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Am 02.11.2019, dem -World Resistance Day- kamen tagsüber mehr als 10.000 Menschen zusammen, um in Berlin gegen den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der Türkei auf Nordost-Syrien Widerstand zu leisten. Bei einer weiteren Demonstration am Abend, setzten rund 2.000 Menschen ein Zeichen gegen die Stadt der Reichen und den Erhalt von alternativen Wohn- und Kulturprojekten. Beide Demonstrationen bezogen sich klar auf Rojava und riefen zum Widerstand gegen Krieg und Faschismus.

#Titelbild: Po Ming Cheung

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Der 2. November ist World Resistance Day, der weltweite Tag des Widerstandes. In mehr als 16 Ländern werden insgesamt mehrere Hunderttausend Menschen in Solidarität mit der kurdischen Befreiungsbewegung und der Revolution in Rojava auf die Straße gehen. Das ist großartig. So wie der Widerstand gegen Unterdrückung und Ausbeutung großartig und schön ist. Und weil es um Widerstand und Rojava geht, will ich die Gelegenheit nutzen, um von ein paar zufällig ausgewählten Menschen zu erzählen, die ich in meiner Zeit dort kennenlernen durfte. Es sind keine berühmten Menschen. Ihre Namen und Gesichter kennt man nicht aus den Hochglanzmagazinen, den Zeitungen oder aus den Talkshows.

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Es sind Menschen wie Mussa Doschka, den ich Anfang 2017 im südkurdischen Suleymaniya traf. Ich war mit einer internationalistischen Gruppe auf dem Weg nach Rojava. Mussa wollte so gerne, aber konnte noch nicht rüber. Er hatte Arbeit zu tun, durfte nicht weg. Mussa sprach nur Kurdisch. Ich sprach noch kein Wort Kurdisch. Also mussten wir mit uns mit Händen und Gestiken verständigen.

Mussa mochte uns komische Ausländer sichtlich. Er kam immer an, drückte uns ganz fest. Dann zeigte er auf seinen Bauch und sagte: Doschka. Er zeigte auf mich und sagte: Tu jî Doschka. Doschkas, das sind die russischen DschK- Maschinengewehre, sehr schwer und mit viel Rückstoß, grauenhaft laut. Ich verstand: Mussa wollte sagen, wir zwei, er und ich, eignen uns wegen der Statur sehr gut zum Doschka-Schützen. Ein paar Tage blieben wir zusammen. Dann ging es für mich los, Mussa blieb. Und mit ihm sein Traum, hinter einer Doschka zu stehen, der er auch seinen Nachnamen verdankte. Zum Abschied schenkte er mir ein großes scharfes Klappmesser mit einer Gravur. Als bîranîn, Erinnerungsstück.

Als ich dann sieben Monate später, irgendwann am Ende des Sommers 2017 in Qamislo eine Freundin ins örtliche Krankenhaus fahren musste, hatte ich Mussa Doschka längst vergessen. Zu viele Dinge waren geschehen, zu viele Menschen hatten meinen Weg gekreuzt. Am Eingang zum Krankenhaus stand ein kräftiger junger Mann, starrte mich an und sein Mund verzog sich breit nach oben. Er lachte, so dass man alle Zähne sah. Ich begann schon reflexartig zu lachen und auf ihn zuzulaufen, bevor ich noch ganz begriffen hatte, wer das eigentlich ist. Es war Mussa. Er war Doschka-Schütze geworden, ganz wie er es sich gewünscht hatte. Und er hatte ein paar Schrapnells im Bauch, von Gefechten gegen den Islamischen Staat. Ich fragte ihn, wie es ihm gehe. Er sagte nur: tişt nabe, kein Ding, und lachte. Er wollte so schnell wie möglich wieder an die Front.

Ich konnte nur kurz mit Mussa reden, jetzt wo wir eine gemeinsame Sprache hatten. Er erzählte mir von seiner Verletzung und wie gut sie schon verheilt war. Ich erzählte ihm, was ich in der Zwischenzeit so getrieben hatte. Zehn Minuten, mehr hatten wir nicht. Aber obwohl wir vielleicht alles in allem drei, vier Tage miteinander zu tun hatten, war da eine große Verbundenheit. In der Revolution ist das eine der wunderbarsten Sachen: die Freundschaft entsteht oft ohne viele Worte. Ohne lange Debatten. Sie speist sich daraus, auf der selben Seite zu stehen. Man muss sich nicht viel erklären.

Das Messer von Mussa Doschka trat wie die meisten Erinnerungsstücke eine lange Reise an. Ich behielt es über meine gesamte Zeit in Rojava. Als ich nachhause fuhr, gab ich es meinem Genossen Paramaz, der es mit nach Afrin nahm. Und als er zurückkam, gab er es an einen anderen Genossen weiter. Und so hat es bis heute seinen Platz in der Revolution und manchmal überlege ich, wie witzig es wäre, wenn es irgendwann wieder bei Mussa Doschka landet.

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Im Sommer 2017 habe ich meine militärische Ausbildung im Jesdiengebiet Sengal bei einer Servanen Nû, einer Kriegsschule der Jesidischen Verteidigungseinheiten YBS gemacht. Zu irgendeiner Art Special-Forces-Soldat bin ich dabei nicht geworden, aber es war eine gute ideologische Schule und vor allem eine in der Kunst des Zusammenlebens in einer Revolution. Die Mischung unseres Lehrgangs war bunt. Zwei Deutsche – so sehr wir uns bemühten übermäßig privilegiert, weil in einem Land ohne Krieg und mit Schulen, mehr oder minder intakten Familien und der Sicherheit, nicht einfach auf der Straße erschossen zu werden, aufgewachsen. Und eine Handvoll jesidisch-kurdischer junger Männer aus feudalen Haushalten. Unser Kommandant, Sehid Mahir Sengali, hielt den Laden zusammen und brachte uns wirklich viel bei. In jeder Hinsicht war er wie ein großer Bruder für uns.

Einer der jesidischen Jugendlichen dort war Heval Renas. Gerade 18 Jahre alt, nie lesen oder schreiben gelernt, zuhause geprügelt worden, ohne eigentlichen Rückhalt in der Familie, bitter arm. Renas hatte völlig verlernt, sich selbst oder andere ernst zu nehmen, hatte keinerlei Ziele in diesem Leben. Er machte nur Blödsinn, sehr zum Ärgernis aller anderen. Er fuchtelte mit der Waffe, zeigte mit dem Lauf auf andere, redete andauernd wirres Zeug. Aber Mahir mochte ihn. Und wir anderen mochten ihn auch. Wenn er es uns auch schwer machte, weil er uns mehrmals beinahe aus Versehen umbrachte. Einmal, als er aus Unvorsichtigkeit unseren Wassertank mit dem dreckigen, öl- und metall- und gottweißwassonstverseuchten Wasser, das nur zum Waschen der Autos oder des Bodens taugte, angefüllt hatte und wir alle erst nach mehreren Gläsern bemerkten, dass doch nicht das normale Chlor so komisch schmeckt, wurde Renas zum Gegenstand einer Selbstkritik- und Kritiksitzung samt Strafe. Es war die schwerste Strafe, die in unserer Ausbildung vorkam: Zigarettenentzug, drei Tage. Renas war am Boden zerstört, er rauchte sehr gerne.

Aber er begann, sich Gedanken zu machen. Und Mahir gab ihn nie auf. Ich habe mich oft gefragt, wie unsere deutsche Linke wohl in der Lage wäre, Menschen wie Renas eine Perspektive zu geben. Die kurdische Bewegung jedenfalls konnte das. Renas wurde aufmerksamer, hörte gelegentlich auch mal bei den achtstündigen in 50 Grad Hitze abgehaltenen Schulungen zur Geschichte der Befreiungsbewegung zu.

