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Ein Blick auf die Schlagzeilen linker/ linksradikaler Publikationen der letzten Tage könnte glauben lassen, dass linke Politik sich jetzt nur noch gegen den Staat als Repressionsapparat richten solle. Dabei geht unter, dass von staatlicher Seite gerade viel mehr passiert, als der Auf- und Ausbau autoritärer Maßnahen zur Bevölkerungskontrolle.

Die „besondere Formation bewaffneter Menschen, die Gefängnisse und anderes zur Verfügung haben“, vulgo, der Staat, maßt sich jetzt angesichts der Corona-Krise die Einschränkung der individuellen Bewegungsfreiheit an. Droht die Corona-Diktatur? Avantgardistisch hat der Linksliberale Jakob Augstein (manchmal etwas linker, zur Zeit mehr liberaler als links) diesen Gedanken wohl als erster im deutschsprachigen Raum auf die Agenda gesetzt. Es brauchte nur ein paar markiger Maßnahmen aus Bayern, schon konzentriert sich die politische Linke auf das Thema der individuellen Freiheit.

Für die Erarbeitung einer linken Strategie in der Corona-Krise – die nicht bei einer Pandemie bleiben wird, sondern zu einer massiven Wirtschaftskrise werden wird – reicht es aber nicht, sich auf den Staat als repressive Institution zu konzentrieren. Der Staat ist nämlich auch – und das ist die andere Hälfte – ein wesentliches Element kapitalistischer Produktion, dem die Rolle zukommt den ganzen Laden am Laufen zu halten – als ideeller Gesamtkapitalist. Als solcher pumpt er hunderte und weltweit tausende Milliarden Euro Steuergelder in den Wirtschaftskreislauf. Wer glaubt, dies seien Geschenke an individuelle Kapitaleigner, irrt. Wer annimmt, Regierungen hätten ihr soziales Gewissen entdeckt, irrt sogar gewaltig.

Die Regierungen handeln fürs System, nicht für uns

Die totale Abkehr von neoliberalen Propaganda-Dogmen, auch Maßnahmen wie die Verstaatlichung des Gesundheitssystems (Spanien), „Helikoptergeld“(USA), Aussetzung von Mietzahlungen (Frankreich), vielleicht in den nächsten Tagen die Bestrafung von Wucherpreisen bei Atemschutzmasken (entgegen dem heiligen Prinzip von Angebot und Nachfrage): das alles dient der Erhaltung des Kapitalismus als Gesellschaftssystem.

Dass diese Maßnahmen, oder zumindest Teile davon, vordergründig mit den Interessen einer Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung deckungsgleich sind und sogar den Interessen einzelner Kapitalisten zuwiderlaufen, ist eben kein Widerspruch zur Funktion des Staates als ideellem Gesamtkapitalisten, sondern im Gegenteil: eine Bestätigung!

Diskutiert wird indessen über Ausgagssperren. Bayerns Ministerpräsident hat so eine erlassen. Die Autonome Föderation in Rojava auch. Wenn zwei das Gleiche machen, ist es aber noch lange nicht dasselbe. In Rojava wollen die Genoss*innen die Bevölkerung schützen. Die bayrische Staatsregierung will das System schützen – und zwar indem er zu einer Maßnahme greift, die geeignet ist, die Bevölkerung zu schützen. Denn während in Rojava angenommen werden kann, dass auch in Zukunft die Gesundheit der Menschen Priorität behalten wird, wird bereits jetzt – am deutlichsten in den USA – der Corona-Tod von Hunderttausenden gegen die wirtschaftlichen Interessen der Konzerne abgewogen. Die Dialektik zwischen Ursache und Wirkung ist hier mehr als eine rhetorische Spitzfindigkeit.

Deshalb ist es auch falsch, den Focus auf Ausgangssperren als repressives, staatliches Mittel zu legen. Nur allzu bald könnte nämlich der genau entgegengesetzte Fall eintreten: dass wir sogar darum kämpfen müssen, auf sozialer Distanz zu bleiben; auf der Straße und am Arbeitsplatz.

Ein Blick auf die Geflüchteten-Lager in Griechenland zeigt, wie wenig den europäischen Regierungen der Schutz von Menschenleben wert ist. Die unterlassene Evakuierung läuft auf tausendfachen Mord hinaus, wenn sich auf Lesbos und den anderen Lagern der Corona-Virus ausbreitet.

Die Diskussion um eine vorzeitige Aufhebung von Distanz-Maßnahmen und die Untätigkeit in Bezug auf z.B. Geflüchtete und Altenheimbewohner*innen (wie in Spanien) sind der pure Sozialdarwinismus. Die Nützlichen sollen überleben und arbeiten, die Kostenfaktoren können an Covid-19 verrecken.

Während sich im Bürgertum also der Sozialdarwinismus ausbreitet, scheint sich die Linke an einem sehr bürgerlichen Freiheitsbegriff festzuhalten, bei dem das „ich“ wichtiger ist als das „wir“.

„Ich habe das Recht auf Bewegungsfreiheit, ich habe das Recht auf Party!“, stellt das individuelle Recht über das kollektive Recht, nicht infiziert zu werden. Denn auch, wenn abstrakt der Kapitalismus, sein kaputt gespartes Gesundheitssystem und nicht die Corona-Partys für die Pandemie verantwortlich sind, verbreitet sich der Virus konkret durch die Menschen, die auf die zwei Meter Abstand einen Dreck geben.

