespitzt, weil eine wachsende Zahl Geflüchteter versucht, über diese Route in die EU zu gelangen. Als Antwort entsandte die polnische Regierung tausende Soldaten an die Grenze und richtete eine Sperrzone ein, in die weder internationale Beobachter noch Ärzte und Journalisten gelassen werden. Helfer dringen dennoch unter Inkaufnahme persönlicher Risiken zu den Geflüchteten vor. Sie berichten von unhaltbaren Zuständen. Die Aktion Mauerfall jetzt! – bestehend aus der Seebrücke DeutschlandLeaveNoOneBehind und dem Verein Wir packen’s an aus dem brandenburgischen Bad Freienwalde – brachte vor kurzem mit einem Bus Sachspenden an die Grenze. Unter den Aktivisten war auch Tareq Alaows, aktiv bei Seebrücke und dem Flüchtlingsrat Berlin. Im Interview mit dem Lower Class Magazine berichtet er von der Aktion und der Lage an der Grenze. 

Ihr wolltet den Geflüchteten an der polnisch-belarussischen Grenze Hilfsgüter bringen. Wie ist es gelaufen?

Leider sind wir nicht bis zur Grenze durchgekommen. Direkt an der Sperrzone wurde der Bus gestoppt. Plötzlich war überall Polizei, uns wurde erklärt, dass wir umkehren müssten. Die Situation war so eskalierend, dass wir das wir das Gefühl hatten, man würde uns in Gewahrsam nehmen, wenn wir noch geblieben wären. Schweren Herzens haben wir uns zur Umkehr entschlossen, da eine Konfrontation hier keinen Sinn gemacht hätte. Die Hilfsgüter, die wir dabei hatten, haben wir an humanitäre Organisationen übergeben, die eine Möglichkeit haben, sie Geflüchteten zukommen zu lassen. 

Erklärtes Ziel eurer Aktion war neben dem Transport von Sachspenden, geflüchtete Menschen auf der Rückfahrt mit nach Deutschland zu nehmen. 

Ja. Wir hatten beim Bundesinnenministerium um eine Erlaubnis gefragt, dass wir Geflüchtete im Bus mit nach Deutschland zurücknehmen können. Es lagen bereits Zusagen von drei deutschen Kommunen vor, die Menschen aufzunehmen. Aber wie nicht anders zu erwarten war, hat das BMI (Bundesministerium des Inneren, Anm.) auf unser Hilfsangebot nicht reagiert. 

Habt Ihr denn bei eurer Aktion Geflüchtete treffen können?

Vor Ort ging das leider nicht. Aber ich bin über die sozialen Medien im Kontakt mit vielen geflüchteten Menschen in der Grenzregion. Weil ich eine relativ große Reichweite in den entsprechenden Communities habe und selbst arabisch spreche, schreiben sie mich dort an. Ich komme ja aus Syrien und bin vor sechs Jahren selbst geflüchtet und dann nach Deutschland gekommen, habe hier deutsch gelernt. 

War hörst du über die Lage vor Ort? Es heißt die Versorung sei miserabel, die Menschen der Kälte und Witterung seit Tagen und Wochen fast schutzlos ausgeliefert. Ein Video des belarussischen Fernsehens zeigte Menschen, die um Lagerfeuer kauern. 

Von der belarussischen Seite gibt es überhaupt keine Versorgung. Die Menschen haben faktisch nur die Sachen, die sie mit sich tragen. Wer also eine Decke mitgebracht hat, der hat eine. Wer keine dabei hatte, hat eben keine. Sie versuchen, sich an Lagerfeuern ein wenig zu wärmen. Auch zu Essen und zu Trinken haben die Menschen zu wenig. Viele sind schon länger dort. Sie kommen weder über die von Grenzpolizisten und Soldaten gesicherte polnische Grenze, noch kommen sie zurück nach Belarus. Die Grenzer auf belarussischer Seite lassen sie nicht durch, um zum Beispiel etwas zum Essen oder zu Trinken zu beschaffen. 

Das heißt, die Menschen sind im Grunde eingesperrt in den Wäldern.

Sie stecken fest im Niemandsland zwischen den beiden Staaten, kommen nicht vor und nicht zurück. 

Bis vor kurzem war von zehn bestätigten Todesfällen die Rede, Menschen, die erfroren oder an Dehydrierung gestorben sind. Jetzt kam noch ein Fall hinzu.

Ja, es ist schrecklich. Ein 14 Jahre alter Junge wurde heute morgen tot aufgefunden, offensichtlich ist er erforen. Viele Berichte, die ich von Geflüchteten aus der Region empfange, sprechen von viel mehr Toten als den jetzt elf bestätigten. Die Dunkelziffer ist hoch. Viele Geflüchtete, die durchgekommen sind und hier in Deutschland ankommen, berichten, dass sie in den Wäldern Leichen gesehen haben. 

Wie viele Geflüchtete halten sich denn nach deinen Kenntnissen in der Grenzregion auf?

Laut den Zahlen, die ich bekomme, sind es 4000 bis 5000 Personen. Aber es könnten auch noch mehr sein. 

Es heißt, die polnischen Grenzpolizisten und Soldaten würden äußerst brutal gegen die Menschen vorgehen. Die Männer, die es geschafft hätten und hier ankommen, hätten fast alle Hämatome oder andere Verletzungen. Entspricht das deinen Erkenntnissen?

Das kann ich bestätigen, auch auf Grundlage der Berichte meiner Kollegen aus der Flüchtlingsberatung in Berlin. Es liegen viele Berichte von Gewaltspuren an den Körpern der Menschen vor, meist erwachsene Männer. Es wird von hunderten rechtswidrigen Pushbacks berichtet, die mit Gewalt verbunden sind. Von denen, die hier sind, sind die wenigsten gleich beim ersten Mal durchgekommen. Als wir vor Ort waren, bekam ein Aktivist einen Anruf von einer achtköpfigen Familie mit schwerkranker Tochter. Die hatte drei oder vier Mal versucht, über die Grenze zu kommen. Es wurde berichtet von Gewaltspuren bei diesen Menschen, das Kind wurde nicht medizinisch versorgt. Wir wissen nicht, wie es ihnen jetzt geht und wo sie sind. 

Hierzulande hat die Entwicklung eine üble Kampagne in den Leitmedien und viel Hetze in den sozialen Medien ausgelöst. Bild, Welt, die FAZ und viele andere Medien haben kritiklos das Narrativ übernommen, es handele sich um einen „hybriden Krieg“ des belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko, die Geflüchteten würden „als Waffen benutzt“. Was sagst du dazu?

Diese Berichterstattung und die Debatte führen zu einer Enthumanisierung. Wir haben es mit Menschen zu tun, die in Not sind. Sie kommen zu einem großen Teil aus Syrien, Irak und Afghanistan. Das sind Länder die instabil sind, in denen es Kriege gibt oder gab. Die Not dieser Menschen wird von Lukaschenko missbraucht, keine Frage. Aber die politische Antwort der EU kann nicht sein, dass neue Zäune und Mauern errichtet werden, sondern die müssen abgebaut werden. Ich begreife nicht, woher diese Angst vor den geflüchteten Menschen kommt. Wir machen uns doch erpressbar, wenn wir mit Panik reagieren. Die Gesamtzahl der Menschen an der Grenze liegt, wie gesagt, bei etwa 5000 Personen. Wenn die alle aufgenommen und in ganz Europa verteilt werden, dann machen sie einen Anteil von 0,01 Prozent der europäischen Bevölkerung aus. 

Rechte Politiker und Medien wie die Bild-Zeitung arbeiten mit dem Framing, 2015 dürfe sich nicht wiederholen.

Den Satz kann ich aus meiner persönlichen Erfahrung heraus nur bekräftigen – allerdings ganz anders, als etwa die CDU oder die AfD es meinen. Ich gehöre zu den Menschen, die damals nach Deutschland gekommen sind und weiß, wovon ich rede. 2015 bedeutet soviel Leid, bedeutet brutale Reaktionen gegen geflüchtete Menschen, 2015 steht für viele, die ertrunken sind. Und das ist es, was sich auf keinen Fall wiederholen darf. Darum müssen wir sichere Fluchtwege schaffen, dass Menschen Asyl außerhalb von Europa beantragen können und sich nicht auf solche lebensgefährlichen Routen begeben müssen. 

Die EU scheint das Elend der Menschen an der Grenze nicht zu interessieren. Offenbar geht es nur darum, die Abschottung um jeden Preis aufrecht zu erhalten. Ist es nicht absurd, wenn EU-Kommisionspräsidentin Ursula von der Leyen, Lukaschenko Zynismus vorwirft?

Natürlich. Die EU macht ja selbst zynische Deals mit Diktatoren, nur um Geflüchtete von Europa fernzuhalten. Zum Beispiel der sogenannte Flüchtlingsdeal mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Oder der Deal mit der so genannten libyschen Küstenwache, das sind paramilitärische Gruppen, die von der EU finanziert werden, um Geflüchtete aufzuhalten. Das Muster ist immer dasselbe, man will null Asylbewerber in Europa. Aber das funktioniert einfach nicht, weil die Menschen aus Ländern kommen, in denen sie keinerlei Perspektive haben. Selbst wenn die Hoffnung für sie, ein sicheres Leben in Europa zu führen, noch so gering ist, ist das noch eine Hoffnung – in ihrer Heimat haben sie gar keine Hoffnung mehr. 

#Titelbild: Srishti Pandya on unsplash

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Kann sich noch jemand an den Türknauf des Todes erinnern? Am 29. Juni 2017 wurde der Kiez- und Nachbarschaftsladen Friedel54 geräumt. Die Polizei behauptete während der Räumung auf twitter, die Besetzer*innen des Ladens hätten einen Türknauf unter Strom gesetzt: „Lebensgefahr für unsere Kolleg. Dieser Handknauf in der #Friedel54 wurde unter !Strom! gesetzt. Zum Glück haben wir das vorher geprüft.“ Dass das natürlich frei erfundener Quatsch war, war egal. Ist die Sache erst Mal in der Welt, gerade von einer privilegierten Quelle, wie der Polizei, wurde das Gerücht in die Welt gesetzt und verbreitete sich wie ein Lauffeuer.

Die Liste an absurden Falschbehauptungen der Polizei ist lang, gerade wenn es um vermeintliche „linke Gewalttäter“ geht. In Säure getunktes Konfetti, Clowns, die Säure mit Wasserpistolen versprühen, Molotov-Cocktail-Würfe im Schanzenviertel während der G20-Proteste usw. usf. Dennoch gilt die Polizei, wie gesagt, als privilegierte Quelle, das heißt, Quellen, von denen Journalist*innen annehmen können sollen, dass ihre Angaben der Wahrheit entsprechen. Polizeibehörden, Staatsanwaltschaft und auch Nachrichtenagenturen gehören dazu.

Die Wirkmacht dieser Priviligierung zeigt sich aber auch über das Verbreiten von Falschmeldungen hinaus. Vergangenen Sonntag gab es in Berlin-Schöneberg ein Straßenfest von demlinken Hausprojekt Rote Insel. Dort kam es nach übereinstimmenden Berichten, sowohl von der Polizei, als auch von Augenzeug*innen zu einer Festnahme. Ab hier unterscheiden sich die Darstellungen aber gewaltig. Die Polizei (und die bürgerliche Presse) berichten von Angriffen auf Polizeibeamt*innen, die Springerpostille BZ schreibt ein Mob habe die Polizei durch die Straßen gejagt.