Es ging bergauf mit ihm. Dennoch, als wir die Ausbildung abschlossen, hätte jeder gewettet, dass Renas den Weg vieler armer Jugendlicher geht: Schnell noch das Gewehr mitnehmen, um es zu verscherbeln und weg. Monate später, kurz vor unserer Rückreise nach Deutschland kamen wir zwei Deutschen wieder in den Sengal. Wir trafen natürlich unseren Kommandanten Mahir zu einem Anstandbesuch bei Tee und Sonnenblumenkernen. Und was war passiert: Zwei andere aus unserem Jahrgang waren abgehauen. Aber Renas stand auf seinem Posten und war jetzt zu einem der Verteidiger des Sengal geworden.

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Nach der militärischen Ausbildung ging ich zurück in zivile Arbeiten. Ich blieb zwei Monate in der Kommune in Rojava, bevor ich weiterzog nach Raqqa. Davor hatte ich eigentlich eine Heidenangst. Aber ich hatte viele Menschen getroffen, die mit so viel Mut und Entschlossenheit bei der Sache waren, dass ich mir selbst nicht mehr sagen konnte, es sei okay, nicht zu gehen. Sehr beeindruckt hatte mich zum Beispiel eine Internationalistinnen, die sich bei uns im Zentrum von ihren Verletzungen erholte.

Heval Dilan kam aus Kanada nach Rojava. Und sie arbeitete in der YPJ als Frontsanitäterin. Ein knochenharter Job. Ich kann mich noch an ein Gespräch mit einer anderen Genossin erinnern, die auch Frontsanitäterin war, bevor wir im Spätsommer nach Raqqa aufgebrochen sind. Sie wies uns notdürftig in erste lebenserhaltende Maßnahmen bei Schußwunden ein: „Wenn du Blut siehst, wenn einer einen Treffer hat, müsst ihr ihn von oben bis unten abtasten. Gebt euch nicht damit zufrieden, wenn ihr ein, zwei Löcher findet. Oft sind es mehrere. Und tastet wirklich alles ab, wir hatten oft große Löcher im Oberschenkel innen.“ Drei Stunden hörten wir uns die Fallbeispiele an: Menschen, denen der Kiefer fehlte, denen ein Stück Kieferknochen in der Luftröhre steckte; Bauchschüsse, bei denen Gedärme austreten; zur U-Form verkrüppelte Beine mit herausstehenden Knochen. Für die Frontsanitäterinnen war das Alltag.

Heval Dilan hatte genau diese Arbeit verrichtet. Und dann hatte sie einen schweren Autounfall. Als sie bei uns ankam, wirkte sie manchmal kaum ansprechbar. Dilan hatte eine schwere Gehirnerschütterung. Sie konnte kaum gehen, wenn sie aß, erbrach sie. Morgens sah sie aus wie aus einer Folge von walking dead. Ich dachte oft: Würde es mir so gehen, ich würde versuchen, so schnell wie möglich nachhause zu kommen. Doch Dilan dachte gar nicht daran. Sie wollten nach Raqqa, dann nach Deir ez-Zor. Am besten sofort. Und weil es so viele Menschen wie Dilan gab, wurde es auch für die ängstlicheren wie mich schwieriger, den eigenen Befindlichkeiten nachzugeben.

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Die drei – Mussa, Renas und Dilan – sind völlig zufällige Beispiele für den alltäglichen Heroismus der Revolution in Rojava. Geschichten wie die ihren sind Alltag in Rojava. Es ist eine Revolution, die nur deshalb solange bestehen konnte, weil tausende Menschen den Fortgang dieses Projekts über ihr eigenes Wohlergehen, über ihr persönliches Geschick stellten. Das aber ist letztlich die Bedeutung von Widerstand. Er hört nicht da auf, wo es unbequem zu werden droht. Er fängt dort erst an. Denn er speist sich aus der empfundenen Einsicht, dass ein Leben auf Knien kein Leben sein kann.

Die Revolution in Rojava und die kurdische Befreiungsbewegung haben vielen Menschen diese Einsicht wieder ins Gedächtnis gerufen. Und sie hat ihnen eine Heimat gegeben, die auf keinem Territorium, sondern in den eigenen Köpfen liegt. Wenn wir zum 2. November auf die Straßen gehen, um den World Resistance Day zu begehen, protestieren wir nicht nur gegen die Kriegsverbrechen und das vom Feind begangene Unrecht. Wir feiern auch die Schönheit dieses Widerstandes.

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Spiegel Online brachte heute einen ausführlichen Text über den Vorschlag von Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer, eine deutsch geführte „Sicherheitszone“ im Norden Syriens einzurichten. Der Artikel muss dann natürlich, so viel diktiert der journalistische Ethos, noch die Meinung eines Kurden einholen. Auftritt: Ali Ertan Toprak. Der Sprecher der Kurdischen Gemeinde Deutschland (KGD) findet den Vorschlag dufte. Soweit so gut.

Das kleine Problem: Ali Ertan Toprak ist zwar Kurde. Aber er ist kein Sprecher jener kurdischen Bewegung, die im Norden Syriens aktiv ist. Das erwähnt der Artikel nicht. Was Ali Ertan Toprak aber ist, ist Mitglied der CDU. Auch das erwähnt der Artikel nicht.

Toprak zählt, wenn es um irgendetwas mit Bezug auf Kurden geht, zu den beliebtesten Interviewpartnern großer Medien in Deutschland. Und das, obwohl seine KGD nur eine sehr kleine Minderheit der Kurd*innen in Deutschland repräsentiert, und noch dazu nicht für jene politische Bewegung sprechen kann, die den Befreiungskampf in Kurdistan selbst führt. Die haben hierzulande eigene Vertretungen, die noch dazu wesentlich mehr Menschen umfassen als die KGD: Kon-Med (früher Nav-Dem) heißt der Zusammenschluss dieser kurdischen Vereine, Civaka Azad heißt ihr Büro für Öffentlichkeitsarbeit. Auch dort könnte man anrufen, die Telefonnummer steht im Internet. Aber: Diese Kurd*innen mag man nicht gern, denn sie sind weder in der CDU, noch machen sie andauernd Werbung für den deutschen Staat und seine Institutionen – schon weil dieser sie verfolgt.

Journalistisch ist die Dauerbeschallung mit Ali Ertan Toprak ein Taschenspielertrick – und dazu ein rassistischer. Man würde ja nie auf die Idee kommen, wenn man etwas von der SPD will, irgendeinen Deutschen, sagen wir Dieter Bohlen, einzuladen, weil eh alle Deutschen gleich sind. Oder wenn man die Position der syrischen Regierung erfahren will, den Sprecher irgendeiner irakischen Oppositionspartei – weil sind ja beide Araber und ist ja eh alles dasselbe.

Seit Jahren tun sich die deutschen Medien schwer zu verstehen, dass es auch bei Kurd*innen – welch´ Wunder – verschiedene Parteien gibt, verschiedene politische Einstellungen. Es gibt feudale Parteien wie die südkurdische KDP, sozialdemokratische wie PUK, und dutzende Parteien, die den Ideen Abdullah Öcalans anhängen. Sätze wie „Wir liefern Waffen an die Kurden“ – wenn man die KDP im Nordirak meint -, sind einfach absurd, schon weil diese Waffen dann gegen andere, jesidische Kurd*innen eingesetzt wurden.

Nach Jahren der Berichterstattung über diese Region müsste ein so einfacher Merksatz wie „Kurd*innen sind auch normale Menschen und es gibt bei ihnen unterschiedliche Parteien“ eigentlich in das letzte Redakteurshirn vorgedrungen sein. Insofern ist es einfach bewusste Irreführung der Leser*innenschaft, wenn man Ali Ertan Toprak andauernd kommentarlos als Sprecher für Angelegenheiten einlädt, in denen man eine*n Vertreter*in von Kon-Med interviewen müsste.

