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Während in Paris die Gewerkschaften Emanuel Macrons Rentenreform bekämpfen tobt auch in Deutschland ein erbitterter Arbeitskampf: Die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) und die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) haben am Montag, 27.03.2023 im Verkehrs- und Infrastrukturbereich gestreikt. Bestreikt wurden ÖPNV, Flughäfen, die Autobahngesellschaft, Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung. Für 2,5 Millionen Beschäftigte des öffentlichen Diensts ist das die dritte Runde der Tarifverhandlungen, während die EVG erst eine Runde hinter sich hat. In beiden Fällen war das Angebot der Arbeitgeberseite, vor dem Hintergrund der steigenden Preise, hoher Energiekosten und Mieten, laut den Gewerkschaften unzureichend. Am 25.03.2023 fand in Berlin eine Demonstration unter dem Motto „Wir zahlen nicht für Eure Krise“ in Unterstützung für den laufenden Arbeitskampf statt. Ca. 2000 Teilnehmer bekräftigten die Forderungen nach einem echten Inflationsausgleich, bezahlbaren Mieten, sozial gerechten Energiepreisen und bezahlbarem ÖPNV auf den Straßen der Hauptstadt. Auch Beschäftigte der Berliner Stadtreinigung (BSR), die sich ebenfalls seit dem 11.03.2023 im Streik befinden, nahmen daran teil. Wir haben mit Carlos, der bei der BSR arbeitet, über den Hintergrund und die Perspektive der aktuellen Kämpfe gesprochen.

Warum streikt die BSR und wie kam es konkret dazu? Habt Ihr das im Betrieb beschlossen, oder kam das eher von der Gewerkschaft ver.di?

Die BSR streikt, weil wir im Rahmen der anstehenden Tarifverhandlungen eine Forderung aufgestellt haben und diese bisher nicht erfüllt wurde. In der ersten Verhandlungsrunde gab es nicht einmal ein Angebot, daher war klar, dass es als Gegenmaßnahme zu Streiks kommen wird. Dazu war keine Anregung notwendig. Allerdings ruft immer die Gewerkschaft zum Streik auf.

Was sind Eure konkreten Forderungen? Und was sind die generellen Forderungen der aktuellen Arbeitskämpfe?

Die aktuellen Forderungen sind 10,5 % Lohnerhöhung, mindestens aber einen Festbetrag von 500 €. Darüber hinaus 200 € für die Auszubildenden und eine unbefristete Übernahme für die Auszubildenden. In dieser Tarifrunde wurden explizit keine weiteren Nebenforderungen gestellt, um eine starke Verhandlungsbasis zu haben.

Nicht nur die BSR streikt, sondern auch Kliniken, Infrastruktur- und Verkehrsbetriebe. Wieso streiken momentan so viele verschiedene Branchen?

Das hat mit den Laufzeiten der Tarifverträge zu tun. Streiken kann nur, wer sich im Arbeitskampf befindet. Während der Laufzeit der Tarifverträge herrscht eine Friedenspflicht. Von den genannten Unternehmen sind aber die Tarifverträge aktuell ausgelaufen, außerdem beinhaltet der TVöD (Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst) schon von sich aus viele verschiedene Branchen, die aber alle einen gemeinsamen Tarifvertrag haben.

Am 27.03.2023 haben ver.di und EVG einen koordinierten Streik gemacht, was ist daran besonders?

Das besondere ist, dass an diesem Streiktag Betriebe aus der kompletten Bundesrepublik kommen und nicht nur aus einzelnen Städten. Auch wird durch die gemeinsame Aktion deutlich, wie viel in Deutschland nicht funktioniert, wenn die Betriebe des öffentlichen Dienstes den Schulterschluss suchen.

Was passiert, wenn die Arbeitgeberseite den Forderungen nicht zustimmt? Sind weitere Aktionen geplant?

Es gibt dafür einen festen Ablauf: Sollte die Arbeitgeberseite den Forderungen nicht zustimmen und man sich auch auf keinen Kompromiss einigen können, hat jede Seite die Möglichkeit die „Schlichtung“ anzurufen, um eine Lösung durch eine dritte Partei herbeizuführen. Schlägt auch diese Maßnahme fehl (während der Schlichtung herrscht Friedenspflicht), wird es möglicherweise zu unbefristeten Streiks kommen, bis eine Einigung erzielt werden kann.