Ein Augenzeuge, mit dem das lowerclassmagazine sprach und der anonym bleiben will, schilderte die Situation anders: „Eigentlich war das ganze Fest ziemlich entspannt, […] bis dann die Polizei einen Typen festgenommen hat. Das war ganz schön brutal, die saßen zu dritt auf ihm drauf. Das war dann eigentlich auch noch kein Drama, die Leute standen halt drumherum und haben gepöbelt.“

„Dann kam ein ziemlicher großer Bulle und und hat links und rechts Faustschläge ausgeteilt. Das war dann die Situation, wo es eskaliert ist. Danach waren die Leute halt sauer, auch weil die anderen Bullen auch angefangen haben Schläge zu verteilen und zu pfeffern.“

Dieses Statement deckt sich weitestgehend mit einem vom Jugendclub Potse veröffentlichten Tweet: „Gegen 17 Uhr rannte ein Trupp Polizisten auf den Spielplatz in der Mansteinstr. auf welchen zu dem Zeitpunkt Kinder gespielt haben und nahmen eine Person brutal fest. Das Gesicht der Person wurde in den Sand gedrückt, nachdem ihm ins Gesicht geschlagen wurde. Menschen die sich über die massive Gewalt beschwert haben wurden von der Polizei mit Schlägen und Tritten traktiert. Dabei nahm die Polizei eine weitere Person fest. Als die Polizei die Menschen in den Mannschaftswagen gebracht hat, wurden sie von einer empörten Menge aus der Straße gedrängt. Beide der festgenommen Personen wurden in der Wanne mehr mehrfach von verschiedenen Polizisten misshandelt. So wurde der Kopf einer der Personen mehrfach gegen die Scheibe geschlagen, die andere Person lag auf dem Boden des Wagens und ihr wurde auf den Kopf getreten.“

Auch dass der Festgenommene im Polizeiwagen misshandelt wurde, konnte bestätigt werden. Ein dem lowerclassmagazine zugesandtes Video zeigt eindeutig, wie der Kopf der gefesselten Person mehrfach gegen das Fenster geschlagen wird:

https://twitter.com/LowerClassMag/status/1424768987699814404

Jetzt kann man sagen, dass das was bisher in der bürgerlichen Presse veröffentlicht wurde, und weitestgehend ein Nachplappern der Polizeimeldung, bzw. dem Stuss der Polizei“gewerkschaft“ GdP, besteht, keine Falschmeldung wie die eingangs beschriebenen ist. Schließlich wurde die Polizei offensichtlich angeschrien und verfolgt, schließlich wurde ja – beide Seiten kommen zu Wort – der Tweet der Potse zitiert. Aber wenn Statements, wie das vom Jugendclub Potse zitiert werden, passiert dies unter der Prämisse, dass erst einmal die Behauptungen der Polizei widerlegt werden müssen.

Ohne Einordnung und Ergänzung durch Infos, wie dem uns zugespielte Video oder die Nachfrage bei Leuten vor Ort, Pressemitteilungen von linken Kollektiven, wie der Roten Insel usw., wird dann im Endeffekt wegen der „Privilegierung“ der Polizei als Quelle am Ende die halbe Wahrheit und zwar die der Polizei verbreitet. Denn diese hat darüber hinaus wegen Ihrer zunehmend professionellen Pressearbeit und dem traditionell guten Draht zu bürgerlicher Presse wie Tagesspiegel, rbb, dpa oder reaktionären Hetzern wie der BZ (die alle Artikel zum Vorfall am Sonntag veröffentlichten) sowieso einen Vorsprung in Reichweite, Schnelligkeit und Kontakten, den auch social media nicht ausgleichen können. So wird am Ende immer Polizeigewalt legitimiert, weil die Logik der Polizei immer mehr Gewicht bekommt, als die Erfahrungen und Einschätzungen von Menschen, die Polizeigewalt erfahren oder sie beobachten und sich immer erst durch das Dickicht an gesponnenen Halbwahrheiten durchschlagen müssen, bevor sie gesehen oder gehört werden.

Deswegen dokumentieren wir unten stehend die Pressemitteilung der Roten Insel zu den Geschehnissen am Sonntag, wer wissen will, was die Polizei zu der ganzen Sache sagt, kann die bürgerliche Presse lesen. Der Tweet zum Türknauf des Todes übrigens wurde erst gelöscht, als zwei Kollektivmitglieder des Friedel54 Kollektivs dagegen klagten.

# Titelbild: Polizist schlägt gefesselten Festgenommenen, Quelle: privat

Pressemitteilung: Brutaler Polizei-Übergriff bei linkem Straßenfest

Am 08. August 2021 kam es in der Nähe des „Rote Insel“-Festes unter dem Motto „Kiezkultur von unten“ zu Angriffen der Berliner Polizei. Gegen 17 Uhr verfolgten mehrere Polizeikräfte eine Person, die sich in der Nähe der Kundgebung aufhielt und warfen diese auf einem Spielplatz in der Mansteinstraße brutal zu Boden. Dabei drückten sie deren Gesicht in den Sand und knieten mit mehreren Beamten auf dem Kopf und dem oberen Halsbereich. Zudem schlugen sie auf die wehrlose Person ein. Kinder, die kurz zuvor noch dort gespielt hatten, rannten verängstigt mit ihren Eltern vom Spielplatz. Laut eines der festnehmenden Beamten erfolgte die Maßnahme wegen eines vermeintlich geklebten Stickers auf einem Straßenschild. Schnell solidarisierten sich zahlreiche Menschen mit der am Boden liegenden Person. Es kam zu verbalen Auseinandersetzungen, die von den Polizeikräften mit Schlägen, Tritten und Pfefferspray beantwortet wurden. Auf diese Weise trugen die Beamt:innen massiv zur Eskalation der Situation bei. Besonders der laut Presseberichten später verletzte Beamte schlug laut Augenzeug:innenberichten zuvor willkürlich auf Personen mit der Faust ein. Auf jetzt veröffentlichten Videos ist zu sehen, wie eine der festgenommenen Personen im Polizeifahrzeug vom Beamten mit der Nummer 11331 mehrfach ohne Grund mit dem Kopf gegen Seitenscheibe und Sitz geschlagen wird. Eine andere festgenommene Person berichtet laut Jugendzentrum Potse von Tritten gegen ihren Kopf im Einsatzfahrzeug. Während die festnehmenden Kräfte kurzzeitig den Bereich verließen, verblieben andere Beamte ohne Probleme auf dem Straßenfest. Nach dem Zwischenfall wurde die bis dahin ebenfalls ruhige Kundgebung ohne weitere Vorkommnisse fortgeführt. Im späteren Verlauf wurde eine dritte Person festgenommen und von der Polizei kriminalisiert.

Zu der Eskalation der Polizeigewalt sagt Anna Schönberg, Sprecherin des Organisationskreises des „Rote Insel“-Fests: „Es ist entsetzlich mit welcher Gewalt die Berliner Polizei selbst auf einem Kinderspielplatz gegen Personen wegen einer vermeintlichen Ordnungswidrigkeit vorgeht. Das widerspricht jeglicher Verhältismäßigkeit. Und jetzt wird versucht, die Tatsachen zu verdrehen. Berlin hat kein Problem mit Gewalt gegen die Polizei, sondern ein Polizeiproblem. Jeder Angriff am Sonntag ging von den Polizeikräften aus, die danach noch wehrlose Gefangene vermutlich aus Rache misshandelten. Es scheint inzwischen eine regelrechte Taktik zu sein, linke Veranstaltungen unter fadenscheinigen Gründen zu zerschlagen und deren Teilnehmende zu drangsalieren. Die gleiche 11. Hundertschaft hat schon am 05. Juni friedliche Menschen bei den Protesten gegen den AfD-Landesparteitag ins Krankenhaus geprügelt.“

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Es ist der 28. April 2021, erster Tag des Nationalstreikes in Kolumbien. In Medellín liegt der 17 jähriger Jugendliche Marcelo Agredo auf der Straße. Aus einem Loch in seinem Kopf fließt das Blut, genau dort wo ihn die Kugel aus dem Lauf der Pistole eines Polizisten getroffen hat. Er ist tot.

Das Video dazu ging auf Social Media viral, genau wie unzählige andere in denen staatliche Sicherheitskräfte auf Demonstrant:innen schossen.

Wie weit kann man ein Volk terrorisieren, bis es zurückschlägt? Der kolumbianische Narco-Staat befindet sich seit ungefähr einer Woche im Krieg mit dem streikenden Volk. Auslöser für den Konflikt war ein Nationalstreik gegen bevorstehende Steuer-Reformen, doch die Bilder der farbenfrohen und solidarischen Massenproteste werden überschattet von der Reaktion der kolumbianischen Oligarchie. Kolumbien ist ein Land, in dem eine winzige korrupte Elite ihre Interessen um jeden Preis durchsetzt, sei es mit Gewalt. Die derzeit andauernden Proteste sind die größten, militantesten und radikalsten seit Jahren. Gibt es die Chance auf eine Renaissance?

Generalstreik in Kolumbien gegen neoliberale Reformen

Das nationale Streikkomitee (Comité Nacional de Paro, CNP) rief zu erneuten Protesten gegen neoliberale Wirtschaftsreformen der ultrarechten Regierung von Präsident Iván Duque auf. Der 28. April war der Startschuss für eine Landesweite Mobilisierung unter dem Motto „Für Leben, Frieden, Demokratie und gegen das neue Schwindelpaket Duques und die Steuerreform“.

In circa 600 Städten und Gemeinden hat es Kundgebungen, Hafen- und Straßenblockaden und riesige Demonstrationen gegeben. Getragen werden die Proteste von allen Gesellschaftsgruppen, besonders ist aber die militante Präsenz der Jugend erkennbar. Auch Indigene Organisationen mobilisieren tausende Menschen. Die ultrarechte Regierung versucht den Volksaufstand mit paranoiden Theorien zu erklären: Verantwortlich sein angeblich die kommunistischen Guerillas FARC-EP und ELN. Am 5. Mai „verwechselte“ der Kriegsverbrecher und ex-Präsident Álavro Uribe die Flagge der indigenen Organisation Minga mit der der ELN Guerilla auf Twitter. Nach ein paar Minuten war der Tweet wieder gelöscht.

Anstatt mit den Demonstrierenden in den Dialog zu treten, eröffnete der Staat das Feuer. Seit dem 28. April tötete der Staat 35 Menschen innerhalb von 4 Tagen. Zusätzlich gibt es Opfer von Vergewaltigung und massiver Polizeigewalt. Fast 100 Menschen werden derzeit vermisst.