# Titelbild: wikipedia

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Vom 1. bis zum 9. September 2019 fand, in Unterlüß bei Celle, das zweite Rheinmetall Entwaffnen Camp statt. Mehrere hundert Menschen haben sich hier zusammengefunden um die Waffen- und Munitionsfabriken des Rüstungskonzerns Rheinmetall zu Blockieren. Erfolgreich wurden so, zwei Tage lang, die Abläufe gestört. Wir waren dabei und wollen unsere Eindrücke teilen.

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Die taz druckt viele schlechte Texte. Gerade unter ihren Kolumnen und Kommentaren findet sich so dermaßen viel Schmarren, dass man sich eigentlich schämen müsste, eines dieser Machwerke herauszugreifen und als besonders grauenvoll auszuzeichnen. Dennoch, ein Textchen hat es sich heute mal wieder verdient.

Der Auftakt einer neuen Kolumnenreihe der Autorinnen Cemile Sahin und Ronya Othmann beschäftigt sich mit (um es gleich zu sagen: erfundenen) Projektionen der deutschen Linken auf das Revolutionsprojekt in Nordsyrien, kurdisch: Rojava.

Das Fazit der Autorinnen am Ende des Textes: „Die Kurden sind keine kämpfende Folkloretanzgruppe, sondern eine politisch, religiös und gesellschaftlich heterogene Ethnie im Nahen Osten.“ Nein? Echt? Krasse, steile These. Dass nie irgendwelche deutsche Linken, die vor dieser bahnbrechenden Erkenntnis vierzig Zeilen lang beschimpft und gedemütigt werden, irgendwas anderes behauptet haben, stört die beiden renommierten Middle-East-Kennerinnen nicht. Im Gegenteil widerlegen sie sogar ihren eigenen Blödsinn in einem Nebensatz, wenn sie bemängeln, dass deutsche Linke eben Barzani-Kurdistan nicht mögen. Warum wohl? Ja, weil man eben nicht mit einer Ethnie, sondern mit einer politischen Bewegung solidarisch ist.

Aber derlei Kritik geht ohnehin fehl. Denn um kritische Bewertung von linker Politik geht es dergleichen taz-Kolumnen nicht. Das Beweisziel des ganzen Bla-Blas ist nicht die sensationelle Einsicht, dass Kurden eine „heterogene Ethnie im Nahen Osten sind“. Sondern dass „die deutsche Linke“ (e.V.) gar nicht wirklich solidarisch ist, weil sie sich nur wahlweise ein „Pfadfindercamp für Ferienkommunismus“ wünscht, „antiimperialistische Sehnsüchte“ hegt und eigentlich gar nicht anders ist als die AfD, die vom „wilden Kurdistan“ in Berlin fabuliert.

Das Geschreibsel ist so inhaltsleer wie überheblich. Der Platz zwischen den Werbeeinschaltungen wird gefüllt mit Knallerweisheiten aus dem postmodernen Intellello-Satzbaukasten: „Krieg ist nicht eindimensional lesbar“, man muss „zuallererst die festgeschriebenen Narrative verstehen“ und: „Zuschreibungen gibt es nicht nur von links, sondern auch von rechts.“

Man liest das, versteht, die beiden Autorinnen haben weder von Kurdistan, noch von der deutschen Linken irgendeine Ahnung (oder verstecken beides gekonnt) und merkt: Darum geht es auch nicht. Denn das arrogante Geraune hat zum einzigen Ziel, sich selbst durch die Konstruktion einer Popanz-Linken irgendwie als besonders cool zu inszenieren. Es geht nicht um eine Kurskorrektur eines tatsächlich vorhandenen Mangels. Es geht nicht darum, zu diskutieren oder zu streiten. Es geht darum, sich irgendeine eigene Projektionsfläche zu basteln, die Leute anklicken. Und „die deutsche Linke“ ist da ein so billiger wie willkommener Hans Wurst.

Bis dahin ist das alles Business as Usual im Hipster-Laden an der Dutschke-Straße. Und eigentlich nicht der Rede wert. Aber der Text ist leider nicht nur das übliche billige Linkenbashing, das zum Kerngeschäft der taz gehört. Er ist auch unterirdisch schäbig. Denn indem er die gesamte deutsche Linke über einen Kamm schert, greift er direkt auch jene an, die im Kampf für die Revolution in Rojava oder in den Bergen Kurdistans in den letzten Jahren gefallen sind: Ivana Hoffmann, Günter Hellstein, Kevin Jochim, Anton Lesek, Sarah Handelmann, Jakob Riemer, Michael Panser.

Sie alle waren keine Kurd*innen. Sie alle waren Teil dieser Revolution, die eben – auch wenn die kurdische Befreiungsbewegung in ihr eine Avantgarde-Rolle spielt – keine ethnische Angelegenheit ist. Was man auch lernen könnte, indem man gelegentlich Verlautbarungen aus der Region liest – wenn einem schon die Verpflichtungen am Deutschen Literaturinstitut Leipzig oder an der Akademie der Künste Berlin nicht die Zeit lassen, mal hinzureisen.

Ivana, Günter, Kevin, Anton, Sarah, Jakob und Michael sind Beispiele für einen Internationalismus, der das verstanden hat. Und sie sind nicht aus Spaß „durch die Berge gehoppelt“, wie die Design-Studentin aus Wiesbaden und die Dichterin aus Freising in der mittelmäßigen deutschen Scheißzeitung unken. Sondern sie sind mit der Waffe in der Hand in Verteidigung von etwas gefallen, was ihnen wichtig war. Sie für ein paar Clicks und eine Runde Aufmerksamkeit mit Zeilengeld zu beleidigen, ist ekelhaft.

#Titelbild: wikimedia commons

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Am 14. Dezember 2018 fiel der deutsche Internationalist Michael Panser, Kampfname Bager Nûjiyan, bei einem Bombardement der türkischen Luftwaffe gegen Stellungen der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) in den Gebirgsregionen des Medya-Verteidigungsgebiets an der irakisch-türkischen Grenze.

Auf kurdisch gibt es viele Namen für den Wind. Bager ist einer davon und es ist der Wind, der um sich selbst wirbelt, der Tornado. Der Wind, der sich scheinbar aus dem Nichts seine Form gibt und sich auflösen und neu zusammensetzen kann. „Nûjiyan“ heißt „neues Leben“.

Beide Namen sind sicher kein Zufall. Ich durfte mit Bager Nûjiyan im Frühling und Sommer 2017 einige Monate in Westkurdistan, Rojava, gemeinsam verbringen. Und eine der Eigenschaften, die ich mit ihm verbinde, ist genau dieser Wunsch, sich selbst neu zu erschaffen. Und am besten alle anderen gleich mit. Xêlil, wie Bagers Kampfname damals noch lautete, war, als ich mit anderen neuen Freund*innen in Rojava ankam, einer von denen, die uns begrüßt, eingewiesen und aufgefangen haben.

Er gehörte zu jenen Menschen, die ständig von den ganz großen Fragen umgetrieben werden. Und er war, wie das Abdullah Öcalan mal über sich selbst sagte, ein „Wahrheitssucher“. Einer der ständig liest, sich überlegt, was an dem gelesenen dran ist und es dann anderen weitererzählt. Er war ein ausgezeichneter Kenner der Geschichte politischer und philosophischer Theorien und fest davon überzeugt, dass diejenige, die Abdullah Öcalan in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt hat, eine echte Perspektive für gelingendes gesellschaftliches Leben bieten. Und wie das so ist mit jemandem von diesem Schlag konnte man ausgezeichnet und bis an die Grenze des Wutausbruchs mit ihm streiten. Aber Streiten in jenem Sinn, der heute schon viel zu oft verloren ist und bei dem es nicht um irgendwelche kleinlichen persönlichen Vorlieben, irgendwelche Kränkungen kleinbürgerlicher Eitelkeiten geht. Sondern um Sachen, die eben wichtig sind und bei denen man deshalb verbissen argumentiert, weil man das noch erkennt.