Am 10.03 haben ver.di und die Deutsche Post nach der Ankündigung eines Warnstreiks einen Tarifvertrag mit 11,5% mehr Lohn geschlossen, wie bewertest Du dieses Ergebnis?

Die Tariferhöhung sind leider nicht wirklich 11,5%, da durch die Einmalzahlung vieles verwässert wird. Dieser ist nicht tabellenwirksam und bringt daher aus meiner persönlichen Sicht kaum etwas. Ich persönlich denke, man hätte mit dem Votum der Beschäftigten mehr erreichen können. Am Ende ist das aber die Entscheidung der Verhandlungskommission der Post und der Beschäftigten.

Wie schwierig ist es, einen solchen Kampf vor dem Hintergrund der Gefahr von leeren Streikkassen und „Union-Busting“ zu führen?

Die hohe Streikbeteiligung zeigt, dass so viele Menschen wie nie unter der Inflation leiden und der öffentliche Dienst an vielen Stellen nur unzureichend funktioniert. Gerade in solchen Zeiten ist es daher wichtig, sich zu organisieren und nicht von seinen Ängsten leiten zu lassen. Insofern beeinflussen die genannten Themen unseren Arbeitskampf kaum.

In vielen Medien liest man eher gewerkschaftskritische Bewertungen, obwohl eigentlich die Mehrheit der Bevölkerung für Lohnerhöhungen und bessere Tarifverträge sein müsste, warum ist das so?

In der aktuellen Tarifrunde habe ich bisher eher das Gefühl, dass die meisten Bürgerinnen und Bürger hinter der Tarifforderung stehen. Aber grundsätzlich ist die mediale Berichterstattung immer ein bisschen einseitig und gewerkschaftskritisch, da die meisten Medien nun mal eher arbeitgeberfreundlich sind. Daher kann dieser Eindruck entstehen. Gerade in dieser Tarifrunde wird aber immer wieder deutlich, dass es eher zu einer Befürwortung der Maßnahmen durch die Bevölkerung kommt.

Bei der Demonstration am Brandenburger Tor waren „nur“ 2000 Menschen versammelt, obwohl so viele Menschen betroffen sind. Was sind die Gründe dafür?

Das hat mMn mit den vielen unterschiedlichen Aktionen zu tun, die parallel laufen. Es gab Donnerstag und Freitag Streik, und am Montag (27.03.) war eine bundesweite Aktion geplant, da haben die Leute am Samstag evtl. nur begrenzt Motivation gehabt. Insgesamt ist die Beteiligung an der Tarifrunde aber sehr gut.

Zwar nehmen Streiks in Deutschland zu, von einer streikfreudigen Arbeiter:innenschaft zu sprechen wäre aber übertrieben. Siehst Du die aktuellen Kämpfe als generelle Konjunktur von entschlosseneren Arbeitskämpfen vor dem Hintergrund einer sich verschärfenden Vielfachkrise?

Ich denke es zeigt, wie vielen Menschen es aktuell merklich schlechter geht. Die persönliche Lebensqualität ist aufgrund gestiegener Lebensmittelpreise, hoher Mieten und schwacher Tariferhöhungen in den letzten Jahren spürbar gesunken. Das hat dazu geführt, dass sich auch Leute organisieren, die sonst in den Tarifrunden eher zurückhaltend waren. Ich halte es aber für verfrüht, von einer Arbeitskampfkonjunktur zu sprechen.

# Titelbild: eigenes Archiv.

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Teuerung, Gasumlage, Verarmung: Was steht eigentlich in der Hauptstadt an? Ein Gespräch mit Andrea Feller, Sprecherin des Bundes der Kommunist:innen (BdK)

Die untere Hälfte Deutschlands starrt gebannt auf den Herbst, man weiß nicht, was genau kommt, aber man weiß, man wird ärmer. Lebensmittelpreise durch die Decke, Reallöhne am Sinken, Sprit teuer, Heizen teuer, Mieten teuer. Aber irgendwie ist es erstaunlich still in der Linken dieses Landes?