Das individuelle Recht auf Bewegungsfreiheit ist, so betrachtet, in Zeiten einer potentiell tödlichen Pandemie auch nicht anders, als das vom Bürgertum proklamierten Recht auf freies Unternehmertum: „Ich“ habe die Freiheit, Arbeitskraft auszubeuten. „Ich“ habe die Freiheit, mit meinen Produkten und Konsumgütern die Umwelt zu versauen. „Ich“ habe die Freiheit, Party zu machen und damit die Gesundheit anderer erheblich zu gefährden…

Kollektive Interessen zu verteidigen, beinhaltet natürlich auch, Konzepte zu entwickeln, wie die physischen und psychischen Folgen der sozialen Distanzierung abgemildert und erträglicher gemacht werden können. Denn für den Staat ist das keine Priorität und selbst wenn Regierungen dies wollten, fehlen ihnen die materiellen und kreativen Mittel dazu. Ein (gehöriges) Stück demokratischer Konföderalismus, die autonome Organisierung von unten, ist die beste Medizin!

Wer sich jetzt aber – propagandistisch und/oder praktisch – darauf konzentriert, gegen die staatlichen Maßnahmen anzukämpfen, die objektiv (auch!) im Interesse einer Bevölkerungsmehrheit sind, begeht einen strategischen Fehler, sucht sich gezielt die gesellschaftliche Isolation, während es jede Menge Alternativen an Themenschwerpunkten/ Arbeitsfeldern gibt.

Auf die wichtigen Fragen konzentrieren

Aber worauf, wenn nicht auf der Kritik am repressiven Staat, kann dann eine linke Strategie aufbauen? Laut aktuellen Zahlen des Ifo-Institutes wird die Coronakrise allein in Deutschland Kosten in Höhe bis zu 729 Milliarden Euro verursachen. Es droht eine Rezession zwischen minus 7 und minus 20 Prozent. 1,8 Millionen Arbeitsplätze sind in Gefahr, dazu kommen 6 Millionen, die von Kurzarbeit betroffen sind.

Es braucht keine hellseherischen Fähigkeiten, um vorauszusagen, dass das Kapital versuchen wird, einen Großteil der wirtschaftlichen Folgen auf die Masse der Lohnarbeiter*innen abzuwälzen. Die Pläne der Regierung deuten schon jetzt in diese Richtung.

Von etablierten Akteur*innen der in der „Sozialpartnerschaft“ aufgegangen Reste sozialdemokratischer Politik ist dabei nichts zu erwarten: Die DGB-Gewerkschaften haben angesichts der Krise ihre sowieso schon minimale Gegnerschaft zum Bund der Arbeitgeber begraben. Und die letzte vorgeblich sozialdemokratische Partei „Die Linke“ hat ihren Krisenbewältigungsburgfrieden mit der Regierung schon längst geschlossen. Die Aussichten für eine linke Gestaltung der Krisenpolitik sind also eigentlich niederschmetternd.

Wären da nicht die aktuellen Erfahrungen von unheimlich vielen Menschen, dass gigantische Umverteilungen offensichtlich generell möglich sind, dass der Markt überhaupt nichts regelt und, dass Privatisierungen scheiße sind. Dass Supermarkt-Kassierer*innen, Pflegekräfte etc. relevant, Immobilien-Makler*innen, CEOs und Konsorten dagegen völlig irrelevant sind. Dass ich Nachbar*innen habe, gleich welcher Herkunft oder Religion, die zu mir halten, mit denen ich identische Interessen habe, während die AfD aus den Talkshows verschwunden ist, weil sie nicht mal mehr Hetze beizutragen hat.

Und während Linke sich an der Ausgangssperre abarbeiten, ist selbst das bürgerlich-neoliberale Boulevard-Magazin FOCUS dabei die Dystopie für die herrschende Klasse zu erahnen: „Am Ende steht die Frage, ob unser Geld- und Wirtschaftssystem wirklich noch funktioniert“. Es stelle sich sogar „die Systemfrage“.

Klassenkampf in der global gleichzeitigen Krise

Solchen herzerfrischenden Optimismus kenne ich sonst nur von Trotzkist*innen und teile ihn auch nicht. Aber auch wenn sich die „Systemfrage“ stellt, sind die Aussichten trotz alledem nicht so rosig, wie uns der FOCUS vielleicht glauben machen will. Außer in weiten Teilen Kurdistans und einigen Bereichen Süd-/Mittelamerikas gibt es keine in der Bevölkerung verankerte und gut organisierte revolutionäre Linke, die dieses Zeitfenster der Krise zum Sturz des Kapitalismus ausnutzen könnte. Und sie lässt sich auch nicht innerhalb von Monaten herbei zaubern.

Richtig ist aber: es öffnen sich Fenster und Möglichkeiten. Angesichts der materiellen und ideologischen Krise des Systems wird immer offensichtlicher dass die vermeintliche Alternativlosigkeit der Austeritätspolitik der letzten Jahre reine Interessenpolitik war. Die gesamtgesellschaftliche Destabilisierung kann mit solidarischer Organisierung von unten und konkreten linken Positionen zwar nicht gleich zu einer Revolution führen, ist jedoch eine Chance auf ihre Verankerung in der Gesellschaft.

Ein Faktor dabei verdient meiner Meinung nach ganz besondere Beachtung: Globaler als die Corona-Krise ist nichts! Die Krise trifft nicht nur alle Länder, sie trifft sie auch gleichzeitig! Und damit stehen alle Länder auch gleichzeitig vor den selben Fragen. Es wird deshalb auch gleichzeitig ein ganzes Spektrum an Lösungsvorschlägen- und Maßnahmen geben.

Genauso wie Widerstand gegen die bisherigen Maßnahmen, die schon jetzt hauptsächlich einer Umverteilung von unten nach oben gleichkommen. Für eine Internationalisierung von Protest, von einem globalen Voneinander-lernen ist das eher ein Scheunentor als ein Fenster der Optionen für linke Politik.

Das wäre in den nächsten Monaten und Jahren zu nutzen, statt sich mit marginalen Fragen wie Ausgangssperren aufzuhalten.