Trotz der massiven Gewalt kapitulierten die Massen nicht und die Reformen mussten zurückgenommen werden – so zumindest die Ankündigung des Staates. Dieser Erfolg gehört den Kolumbianer:innen, doch er ist ein kleiner Sieg in einem Jahrelangen blutigen Klassenkampf. Das Volk hat noch viele Rechnungen mit dem Staat offen. Deutlich bei den Statistiken der Polizeigewalt wird die Kontaktlosigkeit der Oligarchie mit der rebellierenden Arbeiter*innenklasse. Der Frieden auf den Straßen Kolumbiens ist grade keine Perspektive. Der Kampf geht weiter.

Klassenkampf in Kolumbien hat eine lange Geschichte, die nicht mit dem Nationalstreik anfing und mit ihm auch nicht enden wird. Die Regierung tut alles, was der US-Imperialismus ihr befielt und bekämpft jeden, der sich dieser Sache in den Weg stellt. Seit über 50 Jahren ist der Staat im Krieg mit der aufständischen marxistischen Guerilla FARC-EP und ELN. Es gibt ein Sprichwort in Kolumbien: Es sei ungefährlicher in die Berge zu gehen (sich der Guerilla anzuschließen), als eine Gewerkschaft zu gründen. Laut offiziellen Zahlen sind 96.000 Zivilist:innen in den letzten sechs Jahrzehnten durch die rechtsextremen Paramilitärs getötet worden.

 „Die Polizei greift unsere Leute an. OMG ich habe Angst.“

In den letzten Tagen konnte ich mein Handy nicht mehr aus der Hand legen. Ich war im ständigen Kontakt mit Freund:innen in Kolumbien. In einer Nacht bekam ich eine Nachricht aufs Handy. Ein Freund aus der Hauptstadt Bogota schrieb mir: „Die Polizei greift unsere Leute an. OMG ich habe Angst. Mein Freund, hier in Kolumbien töten die Cops die Menschen. OMG, sie schießen gegen das Volk. Der Präsident befahl gegen alle streikenden Menschen zu schießen.“ Ich fragte ihn, ob er Schießereien miterlebt hat. „Ja, in meiner Stadt. Sie schossen aus einem Auto als sie durch die Menschenmassen fuhren.“ Dann in der nächsten Nacht wieder: „Die Situation ist jetzt so viel schlimmer. Die Cops töten unsere Leute, OMG Ich habe so viele Videos gesehen. In Cali, Valle del Cauca sind Sie jetzt ohne Strom und es wird das Militär eingesetzt, welches scharf schießt.“

In dem paranoiden Blutrausch der kolumbianischen Cops wurden selbst eine UNO Beobachtungsmission am 3. Mai unter Beschuss genommen. Einzelne Polizisten und Armeesoldaten kündigten auf Social Media an, dass sie nicht auf die Proteste schießen werden. Ihre Beiträge gehen allerdings in der Flut von unzähligen Videos unter, welche den Terror dokumentieren. Cops die von fahrenden Motorrädern in Menschenmengen schießen, Cops die auf sich nicht mehr bewegende Körper einschlagen, ja teilweise sind ganze Straßenabschnitte ein Blutbad.

Bilder aus den Großstädten können an einen Bürgerkrieg erinnern. In den Straßen hängt der Nebel von Tränengas.  Militär und Polizeihubschrauber kreisen 24/7 über den Barrios. Regelmäßig sind Schüsse zu hören. Ausgebrannte Busse als Barrikaden. Ausgeräumte Banken und geplünderte Geldautomaten. Viele trauen sich seit Tagen nicht mehr auf die Straße. Der reguläre Alltag ist derzeit unmöglich. Trotz alledem gehen Hunderttausende auf die Straße zum Protestieren. Viele haben nichts mehr zu verlieren, 42 % der Kolumbianer:innen leben in Armut.

„Gebt ihr uns kein Brot, geben wir euch kein Frieden!“

Am Anfang des Textes steht die Frage „Wie weit kann man ein Volk terrorisieren, bis es zurückschlägt?“. Neben den unzähligen Bildern der Gewalt des Staates gibt es auch heldenhafte Szenen, die mit den Handykameras hinter den Barrikaden aufgenommen wurden.

 Zu sehen sind meist Jugendliche, die bis ans Äußerste ihrer Grenzen gehen und selbst vor Schüssen nicht Halt machen. Videos aus der Sicht der Primera Linea, wie sie in Formation auf Polizeieinheiten stürmen.  Es kursieren auch bereits mehrere Videos wie Demonstrant:innen die staatlichen Sicherheitskräfte mit Handfeuerwaffen unter Beschuss nehmen. Am 6. Mai durchbrachen Demonstrant:innen die Absperrungen zum Nationalkapitol. Nur durch Sondereinheiten der Polizei konnte der Sitz des Kongresses verteidigt werden. Im Land herrscht eine große Wut, manche würden dies als revolutionäre Stimmung beschreiben, so etwa die kolumbianische marxistische Guerilla:

„Die Tage der Straflosigkeit der Determinanten des staatlichen Völkermords sind gezählt. Duque und Uribe, Zapateiro und Vargas, müssen sich für diese Toten verantworten. Wir rufen alle bolivarischen und patriotischen Militärs auf, die Offiziere, Unteroffiziere und Soldaten der Luftwaffe, der Armee und der Marine, um den Nationalstreik zu unterstützen“, heißt es in einem Comunique der aufständischen FARC-EP Zweites Marquetalia. Ein weiteres Comunique einer FARC-EP Front in der ländlichen Region Cauca erklärt, wie sie mit den Menschen auf der Straße Seite an Seite stehen werden.

Ich bat noch eine weitere Genossin, die jede Nacht auf den Straßen Kolumbiens ist, um letzte Worte für diesen Artikel. Sie schrieb mir: „Meine Erfahrung aus dem Protest ist ein Gemisch der Gefühle von Nostalgie, Adrenalin, bis zu Wut und Hoffnung. Denn dieser ganze Kampf gemeinsam mit meinen Freund:innen, die hier zu meiner Familie geworden sind, wird in einem besseren Land gipfeln. Es ist genau diese Empathie, mit der ich hoffe, zusammen mit allen anderen einen Weg zu schaffen, wo nie wieder einem Menschen mit Gleichgültigkeit begegnet werden wird… ¡Mi nación es mi gente! (Meine Nation ist mein Volk!)“

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Vier Wochen lang belagerten die Cops die Felder und den Wald um das Dorf Dannenrod, bis sie die Schneise für die zukünftige Autobahn A49 gerodet hatten. Bisweilen schaffte es die hessische Polizei dabei, mehrere Aktivist_innen pro Woche mit teilweise schweren Verletzungen ins Krankenhaus zu befördern. Drum herum: Viele leichte Verletzungen, unnötige Schmerzgriffe, Tasereinsätze in mehr als 20 Meter Höhe, unzählige Angriffe auf die Pressefreiheit, willkürliche Festnahme einer Sanitäterin inklusive Brechen ihres Armes – das wäre unter anderen Umständen übrigens ein Kriegsverbrechen – durch die Beamt_innen, eine kirchliche Beobachterin wird ohne ersichtlichen Anlass von einer BFE angegriffen, ständig werden Bäume nur wenige Meter neben besetzten Traversen gefällt und so die Besetzenden in Lebensgefahr gebracht. Bei Protestaktionen werden Teilnehmende und Journalist_innen von Einsatzkräften massiv beleidigt, auch lachend geschlagen und zu Boden geworfen. Einem Menschen auf einem Tripod wird „Wenn du fällst, bist du selber Schuld!“, zugerufen, während das Kletter-SEK sich am Sicherungsseil zu schaffen macht. Ein paar Tage zuvor spielten bereits einige BFEler mit einer Säge an einer anderen nur wenige Meter entfernten Tripodsicherung herum. Die Liste ließe sich noch eine ganze Weile fortsetzen, und neben den Vorgängen im Wald selbst dürfen auch die Folterbedingungen, unter denen Unterstützende in der Untersuchungshaft festgehalten wurden und werden, nicht unerwähnt bleiben.

Exakt das, was von den hochmilitarisierten Riotcops dieses Staates zu erwarten ist? Ja klar, auch. Aber bei aller Desillusioniertheit über das alltägliche Verhalten der Staatsgewalt sollte nicht ausgeblendet werden, dass so etwas nicht nur passiert, weil die Funktion „Polizist_in“ logischerweise von Waffengewalt nicht abgeneigten Menschen ausgeführt wird, sondern es sich insbesondere im Rahmen einer solchen Großprotestaktion um eine bewusste Brutalitätsstrategie handelt.

Die Verstöße der Polizist_innen gegen Versammlungs- und Presserechte sowie simpelste Grundlagen zwischenmenschlicher Ethik wurden vielfach dokumentiert und veröffentlicht. Dass die Einsatzleitung nicht davon weiß, welche ihrer Einheiten wann wo wie eskaliert hat, kann getrost ausgeschlossen werden. Des Weiteren fanden in den Wochen der Räumung mehrmals deutlich beobachtbare Wechsel des Aggressionslevels der eingesetzten Beamt_innen statt. So agierten sie beispielsweise in den ersten Tagen oder auch der ersten Dezemberwoche der Räumungs- und Rodungsarbeiten – also in Zeiträumen mit viel Aufmerksamkeit durch Tagespresse und sonstige Öffentlichkeit – spürbar vorsichtiger, kommunikativer und weit weniger eskalativ als in der Zeit zwischen diesen Punkten, vor allem in der Hauptphase des Einsatzes Ende November.

Da passierte dann der überwiegende Teil der oben beschriebenen Polizeibrutalität. Auch kamen dort vermehrt die für ihr besonders gewalttätiges Verhalten bekannten BFEs 38, 58 und 68 zum Einsatz und machten ihrem Ruf alle Ehre. Dem bekannten Demospruch entsprechend zogen sie wie gut ausgestattete Hooligans durch den Wald, zerschlugen auf dem Boden zurückgelassene Strukturen von Sitzmöglichkeit bis Pizzaofen, lauerten in der Nacht umherlaufenden Personen auf und pfeffersprayten aus etwas kindergartenhafter Bosheit heraus das Klopapier. Gegen Ende der Räumung sieht man diese Einheiten kaum noch, und auch sonst schlagen die Cops einen weit weniger aggressiven Ton gegenüber Aktivist_innen und Unterstützenden an. Offensichtlich war es also möglich, das Verhalten der Polizeitruppen zu regulieren, und folglich muss die wochenlange Inkaufnahme von teils Menschenleben gefährdenden Grausamkeiten durch die Einsatzkräfte als strategisches Mittel der Einsatzplanung gelesen werden.

Ziel von solchen durch nichts zu rechtfertigenden Brutalitätsaktionen ist es, Menschen durch Angst mundtot zu machen; das zeigt ein Blick auf die Geschichte jeder beliebigen linken Bewegung. Für eine solche Strategie findet die Polizei hier im Wald das perfekte Kampffeld, denn er stellt einen von der Öffentlichkeit praktisch komplett abgeschirmten Raum dar. Zu groß ist das Konfliktgebiet, zu langsam der Informationsfluss, um auch mit doppelt und dreifach so viel Presse jeden Vorfall adäquat dokumentieren zu können.

