Corona und der ideelle Gesamtkapitalist

31. März 2020

Ein Blick auf die Schlagzeilen linker/ linksradikaler Publikationen der letzten Tage könnte glauben lassen, dass linke Politik sich jetzt nur noch gegen den Staat als Repressionsapparat richten solle. Dabei geht unter, dass von staatlicher Seite gerade viel mehr passiert, als der Auf- und Ausbau autoritärer Maßnahen zur Bevölkerungskontrolle.

Die „besondere Formation bewaffneter Menschen, die Gefängnisse und anderes zur Verfügung haben“, vulgo, der Staat, maßt sich jetzt angesichts der Corona-Krise die Einschränkung der individuellen Bewegungsfreiheit an. Droht die Corona-Diktatur? Avantgardistisch hat der Linksliberale Jakob Augstein (manchmal etwas linker, zur Zeit mehr liberaler als links) diesen Gedanken wohl als erster im deutschsprachigen Raum auf die Agenda gesetzt. Es brauchte nur ein paar markiger Maßnahmen aus Bayern, schon konzentriert sich die politische Linke auf das Thema der individuellen Freiheit.

Für die Erarbeitung einer linken Strategie in der Corona-Krise – die nicht bei einer Pandemie bleiben wird, sondern zu einer massiven Wirtschaftskrise werden wird – reicht es aber nicht, sich auf den Staat als repressive Institution zu konzentrieren. Der Staat ist nämlich auch – und das ist die andere Hälfte – ein wesentliches Element kapitalistischer Produktion, dem die Rolle zukommt den ganzen Laden am Laufen zu halten – als ideeller Gesamtkapitalist. Als solcher pumpt er hunderte und weltweit tausende Milliarden Euro Steuergelder in den Wirtschaftskreislauf. Wer glaubt, dies seien Geschenke an individuelle Kapitaleigner, irrt. Wer annimmt, Regierungen hätten ihr soziales Gewissen entdeckt, irrt sogar gewaltig.

Die Regierungen handeln fürs System, nicht für uns

Die totale Abkehr von neoliberalen Propaganda-Dogmen, auch Maßnahmen wie die Verstaatlichung des Gesundheitssystems (Spanien), „Helikoptergeld“(USA), Aussetzung von Mietzahlungen (Frankreich), vielleicht in den nächsten Tagen die Bestrafung von Wucherpreisen bei Atemschutzmasken (entgegen dem heiligen Prinzip von Angebot und Nachfrage): das alles dient der Erhaltung des Kapitalismus als Gesellschaftssystem.

Dass diese Maßnahmen, oder zumindest Teile davon, vordergründig mit den Interessen einer Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung deckungsgleich sind und sogar den Interessen einzelner Kapitalisten zuwiderlaufen, ist eben kein Widerspruch zur Funktion des Staates als ideellem Gesamtkapitalisten, sondern im Gegenteil: eine Bestätigung!

Diskutiert wird indessen über Ausgagssperren. Bayerns Ministerpräsident hat so eine erlassen. Die Autonome Föderation in Rojava auch. Wenn zwei das Gleiche machen, ist es aber noch lange nicht dasselbe. In Rojava wollen die Genoss*innen die Bevölkerung schützen. Die bayrische Staatsregierung will das System schützen – und zwar indem er zu einer Maßnahme greift, die geeignet ist, die Bevölkerung zu schützen. Denn während in Rojava angenommen werden kann, dass auch in Zukunft die Gesundheit der Menschen Priorität behalten wird, wird bereits jetzt – am deutlichsten in den USA – der Corona-Tod von Hunderttausenden gegen die wirtschaftlichen Interessen der Konzerne abgewogen. Die Dialektik zwischen Ursache und Wirkung ist hier mehr als eine rhetorische Spitzfindigkeit.