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Das kapitalistische Weltsystem tritt in die schwerste Krise seiner Geschichte ein, deren Folgen – sollte sie nicht schnell überwunden werden – selbst die 30er Jahre des 20. Jahrhunderts in den Schatten stellen könnten.

Es ist mal wieder so weit – die Zeit des ganz großen “Wir” ist angebrochen. Wenn der von inneren Widersprüchen zerfressene Spätkapitalismus von einem abermaligen Krisenschub erfasst wird, dann bricht der Moment der großen Appelle an den Gemeinsinn, an den Zusammenhalt und die Opferbereitschaft an. Alle Insassen einer zutiefst gespaltenen Gesellschaft werden gleichermaßen aufgerufen Opfer zu bringen – vom Milliardär, über den Lohnabhängigen, bis zum Obdachlosen. Es geht ja ums große falsche Ganze, wenn unzählige Milliarden zur Stützung eines zerstörerischen und irrationalen Systems verfeuert werden müssen. Doch diesmal scheint der Opfergang für den Mammon buchstäblich Blut zu fordern. Der Kapitalismus wird dadurch als die säkularisierte Religion demaskiert, die Walter Benjamin schon 1921 beschrieb.

Blood for the Blood God

Wie wäre es also mit dem Opfer des Lebens? Es ist ja für eine gute Sache, für die Wirtschaft! So wird inzwischen tatsächlich argumentiert. Alle müssten Opfer bringen, forderte jüngst etwa Dan Patrick, seines Zeichens Vize-Gouverneur des US-Bundesstaates Texas, von seinen Bürgern. Die Wirtschaft müsse schließlich weiter laufen. Die Lohnabhängigen sollten folglich trotz Pandemie zur Arbeit gehen, man müsse die Alten, die überdurchschnittlich oft an Corona sterben, einfach opfern, damit die Enkel weiterarbeiten können – so die Forderung des Vize-Gouverneurs. Er selber sei bereit, sein Leben für die Wirtschaft zu geben, behauptete der 70-jährige Patrick. Ähnlich argumentiert auch Trump selber, der sein Land “nicht dafür gemacht” sieht, “geschlossen zu bleiben”. Der US-Präsident sprich inzwischen davon, die USA bis Ostern wieder “aufzumachen”.

Doch auch in der Bundesrepublik werden Forderungen laut, sich die Wirtschaft nicht von einer dahergelaufenen Pandemie ruinieren zu lassen. Das Handelsblatt hat beispielsweise zuletzt die Absonderungen des Investors Alexander Dibelius (McKinsey, Goldman Sachs) in Artikelform gegossen, der ebenfalls dafür plädierte, dass die Räder wieder rollen müssen: “Besser eine Grippe als eine kaputte Wirtschaft.” Gerade in zynischen Sätzen wie diesen, die es eigentlich nur in Krisenzeiten bis zum Rampenlicht der veröffentlichten Meinung schaffen, kommt der zivilisationsbedrohende Irrationalismus der kapitalistischen Produktionsweise klar zum Vorschein. Das Kapital ist der amoklaufende, fetischistische Selbstzweck einer uferlosen Verwertungsbewegung, ein Selbstzweck, dem wirklich alles geopfert werden kann.

Solche Aufrufe zum regelrechten Blutopfer für das Kapital machen deutlich, wie dramatisch die Lage ist. Der gegenwärtige Krisenschub ist viel stärker als die Krise von 2008/09. Es scheint, als ob das System aufgrund seiner zunehmenden inneren Widersprüche bei einer länger anhaltenden Pandemie tatsächlich kollabieren könnte – obwohl die Politik aus einer binnenkapitalistischen Perspektive bloßer Krisenbekämpfung alles “richtig” macht. Der Corona-Virus ist nur der Trigger, der ein labiles System zum Einsturz zu bringen droht.

Wirtschaft im freien Fall

Es stellt sich inzwischen nur noch die Frage, ob die kommenden Rezessionen schlimmer ausfallen werden, als der gewaltige Einbruch von 2009. Damals ging die Weltwirtschaft nach dem Platzen der Immobilienblasen in den USA und der EU in einen Sturzflug über, der nur um durch gigantische Konjunkturprogramme und massive Gelddruckerei abgefangen werden konnte. Diesmal geht der primäre Schock von dem raschen Einbruch der Nachfrage, den Produktionsstilllegungen und der Disruption der bestehenden globalen Lieferketten aus – und er hat das Potenzial, eine historisch einmalige Kontraktion des Bruttoinlandsprodukts (BIP) der Länder im Zentrum des spätkapitalistischen Weltsystems auszulösen.

Mory Obstfeld, ehemaliger Chef des IWF, verglich jüngst die sich derzeit entfaltende Kontraktion der Wirtschaft mit den Folgen der Großen Depression in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts. Die Heftigkeit des konjunkturellen Absturzes lässt die entsprechenden Prognosen im Rekordtempo zur Makulatur werden. Das zweite Quartal 2020 könnte in den USA den schlimmsten Einbruch seit 1947 verzeichnen; laut JPMorgan Chase & Co. droht eine Kontraktion von 14 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum, die Bank of America prognostiziert inzwischen einen Einbruch von 12 Prozent, während Goldman Sachs gar einen katastrophalen Absturz von 24 Prozent für die kommenden drei Monate erwartet.

Die krasseste Warnung sprach der Präsident der Federal Reserve Bank of St. Louis, James Bullard, aus, der einen Einbruch des BIP von zu bis zu 50 Prozent am Ende des zweiten Quartals gegenüber dem ersten Quartal 2020 befürchtet. Das hätte ein Hochschnellen der Arbeitslosenquote auf bis zu 30 Prozent zur Folge und entspräche einem Rückgang der Wirtschaftsleistung um 25 Prozent. Zum Verglich: in der Großen Depression von 1929-33, die einen Absturz breiter Bevölkerungsschichten in extreme Armut auslöste, sank das US-BIP insgesamt um 25 Prozent.