Wir können ja nicht für „die Linke“ sprechen. Bei uns ist es so, dass wir vor zwei Jahren angefangen haben, uns eine, sagen wir mal, nachhaltige Infrastruktur aufzubauen: Ladenlokale, ein tragfähiges Statut und Programm, Sympathistant:innenkreise und dergleichen. Jetzt müssen wir diesen langwierigen, aber unserer Meinung nach richtigen Aufbauprozess durch eine Kampagnenfähigkeit ergänzen. Das haben wir am 1. Mai ganz okay ausprobiert, müssen aber jetzt etwas größer denken. Und das dauert. Wir arbeiten aber – im Bündnis mit anderen kommunistischen Gruppen in Berlin – auf einen heißen Herbst hin. Es wird zahlreiche kleinere Aktionen in den Stadtteilen geben und eine Großdemonstration im November ist in Planung.

Allgemein für die Bundesrepublik würden wir sagen, dass es ja Ansätze gibt: In Stuttgart, Hamburg und anderen Städten gelingt die Verknüpfung von „roten Gruppen“ und Arbeitskämpfen ja immer besser. Auch die an sich sicherlich sehr sozialdemokratisch bestimmten Gewerkschaftsaktionen werden unter dem Druck der Verhältnisse etwas offensiver, wenn wir uns etwas die Proteste der Hafenarbeiter:innen oder den Abschluss beim Bodenpersonal der Flughäfen ansehen.

Die Wahrheit ist aber auch: Die Linke in diesem Land ist insgesamt im Umbruch und wird beweisen müssen, dass sie einen Nutzen für die breite Bevölkerung hat, sonst wird sie irgendwo zwischen neoliberalem Grünen-Moralismus, sozialdemokratischem Verelendungsmanagement und rechten Rattenfängern zerrieben werden.

Das ist ja jetzt auch schon ein bisschen das Schreckgespenst, das von den Linksliberalen an die Wand gemalt wird: Das wird ein Aufschwung der Rechten.

Das ist einerseits eine bewusste Strategie der Regierung. Die Politik, die hier betrieben wird, ist ja so eindeutig darauf gerichtet, Krisenlasten auf Arbeiter:innen, Erwerbslose und Arme abzuwälzen, dass man irgendwelchen abstrakten moralischen Quatsch braucht, um die eigene Klientel bei der Stange zu halten. Man muss denen erzählen können: Wer sich weigert, kürzer zu duschen, ist für Putin und wer nicht 4 Euro für Butter zahlen will, hat quasi schon den AfD-Button am Revers. Letztlich ist das deshalb gefährlich, weil viele sowieso protestieren werden – egal, mit welchem Stigma. Und wenn man die dauernd in diese Ecke stellt, sagen die irgendwann: Ja mir egal, dann bin ich wohl rechts. Der Nutzen für die Regierung ist offenkundig, aber radikale Linke können da nur verlieren. Wir jedenfalls werden dieses Spiel nicht mitspielen. Faschisten kann man von innen aus einer Protestbewegung entfernen, so wie bei den Gelbwesten in Frankreich. Aber sicher nicht als dauerempörter Twitter-Beobachter.

Das zweite daran ist: Tatsächlich hat sich in den letzten Jahren, auch durch die teilweise Ohnmacht der Linken insgesamt, eine Stimmung breit gemacht, in der „Linkssein“ als eine Art Elitenprojekt gesehen wird. Diesen Müll gibt es ja nicht nur hierzulande, der ganze Trumpismus in den USA ist ja ein viel weiter entwickeltes Beispiel: Da wird Teilen der Arbeiterklasse eingeredet, dass eine Riege korrupter, am Gängelband des Kapitals hängender Multimillionäre ihre Interessen vertritt, indem man ihnen Feindbilder wie Schwarze oder Frauen präsentiert, an denen sie sich abarbeiten sollen. Die Wahrheit ist: Die Rechte steht überall im Dienst des Kapitals und hat den Prolet:innen nichts zu bieten. Sie kann nur billige Feindbilder erschaffen, um von den wirklichen Feinden abzulenken.

Wenn ihr von einem „heißen Herbst“ reden, was steht da an?

Wir wollen lokale Aktionen in unseren Stadtteilkomitees in Neukölln, Wedding und Lichtenberg kombinieren mit zentralen Mobilisierungen. Erstes schließt schon jetzt Essensausgaben, gratis Kulturveranstaltungen, lokale Kundgebungen mit ein. Auf dem Level der zentralen Mobilisierungen arbeiten wir in einem Bündnis auf eine Großdemonstration im November hin. Zudem gibt es eine fast unüberschaubare Anzahl von Bündnissen, die jetzt etwas vorbereiten. Wir werden uns allen Aktionen anschließen, die sinnvoll sind.