Ich erinnere mich an eine auf den ersten Blick schräge Kombination an Literaturtipps, die er mir gab. Von buddhistischen Schriften über harten Politkram bis Sci-Fi und Märchen war alles dabei. Ich verdanke Xelil so nicht nur meine im Vergleich zu seinen beschämenden Kurdischkenntnisse, sondern auch eine seit damals anhaltende Liebe zu Douglas Adams. Er erklärte die Philosophie Abdullah Öcalans mit Zitaten aus Winnie Puh, riet mir, unbedingt und unverzüglich die Lektüre des „Hitchhiker‘s Guide to Galaxy“ nachzuholen, die ich sträflich vernachlässigt hatte, und ließ keine Gelegenheit aus, Walter Moers zu loben, dem wir unser gesamtes Wissen über Zwergpiraten, Wolperdinger und Eydeeten verdanken. Jack London‘s „Iron Heel“ stand genauso auf Xelîls Empfehlungsliste dringlich zu verschlingender Werke wie „Herland“ von Charlotte Perkins Gilman.

Das mag vielleicht alles irgendwie komisch wirken – denn wer fährt schon in ein Kriegsgebiet, um sich dann fünf Bände „Hitchhiker‘s Guide to Galaxy“ oder die Abenteuer von Walter Moers‘ Lindwurm Hildegunst von Mythenmetz auf einem E-Reader reinzuziehen? Aber es ist bei genauerer Betrachtung eigentlich recht logisch. Die Revolution weitet den Blick auf das Zukünftige, das Noch-Nicht-Seiende, Utopische in einem guten Sinn. Auf die tausenden unrealisierten Möglichkeiten in diesem und den parallelen Universen.

Im übrigen passt dann am Ende doch immer alles zusammen und so kann auch der Lindwurm Hildegunst ganz gut etwas dazu beisteuern, um uns zu verdeutlichen, was Menschen wie Xelîl antreibt. „Diese Geschichte handelt von einem Ort, an dem das Leben noch ein Abenteuer ist“, kündigt der heranwachsende Hildegunst zu Beginn der „Stadt der träumenden Bücher“ an. Er warnt die Leser: Die Kamillenteetrinker, die das Risiko nicht eingehen wollen, für eine gute Geschichte ihr Leben zu verlieren, sollen erst gar nicht weiter lesen. Ihnen wünscht Hildegunst ein langes und sterbenslangweiliges Dasein. „Jede Reise hat ihren Anlaß, und meiner hat mit dem Wunsch zu tun, aus den gewohnten Verhältnissen auszubrechen“, sagt der angehende Dichter trotzig und macht sich auf den Weg, um sich mit überdimensionalen Würmern, menschenfressenden Spinnen und allerhand sonstigen Fabelwesen zu messen. Hildegunst sucht das Orm, die Kraft der Kreativität der begnadeten Dichter, jene Inspiration, „die einen die ganze Nacht wie im Fieber schreiben und einen tagelang an einem einzigen Satz feilen lässt.“

Und auch Xelîl war kein Kamillenteetrinker. Er wusste um das Risiko des Lebens, das er gewählt hatte und er hat es dennoch gewählt, weil ihm die Dauer des Hierverweilens nicht so wichtig schien wie das Herausfinden dessen, warum und zu welchem Zweck man eigentlich hier verweilen soll.

Und weil er aus eben den gewohnten Verhältnissen ausbrechen wollte, in denen wir als deutsche Linke immer noch dahintümpeln. Er wollte das nicht für sich, individuell. Sondern in der festen Überzeugung, dass nur durch den Austausch und das Zusammenkommen mit einer wirklich revolutionären Bewegung auch in der westlichen Linken irgendetwas vorangehen kann.

Er fiel im Krieg gegen die menschenfressenden Spinnen. Gewonnen haben die aber dennoch nicht, denn er hatte ja sein Orm schon lange vorher gefunden und sie sind halt nichts als Spinnen. Wer weiß, wie gerne und wie bewusst er genau da war, wo er war, der wird nicht traurig darüber sein. Traurig kann man über die sein, die das Abenteuer der Suche nach dem Orm nie anfangen.

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Im Nordirak und in der Südtürkei greift die türkische Armee kurdische Gebiete an. Erdogans Feldzug könnte sich auch auf das nordsyrische Rojava ausweiten.

Die Kamera zeigt einen steinigen Hügel. Langsam kriecht ein LKW die enge Schotterstraße hinauf. „Hazir bê“, mach dich bereit, sagt eine Stimme auf kurdisch. Und wenig später: „Bitaqine“, lass es explodieren. Der LKW verschwindet in einer Wolke aus Feuer und Staub. Die Erklärung der kurdischen Volksverteidigungskräfte HPG im Abspann des Videos bilanziert: Drei türkische Soldaten sind bei der Aktion getötet worden.

Anschläge wie diesen in der kurdischen, im Südosten der Türkei gelegenen Provinz Hakkari (Colemêrg) sind derzeit häufig. Die Guerillakräfte der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) veröffentlichen fast täglich die Ergebnisse der Aktionen und Gefechte: Am 16. Juli griff die Frauenguerilla YJA-Star einen Wachposten einer Militärbasis bei Bajêrgan an; am 18. Juli wurden im Gebiet Dola Çingene türkische Soldaten von zwei Seiten angegriffen, die von Transporthubschraubern im Gelände abgesetzt werden sollten; am 19. Juli starben bei einer Sabotageaktion in Şirnex eine ungeklärte Anzahl an Besatzungsoldaten.

Die Schwerpunkte der aktuellen Kämpfe erstrecken sich rund um das türkisch-irakische Grenzgebiet, von den Provinzen Şirnex und Colemêrg bis weit in den Süden, auf irakisches Territorium. Dort versucht Ankara sich seit mehreren Monaten festzusetzen und – ähnlich wie seit Anfang 2018 in der nordsyrischen Kurdenprovinz Afrin – ein Terrorregime gegen die lokale Bevölkerung zu errichten.

Operation Klaue“

Ende Mai begann, so ist türkischen Regimezeitungen zu entnehmen, die Militäroperation „Klaue“, deren Ziel die „Auslöschung“ der kurdischen Befreiungsbewegung in den gebirgigen Regionen zwischen dem Irak und der Türkei ist. Dort liegen die sogenannten „Medya-Verteidigungsgebiete“, die als Hauptquartier der seit 40 Jahren gegen NATO und türkischen Kolonialismus kämpfenden kurdischen Befreiungsbewegung. „Diese Gebiete sind Stützpunktgebiete der Guerilla, aber sie sind vor allem das ideologische Herz der Partei“, erklärt Özgür Pirr Tirpe, ein Vertreter der kurdischen Revolutionären Jugendbewegung „Tevgera Ciwanên Şoreşger“ (TCS) gegenüber dem LCM. „Hier werden die Kader*innen ausgebildet. Strategische Zentren sind hier ebenfalls angesiedelt. Seit mehr als 30 Jahren nutzt die Bewegung diese Berge in Südkurdistan als Hauptquartier und Rückzugsgebiet zugleich.“

Irakisch-türkisches Grenzgebiet auf einer Karte der türkischen Propagandamedien – Gare, Metina, Zap, Xakurke zählen zu den von der PKK gehaltenen Gebieten

Die türkische Regierung weiß: Wenn sie diese Berge nicht knacken kann, kann sie die militärische, letztlich genozidale „Lösung“ der Kurdenfrage nicht umsetzen, die sie zum eigenen Machterhalt braucht. Deshalb steht dieses Gebiet seit Jahren unter Dauerbombardement der Luftwaffe. Doch allein durch Drohnen und Kampfjets ist den Guerillakämpfern nicht beizukommen. Ein weit verzweigtes Höhlensystem und jahrzehntelange Erfahrung im Konflikt mit der NATO-Armee garantieren die Sicherheit der PKK-Kämpfer*innen.