Entscheidend ist hier der Faktor Zeit: je länger die Bekämpfung der Pandemie dauert, je länger der Verwertungsprozess des Kapitals in der warenproduzierenden Industrie weitgehend lahmgelegt ist, desto größer die Wahrscheinlichkeit einer lang anhaltenden Depression, die eine große Schicht von Lohnabhängigen ökonomisch “überflüssig” machen würde – um sie in existenzbedrohendes Elend zu stoßen. Sollte der Virus nicht “durch eine wunderbare Wendung binnen der kommenden Monate verschwinden” , so der Harvard-Professor James Stock gegenüber Medienvertretern, dann werde es “wie die Große Depression” sein. In Kalifornien sind schon die Vorboten dieser drohenden sozialen Katastrophe zu spüren: seit dem 13. März, also binnen einer Woche, haben sich dort rund eine Million Lohnabhängiger arbeitslos gemeldet.

Die eingangs erwähnten, absurd anmutenden Aufrufe, trotz Pandemie wieder Lohnarbeit zu verrichten, und sich um des Geldgottes willen zu opfern, sind gerade von dieser Einsicht in den fetischistischen Sachzwang uferloser Kapitalverwertung getragen. Ansonsten droht der Kollaps einer kapitalistischen Gesellschaft, die sich nur bei gelingenden Akkumulationsprozessen auch sozial reproduzieren kann. Die aus der sich schubweise entfaltenden Systemkrise des Kapitals resultierende Produktion einer ökonomisch überflüssigen Menschheit, die bislang im Verlauf der Krisenkonkurrenz weitgehend auf die Lohnabhängigen der Peripherie abgewälzt werden konnte, würde bei längerfristiger Pandemiebekämpfung folglich auch die Zentren mit voller Wucht erfassen. “Wir” können uns den Schutz vor der Pandemie im Rahmen der kapitalistischen Sachzwänge einfach nicht leisten.

Auch in der EU hat inzwischen das große Kleinrechnen der Konjunkturaussichten eingesetzt. Die EU-Kommission ging anfangs davon aus, dass das BIP in der Europäischen Union um 1,0 Prozent zurückgehen würde. Doch nun werden auch in Brüssel Parallelen zum Jahr 2009 gezogen. Die Wirtschaft der EU dürfte demnach 2020 ähnlich stark schrumpfen wie nach dem Platzen der Immobilienblasen beim letzten Krisenschub, der die nicht enden wollende Eurokrise zur Folge hatte: damals betrug die Kontraktion der Wirtschaftsleistung 4,5 Prozent in der Eurozone und 4,3 Prozent in der EU. Die abermalige Erschütterung der ohnehin erodierenden europäischen Staatenallianz dürfte den nationalistischen Zentrifugalkräften insbesondere im Währungsraum weiteren Auftrieb verschaffen. Schon hält eine regelrechte Wegelagerermentalität Einzug in die europäische “Union”, wo für Italien bestimmte OP-Masken in Deutschland plötzlich “verschwinden” oder von Polen und Tschechien schlicht in einem staatsräuberischen Akt beschlagnahmt werden.

Das Worst-Case-Szenario für die BRD geht von einem Einbruch der Wirtschaftsleistung von 20 Prozent aus, der den Anstieg der Arbeitslosigkeit um eine Million Lohnabhängige zufolge hätte. Die Prognose des berüchtigten Münchener Ifo-Instituts sieht im günstigsten Fall einen heftigen Rückgang des BIP um 7,2 Prozent 2020. “Die Kosten werden voraussichtlich alles übersteigen, was aus Wirtschaftskrisen oder Naturkatastrophen der letzten Jahrzehnte in Deutschland bekannt ist”, warnte Ifo-Chef Fuest. Je nach Szenario würde die Krise zwischen 255 und 729 Milliarden Euro kosten. Ähnlich argumentierte Bundesbank-Chef Weidmann, der ein Abdriften “in eine ausgeprägte Rezession” als unvermeidlich ansieht. Die Folgen dieser kommenden konjunkturellen Einbrüche sind für die Lohnabhängigen oft schon jetzt zu spüren: VW schickte aufgrund einbrechender Nachfrage und gestörter Lieferketten rund 80 000 Arbeiter in Kurzarbeit.

Auch global wird die Konjunkturentwicklung in ersten Prognosen, etwa von IWF, ebenfalls negativ beurteilt, wobei auch hier Parallelen zum Crash von 2008 gezogen werden. Die globale Konjunktur hängt allerdings wesentlich von China ab, wo die Produktion ersten Berichten zufolge schon wieder hochgefahren wird. Das könnte den globalen Absturz mindern, wobei aber der chinesische Kommandokapitalismus staatsoligarchischer Prägung nicht die Rolle der globalen Konjunkturlokomotive spielen kann, da China ebenfalls unter der Last hoher Schuldenberge leidet. Die Abhängigkeiten der “Volksrepublik” von den Exportmärkten sind darüber hinaus trotz aller partiellen Erfolge bei der Stärkung der Binnennachfrage immer noch sehr stark.

Im maroden Land der Fantastzillionen

Angesichts dieses drohenden Zusammenbruchs der Wirtschaftsleistung in den Kernländern des kapitalistischen Weltsystems wundert es nicht, dass die Politik nun sehr freimütig mit Billionenbeträgen hantiert. Die werden in einem Irrsinnstempo in das System gepumpt, als ob es kein Morgen gäbe. Es geht den politischen Funktionseliten tatsächlich darum, den Kollaps zu verhindern. Dabei bleibt es völlig offen, ob diese Anstrengungen auch diesmal, wie beim Platzen der Immobilienblasen 2008/09, die Agonie des Kapitals durch abermalige Blasenbildung verlängern können.