Die Cops wissen um solche öffentlichkeitsfernen Räume und setzen sie als strategisches Mittel ein, um mit möglichst weitreichender Willkür agieren zu können. Das trifft auf den Wald genauso zu wie auf den Bus, der regelmäßig Aktivist_innen zu Mahnwachen und Demonstrationen fuhr. Letzterer konnte keine Tour machen, ohne begründungslos aus dem Verkehr gezogen zu werden. Aber in einem Bus gibt es halt keine neugierigen Zuschauenden, die die Polizei bei ihrem Verhalten kontrollieren könnten – und im Wald auch nicht. Dort schufen sie sich diese Situation, indem sie die Presse von den Orten des Geschehens so weit weghielten, dass Beobachtung der Ereignisse im Detail unmöglich war. Zeitweise war es praktisch unmöglich, sich ohne polizeiliche Pressebegleitung durch den Wald zu bewegen – betreutes Berichten sozusagen.

Und so konstruierten sich die Cops Räume, in denen sie unbeobachtet und konsequenzbefreit Protestierende als „Stück Scheiße“ bezeichnen konnten, während sie deren Leben durch mindestens bewusst fahrlässiges Verhalten gefährdeten. Solche verbale, physische und psychische Brutalität ist die Produktion einer Botschaft an die Menschen im Wald, ihre potentiellen Unterstützer_innen und allzu kritische Beobachter_innen/Journalist_innen: Die Cops können euch antun, was sie wollen; niemand wird sie aufhalten oder auch nur sehen; und auch ihr seid mögliches Ziel für die nächste Ladung Pfefferspray, den nächsten Schlagstockhieb oder die nächste Entführung in die GeSa. Am Ende bleiben die verstreuten Berichte der Betroffenen, vereinzelte Pressebilder und das diffuse Wissen aller, sich durch die von jedweder Negativkonsequenz für ihr Handeln befreiten Einsatzkräfte in dauerhafter, latenter Gefahr für Leben und Freiheit zu befinden.

Natürlich steht solches Verhalten im kompletten Bruch zum von der Propagandaabteilung der Polizei verbreiteten Erzählung eines besonnen, rücksichtsvoll, transparent-kommunikativ ausgeführten Einsatzes. Während sie in Pressekonferenzen innerhalb der Besetzung zum running-gag gewordene Sprüche wie „Sicherheit vor Schnelligkeit“ vom Stapel ließen, gaben sich ihre Truppen an der tatsächlichen Frontlinie betont menschenverachtend und aggressiv. Wichtiger: Diese Strategie der eskalativen Grausamkeit folgte auf eine ausnehmend friedliche, kommunikative und für die Polizei ungefährliche Besetzung. Das grundlegende Kampfmittel der Aktivist_innen war das Besetzen von Bäumen und verschiedener Strukturen, die zwar mit einigem Aufwand, aber eben ohne Gefährdung für die ausführenden Cops geräumt werden mussten, bevor die Rodung fortgesetzt werden konnte. Jedes relevante Seil war markiert, und auch der dümmlichsten BFE dürfte klar sein, dass Leute, die in ihrem Baumhaus sitzend ohne Fluchtmöglichkeit auf die Räumung warten, aller Wahrscheinlichkeit nach keine Gehwegplatten herunterwerfen werden. Die Cops hätten ohne Probleme so agieren können, wie sie es so gerne über ihren Twitter-Account behaupten, und hätten ihr Einsatzziel dennoch erreicht. Sieht man sich aber ihr tatsächliches Verhalten an, sollte man meinen, tagtäglich würden Polizist_innen von Scharfschützenfeuer niedergestreckt, Wasserwerfer von panzerbrechender Munition zerlegt und ihr Logistikzentrum mit Raketen beschossen. Kurzer Realitätsabgleich: Die einzigen ernstzunehmenden Verletzungen gab es auf aktivistischer Seite und es war die Staatsgewalt, die nachts durch den Wald rannte und Jagd auf Menschen machte. Diese Dissonanz zwischen den tatsächlichen Einsatzbedingungen und dem Verhalten der Einsatzkräfte bestätigt die These von oben: Die Eskalationsstrategie ist bewusst; the cruelty is the point.

Diese unberechenbare Brutalität gegen die Menschen im Wald spiegelte auch das Vorgehen bei der Rodung der geplanten Autobahnschneise insgesamt: Auf der einen Seite wurden Aktivist_innen mit körperlicher und physischer Gewalt sowie hanebüchenen Straftatvorwürfen ausgebrannt, auf der anderen Seite wurde in den ersten Wochen des Einsatzes oft an drei Fronten gleichzeitig agiert, um Widerstand durch Überlastung zu unterbinden. Und bedauerlicherweise muss eingestanden werden, dass diese Strategie aufging: Schneller, als die meisten gedacht hätten, fraßen sich die Maschinen von Norden und Süden durch den Dannenröder Wald, zerrissen Baumhaus um Baumhaus und zerstörten in einigen Wochen, was in mehr als einem Jahr aufgebaut wurde. Was bleibt, ist ein riesiger Erfahrungsschatz, den vor allem ein großer Teil der Fridays-for-Future-Aktivist_innengeneration in dieser Schlacht um den Dannenröder Forst sammeln konnte. Und es wurde gezeigt, dass weder die eingespielten noch die neuen Aktivist_innen sich von der Kälte des Winters und einer Polizeiarmee, die bereitwillig ihre Leben bedroht, vom Kämpfen gegen die Klimakatastrophe und für eine lebenswerte Zukunft abbringen lassen werden. Man darf davon ausgehen, dass sie angemessene Antworten auf die alltäglichen Grausamkeiten der Staatsgewalt finden werden.

# Titelbild: Channoh Peepovicz, Wasserwerfereinsatz hinter Stacheldraht im Danni

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In Frankreich werden die Diskussion um das autoritäre neue „Sicherheitsgesetz“ immer heftiger. Dieses soll verbieten, Filmaufnahmen von Polizist:innen zu veröffentlichen, was einen enormen Angriff auf die Pressefreiheit darstellt. Spätestens seit den Protesten der Gilets Jaunes, sorgen Bilder heftiger Polizeigewalt auf Demonstrationen oder gegen Schwarze und People of Colour für Empörung. Dass Polizeigewalt aufgedeckt wird, ist eher eine Seltenheit. Noch seltener ist, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Durch den Korpsgeist innerhalb der Polizei und die Rückendeckung in der Politik, wird es nahezu unmöglich gemacht auf rechtlicher Ebene dagegen vorzugehen. Wir kennen dieses Phänomen nur allzu gut aus der BRD. Die Liste der „Einzelfälle“ ist lang – sehr lang. Nachfolgend zwei aktuelle Beispiele, die die Menschenfeindlichkeit und den tief verankerten Rassismus in der französischen Polizei verdeutlichen.

Vorfall I: 21. November 2020

Der 41-jährige Michel Zacler steht vor seinem Musikstudio. Er sieht eine Polizeistreife und da er keine obligatorische Atemschutzmaske trägt, entschließt er sich, zurück ins Studio zu gehen. Das Studio befindet sich in dem bourgeoisen 17. Arrondissement von Paris. Dass ein Schwarzer aus dem 92. Arrondissement (Bagneux), also aus den Pariser Banlieus, sich in diesem schicken Viertel von Paris aufhält, ist einigen Polizisten wohl schon zu viel. Die Message ist klar: DU gehörst hier nicht her!

Drei Polizisten, einer davon in zivil, folgen ihm ins Studio, packen ihn und versuchen ihn aus dem Laden zu ziehen. Er fragt die Polizisten, warum sie ihn festnehmen wollen und da beschimpft ihn einer der Polizisten als „sale nègre“ (Übersetzung: Drecks-N***er). Diese Beleidigung wird er einige Male hören, wie Michel sagt. Die Polizisten schlagen ihn mit dem Schlagstock und versuchen ihn auf den Boden zu ringen. Michel wehrt sich mit all seiner Kraft und ruft nach Hilfe. Das was in seinem Kopf in diesem Moment vorging schildert er so: „Ich darf nicht auf den Boden. Ich muss mit allen Mitteln verhindern auf den Boden gebracht zu werden, denn sonst stehe ich nie wieder auf.“

Michel öffnet die Tür zu den Kellerräumen des Studios und schreit weiter nach Hilfe. Dort sind weitere Menschen, die von dem, was oben vor sich geht, nichts mitbekommen haben. Darauf helfen die teils erst Jugendlichen Michel aus den Händen der Polizisten zu befreien. Die Polizisten werden aus dem Studio gedrängt, schmeißen danach jedoch eine Tränengasgranate in das Lokal und so schaffen sie es dann doch noch, Michel aus dem Laden zu bringen. Auf der Straße wird er dann weiter verprügelt. Nachdem ihn die Polizisten festgenommen haben, greifen sie sich die im Lokal Verbliebenen, die dann auch noch vor der Tür verprügelt werden.

Einer der Polizisten schreit „Kamera“, da die Szene von den Balkonen gefilmt wurde. Daraufhin wurden die Schläge sofort eingestellt. Was die Polizisten zu diesem Moment nicht wussten, ist, dass in dem Lokal eine Überwachungskamera die ganze Szene mitgefilmt hatte. Dieses Video veröffentlichte das Onlinemagazin Loopsider auf seiner Plattform. Michel wurde festgenommen und verbrachte u.A. wegen des Vorwurfs der Körperverletzung 48 Stunden auf der Polizeiwache. Alle anderen aus dem Studio wurden nach einer Personalienfeststellung freigelassen.

Vorfall II: 30. April 2019

Etwas über eine Woche nach dem brutalen Übergriff von Pariser Polizisten an den 41-jährigen Michel Z. und schon die nächste Enthüllung von Polizeigewalt durch eine Videoaufnahme. Das Video, datiert auf den 30. April 2019, wurde letzten Sonntag von Mediapart veröffentlicht.

Sechs Jugendliche im Alter von 16 bis 22 Jahren fahren in der Nacht vom 30. April 2019 mit dem Auto nach Hause. An einer roten Ampel werden sie dann von drei Fahrzeugen umzingelt. Acht Männer in Zivil, einige von Ihnen bewaffnet, steigen aus. Da die Jugendlichen glauben, dass es sich um einen Raub handelt, fährt der Fahrer zurück, doch sein Auto wird von einem der Fahrzeuge an der Rückseite angehalten. Einer der Männer gibt zwei Schüsse auf das Auto ab, wovon eine der Kugeln durch die Seitenscheibe nur einige Zentimeter neben dem Gesicht des Fahrers Paul vorbeischießt. Er sagte Mediapart, dass „die Kugel in der Karosserie ein paar Zentimeter neben meinem Kopf stecken blieb“ und dass er „dachte, ich würde sterben“.

Also nochmal von vorne. Drei Polizeiwagen in zivil, umzingeln das Fahrzeug ihres „Tatverdächtigen“ ohne eines der vorgeschriebenen Erkennungszeichen, wie Blaulicht oder Armbinden und schießen ohne Vorankündigung auf die Jugendlichen. Der Hintergrund des Einsatzes war ein Handtaschendiebstahl, der ohne Überzeugungsarbeit der selbigen Polizisten von der Betroffenen erst gar nicht zur Anzeige gebracht worden wäre. Die einzigen Informationen, die die Polizisten hatten, war ein Nummernschild wie sie sagen und dass einer der beiden Tatverdächtigen „afrikanischen Typs“ sei, so der major Patrick O.. Dass sich die Szene, wie im Fall Michel Z., in einem wohlhabenden Viertel von Paris abspielt, ist bestimmt kein Zufall. Das 16. Arrondissement zählt zu den teuersten und wohlhabendsten Residenzvierteln ganz Frankreichs. Auch hier will die Exekutive klar machen, wer in welchem Viertel willkommen ist und wer sich dort nicht aufhalten darf.