Deshalb verheizt die Türkei in regelmäßigen Abständen Soldaten beim Versuch, auch am Boden in die Medya-Verteidigungsgebiete einzudringen. „Die Region ist schwer zugänglich und äußerst bergig. Dementsprechend war es für die türkische Armee auch nie möglich, hier vollständig einzudringen. Es war immer nur möglich einzelne Hügel zu besetzen, aber unter dem Druck der HPG-Gerila mussten sie sich immer wieder zurückziehen“, sagt Özgür Pirr Tirpe.

Dementsprechend setzt sich auch die Strategie der derzeit laufenden, direkt im Anschluss an „Operation Klaue“ begonnenen „Operation Klaue 2“ aus verschiedenen Elementen zusammen. Der Luftraum wird andauernd mit Drohnen überwacht, Kampfjets bombardieren alles, was sich bewegt – meistens Zivilist*innen aus den Dörfern rund um die umkämpften Regionen. Gleichzeitig versuchen Hubschrauber Spezialeinheiten auf Hügeln abzusetzen, die dort Stützpunkte errichten sollen. Die allerdings haben oft eine relativ kurze Halbwertszeit, bevor die Guerilla sie wieder einreißt oder sprengt.

Kurdische Kollaborateure

Hauptschauplatz dieses Kampfes ist die Region Xakurke (Hakurk) im Nordirak. Und hier kommt eine weitere Kraft ins Spiel: Die „Demokratische Partei Kurdistans“ (KDP). Die eng mit Deutschland, den USA und der Türkei verbundene Gruppe herrscht in Teilen der Kurdischen Autonomiegebiete im Nordirak. Basierend auf einem feudalen Clansystem lebt sie vom Ausverkauf der Ressourcen des Landes, stets bereit den ausländischen „Partnern“ jeden Dienst zu erweisen, der ihr die Macht über die eigene Bevölkerung sichert.

„Die KDP beschreibt sich selbst als patriotisch-nationalistische Partei die für die Freiheit Kurdistans kämpfen würde“, lacht Özgür Pirr Tirpe. „Tatsache aber ist, dass diese Partei in den letzten 16 Jahren der Herrschaft des Barzani-Clans nichts anderes war, als ein die Bevölkerung ausbeutendes Machtinstrument. Das gesamte Ölgeschäft, welches einen Großteil des Reichtums Südkurdistans darstellt, ist in den Händen dieser Familie zentralisiert. Auch sämtliche Posten innerhalb der KDP bleiben innerhalb der Familie Barzani.“

Der Barzani-Clan unterhält indes enge ökonomische Beziehungen zum Erdogan-Regime in der Türkei. Die Sprösslinge des Clans sind häufig in Ankara zu Gast. Und im Gegenzug für die Gunst der AKP-Diktatur hilft die KDP, wann immer sie kann, bei den Angriffen auf andere kurdische Parteien, insbesondere jenen, die der PKK nahe stehen. Derzeit stellt die KDP Stützpunkte ihrer Peschmerga-Truppen der türkischen Armee zur Verfügung, lässt türkische Soldaten frei in den Städten der Kurdischen Autonomieregion operieren und deckt den türkischen Geheimdienst MIT.

Unter der Ägide der KDP wurde in den vergangenen Jahren der Nordirak zu einem Gebiet, in dem es keine eigenen Hoheitsrechte mehr gibt. Die Türkei kann – auf dem Boden wie in der Luft – kommen und gehen, wie es ihr beliebt. Genau das dürfte ohnehin eines der Ziele der Besatzungsoperation sein: Das Erdogan-Regime hat mehr als einmal erklärt, es möchte sich Gebiete des früheren osmanischen Reichs wieder angliedern. Und dazu gehört eben auch die heute umkämpfte Region.

Ausweitung auf Nordsyrien?

Der Feldzug Erdogans könnte sich in naher Zukunft erneut ausweiten. Das erklärte Ziel der türkischen Regierung ist es, die Selbstverwaltungszone im Norden Syriens, die unter dem Namen Rojava internationale Bekanntheit erlangte, zu vernichten. Mit der seit 2018 andauernden Besatzung in einem Teil dieses Gebiets, dem nordwestsyrischen Afrin, begann dieser Angriff. Doch auch die verbleibenden Provinzen zwischen Kobane und Derik möchte die Türkei besetzen. Dass sie das bislang nicht konnte, liegt an den internationalen Konstellationen in Syrien: Die Interessen der USA und Russlands, von Damaskus und dem Iran ergaben bisher keinen Spielraum für einen Einmarsch.

Die Türkei beschießt zwar regelmäßig über die Grenze kurdische Dörfer und Städte, rüstet Islamisten auf, die Terroranschläge durchführen und setzt Felder in Brand, um die Bevölkerung zu vertreiben. Doch ihr Wunsch, einzumarschieren und sich das Gebiet einzuverleiben, blieb bislang ohne Genehmigung aus Russland oder den USA.

Dennoch könnte, so sind sich die kurdischen Verbände in Syrien einig, bald ein Vorstoß aus dem Norden drohen. Die Volksverteidigungseinheiten YPG und die Frauenverteidigungseinheiten YPJ bereiten sich auf den Krieg vor. Und das multiethnische Militärbündnis SDF (Demokratische Kräfte Syriens), das der Selbstverwaltung in Nordsyrien unterstellt ist, kündigte an, im gesamten Grenzgebiet der Türkei zu Syrien zurückschlagen zu wollen, sollte Ankara angreifen.

Auch Özgür Pirr Tirpe hält das Szenario nicht für allzu unwahrscheinlich: „Derzeit sieht es so aus, als könnte sich der bisherige Krieg niederer Intensität zu einem Krieg hoher Intensität entwickeln.“

Autoren: Peter Schaber und Hubert Maulhofer

Bildquelle: ANF

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Ji bo bîranîna Şehîd Şiyar Gabar

Der deutsche Internationalist Jakob Riemer (Şiyar Gabar) aus Hamburg ist vor fast genau einem Jahr, am 9. Juli 2018, in Çarçella, einer Region des Zagros-Gebirges, bei einem Luftangriff der türkischen Armee gefallen. Zu seinem Gedenken fanden zum 1. Todestag Gedenkveranstaltungen und Plakataktionen statt. Berliner Aktivistinnen des Widerstandkomitees nahmen seinen Todestag zum Anlass, ihm in Form eines Wandbildes zu gedenken. Wir haben sie dabei begleitet.

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Das Konterfei des kurdischen Revolutionärs Abdullah Öcalan dürfte mittlerweile weiten Kreisen der politischen Linken in der Bundesrepublik bekannt sein. Und das obwohl deutsche Behörden verbieten, es in der Öffentlichkeit zu zeigen. Deswegen kommt es regelmäßig zu Gerichtsprozessen, weil Genoss*innen sich nicht untersagen lassen wollen, das Bild des seit 1999 in Isolationshaft sitzenden schnauzbärtigen Mannes auf Demonstrationen zu tragen.

Der Genosse hat nun allerdings nicht nur ein Gesicht, sondern auch einen Kopf und zwei Hände. Und mit diesen schreibt er seit Jahrzehnten Bücher, die hierzulande immer noch viel zu wenig gelesen werden. Einige von diesen Büchern sind jetzt neu erschienen, nachdem vorherige Auflagen von der Polizei beschlagnahmt wurden und der sie herausgebende Mesopotamienverlag gleich komplett verboten wurde. Der Münsteraner Unrast-Verlag hat in den vergangenen Monaten Werke neu herausgegeben und der zweite Band des »Manifest der demokratischen Zivilisation« erscheint gerade zum ersten Mal in deutscher Sprache.