Die Dimensionen der Stützungsmaßnahmen sind historisch einmalig – vor allem in den USA. Am Mittwoch einigten sich die Demokraten und Republikaner im Kongress auf ein Konjunkturprogramm mit einem Umfang von zwei Billionen US-Dollar (das sind 2 000 Milliarden!). Das zuvor belächelte Helikoptergeld, also die Auszahlung von Geld an Bürger zwecks Stimulierung der Nachfrage, ist in den USA Realität geworden. Jeder US-Bürger mit einem Jahreseinkommen unter 75.000 US-Dollar erhält ein Geldgeschenk von 1.200 US-Dollar, jedes Kind bringt noch zusätzlich 500 Dollar ein. Für die dysfunktionale, private “Gesundheitsindustrie” werden 100 Milliarden fällig, Kleinunternehmer können mit 350 Milliarden rechnen, der Großindustrie werden 500 Milliarden nachgeworfen, um sie noch am Leben zu halten, für Städte und Kommunen sind 150 Milliarden vorgesehen, etc., pp.

In der EU und in der BRD werden alle von Schäuble & co. dem Währungsraum aufgenötigten Austeritätsmaßnahmen aufgehoben, während die EZB ein gigantisches Aufkaufprogramm für Anleihen im Umfang von 750 Milliarden Euro ankündigte, um so indirekt, über den Umweg des Kapitalmarktes, eigentlich verbotene Staatsfinanzierung der ehemaligen – und künftigen – Krisenländer in der Eurozone zu betreiben. Die EU hat inzwischen die Haushaltsregeln der Eurostaaten aufgeweicht, um die kreditfinanzierten Staatsinvestitionen zu fördern, die dank der Geldflut der EZB möglich werden. Die schäublerischen Schuldenbremsen werden in der EU wie in der BRD ausgesetzt. Derweil erklärte sich Wirtschaftsminister Peter Altmaier bereit, über “unkonventionelle Maßnahmen” wie Konsumschecks nachzudenken, nachdem er jüngst die Verstaatlichung von Betrieben ankündigte, um sie vor ausländischen Übernahmen zu schützen.

Die Bundesrepublik ist tatsächlich in der Lage, aufgrund jahrelanger Exportüberschüsse im Rahmen der deutschen Begger-thy-Neighbor-Politik, massive Konjunkturprogramme aufzulegen, die – in Relation zur Wirtschaftsleistung – durchaus mit der amerikanischen Gigantomanie mithalten können. Berlin mobilisiert insgesamt rund 750 Milliarden Euro, um den konjunkturellen Aufprall abzufedern, einhergehend mit einer Neuverschuldung von rund 156 Milliarden. Mit dieser zusätzlichen Verschuldung sollen alle Sozialmaßnahmen, zusätzliche Finanzspritzen für die marode Infrastruktur, etwa das kaputtgeschlagene Gesundheitswesen, und Hilfen für Unternehmen und Selbstständige finanziert werden. Rund 600 Milliarden sind für die Sicherung der deutschen Konzerne und Exportindustrie vorgesehen, um sie vor Bankrott oder feindlicher Übernahme durch Verstaatlichung oder Staatskredite zu schützen.

Diese Milliardenbeträge verblassen in Relation zu den in Billionen zu quantifizierenden Summen, die die Notenbanken in die schwindsüchtigen Finanzmärkte pumpen müssen, um eine Kernschmelze des Weltfinanzsystems zu verhindern. Dabei geht es vor allem darum, das Platzen der Liquiditätsblase zu verhindern, die selbst durch die Maßnahmen zur Bekämpfung der Folgen der geplatzten Immobilienblasen 2008/09 initiiert wurde. Es sind gerade diese seit der zweiten Hälfte der 90er Jahre aufsteigenden, an Umfang beständig zunehmenden Finanzmarktblasen (Dot-Com-Blase, Immobilienblase, gegenwärtige Liquiditätsblase), die den beständig wachsenden Schuldenberg von inzwischen 322 Prozent der Weltwirtschaftsleistung generieren, unter dem das hyperproduktive, auf kreditgetriebene Nachfrage angewiesene Weltsystem zusammenzubrechen droht.

Die panischen Billionenmaßnahmen der Notenbanken dienen dazu, diesen gigantischen Schuldendturm vor dem Einsturz zu bewahren. Hierzu zählen etwa die besagten 750 Milliarden an neuen Anleihekäufen seitens der EZB genauso, wie die sich auf 1,5 Billionen Dollar summierenden Maßnahmen, die die US-Notenbank Fed im Bemühen aufgebracht hat, den Absturz der US-Börsen zu revidieren. Letztendlich handelt es sich hierbei um Gelddruckerei, genannt „quantitative Lockerungen“, die in der Finanzsphäre betrieben wird, indem Anleihen und “Wertpapiere” von den Notenbanken aufgekauft werden, um das System “liquide” zu halten (der Anstieg der Wertpapierpreise bildet den daraus resultierenden, inflationären Effekt). Inzwischen gibt es bei der Fed keine offiziellen Grenzen mehr: es seien “aggressive Aktionen” notwendig, man werde quantitative Lockerungen – also Gelddruckerei – ohne Limit betreiben, hieß von dort am 23. März.