Gegen die Polizisten wurde zwar bereits im Mai 2019 eine Untersuchung eingeleitet, die übrigens noch im Gange ist, doch die Polizeipräfektur ist sich der Unschuld der Polizisten wohl sicher und teilte Mediapart mit, dass „die Staatsanwaltschaft zu dem Schluss kam, dass es sich um Notwehr handelte“.

Paul kam nicht so einfach davon. Zwar wurde seine Anzeige wegen Diebstahl relativ schnell eingestellt, er verbrachte jedoch sechs Monate in Haft wegen „vorsätzlicher Gewalt gegen eine Amtsperson“. Er wurde erst am 4. November mit einer Entschädigung von 1.000 Euro freigelassen.

„Ich wurde strafrechtlich verfolgt und erst im November letzten Jahres freigelassen“, sagte Paul, gegenüber den Online-Medien. „Der Polizist, der auf mich geschossen hat, läuft jedoch weiterhin mit seiner Waffe herum. Ich habe eine Beschwerde eingereicht, aber die Untersuchung dauert noch an“, während das Video nach mehrfachen Anfragen erst im Juni 2020 an den Anwalt des 22-Jährigen weitergeleitet wurde.

Auch die psyschischen Folgen für Paul sind drastisch. Er musste u.A. sein Studium wegen „impulsiver Explosionen“, „Weinkrämpfen“ und „den Gedanken, dass er hätte sterben können“ unterbrechen, sagte der psychiatrische Experte während der Untersuchung.

Das Sicherheitsgesetz

Somit zeigt sich wieder wie der Staatsapparat mit solchen Vorfällen umgeht. Man gewährt Polizist:innen vollkommene Narrenfreiheit, beschützt sie vor jeglichen kritischen Stimmen und denunziert die Betroffenen als „Kriminelle“, vor denen man sich „schützen“ müsse. Die rassistische Ideologie ist in den Polizeibehörden so tief verankert, dass die Polizisten wahrscheinlich selbst glauben, das „richtige“ und „gute“ zu tun.

Der Fall von Michel Zacler, die brutale Rämung eines Camps von Geflüchteten im Zentrum von Paris und der Vorfall der sechs Jugendlichen kommt für die Regierung reichlich ungelegen. Sie versucht gerade mit einem neuen Gesetz, dem „allgemeinen Sicherheitsgesetz“, Videoaufnahmen von Polizist:innen zu kriminalisieren. Denn zahllose Videos von brutaler Polizeigewalt haben in letzter Zeit das Image der Polizei näher an die tatsächliche Praxis dieser gerückt. Es ist offensichtlich, dass das neue Gesetz vor allem dazu dienen soll, dass die sowieso schon kaum zur Rechenschaft gezogenen Polizist:innen ihre Schmutzarbeit für den Staat ohne jegliche Kontrolle der Öffentlichkeit machen können sollen.

Nicht nur wegen dieser aktuellen Fälle gingen am Samstag, den 28. November in ganz Frankreich – trotz grassierender Corona-Pandemie – mehrere Hunderttausende auf die Straße um gegen das Gesetz zu demonstrieren. Am 30. November musste die Regierung dann doch etwas zurückrudern und sprach davon, den umstrittenen Artikel 24 des Gesetzentwurfes noch einmal umzuschreiben. Das es sich hier nicht um eine Streichung des Artikels geht, machte der Vorsitzende der Partei Macrons La République en Marche, Christophe Castaner, bei einer Pressekonferenz gestern klar – „Es handelt sich weder um eine Rücknahme noch um eine Aussetzung, sondern um eine völlige Neufassung des Textes“.

Auch schon in den Jahren zuvor haben die Regierungen versucht die Proteste durch solche Mittel zu befrieden, so z.B. bei dem Widerstand gegen die Arbeitsrechtsreform (loi El Khomri) im Jahr 2016 oder bei den „gilets jaunes“ (Gelbwesten) seit Ende 2018. Die Widerstandskultur der letzten Jahre in Frankreich hat jedoch gezeigt, dass ein Großteil der Bevölkerung sich nicht mit den heuchlerischen Versprechen der Regierenden abspeisen lässt. So können wir davon ausgehen, dass die Proteste auch nach dieser Ankündigung fortgesetzt werden.

# Titelbild: gemeinfrei, Demo in Rouen am 21. November 2020, „Wer beschützt uns vor der Polizei?“

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Der Prozess ist zwar bereits einen Monat her, aber die Aufmerksamkeit, die ihm gebührt, wurde ihm nicht zuteil. Am 10. Oktober wurde der Polizist Tony A. vor dem Berliner Amtsgericht zu einem Jahr Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt. Angeklagt war der Hobby-Bodybuilder und Hundenarr wegen drei Körperverletzungen im Amt, gerichtet jeweils gegen Gefangene seiner Einsatzhundertschaft. In zwei Fällen wurde er verurteilt, in einem erging ein Freispruch – da der Geschädigte mittlerweile verstorben war.

Das Kuriosum: Eine Kollegin hielt sich an geltende Gesetze und zeigte Tony A. an.

Die Übergriffe des A. ereigneten sich in Gefangenentransportern. Unter den Opfern: Ein kurdischer Jugendlicher, der im Dezember 2018 an einer Demonstration gegen das Verbot der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) teilgenommen hatte. Schon in Gewahrsam drangsalierte der Beamte A. den Inhaftierten mit Faustschlägen. Seine Kollegin Lisa G. beobachtete den Vorfall – und es war nicht das erste Mal.

Bereits zuvor hatte sie Tony A. dabei erwischt, wie er zuschlug. Der Prügel-Cop habe zwar dafür gesorgt, dass er alleine und relativ unbeobachtet mit seinen Opfern im Polizeiwagen schalten und walten konnte, aber G. sah genauer hin. Sie wies ihn zurecht. Er habe daraufhin zu ihr nur gesagt: „Wenn das nächste Mal sowas ist, dann guckst du nach vorne ausm Fenster, das geht dich nichts an“, erinnert sich Lukas Theune, Anwalt des kurdischen Geschädigten, im Gespräch mit lower class magazine an die Aussage.

Der Fall landet nach wiederholtem Zuschlagen durch A. bei dessen Vorgesetzten. A. ist schon ein Jahr vor dem Prozess außer Dienst, krankgeschrieben. Durch die Einheit A.s geht ein Riss, dokumentiert der Prozess. Einige der vorgeladenen Beamten decken das Verhalten, wollen nichts bemerkt haben. Andere räumen ein, es sei zumindest unprofessionell gewesen, dass er sich alleine mit Gefangenen im Transporter aufhielt.

Das Erstaunliche an dem Fall ist nun nicht, dass ein Polizist Gefangene misshandelt. Wer öfter mit den Hooligans in Uniform zu tun hatte, weiß, dass es sich um keinen Einzelfall handelt. Viele der Übergriffe werden nicht angezeigt, weil klar ist, dass es im Regelfall aussichtslos ist, gegen den Korpsgeist und das Schweigekartell der Kameraden in Uniform juristisch anzukommen. Und die Fälle, die zur Anzeige kommen, haben eine überaus geringe Chance auf Erfolg. Eine Studie der Ruhr-Universität Bochum unter Leitung des Kriminologen Tobias Singelstein kam 2019 auf etwa 12 000 Fälle von Polizeigewalt jährlich. Von den Staatsanwaltschaften bearbeitet wurden in den Jahren zuvor etwa 2000 Fälle jährlich, zu einem Gerichtsverfahren kam es in weniger als zwei Prozent, zu einer Verurteilung in weniger als einem Prozent der Fälle.

Der Grund: Beamte belasten einander so gut wie nie, Staatsanwälte pflegen ein Nahverhältnis zur Polizei, Polizisten gelten als besonders glaubwürdig vor Gericht.

Dass eine Beamtin nun einen Kollegen zur Rechenschaft zieht und Anzeige stellt, ist insofern ein Novum. „Das ist sehr besonders. Das haben auch alle gesagt, das kommt so gut wie nie vor. Mir ist es auch noch nicht untergekommen. Insbesondere in so einer Hundertschaft und wegen Körperverletzung im Amt“, wundert sich auch Rechtsanwalt Theune.

Die Beamte Lisa G. wirkt in dieser Geschichte wie eine Heldin. Allerdings tat sie nur, was rechtlich selbst in diesem Staat geboten war: Die Unterlassung der Anzeige wäre Strafvereitelung im Amt gewesen. Dennoch ist die Anzeige zweifellos couragiert: Man kann sich vorstellen, wie eine Kollegenschaft, die nie dergleichen tut und es zum überwiegenden Teil als Verrat wahrnimmt, Straftaten von Kameraden anzuzeigen, darauf reagiert. Und man kann sich, legt man die Zahl von 12 000 derartigen Übergriffen zugrunde, vorstellen, wie viele Beamte lieber wegschauen oder mitmachen.

# Titelbild: pixabay

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Bullenschau in Berlin. Es war eine große Parade am Freitag in Friedrichshain. Die deutsche Polizei durfte endlich mal wieder vorführen, was sie für angriffslustige Jungbullen und fabelhafte Gerätschaften im Stall hat. „Die Polizei ist drin!“ jubelte Bild am Freitagvormittag, als die mit Schützenpanzer angerückten Cops den Eingang zur Liebig 34 aufgebrochen hatten. Und mit dem Drecksblatt aus dem Hause Springer freute sich das gesamte reaktionäre Gesindel des Landes. Frei nach der Devise: Heute haben wir es den „linken Zecken“ mal wieder so richtig gezeigt – das Hausprojekt Liebig 34 platt gemacht, ein „Symbol der linken Szene“, wie auch die Lohnschreiber der Konzernmedien zu wissen meinten.

Die Räumung des linken Hausprojekts am 9. Oktober war ein Festtag für alle Law-and-Order-Fans des Landes, soviel steht fest. Was haben sie in den vergangenen Wochen und Monaten nicht alles erleiden müssen. In den Medien ging es ständig nur um Polizeigewalt, Racial Profiling, „Black Lives Matter“ und rechte Netzwerke bei Polizei und Bundeswehr. Da musste gar ein CDU-Innenminister sich zerknirscht geben, weil zwei Dutzend Polizeibeamte in seinem Dienstbereich sich in Chats an Hitler-Bildern und Hakenkreuzen ergötzten. Dabei war das doch alles nur Spaß, da ist man doch nicht gleich ein Nazi, oder wie?

Aber ganz im Ernst. Ein Einsatz wie der am Freitag an der Liebigstraße muss für die Polizei wie Ostern, Weihnachten und Schützenfest an einem Tag gewesen sein, Balsam für die von „rot-grün-versifften“ Medien zuletzt gerissen Wunden. Endlich konnten sie es denen heimzahlen, die sie vor allem und zuerst dafür verantwortlich machen, dass sie an den Pranger gestellt werden: die Linken oder „Linksextremisten“, wie es im Amtsdeutsch heißt. Endlich durften sie wieder mal nach Herzenslust und straflos zuschlagen. Und das auch noch mit Rückendeckung eines „rot-rot-grünen“ Senats! Besser geht es doch nicht.