Theorie um der Praxis willen

Man kann nur sagen: Holt euch diese Bücher und lest sie! Gründe dafür gibt es viele, aber einer der wichtigsten ist, dass sie Theorie im Handgemenge sind. Es gibt Bücher, die werden geschrieben, damit der*die Autor*in etwas auf den Büchermarkt werfen kann, weil irgendein Jahrestag droht, jemand seine Uni-Karriere vorantreiben oder sich Anerkennung verschaffen will.

Und es gibt Bücher, die sollen Orientierung in einem Kampf geben, in einer wirklichen Auseinandersetzung. Zu letzterer Kategorie gehören eigentlich alle Klassiker. Rosa Luxemburg oder Kwame Nkrumah, Lenin oder Võ Nguyên Giáp schrieben nicht, weil sie sich einen geilen Vertrag bei Suhrkamp erhofften oder um bei einer Cocktailparty die eigene Publikationsliste vorzutragen. Sie schrieben, um einzugreifen. Sie schrieben als Teil einer Bewegung und vergegenwärtigten deren politische Praxis. Und sie schrieben für die Popularisierung von deren ideologischer Linie.

Öcalan gehört in diese zweite Kategorie revolutionärer Schriftsteller*innen. Seine Schriften waren vom Beginn seines Lebens als Revolutionär der Versuch, seiner Bewegung eine theoretische Grundlage zu geben. Diese Überlegungen fanden immer in konkreten historischen Situationen statt. Und weil spätestens mit den beginnenden 1990er-Jahren zu dieser Wirklichkeit auch das Scheitern des mit der Oktoberrevolution begonnenen sozialistischen Versuchs gehörte, formulierte er sie nach seiner Verhaftung 1999 auch zunehmend als Kritik am Staatssozialismus und den traditionellen antikolonialen Bewegungen.

Öcalans These ist: Sozialdemokratie, Sozialismus/Kommunismus und auch die verschiedenen antikolonialen Bewegungen haben im 21. Jahrhundert eine „klare Niederlage“ gegen Kapitalismus und Liberalismus erlitten. Und wer nicht in der Lage ist, diese Niederlage wirklich zu begreifen, werde auch in der nächsten Runde gegen Staat und Kapital K.O. gehen.

Was Öcalan schreibt, ist für jede*n, der*die aus irgendeiner dieser Traditionen kommt, zunächst einmal ärgerlich. Und es ist manchmal ungerecht. Einige von Öcalans Kritiken an Marx etwa sind selbst mit größten Sympathien schwer nachzuvollziehen. Andere dafür gehen ans Eingemachte. Lässt man sich darauf ein seine Überlegungen verstehen zu wollen, öffnet sich eine Welt anregender Gedanken. Das Ärgernis wird produktiv für den eigenen Versuch, Revolution neu zu denken.

Und das gerade auch, weil sein Neuanfang einer von der Wurzel an ist. Er sagt nicht einfach, der Sozialismus ist gescheitert, weil diese oder jene taktische Entscheidung falsch war oder man in der Industrieplanung zwei Tonnen Stahl zu viel verbaut hat. Die Niederlage hat ein Fundament in der historisch-philosophischen Basis. Sogar die radikalste Kritik des Kapitalismus, die von Marx ausgehende Tradition, sei – so seine These – noch viel zu sehr in der Denkweise kapitalistischer Theoriebildung verfangen gewesen.

Auch sie sei dem „Positivismus“ verhaftet gewesen, jener „szientistischen Religion“, die auch dem Fortschrittsglauben, der im Kapitalismus herrschenden Ideologie, zugrunde liegt. Der „Positivismus“ trennt die Welt in Subjekt und Objekt, vergegenständlicht letzteres und entmachtet damit auch ersteres. Der Positivismus ist, so Öcalan, der „vulgärste Materialismus“ und „Götzenreligion“ der kapitalistischen Moderne zugleich. Und auch, wenn Marx wie Lenin fundamentale Kritiken an diesem Vulgärmaterialismus ablieferten, ganz los wurden sie ihn – zumindest Öcalan zufolge – nicht. Selbst wenn man diese Kritik an den beiden Klassikern nicht teilt, ist spätestens nach der Kodifizierung ihres Denkens im beginnenden 20. Jahrhundert ihre Richtigkeit offenkundig.

Kritik am Determinismus

Das positivistische Erbe, das im Marxismus-Leninismus fortwirkte, hatte eine Reihe von Konsequenzen. Eine ist, dass zu kritiklos das im Kapitalismus Entwickelte als Grundlage für den Sozialismus angesehen wurde. Öcalan wendet ein, dass z.B. der Staat nicht einfach unter geänderten Vorzeichen zum Arbeiter-und-Bauernstaat werden könne, weil schon seiner Form die Klassenherrschaft und patriarchale Unterdrückung eingeschrieben sei. Aber auch etwa Lenins These, dass die Monopole und Trusts übernommen und nunmehr im Volkseigentum weiter geführt werden können, fällt in diesen Bereich.

Eine weitere wichtige Auswirkung des positivistischen Erbes sieht Öcalan im deterministische Fortschrittsdenken. Die in zahllosen Lehrbüchern zum historischen und dialektischen Materialismus ausgebreitete Geschichtsphilosophie sieht grob so aus: Geschichte entwickelt sich von primitiven urkommunistischen Gesellschaften über Sklavenhalter- und Feudalsysteme bis zum Kapitalismus, der dann vom Sozialismus und später Kommunismus abgelöst wird. Die früheren Formationen sind den späteren unterlegen, ihre Abfolge ist die einer Entwicklung von niedrigeren zu höheren.

Diese Abfolge ist so notwendig wie unabhängig vom Wollen der gesellschaftlichen Subjekte. Allenfalls kann noch der Komplettzusammenbruch eintreten, aber ansonsten ist der Fahrplan durch die Entwicklung der Widersprüche von Produktivkraft und Produktionsverhältnissen bestimmt. Die Revolutionen kommen dabei natürlich nicht von alleine und ohne den Klassenkampf, aber auch der ist ein fast mathematisch vorhersehbares Produkt objektiver Entwicklungen.

Diese Geschichtssicht hat zweifellos auch positive Resultate gezeitigt. Sie verschob den Fokus von idealistischen oder gar religiösen Geschichtsphilosophien zur Welt der Produktion des materiellen Lebens; sie gab den unterdrückten Klassen ihren Platz in der Geschichte; und sie erlaubte, den Kapitalismus nicht als alternativlos oder das Ende der Geschichte zu betrachten, als das er sich so gerne inszeniert.

Doch, wendet Öcalan ein, sie ignorierte nicht nur die Eigendynamik, die mythologische, religiöse, philosophische und wissenschaftliche Gedankengebilde im gesellschaftlichen Leben hatten und haben. Sie reduziert auch das Subjekt, die menschliche Gesellschaft auf ein ausführendes Organ von Widersprüchen in der Produktionsweise. Und sie legitimiert die Klassengesellschaften, indem sie ihnen attestiert, notwendig für den Fortschritt zum Besseren zu sein. Praktisch führt sie zu Passivität, die sich bei vielen traditionellen kommunistischen Parteien auch heute beobachten lässt: eine abwartende Haltung, die jede Initiative als Abenteurertum oder Voluntarismus abtut.