The syk is the limit – bis zum großen Entwertungsschub, der in Wechselwirkung mit dem Absturz der Konjunktur einsetzen könnte. Das Problem besteht eben darin, dass ein großer Teil dieses wachsenden Schuldenbergs nicht mehr bedient werden kann, sobald die Rezession länger dauert – insbesondere bei den Unternehmenskrediten. Das labile spätkapitalistische Kartenhaus auf den Finanzmärkten würde dann einstürzen, was katastrophale Folgen nach sich zöge. Bei ersten entsprechenden Modellrechnungen wurden die Unternehmensschulden von acht Ländern – China, USA, Japan, Großbritannien, Frankreich, Spanien, Italien und Deutschland – berücksichtigt. Bei einem ökonomischen Schock, der nur halb so stark ausfiele wie die globale Finanzkrise von 2008, würden Verbindlichkeiten im Umfang von 19 Billionen US-Dollar (19.000 Milliarden) nicht mehr bedient werden können. Das wären 40 Prozent der gesamten Unternehmensschulden in den besagten Ländern. Die Krise droht aber, in vielen Regionen dem Einbruch des Jahres 2009 zu ähneln.

Somit drohen die konjunkturellen Einbrüche, die nun mit Billionenbeträgen gemildert werden sollen, in Wechselwirkung mit dem Finanzschrott im aufgeblähten Weltfinanzsystem zu treten, was dessen Entwertung und einen irreversiblen Crash zufolge hätte. Das ist die eigentliche Gefahr der gegenwärtigen Krisendynamik: Der Zusammenbruch des globalen Schuldenberges würde einen regelrechten Kollaps auslösen. Das hat die Politkaste auch richtig erkannt, weshalb nun die Schleusen von Fed und EZB bis zum Anschlag geöffnet werden.

Die eingangs erwähnte archaische Forderung nach Opfern, um die Märkte wieder zu besänftigen, hat also tatsächlich einen wahren Kern im objektiven kapitalistischen Sachzwang. Trump hat recht. Sollte die notwendige Pandemiebekämpfung über einen längeren Zeitraum aufrecht erhalten werden, droht buchstäblich der Kollaps der Zentren des kapitalistischen Weltsystems. Die Ankündigung Trumps, schon nach Ostern die USA wieder zum Normalbetrieb hochzufahren, sorgte übrigens gemeinsam mit dem beschlossenen “Konjunkturprogramm” an den US-Finanzmärkten für den höchsten Kurssprung seit 1933. Der Baal des Geldes nimmt die angekündigten Menschnopfer gütig an. Auch wenn Hunderttausende elendig krepieren mögen, es muss wieder Kapital per Lohnarbeit verwertet werden. Das irrationale Wesen des Kapitalismus als eine “irre Selbstmordsekte” (Robert Kurz), als ein im blinden Wachstumszwang wild wuchernder Todeskult, wird in solchen Krisenmomenten evident.

Evident wird aber auch die Notwendigkeit der emanzipatorischen Überwindung dieses in Auflösung und Barbarei versinkenden Systems, dessen Apologeten zu Hohepriestern dieses Todeskults mutieren. Letztendlich ist es eine blanke Überlebensnotwendigkeit, Wege gesellschaftlicher Reproduktion jenseits der totalitären Wertvergesellschaftung zu finden. Das ist die einzig Vernünftige politische Forderung, die nun in Reaktion auf das sich entfaltende Desaster formuliert werden muss.

Von Tomasz Konicz erschien aktuell das Buch “Klimakiller Kapital. Wie ein Wirtschaftssystem unsere Lebensgrundlagen zerstört”.

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Corona begleitete mich in den vergangenen Wochen durch drei Länder. Als der Name mir zum ersten Mal begegnete war ich in Österreich. Es interessierte mich nicht, ich kannte niemanden, den es interessierte und wenn ein Gespräch sich darauf bezog, dann höchstens scherzhaft. Als Covid-19 dann Ende Februar in Italien ankam, war ich bei Genoss*innen in Rom zu Gast. In der Nacht zum 22. Februar starb in Padua ein 78-jähriger, nicht viel später wurden in der besonders betroffenen Lombardei die ersten Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Virus durchgesetzt. Zu der Zeit hatte ich Fieber, Husten, Schnupfen, Nachtschweiß – die üblichen Grippesymptome. Und ich hatte Kontakt zu Genoss*innen aus Norditalien, die ebenfalls krank waren. Testen wollte mich niemand, ich blieb zuhause bis die Grippe vorbei war und reiste dann zum Arbeiten weiter.

Der Transitflug ging über München. Noch Mitte März war das problemlos möglich. Viele Flüge waren gestrichen, aber man konnte ohne größere Probleme in Bayern ankommen, Fieberchecks – in Italien schon seit Wochen üblich, gab es genauso wenig wie Schutzequipment bei den Arbeiter*innen und Secus am Flughafen. Auf den Straßen war in Rom zu dieser Zeit schon kaum noch Leben. Die Restaurants und Sehenswürdigkeiten waren geschlossen, Großveranstaltungen untersagt, viele Menschen gingen kaum noch aus dem Haus. In Deutschland: alles normal.

Diese Asymmetrie war erstaunlich. In Italien war am Ende der zweiten März-Woche bereits klar: Diese Pandemie ist gefährlich und sie kann ein Land in völliges Chaos stürzen. In Deutschland verschloss man die Augen, wartete mit Maßnahmen, obwohl für auch für die Regierung schon klar sein musste, dass die Sache nicht von selbst vergehen würde.

Dann ging alles schnell – bis zu dem Punkt, an dem wir heute stehen. Was in den vergangenen Wochen passierte, ist eine Kombination aus mehreren Faktoren. Und weil die Situation so unvorhergesehen ist, so neu, ist es nicht immer leicht, beide auseinanderzuhalten. Der eine von beiden Faktoren ist die Pandemie selbst – ein bedrohliches Krankheitsgeschehen, auf dass die Gesellschaften dieser Welt reagieren müssen, will man hunderttausende oder gar Millionen Tote wie bei der Spanischen Grippe am Ende des Ersten Weltkriegs vermeiden. Das zu verharmlosen ist dumm.