Auch der Berliner Landesverband der Gewerkschaft der Polizei (GdP) hatte offenbar das Gefühl, dass der Tag der Räumung für die Polizei eine Art Volksfest ist. Bereits am Donnerstag verbreitete die Organisation bei Twitter den folgenden Tweet: „Morgen steht ein Einsatz an – Wir lassen Euch nicht allein und haben da mal was vorbereitet: Currywurststand in der Friesenstraße.“ Und darunter stand noch: „Du räumst die Liebig34 – wir sorgen für die Energie“. Ein ebenso unpassender wie grotesker Spruch, der irgendwie nach „Mars macht mobil bei Arbeit, Sport und Spiel“ klang. Bei der GdP scheint man den Einsatz eher lustig gefunden zu haben, so wie Kirmes mit Scheibenschießen und „Hau den Lukas!“.

Natürlich ließ man es sich nicht nehmen, am Freitag Fotos vom Grillstand an der Friesenstraße bei Twitter zu posten. Und teilte der interessierten Öffentlichkeit noch mit, dass auch GdP-Landeschef Norbert Cioma vorbeischaute, um Würstchen für „die Kollegen“ zu wenden. Selbiger Cioma hatte am Vortag beim RBB-Fernsehen übrigens das Versagen der Polizei bei der Aufklärung rechter Anschläge in Neukölln klein geredet. Und wiederum zwei Tage davor hatte er eine merkwürdige Einstellung zur Durchsetzung geltenden Rechts erkennen lassen. Zur vom Senat wegen der Coronalage beschlossenen Sperrstunde erklärte Cioma dem Tagesspiegel, die Polizei reiße momentan „eine Überstunde nach der anderen ab“. Da würde man Verstöße gegen die Sperrstunde „eigentlich nur bei Einrichtungen rund um die Liebig 34 kontrollieren können.“

Von der GdP kamen also die Grillwürstchen zur Räumung. Kaffee und Kekse lieferte dagegen die AfD und zwar in Gestalt ihres Bundestagsabgeordneten Johannes Huber. Der postete am Freitagmorgen Fotos, die ihn an der U-Bahnhaltestelle Frankfurter Tor zeigen. Text dazu: „Die GdP Hauptstadt liefert die Currywurst und ich bringe den mutigen Einsatzkräften Kaffee und Gebäck. Ich wünsche einen erfolgreichen Einsatz und dass alle gesund nach Hause kommen.“ GdP und AfD Hand in Hand als Caterer der Polizei beim Abräumen eines linken Projekts – wundert sich da jemand? Ganz zu Recht wiederholten diverse User in den „sozialen Netzwerken“ die Forderung, die GdP endlich aus dem DGB zu werfen. Wird Zeit.

Was Aktionen und Äußerungen zum Thema Liebig 34 angeht, ließ sich all das nur noch von einem toppen: vom grünen Ultra Cem „Halt die Fresse, wir sind in Deutschland!“ Özdemir. Der griff bei Twitter eine Äußerung einer Bewohnerin der Liebig 34 auf einer Pressekonferenz auf. Laut Spiegel hatte sie gesagt, man kämpfe für das Projekt „mit allen Mitteln, mit allen Kräften“ und sehe sich „in Konflikt und Konfrontation mit diesem kapitalistischen Staat und seinen Repressionsorganen“. Eine Selbstverständlichkeit, sollte man meinen. Aber Özdemir fiel dazu folgender Satz ein: „Als gegen Sexismus, Faschismus & Nationalismus kämpfendes migrantisches Arbeiterkind sage ich: wer so redet & handelt steht auf der anderen Seite!“

Was lehrt uns das? Man kann ein migrantisches Arbeiterkind sein und glauben, gegen Faschismus und Nationalismus zu kämpfen – der Oberleutnant d. R. Cem Özdemir bleibt dabei doch am Ende ein Reaktionär, Kriegstreiber und glühender Fan von Militärinterventionen und Sanktionen, der dieses marode System, in dem er sich ganz prima eingerichtet hat, mit „allen Mitteln und Kräften“ verteidigt.

# Titelbild: ©PM Cheung, Bullen und ein Ball am Morgen der Räumung

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Manchmal nimmt man sich einen Apfel aus der Obstschale und denkt: Na, der hat zwar drei, vier braune Stellen, aber essen kann man ihn schon noch. Wenn man dann reinbeißt, stellt man fest, dass das Fruchtfleisch fast durchweg braun und der Apfel mithin ungenießbar ist. Dieses Bild verdeutlicht vielleicht ganz gut, wie es sich mit der Polizei in diesem Land verhält. Auch wenn die Meldungen über rechte Polizisten nicht abreißen, werden diese Fälle gemessen an der Gesamtzahl von Polizeibeamten zwar noch eher als vereinzelte „braune Stellen“ wahrgenommen. Aber immer mehr drängt sich doch die Frage auf: Ist der „Apfel“, sprich: die Polizei, nicht von innen heraus schon längst braun, verfault, also von rechtem Gedankengut infiziert?

Es ist weniger die reine Zahl von Fällen, in denen rechte Polizeibeamte geoutet werden oder sich selbst outen, die dafür spricht, sondern mehr noch die Dimension der Skandale. Mitte September etwa flogen in Nordrhein-Westfalen rechte Chatgruppen von mindestens 30 Beamten auf. Sie hatten über WhatsApp Hakenkreuze und Bilder von Adolf Hitler getauscht, sich an der fiktiven Darstellung der Ermordung eines Flüchtlings in einer Gaskammer ergötzt. Beteiligt war eine komplette Dienstgruppe der Polizei in Mülheim an der Ruhr, die zum Polizeipräsidium Essen gehört. Dieses Präsidium scheint so etwas wie ein Epizentrum für die Ausbreitung rechten Gedankenguts in Polizeikreisen zu sein, wie sich inzwischen zeigte.

Nur wenige Tage nachdem der Skandal um die rechten Chatgruppen hochgekocht war, berichtete das Springerblatt Welt über ein vom Essener Polizeipräsidium herausgegebenes internes Papier zum Thema „Arabische Familienclans“. Wer dieses rassistische Machwerk, das man als zumindest protofaschistisch, wenn nicht im Kern schon faschistisch bezeichnen muss, gelesen hat, wird sich nicht mehr darüber wundern, dass im Bereich dieses Präsidiums rechte Chatgruppen gedeihen. Sogar die sonst der Polizei eher nahe stehende Welt konnte da offenbar nicht mehr mitgehen, bezeichnete die Schrift als „eine Mischung aus „Der Pate“ und „Expeditionen ins Tierreich“.

Angesichts der kritischen Berichte der Welt und dann auch weiterer Medien hat das Polizeipräsidium Essen, das von dem SPD-Mann Frank Richter geführt wird, die Broschüre inzwischen online gestellt, versehen mit einem Statement, so dass sich jede/r ein eigenes Bild machen kann. Weder aus dem Statement noch aus der Tatsache der Veröffentlichung der Broschüre lässt sich herauslesen, dass es bei den Verantwortlichen auch nur ansatzweise so etwas wie ein Problembewusstsein gibt. Im Gegenteil: Man klopft sich für das Machwerk auch noch auf die Schulter!

Es handle sich um eine „interne Kurzinformation für Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte“, heißt es da. Um „Hintergrundwissen zu erlangen und erfolgversprechende Arbeitsansätze bei der Bekämpfung“ sei es vor allem bei „neuen Kriminalitätsphänomenen“ durchaus „üblich, Fakten und Strukturen, beispielsweise in Form einer Broschüre oder auch Flyern zusammenzutragen, um die Handlungskompetenz operativ tätiger Polizeibeamter zu erhöhen“. Das Polizeipräsidium Essen habe sich als „eine der ersten Behörden im Land NRW der intensiven Bekämpfung krimineller Familienangehöriger von Clanfamilien“ angenommen. Ausführlich werden im Statement die Verdienste und Erfahrungen der Autorin der Broschüre herausgestrichen.

Bei dieser Autorin handelt es sich um Dorothee Dienstbühl, Professorin an der Fachhochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung (FHöV) NRW, und zwar an der Außenstelle Mülheim an der Ruhr, also just dort, wo die rechten Chatgruppen von Polizisten aufgeflogen sind. Gibt es da vielleicht einen genius loci, ein unguter Geist des Ortes? Dienstbühl ist jedenfalls schon mehrfach auffällig geworden, etwa im Juli, als sie im Mitgliedermagazin der Gewerkschaft der Polizei (GdP) in der Titelgeschichte unter der Überschrift „Linksextremismus: Die Erben der RAF – Verstörende Menschenbilder“ gegen Links austeilte. In einem Rundumschlag denunzierte sie radikale Linke sämtlich als unpolitische Kriminelle, „entlaufene Wohlstandskinder“, bemühte sämtliche Klischees, die über „Linksextremisten“ im Umlauf sind.

Diesem Stil des Zitierens von Klischees und der pauschalen Denunziation ganzer Bevölkerungsgruppen bleibt die Polizeiprofessorin auch in der Broschüre über „arabische Clans“ treu. Eine Schrift, die auf jedem Büchertisch der AfD gut aufgehoben und sicher auch als Beilage zu einem der Bestseller von Thilo Sarrazin geeignet wäre. Schon Überschrift und Foto auf der Vorderseite der Broschüre lassen den Inhalt erahnen. Unter der Überschrift „Arabische Familienclans. Historie. Analyse. Ansätze zur Bekämpfung.“ ist das Foto einer Shisha-Bar zu sehen, schön kitschig, wie sich Otto Normalverbraucher so eine Lokalität vorstellt. Im Zentrum des Fotos ist eine Polizistin zu sehen, flankiert durch einen Kollegen. Sie kontrolliert drei Gäste, die vor ihr auf Sofas sitzen.

Das Bild passt tatsächlich zum Inhalt. Dienstbühl rührt ein abstoßendes Gemisch von Klischees und Ressentiments an, das – gewollt oder ungewollt – all den Hetzern im Netz und anderswo, die in „arabischen Clans“ und einer „Islamisierung des Abendlandes“ die größte Gefahr sehen, Stichworte liefert. Sie beschreibt die „Familienclans“ als rückständige, in jahrhundertealten Wertevorstellungen gefangene Strukturen, die mit der von Dienstbühl apostrophierten modernen Demokratie westlicher Prägung in diesem Land auf Kriegsfuß stehen. Die „Clans“ werden in der Schrift durchweg als Feind präsentiert, die mit allen Mitteln zu bekämpfen seien.