Wer sich vergegenwärtigen will, wie sehr diese Kritik zumindest für einen Teil der sozialistischen Bewegung zutrifft, der kann das an der Frage der Kolonien nachvollziehen. Diese galten einem Gutteil der damals noch marxistischen Sozialdemokratie der „entwickelten“ kapitalistischen Nationen als unterentwickelte, primitive Gegenden, die zur Not mit Gewalt zu modernisieren seien. Auf dem Kongress der Internationalen im Jahr 1907 sprach etwa Eduard Bernstein für das „Recht der Völker höherer Kultur, über die niederer Kultur Vormundschaft auszuüben“ – und argumentierte diese These mit Marx und Engels. „Denn früher oder später tritt es unvermeidlich ein, daß höhere und niedere Kultur auf einander stoßen, und in Hinblick auf diesen Zusammenstoß, diesen Kampf ums Dasein der Kulturen ist die Kolonialpolitik der Kulturvölker als geschichtlicher Vorgang zu werten.“

Geschichte als Kampf

Öcalan bricht mit diesem Determinismus, wirft aber keineswegs alles über Bord, was der Marxismus an Erkenntnissen zutage gefördert hat. Auch für den PKK-Gründer ist Geschichte geprägt durch das Ringen zwischen den Unterdrückten und den Unterdrückern. Auch für ihn hat sie maßgeblich damit zu tun, wer sich wie das gesellschaftliche Mehrprodukt aneignen kann und wie dieses produziert wird. Und auch für ihn fängt sie nicht erst mit der schriftlich überlieferten Geschichte staatlich verfasster Gesellschaften an.

Vielmehr sieht er im Beginn der (stadt-)staatlich verfassten Linie von Klassengesellschaft, die mit Sumer im Mittleren Osten beginnt und letztlich im heutigen Finanzkapitalismus endet, die Niederlage jener zuvor für Jahrtausende bestehenden „natürlichen“ Gesellschaft (die im Marxismus „urkommunistische“ genannt wird). Diese sei geprägt von Kollektivität in der Reproduktion der menschlichen Gesellschaft gewesen, die Rolle der Frau war zentral in den Gemeinschaften. Das Verhältnis zur Natur sei nicht das von Verobjektivierung, Inwertsetzung und Zerstörung gewesen, vielmehr habe sich der Mensch als integraler Teil der Natur verstanden.

Die durch Patriarchat, Urbanität, Staatlichkeit und Klassentrennung gekennzeichneten Herrschaftssysteme eignen sich von Sumer über Rom bis in den heutigen Kapitalismus in seinem imperialistischen Stadium den gesellschaftlichen Reichtum an, unterwerfen die Frau und machen sich die Natur zum Untertan. Dieser Strang, der, der staatlich verfassten und letztendlich „kapitalistischen Zivilisation“ ist aber an keinem Punkt der Geschichte ohne Gegner*in. Auch die Werte und Prinzipien der „natürlichen Gesellschaften“ leben weiter: z.B. in Bauernaufständen, bei den als Hexen verfolgten Frauen des Mittelalters, in den anarchistischen, antikolonialen und kommunistischen Bewegungen der Gegenwart.

Die natürliche Gesellschaft habe „nie aufgehört zu existieren“, schreibt Öcalan in „Jenseits von Staat, Macht und Gewalt“. „Obwohl die hierarchische und etatistische Gesellschaft von ihr gezehrt haben, wurde sie nicht aufgebraucht. Sie hat sich immer gehalten. Ob als Bezugspunkt für ethnische Gruppen, Sklaven und Leibeigene oder als Fundament der neuen Gesellschaft, mit der die Proletarisierung überwunden wird, ob in nomadischen Gemeinschaften in Wüsten oder Urwäldern, ob in Form von freien Bauern oder als matrizentrische Familie – als lebendige Moral der Gesellschaft war sie trotz aller Zerstörung stets präsent.“

Sozialismus aus der Gesellschaft

Die von Staat, Kapital, Patriarchat unterdrückte und ausgebeutete Gesellschaft lebt als „demokratische Zivilisation“ – wie gebrochen auch immer – weiter und leistet Widerstand gegen die „staatliche Zivilisation“. Der Aufbau einer neuen Gesellschaft kann an die fortbestehenden Selbstorganisierungsmechanismen der demokratischen Zivilisation anknüpfen, sie entwickeln, umgestalten und ausbauen. Marx übrigens dachte – zum Beispiel in seinen Briefentwürfen an die russische Sozialistin Wera Sassulitsch – gelegentlich in eine ähnliche Richtung.

Wie dabei der Aufbau des Sozialismus aussieht, hängt damit bis zu einem gewissen Grad von den jeweiligen lokalen Traditionslinien ab: Eine Entwicklung und Umgestaltung jesidischer Dorfgemeinden im Sengal wird sicher andere Züge tragen als die Revolution in Westeuropa. Für Öcalan sind diese lokalen Unterschiede aber nicht einfach zugunsten eines einheitlichen Entwicklungsmodells plattzumachen, sondern in demokratisch-konföderalen Gebilden miteinander auszutarieren – bis hin zum „Globalen Demokratischen Konföderalismus“, der „regionale demokratische Konföderalismen für Asien, Afrika, Europa und Australien“ einschließen könnte – wie er im Zweiten Band seiner Verteidigungsschriften mutmaßt.

Wie die begonnene Umsetzung dieses Konzepts im Norden Syriens zeigt, bedeutet das entgegen häufiger Missverständnisse nicht die Ablehnung jeglicher zentraler Instanz. Die Devise dürfte eher sein: So viel wie möglich dezentral, so viel wie nötig zentral. Die verschiedenen Ebenen – von der Kommune bis zum Rat des „Globalen Demokratischen Konföderalismus“ sind dabei durch ein engmaschiges Netz rätedemokratischer Institutionen miteinander vermittelt, an die Kultur- und Produktionskooperativen angegliedert sind. Diese Überlegungen sind dabei heute längst keine Gedankenspiele eines Intellektuellen mehr: Innerhalb des sogenannten KCK-Systems, der Millionen Menschen umfassenden „Union der Gemeinschaften Kurdistans“ ist sie gesellschaftliche Realität geworden – und damit ein Konzept, das seinerseits in einem stetigen Wandel begriffen ist.

Der neue Mensch

Das Sozialismus-Konzept Öcalans wäre aber nur sehr unzureichend beschrieben, würde man es auf Debatten um Institutionen reduzieren. Ein bedeutender Teil der Überlegungen Öcalans, schon lange vor seiner Inhaftierung 1999, richten sich auf ein anderes Problem: den in Kapitalismus, Kolonialismus, Feudalismus, Patriarchat geformten Menschen selbst.

Praktisch stellte sich die Frage ab den 1980er-Jahren so, dass eine Menge junger Menschen aus unterschiedlichen Schichten – von dörflich-feudal bis urban-intellektuell – in die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) eintraten. Die Partei musste also Mechanismen finden, um die Eigenschaften, die diese neuen Genoss*innen mitbrachten, zu überwinden. Öcalan war es, der den Fokus nun auf die kollektive Persönlichkeitsentwicklung legte. Er erklärte den „Aufstand“ gegen die „vom Feind entwickelte Welt der Sozialisation, Beziehungen, Gefühle und Triebe“. So wie der Aufbau der institutionalisierten Formen des Sozialismus – Kommune, Rat, jede Form von organisierter Gegenmacht – schon innerhalb der noch bestehenden Staatlichkeit und kapitalistischen Verhältnisse beginnt, fängt für Öcalan auch die Schaffung des „neuen Menschen“ nicht erst in einer fernen Zukunft nach der Revolution an.

Die Rede von der Schaffung eines „neuen Menschen“ klingt für die hiesige Linke sicher ungewöhnlich, aber man kann sich das zugrunde liegende Problem auch unabhängig von dem Kontext der kurdischen Bewegung vergegenwärtigen. Die kapitalistische Zivilisation, so beschreibt Öcalan im Band II des „Manifest der demokratischen Zivilisation“, hält sich nicht allein durch den blutigen Repressionsapparat. Sie hält sich vor allem dadurch, dass sie ihre Werte und Prinzipien in das Bewusstsein der Menschen einschreibt und diese durch eine Reihe von Mechanismen der Machtausübung an sich bindet: Konkurrenzdenken, Individualismus und Egoismus, die Vermarktung und Entfremdung von Sexualität, Sucht und Eskapismus, liberale und patriarchale Zurichtung – eine lange Reihe von Phänomenen gehören hier hin. Wer Kapitalismus und Staat überwinden will, so zumindest die These Öcalans, kann das nicht, ohne schon während des Kampfes die Ketten zu kappen, die einen an die sterbende Gesellschaftsordnung binden.