Der zweite Faktor sind die Maßnahmen, die durch die herrschenden Gruppen des globalen Kapitalismus im Zuge der Krise umgesetzt werden. Die Krise hat dabei dermaßen weitreichende politische, geopolitische, ökonomische Auswirkungen, dass noch kaum absehbar ist, wie die Welt nach dem durch das Virus getriggerten Veränderungen aussehen wird.

I

Covid-19 fungiert in vielen Bereichen als eine Art Brandbeschleuniger. Wie alle Pandemien in der Menschheitsgeschichte trifft es auf gegebene politische, soziale und ökonomische Bedingungen, beschleunigt einige, beendet oder verlangsamt andere Tendenzen. Die Spanische Grippe war auch deshalb so verheerend, weil sie nach dem Ersten Weltkrieg auftrat. Und der Pest gingen 1315 bis 1317 Getreidekrise und Hungersnöte voraus. Die wirtschaftliche Rezession, die sie einleitete, gründete nicht nur in ihr, sie war wie Fernand Braudel schreibt, „nicht der einzige Totengräber des Aufschwungs“.

Das Corona-Virus schlägt in eine kapitalistische Ökonomie ein, die ihre letzte große Krise mit Müh und Not verschoben hat. Die Banken, die jetzt so tun, als seien sie unverschuldet durch die Pandemie in neue Nöte geraten, standen ohnehin auf tönernen Füßen. Man kann sicher sein: Sie werden aus der Not eine Tugend machen und die Gunst der Stunde nutzen.

Das Virus trifft aber auch auf eine globale Ordnung im Umbruch. Das US-Imperium als hegemoniale kapitalistische Macht befand sich seit langem am absteigenden Ast, militärisch wie ökonomisch. Covid-19 könnte einer der letzten Sargnägel werden. Denn der Hauptrivale um weltweite Vorherrschaft, China, hat das Virus deutlich schneller unter (relative) Kontrolle gebracht als irgendeine andere Nation. Das bedeutet aber auch, Peking kann Produktionskapazitäten wieder hochfahren, da wo für Washington der große Knall erst noch bevorsteht. Es geht aber nicht nur um die harten ökonomischen und militärischen Elemente, sondern auch um die ideologische Hegemonie. Die Vorherrschaft der USA lebte auch davon, dass der american way of life als ein der Nachahmung wertes Entwicklungsmodell galt. Bröckelte diese Wahrnehmung seit langem, so schlägt Corona eine weitere Kerbe. Chinesische Expert*innen-Teams werden vom Irak bis nach Italien zu Rate gezogen. Und mag Trump noch so oft vom „China-Virus“ schwadronieren, global dürfte es sehr wenige Regierungen oder Wissenschaftler*innen geben, die den US-amerikanischen Umgang mit der Krankheit als vorbildlich ansehen.

II

Im Inneren bedeutet Corona eine Beschleunigung der Tendenz zum Autoritarismus, die sich in vielen Nationalstaaten dieser Erde seit langem abzeichnet. Der Ausnahmezustand kann nun mit Zustimmung der ihm Unterworfenen ausgerufen werden. Regime wie das Israels, Chiles oder des Iran sehen die Gelegenheit, um Befugnisse ihrer Geheimdienste zu erweitern oder Proteste loszuwerden. In Deutschland setzt sich die in den Polizeiaufgabengesetzen eingeschlagene Richtung beschleunigt fort. Dass die Einführung der Ausgangssperren dabei keine rein medizinische Maßnahme ist, kann man sich schon dadurch verdeutlichen, dass sich zwar nicht mehr als zwei Menschen im öffentlichen Raum treffen dürfen, die Regel aber nicht für die Lohnarbeit gilt, wo lasch die „Arbeitgeber“ aufgefordert werden, irgendwie für Gesundheit zu sorgen.

Die Tragik der Situation ist, dass die durch den Staat entmündigte Gesellschaft den Ausnahmezustand geradezu braucht. Das zum Egoismus herangezogene, nur auf sich achtende Individuum der kapitalistischen Moderne kann ohne den Befehl des Staates keine kollektiven Handlungsoptionen entwickeln, und so befürworten am Ende auch jene die Notstandsdiktatur, die „freiwillig“ auf kein Clubbing, kein Spring Break und keinen Urlaub verzichten wollen. In der Krise macht sich gerade in Nationen wie Deutschland der „Soziozid“ des Kapitalismus bemerkbar. Der kapitalistische Staat hat der Gesellschaft jede Selbstverteidigungskraft genommen, und ohne staatliche Reglementierung können sich die vereinzelten Monaden zu keiner gemeinschaftlichen Handlung mehr zusammenraufen.

Unabhängig davon, ob man die Maßnahmen der jeweiligen Regierungen im konkreten Fall aus epidemologischer Sicht nachvollziehen kann oder auch nicht, setzen sie ein neues politisches Paradigma. Die Verschiebungen in dem, was akzeptabel ist, werden bleiben, auch wenn das Virus irgendwann seine Brisanz einbüßen wird: Vorratsdatenspeicherungen, Telekommunikationsüberwachung zur Erfassung von Bewegungsmustern, erweiterte Polizeibefugnisse, Grenzschließungen, Ausgangssperren, Kontaktverbote, Eingriffe in alle Lebensbereiche der Menschen.