Zwischentöne und Differenzierungen oder gar so etwas wie eine soziologische Analyse zugrunde liegender Phänomene sind bei einer solchen Einstellung natürlich nicht zu erwarten. Dienstbühl geht es durchaus darum, „die Clans zu verstehen und zu begreifen, wie sie strukturiert sind“, aber eben doch nur um zu ermitteln, „was ihnen schadet“, wo die „Schwachstellen“ sind. Merke: „Vorläufige Festnahmen und Gerichtsprozesse haben sich häufig als wenig schädlich für das Familiengefüge erwiesen.“

Es handle sich um eine „notwendige Kollektivbetrachtung, die sich auf Mitglieder von Familienclans mit krimineller Neigung bezieht“, heißt es in der Broschüre weiter. Großzügig wird konstatiert, es seien „natürlich“ keineswegs alle „Mitglieder, die einem Clan zuzuordnen sind“, kriminell. Auf eine „stetige Abgrenzung zwischen Clanmitgliedern, die kriminell in Erscheinung getreten und solchen, die es nicht sind,“ müsse aber verzichtet werden. Zum einen, „weil grundlegende Denkmuster „häufig auch bei Familienmitgliedern verankert sind, die nicht kriminell auffällig sind“, zum anderen weil „auch bei Kenntnis über Kriminalität einzelner Familienmitglieder der Rest schweigt“. Hier wird also nach der Devise verfahren: Die haben doch alle Dreck am Stecken! Eine mehr als merkwürdige Rechtsauffassung für eine Polizeibehörde.

Über die „Lebenswelt arabischer Familienclans“ ist in der Broschüre zum Beispiel Folgendes zu lesen. Der Mann sei „der Stammhalter und Entscheidungsträger“. Er sei „zuständig für die Beschaffung von Geld und Ressourcen für die Familie, sowie die Vertretung nach außen“ und das „Bewahren der Familienehre“. Die Frau ist dagegen „Hüterin der Familie“, ihre Rolle beziehe sich „auf ihre Gebärfunktion zur Gewährleistung des Clanerhalts und die Erziehung der Nachkommen im Sinne der Tradition“. Und: „Je mehr Kinder eine Frau für den Clan gebärt, desto besser.“

Überhaupt das Ehrverständnis. Das sei in „stammesgeprägten Familien“ ein ganz anderes als in westlichen Vorstellungen. In westlichen Demokratien werde die Ehre „auf das eigene Verhalten bezogen“, weiß Dienstbühl. Nach dem „Verständnis im islamischen Kulturkreis“ werde der Mensch „und vor allem der Mann mit Ehre geboren“. Diese Ehre müsse er verteidigen, denn sie könne durch das Verhalten anderer Person verletzt werden. Die Schwelle für eine Ehrverletzung liege recht niedrig und begründe Misstrauen und einen hohen Kontrollbedarf untereinander.

„Kurdische Familienclans“ nimmt sich die Autorin noch einmal gesondert vor. Sie seien „patriarchalisch und darwinistisch geprägt und sie haben Jahrhunderte Jahre alte Stammesstrukturen und Regelwerke kultiviert“, erfahren die LeserInnen. Macht werde dort vor allem „durch Luxus demonstriert. Dieser sei „zum Teil allerdings Show“. Da würde mit Leihwagen oder „aufbereiteten Unfallautos geprotzt oder mit aufwendigen Brautkleidern, die tatsächlich aus minderwertigem Material gefertigt seien. „Betrug und Hochstapelei ist innerhalb der Clans und sogar den einzelnen Familien untereinander verbreitet“, heißt es wörtlich. Mit derartigen Sätzen wäre Dienstbühl auf jeder Versammlung von AfD-Mitgliedern oder bei den Demonstrationen von Pegida eine umjubelte Rednerin.

Das ist bis dahin alles schon widerlich genug, aber die rechte Polizeipopulistin setzt noch einen drauf. Sie erstellt allen Ernstes Tabellen unter den Überschriften: „Wovor haben sie Angst?“, „Was schwächt sie?“ und „Wo sind sie zu treffen?“. Da ist dann zu lesen, dass man in „kurdischen Clans“ nicht nur Angst vor Ehrverlust und Verlust von Geld hat, sondern auch vor einer Unterordnung unter „Ehrlose“ und eine „Aversion vor regulärer Arbeit“. Zu treffen seien Clanmitglieder, indem etwa „vorhandenes Misstrauen in die eigene Community“ geschwächt werde, durch „Schwächung der Männlichkeit“ oder indem man ihnen Geld und Luxusartikel nehme.

Der Skandal lässt sich aber immer noch toppen – und zwar mit Empfehlungen für den Einsatz, die auch in der Berichterstattung der Medien skandalisiert worden sind. Dienstbühl empfiehlt allen Ernstes den Einsatz von Hundestaffeln bei sämtlichen Maßnahmen von Polizei und Zoll gegen „Clans“. Beamte hätten immer wieder die Erfahrung gemacht, „dass aggressive Clanmitglieder ängstlich auf Hunde reagieren“. Die Angst vor Hunden habe ihren Ursprung im sunnitischen Islam, „in welchem diese als minderwertig und insbesondere ihr Speichel oder nasses Fell als unrein gelten“. Aber die Autorin hat noch einen Tipp in petto. Der Einsatz weiblicher Beamte habe „bei Clanmitgliedern ebenfalls eine Wirkung“. Denn „deren Rollenvorstellungen besagen, dass sich Frauen den Männern fügen müssen“. Insbesondere junge Polizistinnen stünden dem „gelebten Weltbild der Clans diametral entgegen“. Daraus folgt: „Treten Polizistinnen entsprechend aggressiv auf, setzen sich durch und dominieren den Mann (z.B. in der Festnahme), kann dies dessen Ehre verletzen.“
Man sieht sie förmlich vor sich: die junge blonde Polizistin mit dem deutschen Schäferhund an der Kette, die das „arabische Clanmitglied“ dominiert. Spätestens an dieser Stelle wird der Rassismus der Broschüre unerträglich.

Wie kann man ein derartiges Machwerk gut heißen in einem Jahr, in dem ein rechter Terrorist in Hanau Menschen erschossen hat, weil die Shisha-Bar für ihn der typische Ort war, an dem sich „kriminelle Ausländer“ aufhalten?! Wie ist es möglich, dass eine Dozentin, die in der Schulung von Polizeibeamten eine erhebliche Rolle spielt, solche Theorien ungestraft äußern und in einer offiziellen Schrift verbreiten darf?! Es sind offenbar doch mehr als nur ein paar braune Stellen am „Apfel“. Das Innere scheint schon ganz schön braun zu sein.

#Titelbild: RubyImages/APN
Hanau-Gedenkdemo in Berlin unter dem Motto „Kein Vergessen“, 19.08.2020

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Anfang vergangener Woche machten auf Instagram Bilder eines jungen Mannes mit mehreren Kopfverletzungen die Runde. Zwei Brüder, Jecki und King_S, waren in der Nacht vom 16. auf den 17. August von Berliner Beamten festgenommen worden. Sie erheben schwere Vorwürfe gegen die Polizei, von Schlägen, Beschimpfungen und Misshandlungen ist die Rede.

Eine Pressemeldung der Berliner Polizei zu dem Vorgang gibt es nicht, eine schriftliche Anfrage von lower class magazine blieb bislang unbeantwortet. Wir haben uns mit den beiden jungen Männern getroffen und mit ihnen über den Vorfall gesprochen.

Ihr habt auf Instagram eure Begegnung mit der Berliner Polizei vom vorvergangenen Wochenende öffentlich gemacht. Was ist an diesem Abend geschehen?

Jecki: Wir waren zu zweit mit zwei Freundinnen im Mauerpark, haben Musik gehört und gechillt. Es war schon etwas später, ein bisschen dunkel und schon menschenleerer. Da kam so ein Typ vorbei, der Glasflaschen gesammelt hat. Der wollte eine halbvolle Flasche von uns nehmen, wir haben gesagt, er soll die nicht mitnehmen. Dann gab es eine verbale Auseinandersetzung, der Typ hat angefangen, uns zu beleidigen und so. Aber dann ist er zunächst wieder gegangen.

Nach zwanzig Minuten kam er wieder, aber nicht allein. Ein Kumpel von ihn, eine Frau waren dabei und sie hatten jetzt zwei Kampfhunde. Dann haben sie meine Bruder angegriffen und es kam zu einer Auseiandersetzung.

Gab es während des Angriffs rassistische Bemerkungen?

Jecki: Ja, die haben ihn auch N**** genannt und so.

King_S: Er hat seinen Hund auf mich gehetzt. Ich habe davon auch Bissverletzungen.

Was ist dann passiert?

Jecki: Wir sind dann weggegangen, zur Tram an der Bernauer. Wir sind losgefahren, ein paar Stationen später kam dann aber die Polizei rein. Einer der Beamten hat gesagt, wir sollen mitkommen. Ich habe gefragt, warum. Er hat nichts dazu gesagt, sondern mich nur aufgefordert, aufzustehen und mich umzudrehen. Ich habe wieder gefragt, warum. Auch da hat er nicht geantwortet, sondern direkt versucht, mich mit Gewalt festzunehmen. Dann hat er meinen Bruder am Nacken gepackt. Sie waren sehr grob zu ihm, sodass auch drei, vier Passantinnen sich beschwert haben und gefragt haben, warum die so mit ihm umgehen. Er hat nur gesagt, das gehe sie nichts an.

King_S: Dann hat er mich aus der Bahn rausgeholt. Und als ich draußen war, hat er mir ins Ohr gesagt: „Du Wichser, du wirst sehen, was ich mit Dir mache.“ Meine Handschellen waren sehr fest, man sieht ja immer noch die Narben. Ich sagte: Können Sie bitte meine Handschellen lockern? Aber ich wurde nur beschimpft, als Arschloch, als Affe. Und ich wurde bedroht. Er hat mich dann hinter das Auto mitgenommen, sein Bein war vor meinem und er hat zwischen den Handschellen nach oben gerissen. Er hat mich so auf den Boden geworfen und auf dem Boden war eine Bordsteinkante, da bin ich dann mit dem Kopf dagegen. Ich habe nur noch Blut gesehen und gesagt: Mein Kopf blutet. Und er antwortete nur: Halt deine Fresse, Halt dein Maul.

Du warst zu diesem Zeitpunkt auch schon festgenommen, Jecki?

Jecki: Ich war da noch in der Tram. Sie haben ihn zuerst rausgezogen. Und als sie mich rausgezogen haben, habe ich nur gesehen, wie er bewusstlos auf dem Boden lag.

King_S: Als ich da lag knieten sich ein Polizist auf meine Beine, einer auf meinen Nacken. Und ich habe dann irgendwann keine Luft mehr gekriegt. Auch als ich schon am Boden lag und blutete, haben sie nicht aufgehört, mich zu schlagen. Ich hatte ja viel Blut verloren und wurde einfach bewusstlos. Dann kam irgendwann ein Krankenwagen, ich kann mich noch erinnern, dass ich kurz aufgewacht wird und eine Krankenschwester meinen Kopf gestützt hat. Ich wurde dann ins Krankenhaus gebracht. Ich habe immer gefragt, wo sie meinen Bruder hinbringen, aber es hat niemand geantwortet.

Bei Dir ging es dann in die Gefangenensammelstelle?