Das „qutbûn“, die Abtrennung von der staatlichen Zivilisation, bedeutet, sich neue Werte, neue Prinzipien im Leben zu geben. Die zentrale Frage ist: Wie soll eine Gesellschaft und in ihr das Individuum leben? Was gibt einem Leben Bedeutung, was sind die Maßstäbe von Entwicklung – wenn es denn nicht mehr diejenigen sind, die die kapitalistische, staatliche, patriarchale Zivilisation setzt. Die Frage nach einer solchen Umwertung der Werte stellt sich im Kleinen wie im Großen: Denn weder bietet der Kapitalismus in seinen entfremdeten Arbeitsverhältnissen, seinen repressiven Mann-Frau-Beziehungen, noch in seinem Hedonismus oder Konsumismus irgendwelche Perspektiven für die individuelle Weiterentwicklung; noch kann die Gesellschaft insgesamt sich tatsächlich entwickeln, wenn Sozialismus einfach darin bestehen soll, dass man quantitativ mehr davon macht, was im Kapitalismus gemacht wird, und es dann anders verteilt. Ein neuer Sozialismus-Entwurf braucht, das betont Öcalan immer wieder, nicht nur eine ökonomische und politische Basis. Er braucht auch die Entwicklung von anderen Werten und einer eigenen Ethik.

Kaderpartei und Gesellschaft

Der Aufbau sowohl der revolutionären Ethik wie der Institutionen der Gegenmacht funktioniert aber nicht als spontaner Prozess von selbst – und hier liegt vielleicht das größte Missverständnis westlich-anarchistischer Lesarten der Revolution in Kurdistan.

So sehr die demokratischen Institutionen in der Gesellschaft von unten nach oben funktionieren sollen, die organisierte Kraft der Revolutionäre, die jene anstößt und aufbaut, ist eine – mehr oder weniger – klassisch leninistische Kaderorganisation. Öcalan selbst lässt daran keine Zweifel: „Die gesamte Geschichte über ist kein parteiförmiger Zusammenschluss ohne Kader mit fester Überzeugung und Entschlossenheit ausgekommen. Viele Gruppen, die keine Kader besitzen, verschwinden unweigerlich in den Tiefen der Geschichte und geraten in Vergessenheit“, schreibt er in „Jenseits von Staat, Macht und Gewalt“. Die Kader sind die „Stabsorganisation der gesellschaftlichen Veränderung“, also jene Genoss*innen, die „die Mentalität und die programmatischen Grundlagen der Partei am besten verinnerlichen und begeistert versuchen, sie in die Praxis umzusetzen.“

Es ist dabei kein Zufall, dass hier nicht nur vom Verinnerlichen des Programms, sondern eben auch einer bestimmten „Mentalität“ die Rede ist. Die Partei der Kader ist nichts anderes als der Zusammenschluss jener Teile des Volks, die das „qutbûn“ von der alten Gesellschaft am konsequentesten vollziehen, ihre Freiheit in der Aufgabe ihrer früheren Persönlichkeit für die Revolution finden und sich ihrer Umsetzung verschreiben.

Deshalb ist die eigentliche Basis der Kaderpartei nicht das im Statut niedergeschriebene Regelwerk (das ebenfalls unerlässlich und wichtig ist), sondern die Schaffung von „hevaltî“, von gelingenden genossenschaftlichen Beziehungen. „Die genossenschaftliche Bindung muss von Geld, Hab und Gut, Eigentum und Besitz, Hausfrau und Macho-sein, Wunsch nach Konsumgütern, hinter seinen Sehnsüchten und Lüsten hinterher laufen, Machtbesessenheit, blindem Mut oder Furcht und allen ähnlichen Beziehungen, Gedanken, Aussagen und Taten, die vom Weg der Wahrheitssuche abbringen, fernbleiben“, schreibt Öcalan in »nasil yasamali«.

Der eigentliche Zweck der Kader ist nicht, die Gesellschaft zu etwas zu zwingen. Sondern ihr ihre eigenen Potentiale, ihr ihre eigene Kraft deutlich zu machen, sie anzuleiten, sich selbst zu finden. Kader haben die Aufgabe, sich im Aufbau der gesellschaftlichen Demokratie – der umfassenden, die auch Produktion und Reproduktion einschließt – selbst überflüssig zu machen.

Solange sie aber nicht überflüssig sind, ist die Kaderpartei als „Stabsorganisation“ der Revolution keine Freizeitveranstaltung. Sie folgt strengen Regeln und wer sich ihr aus freiem Entschluss anschließt, gibt seine individuelle Freiheit zugunsten der kollektiven auf. Um es in für Europa verständlichen Beispielen auszudrücken: Ein*e Kader*in kann nicht das Wochenende durchsaufen, eine Uni-Karriere verfolgen oder acht Wochen Strandurlaub einlegen. Letztlich geht damit aber auch kaum etwas verloren. Denn die Sinnstiftung, das manêdayîn, funktioniert über andere Mechanismen. Das eigene Leben als Berufssrevolutionär*in ist ja keine von außen auferlegte Einschränkung, sondern eine eigene Entscheidung darüber, was dem Leben Bedeutung gibt.

Wer macht Geschichte?

An diesem Punkt schließt sich der Kreis zur nicht-deterministischen Geschichtsauffassung. Denn für Öcalan vollzieht sich Geschichte nicht an uns vorbei. Welche Kraft sich in krisenhaften Chaos-Situationen durchsetzt, hängt davon ab, wer wie gut organisiert ist. Das Chaos ist zugleich ein offener Raum der Möglichkeiten, die ergriffen werden können.

Die Kader sind es zwar nicht, die alleine und ohne das Volk Geschichte machen können. Aber sie entwickeln die Gesellschaft, die Klasse zu sich selbst und damit zur Organisiertheit. Und die organisierte Klasse, das organisierte Volk kann in den historischen Chaos-Situationen den Gang der Geschichte bestimmen.

Öcalan und mit ihm die gesamte kurdische Bewegung machen uns durch ihre reale Praxis einen sehr konkreten Vorschlag: Ihr könnt Revolution machen, ist die frohe Botschaft. Geschichte ist gestaltbar.

Aber sie ist nur gestaltbar, wenn wir die Gesellschaften, in denen wir leben, analysieren, verstehen und zugleich in der Lage sind, uns Organisationen zu schaffen, die handlungsfähig in den Krisen der kapitalistischen Moderne sind.

Die aber wiederum können wir uns nicht schaffen, wenn wir nicht vor allem zu einem in der Lage sind. Zu jener „rücksichtslosen, grausamen, bis auf den Grund der Dinge gehenden Selbstkritik“, die Rosa Luxemburg einst als die „Lebensluft“ der proletarischen Bewegung bezeichnete. Und zwar zu einer Selbstkritik in unseren Organisationen, an unseren Traditionen – ob sie anarchistisch oder kommunistisch sein mögen – und an unseren einzelnen Persönlichkeiten.

Diese Selbstkritik können wir nicht dadurch ersetzen, dass wir nun einfach Öcalan an die Stelle setzen, an der vorher Marx, Bakunin oder sonst jemand standen. Sondern indem wir als Revolutionär*innen im Prozess der Entwicklung unserer eigenen revolutionären Organisationen die Theorie schaffen, die unsere Praxis auf ihr Ziel ausrichtet. Dabei helfen die Klassiker*innen, denn genau das haben sie getan. Und dabei hilft Öcalan, denn er ist ein Klassiker einer noch existierenden, kämpfenden Bewegung.

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