III

Das Gros der Maßnahmen ist auf die Stabilisierung der kapitalistischen Ökonomie und ihres politischen Überbaus ausgerichtet. Die Kosten der geschäftsschädigenden Krankheit müssen so gut es geht verstaatlicht oder auf jeweils andere abgewälzt werden. 750 Milliarden Euro machte die Europäische Zentralbank locker, die US-amerikanische FED pumpte 700 Milliarden US-Dollar in „die Wirtschaft“. Weltweit überbieten sich Regierungen in Ankündigungen von „Hilfen“ für Unternehmen. Diese wiederum arbeiten schon jetzt fleißig daran, die eigenen Arbeiter*innen noch härter auszunehmen. Das Virus übt jetzt schon Druck auf die Löhne aus, lädt zur Umgehung des Kündigungsschutzes ein, ermöglicht Konzernen erweiterten Zugriff auf Steuergelder.

Ist für bestimmte Kapitalfraktionen die Krise eine Chance, führt sie in anderen Sektoren zum Bankrott einiger Player sowie zu einer Verstärkung der Monopolisierungstendenz. Ein Kapitalist schlägt viele tot, oder aber auch, wenn ein Virus einige tot schlägt, übernehmen die Überlebenden dankend dessen Marktanteil.

IV

Die Begleitmusik zur Durchsetzung des Ausnahmezustands und der Aufweichung von erkämpften Rechten ist die alte Leier, dass wir „alle in einem Boot sitzen“. Vom Milliardär bis zur illegalisierten Putzkraft, von der Pflegerin zum CEO des Pharmakonzerns. Wir sollen keine Klassen mehr kennen, nur noch die geeint gegen das Virus stehende Nation. Die Lüge ist offensichtlich: Wem welcher Schutz zur Verfügung steht, wer welche Versorgung erhält, wer seine Miete noch zahlen kann und wer nicht, wer Zugriff auf welche Ressourcen hat, wer eingepfercht im Knast, im Flüchtlingslager, im Billigaltenheim auf die Infektion wartet und wer in der Villa den Außenkontakt auf die Bediensteten reduziert, die einkaufen gehen. Die Kassiererin im Supermarkt wird sich nicht beim ersten Hüsteln in die Privatklinik einweisen lassen können und in den griechischen und libyschen Lagern waren Desinfektionsmittel und Klopapier schon alle, bevor deutsche Kleinbürger das Hamstern entdeckten.

Ist die Rede davon, dass Corona „uns alle“ gleichermaßen trifft, schon innerhalb der reichsten kapitalistischen Nationen Blödsinn, so wird sie global gesehen zur zynischen Menschenverachtung. Selbstverständlich wird eine Pandemie im vom saudi-arabischen Vernichtungsfeldzug geplagten Jemen, in Syrien, den Armenvierteln Indiens, in Mexiko oder in den vergessenen Regionen Afrikas tödlicher sein als in Deutschland. Man wird möglicherweise nur durch Hochrechnungen überhaupt sagen können, wie viele gestorben sind, weil die Leben der Habenichtse dieser Erde eben weniger zählen als unsere hier in Europa oder die der US-amerikanischen Mittelschicht.

V

Die parlamentarische „Linke“, deren Daseinszweck von SPD über Grüne bis zur Führung der Linkspartei die möglichst reibungslose Verwaltung des Bestehenden ist, wird keine Impulse setzen. Der überwiegende Teil wird die Parole ausgeben: Wir kennen keine Parteien mehr, sondern nur noch Virologen. Der DGB hat bereits verlautbaren lassen, sich zusammen mit den „Arbeitgeberverbänden“ – sprich: Kapitalisten – „für das Gemeinwohl einsetzen“ und Konflikte „hinten anstellen“ zu wollen. Vorbild ist die deutsche Sozialdemokratie. Die hatte schon im Ersten Weltkrieg erklärt, ja klar, man wolle für Arbeiter*innen irgendwas tun, aber doch nicht jetzt, wenn die Nation in der Krise ist. Da müssen dann schon die Werktätigen auf die Völkerschlachtbank, für Gott, Kaiser und Vaterland. Hurra.

Dabei wäre gerade die akute Krise jener Ort, in dem es organisierte Kräfte braucht, die den nun unter der Lupe vergrößerten Konflikt austragen. Wem diese Rolle für Deutschland zufallen sollte, ist leider noch nicht abzusehen. Die generelle Unorganisiertheit der radikalen Linken ist durch die Ratlosigkeit, wie mit der jetzigen Situation umzugehen sei, nicht kleiner geworden.

Und sollte sich das nicht ändern, kann man eines über die Post-Corona-Welt sagen: Wie auch immer sie aussieht, „besser“ wird es nicht sein. Denn es gibt keinen Automatismus, dass nun durch die vor aller Augen nackt dastehende Unvernunft des Kapitalismus gleichsam von selbst eine sozialistische, anarchistische, kommunistische Zukunft eintritt. Von selbst wird alles nur schlimmer, will man, dass etwas besser wird, muss man es erzwingen.

#Titelbild: Gemeinfrei/ Pixabay

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Die USA wollen den Regime Change in Venezuela – und scheinen dazu bereit, das Land dafür mit Krieg zu überziehen.

Nachdem sich der bis dahin weitgehend unbekannte Juan Guaidó am 23. Januar in einem „Soft Putsch“ selbst zum Interims-Präsidenten Venezuelas ernannte und umgehend die Unterstützung der Trump-Administration erhielt, stehen die Zeichen in Venezuela weiter auf Eskalation. Das südamerikanische Land mit den größten Ölreserven der Welt hat in den letzten Tagen große Demonstrationen gesehen. Die großen Proteste gegen Maduro konzentrierten sich vorwiegend auf die reichen Bezirke der Großstädte. Auf der anderen Seite demonstrierten am Samstag Hunderttausende auf der Avenida Bolívar in Caracas in einem roten Flaggenmeer ihre Loyalität gegenüber der Regierung und der bolivarischen Revolution. Trotz der schweren Krise und Polarisierung im Land kommt die Gefahr aber klar von außen. (mehr …)

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