Deshalb ist es auch falsch, den Focus auf Ausgangssperren als repressives, staatliches Mittel zu legen. Nur allzu bald könnte nämlich der genau entgegengesetzte Fall eintreten: dass wir sogar darum kämpfen müssen, auf sozialer Distanz zu bleiben; auf der Straße und am Arbeitsplatz.

Ein Blick auf die Geflüchteten-Lager in Griechenland zeigt, wie wenig den europäischen Regierungen der Schutz von Menschenleben wert ist. Die unterlassene Evakuierung läuft auf tausendfachen Mord hinaus, wenn sich auf Lesbos und den anderen Lagern der Corona-Virus ausbreitet.

Die Diskussion um eine vorzeitige Aufhebung von Distanz-Maßnahmen und die Untätigkeit in Bezug auf z.B. Geflüchtete und Altenheimbewohner*innen (wie in Spanien) sind der pure Sozialdarwinismus. Die Nützlichen sollen überleben und arbeiten, die Kostenfaktoren können an Covid-19 verrecken.

Während sich im Bürgertum also der Sozialdarwinismus ausbreitet, scheint sich die Linke an einem sehr bürgerlichen Freiheitsbegriff festzuhalten, bei dem das „ich“ wichtiger ist als das „wir“.

„Ich habe das Recht auf Bewegungsfreiheit, ich habe das Recht auf Party!“, stellt das individuelle Recht über das kollektive Recht, nicht infiziert zu werden. Denn auch, wenn abstrakt der Kapitalismus, sein kaputt gespartes Gesundheitssystem und nicht die Corona-Partys für die Pandemie verantwortlich sind, verbreitet sich der Virus konkret durch die Menschen, die auf die zwei Meter Abstand einen Dreck geben.

Das individuelle Recht auf Bewegungsfreiheit ist, so betrachtet, in Zeiten einer potentiell tödlichen Pandemie auch nicht anders, als das vom Bürgertum proklamierten Recht auf freies Unternehmertum: „Ich“ habe die Freiheit, Arbeitskraft auszubeuten. „Ich“ habe die Freiheit, mit meinen Produkten und Konsumgütern die Umwelt zu versauen. „Ich“ habe die Freiheit, Party zu machen und damit die Gesundheit anderer erheblich zu gefährden…

Kollektive Interessen zu verteidigen, beinhaltet natürlich auch, Konzepte zu entwickeln, wie die physischen und psychischen Folgen der sozialen Distanzierung abgemildert und erträglicher gemacht werden können. Denn für den Staat ist das keine Priorität und selbst wenn Regierungen dies wollten, fehlen ihnen die materiellen und kreativen Mittel dazu. Ein (gehöriges) Stück demokratischer Konföderalismus, die autonome Organisierung von unten, ist die beste Medizin!

Wer sich jetzt aber – propagandistisch und/oder praktisch – darauf konzentriert, gegen die staatlichen Maßnahmen anzukämpfen, die objektiv (auch!) im Interesse einer Bevölkerungsmehrheit sind, begeht einen strategischen Fehler, sucht sich gezielt die gesellschaftliche Isolation, während es jede Menge Alternativen an Themenschwerpunkten/ Arbeitsfeldern gibt.

Auf die wichtigen Fragen konzentrieren

Aber worauf, wenn nicht auf der Kritik am repressiven Staat, kann dann eine linke Strategie aufbauen? Laut aktuellen Zahlen des Ifo-Institutes wird die Coronakrise allein in Deutschland Kosten in Höhe bis zu 729 Milliarden Euro verursachen. Es droht eine Rezession zwischen minus 7 und minus 20 Prozent. 1,8 Millionen Arbeitsplätze sind in Gefahr, dazu kommen 6 Millionen, die von Kurzarbeit betroffen sind.

Es braucht keine hellseherischen Fähigkeiten, um vorauszusagen, dass das Kapital versuchen wird, einen Großteil der wirtschaftlichen Folgen auf die Masse der Lohnarbeiter*innen abzuwälzen. Die Pläne der Regierung deuten schon jetzt in diese Richtung.