Jecki: Mich haben sie in einen nahegelegnen Polizeiabschnitt gefahren. Von dort dann zu einem anderen Abschnitt. Dann wurde ich wieder entlassen. Ich habe die auch gefragt, was sie mit meinem Bruder gemacht haben. Einer hat mich angeguckt und meinte, er wäre gestolpert und dumm hingefallen. Er hatte ein Lächeln im Gesicht, als er das sagte. Ich habe die ganze Zeit Fragen gestellt, warum, wieso, dies und das, weil die uns keinen Grund genannt haben, warum sie uns festnehmen. Aber auch das Fragen hat denen anscheinend nicht gepasst, der eine hat mich dann als Arschloch bezeichnet. Und es gab immer wieder Übergriffe. Etwa bei der Fahrt von der Tramstation zum Abschnitt habe ich mit den Handschellen das Fenster ein wenig runtergemacht, weil mir warm war. Dann hat einer von denen die Handschellen verdreht, dass sie noch enger werden. Als wir auf dem Abschnitt waren, habe ich schon beim ersten Schritt aus dem Auto ein Knie abbekommen. Da waren fünf, sechs Beamte um mich rum. Ich hab ein paar Tritte bekommen und sie meinten, ich solle mein Maul halten, wenn ich auf dem Abschnitt bin und dass ich mich benehmen soll.

Hat man euch irgendeine Anzeige vorgelegt? Irgendeinen Grund, warum sie euch mitgenommen haben?

Jecki: Sie haben uns angezeigt wegen Widerstand und weil wir sie angeblich beleidigt hätten.

Das bezieht sich aber ja, wenn überhaupt, auf die Zeit nach der Verhaftung. Das Delikt, wegen dem man euch überhaupt erst mitgenommen hat, hat man euch nicht mitgeteilt?

Jecki: Nein. Wir haben vermutet, dass sie wegen dieser Auseinandersetzung davor gekommen sind. Aber gesagt haben sie uns nichts, also wissen wir es eigentlich auch nicht.

Du hast ja ein Attest vom Arzt bekommen, was für Verletzungen hast du davongetragen?

King_S: Vor allem die Wunden am Kopf. Zwei der Platzwunden mussten genäht werden. Aber ich hatte auch noch eine verletzte Schulter von der Festnahme. Und Bisswunden von dem Hund, aber das war ja vor der Festnahme.

Hattet ihr ähnlich schlechte Erfahrungen mit der Polizei schon zuvor?

King_S: Für mich ist es das erste Mal, dass ich so von Polizisten geschlagen wurde. Aber jetzt, da das passiert ist, will ich es auch öffentlich machen. Das kann ja jedem jederzeit passieren.

Jecki: Bei mir genauso. Derartige Gewalt von Beamten habe ich bisher noch nie erlebt, das war das erste Mal.

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Am 30.06.1994 wurde kurdische Aktivist Halim Dener im Alter von 16 Jahren von einem deutschen Polizisten beim Plakatieren ermordet. Knapp 26 Jahre nach seinem Tod gibt die Kampagne Halim Dener ein Buch über ihn heraus. Wir veröffentlichen vorab die Einleitung zu Halim Dener – Gefoltert. Geflüchtet. Verboten. Erschossen. Die Vorstellung des Buches findet am Freitag, 24.Juli 2020 um 16 Uhr auf den Halim-Dener-Platz (30451 Hannover) statt.

Der Name Halim Dener ist heute für viele kurdische Aktivist*innen, aber auch viele deutsche Linke kein unbekannter. Mit dem Schicksal des geflohenen kurdischen Jugendlichen, der in Deutschland Schutz suchte, und stattdessen am 30.06.1994 den Tod durch die Kugel aus der Waffe eines deutschen Polizisten fand, verbinden sich verschiedene politische Entwicklungslinien und Konflikte. Dazu gehört zuvorderst der Konflikt zwischen der kurdischen Freiheitsbewegung und einem faschistisch agierenden türkischen Staatsapparat, der in seinem Krieg gegen Kurdistan und in der Repression kurdischer Aktivist*innen seit Jahrzehnten durch die deutschen Behörden und deutsche Waffen unterstützt wird. Dazu gehört aber auch die Geschichte von Flucht nach Deutschland, in diesem Fall eines unbegleiteten Minderjährigen, der sich allein von Kurdistan bis nach Hannover durchschlug, nachdem türkisches Militär seinen Heimatort angegriffen und ihn und ihm Nahestehende gefoltert hatte. Halims Geschichte endet mit dem Schuss eines deutschen Polizisten, der ihn in den Rücken trifft und wenig später zu seinem Tod führt. Er wurde so zu einem von vielen Opfern rassistischer Polizeigewalt – einem von vielen Todesfällen, die von der deutschen Justiz nie befriedigend aufgeklärt wurden. Halim Dener wurde nur 16 Jahre alt. Er wurde nicht vergessen.

Knapp 20 Jahre nach seinem Tod, im Jahr 2013, gründete sich eine Kampagne mit dem Ziel, in der Stadt Hannover endlich eine angemessene Aufklärung und Erinnerung an den Todesfall und seine Ursachen einzufordern. Diverse Organisationen aus Hannover und darüber hinaus schlossen sich zusammen, um das Gedenken an Halim Dener in die Öffentlichkeit zu tragen. Doch es ging immer um mehr als die Trauer. Es ging auch darum, die politischen Linien und Kämpfe, die sich mit Halims Schicksal verbinden, offensiv zum Thema zu machen und den politischen Status Quo, der sich auch 20 Jahre nach Halims Tod in vielen Punkten nicht verändert hat, anzugreifen. Die Waffenlieferungen an die Türkei, der Umgang mit Geflüchteten, Repression gegen die kurdische Freiheitsbewegung, der PKK-Verbot, rassistische Gewalt und Behördenwillkür – noch immer deutsche Zustände.

Im Jahr 2019, nach dem 25. Jahrestag von Halim Deners Tod, ist es für uns als Kampagne Zeit innezuhalten. 5 Jahre lang haben wir informiert, debattiert, demonstriert und gekämpft. Wir haben auf verschiedenen Ebenen und verschiedenen Wegen versucht, Einfluss auf die Stadt Hannover und die Stadtöffentlichkeit zu nehmen, und sind für die Veränderung der beschriebenen Zustände mit aller Vehemenz und anhaltendem Engagement eingetreten. Längst nicht alle Ziele, die sich mit unserem Kampf verbanden, haben wir erreicht. Auch deswegen scheint es uns an der Zeit, gemeinsam nachzudenken. Diese Broschüre ist ein Ergebnis dieses gemeinsamen Prozesses. Sie dient als Selbstverständigung, weil wir Revue passieren lassen, was seit Halims Tod geschehen ist und uns vor Augen führen, in welchem Zusammenhang sein persönliches Schicksal steht. Und weil wir zurückblicken auf fünf Jahre Kampagnenarbeit, deren Erfolge und Rückschläge. Diese Broschüre entstand aber nicht nur für uns, sie richtet sich auch nach außen. Sie dient – wie auch die anderen Aktivitäten der Kampagne – dazu, Halims Geschichte weiter bekannt zu machen, in dem wir sie erstmals umfassend publizistisch aufarbeiten. Nicht zuletzt dokumentieren und reflektieren wir hier auch unseren politischen Kampf mit dem Ziel, all denjenigen, die ähnliche Gedanken und Motive haben, mahnendes Beispiel und inspirierendes Vorbild zugleich zu sein. Viele Erfahrungen müssen im politischen Aktivismus immer wieder von neuen gemacht werden, und trotzdem können wir voneinander und von unseren vergangenen Kämpfen lernen – das ist unsere Überzeugung.

Aufbau

Diese Broschüre besteht aus zwei Teilen, von denen der erste sich mit der Geschichte Halim Deners und seines Todes, sowie den Verhältnissen und Ereignissen in den 1990er Jahren beschäftigt. Die hier versammelten Beiträge befassen sich mit der historischen und aktuellen Situation in Kurdistan, die Grund für Halims Flucht im Jahr 1994 waren. Ein zweiter Beitrag beleuchtet die Situation von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, zu denen auch Halim einst gehörte. Neben den Gefahren auf der Flucht selbst geht es auch um die Rahmenbedingungen in Deutschland und deren Verschlechterung in den letzten Jahren. Über die Repression der kurdischen Bewegung in Deutschland, namentlich das erlassene PKK-Verbot, informiert ein weiterer Artikel. Die überregionalen politischen Proteste, die der Tod Halims bereits 1994 auslöste, und die ersten Initiativen für ein Gedenken und Erinnern, die lang vor der Kampagne Halim Dener entstanden, werden in einem eigenen Beitrag beleuchtet. Den Abschluss des ersten Teils bilden zwei Prozessberichte zum Gerichtsprozess gegen den Polizeibeamten, der Halim 1994 erschoss. In diesen historischen Dokumenten beschreiben Rolf Gössner, der als Anwalt der Nebenklage Halims Familie vertrat, sowie eine anonyme Beobachterin den teils absurd anmutenden Prozessverlauf und ihre Eindrücke vom Geschehen rund um das Verfahren.

Der zweite Teil der Broschüre widmet sich den Aktivitäten und Ereignissen rund um die Kampagne Halim Dener seit 2013. Der erste Beitrag präsentiert Überlegungen zu einer Erinnerungskultur rund um das Schicksal Halim Deners, wobei sowohl kritische Bestandsaufnahme als auch politische Vision Platz finden. Zur Einschätzung der Medienberichterstattung zum Fall Halim Dener findet sich als zweiter Beitrag ein Interview mit dem Sozialwissenschaftler Christian …, der sich in einer Abschlussarbeit mit der Erinnerungskultur zu Halim Dener beschäftigte. Es folgt ein Interview mit einem Aktivsten der Kampagne Halim Dener, in dem die Erfahrungen in der Zusammenarbeit zwischen kurdischer Freiheitsbewegung und deutscher Linker geht, die während der Arbeit in der Kampagne gesammelt wurden. Diese Zusammenarbeit wurde von den deutschen Behörden offenbar äußerst skeptisch beäugt, in einem eigenen Beitrag informieren wir über die diversen Repressionsversuche gegen die Kampagne (und ihr Scheitern). Einen eigenen Beitrag widmen wir ebenfalls einer der einflussreichsten – wenn auch letztlich bisher erfolglosen – politischen Initiativen der Kampagne, dem Kampf um die Benennung eines Platzes in Hannover nach Halim Dener. Den Abschluss dieses Bandes bildet ein Text über die Entstehung und Aktivitäten der Kampagne von 2014 bis 2019, den wir mit einer vorläufigen Bilanz und einem Ausblick beenden.

Dank

Unser Dank gilt allen Gruppen und Aktivst*innen, die Teil der Kampagne Halim Dener waren oder diese in den letzten Jahren unterstützt haben.

Für die Mitarbeit und Unterstützung dieser Broschüre möchten wir uns insbesondere bedanken bei der Roten Hilfe für die umfassende finanzielle und logistische Hilfe, bei Jochen Steiding für ein hervorragendes Layout, sowie bei Rolf Gössner, dem Flüchtlingsrat Niedersachsen, Christian Hinrichs und Wolfgang Struwe für die hier veröffentlichten Textbeiträge.

# Halim Dener – Gefoltert. Geflüchtet. Verboten. Erschossen | Verlag gegen den Strom, München | 226 Seiten | 10 €

# Titelbild: Kampagne Halim Dener

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