Von etablierten Akteur*innen der in der „Sozialpartnerschaft“ aufgegangen Reste sozialdemokratischer Politik ist dabei nichts zu erwarten: Die DGB-Gewerkschaften haben angesichts der Krise ihre sowieso schon minimale Gegnerschaft zum Bund der Arbeitgeber begraben. Und die letzte vorgeblich sozialdemokratische Partei „Die Linke“ hat ihren Krisenbewältigungsburgfrieden mit der Regierung schon längst geschlossen. Die Aussichten für eine linke Gestaltung der Krisenpolitik sind also eigentlich niederschmetternd.

Wären da nicht die aktuellen Erfahrungen von unheimlich vielen Menschen, dass gigantische Umverteilungen offensichtlich generell möglich sind, dass der Markt überhaupt nichts regelt und, dass Privatisierungen scheiße sind. Dass Supermarkt-Kassierer*innen, Pflegekräfte etc. relevant, Immobilien-Makler*innen, CEOs und Konsorten dagegen völlig irrelevant sind. Dass ich Nachbar*innen habe, gleich welcher Herkunft oder Religion, die zu mir halten, mit denen ich identische Interessen habe, während die AfD aus den Talkshows verschwunden ist, weil sie nicht mal mehr Hetze beizutragen hat.

Und während Linke sich an der Ausgangssperre abarbeiten, ist selbst das bürgerlich-neoliberale Boulevard-Magazin FOCUS dabei die Dystopie für die herrschende Klasse zu erahnen: „Am Ende steht die Frage, ob unser Geld- und Wirtschaftssystem wirklich noch funktioniert“. Es stelle sich sogar „die Systemfrage“.

Klassenkampf in der global gleichzeitigen Krise

Solchen herzerfrischenden Optimismus kenne ich sonst nur von Trotzkist*innen und teile ihn auch nicht. Aber auch wenn sich die „Systemfrage“ stellt, sind die Aussichten trotz alledem nicht so rosig, wie uns der FOCUS vielleicht glauben machen will. Außer in weiten Teilen Kurdistans und einigen Bereichen Süd-/Mittelamerikas gibt es keine in der Bevölkerung verankerte und gut organisierte revolutionäre Linke, die dieses Zeitfenster der Krise zum Sturz des Kapitalismus ausnutzen könnte. Und sie lässt sich auch nicht innerhalb von Monaten herbei zaubern.

Richtig ist aber: es öffnen sich Fenster und Möglichkeiten. Angesichts der materiellen und ideologischen Krise des Systems wird immer offensichtlicher dass die vermeintliche Alternativlosigkeit der Austeritätspolitik der letzten Jahre reine Interessenpolitik war. Die gesamtgesellschaftliche Destabilisierung kann mit solidarischer Organisierung von unten und konkreten linken Positionen zwar nicht gleich zu einer Revolution führen, ist jedoch eine Chance auf ihre Verankerung in der Gesellschaft.

Ein Faktor dabei verdient meiner Meinung nach ganz besondere Beachtung: Globaler als die Corona-Krise ist nichts! Die Krise trifft nicht nur alle Länder, sie trifft sie auch gleichzeitig! Und damit stehen alle Länder auch gleichzeitig vor den selben Fragen. Es wird deshalb auch gleichzeitig ein ganzes Spektrum an Lösungsvorschlägen- und Maßnahmen geben.

Genauso wie Widerstand gegen die bisherigen Maßnahmen, die schon jetzt hauptsächlich einer Umverteilung von unten nach oben gleichkommen. Für eine Internationalisierung von Protest, von einem globalen Voneinander-lernen ist das eher ein Scheunentor als ein Fenster der Optionen für linke Politik.

Das wäre in den nächsten Monaten und Jahren zu nutzen, statt sich mit marginalen Fragen wie Ausgangssperren aufzuhalten.

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