Welche Forderungen kann man denn in den Mittelpunkt so einer Demonstration rücken?

Das ist eine Gratwanderung. Zum einen will man ja an konkrete Anliegen anknüpfen, zum anderen will man aber auch nicht so tun, als ob sich durch irgendwelche Reformen da noch etwas reißen ließe. Sicherlich wird es zum einen darum zu gehen, die Gasumlage, mit der sich die Energiekosten für die Bevölkerung vervielfachen werden, abzuwehren. Zum anderen muss man die „Inflation“ von der Lohnseite und vom Erwerbslosengeld her angehen. Hartz IV muss wirklich weg, nicht nur neu aufgehübscht werden. Und der Reallohnverlust muss gestoppt werden. Auch an die Frage des kostenlosen öffentlichen Verkehrs sollten wir anknüpfen.

Aber das reicht alles nicht. Wir müssen klar machen, dass wir nicht in der Nachkriegszeit des 20. Jahrhunderts leben. Der Spielraum für eine auf „Reformen“ basierende Verwaltung des kapitalistischen Elends ist nicht mehr da. Der Kapitalismus ist in der Krise und seine „Weltordnung“ bricht an mehreren Punkten auseinander. Da kann man nicht mehr, wie die Linkspartei, so tun, als ob es reicht, wenn man statt 12 Euro nen Mindestlohn auf 13 Euro anpreist und sonst bleibt alles gleich. Wir stehen vor der Wahl zwischen Krieg, Umweltzerstörung und Verarmung – oder Sozialismus.

Nun sind ja solche Kampagnen und Demonstrationen punktuelle Ausdrücke von Unmut, aber mehr ist das halt auch nicht. Was dann?

Nein, natürlich ist das für sich genommen keine Lösung. Aber man muss die Lage realistisch sehen: Es gibt keine schnellen und zugleich progressiven Krisenlösungen, aus dem einfachen Grund, dass der Organisierungsgrad der sozialistischen und kommunistischen Kräfte zu gering ist. Viel zu wenige Kolleg:innen sind aktiv in kommunistischen Organisationen. Und zumindest unserer Auffassung nach ist das die Voraussetzung dafür, wirklich handlungsfähig zu sein. Reale Gegenmacht entsteht nicht durch lose, oft genug sehr esoterische Zirkel, die im eigenen Sud dahinsiechen. Man muss in der Lage sein, über den eigenen Tellerrand hinaus Leute zu erreichen.

Und das ist letztlich unser Ziel: Wir wollen mehr Menschen in organisierte Strukturen einbinden, alles andere ist nur Mittel zum Zweck. Das betrifft zum einen die Nachbar:innen in den Stadtteilen, in denen wir präsent sind und die Kolleg:innen in den Betrieben, in denen wir arbeiten. Zum anderen muss man aber auch sehen: Es gibt in dieser Stadt wirklich viele bereits anpolitisierte Genoss:innen, die entweder aus Frustration über vorherige Erfahrungen oder, weil sie nie irgendwo Anschluss gefunden haben, nicht organisiert sind. Ihnen möchten wir bei dieser Gelegenheit auch sagen: Jetzt ist der Zeitpunkt. Kommt zu uns, helft mit, wir brauchen jede Hand und jeden Kopf. Wir können es uns in den kommenden Auseinandersetzungen nicht leisten, einfach zuzusehen und passiv zu bleiben. Es braucht jetzt sofort eine schlagkräftige Linke und wir sind ohnehin schon spät dran.

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Wie sich Teile der Klimabewegung im Nebel des Krieges verirrt haben

Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine wird über ein Embargo auf russisches Gas und Öl diskutiert. Während die Bundesregierung unter Verweis auf Versorgungssicherheit und Preisanstiege dies bisher noch ablehnt, haben sich mit Ende Gelände (EG) und Fridays for Future (FFF) auch Teile der Klimabewegung der Forderung angeschlossen. Auf den ersten Blick spricht vieles dafür, die ohnehin seit langem erhobene Forderung nach Ausstieg aus den fossilen Energien in dem Moment zu intensivieren, in dem sie als Maßnahme gegen den russischen Krieg eine hohe gesellschaftliche Legitimität besitzt. Aber das ist nur die naive Konstruktion einer imaginierten „Win-win“-Situation. So hieß es am 01.03. in einer Presseerklärung von EG: „Statt hochgerüsteter Staaten und einer Rückkehr zum Kalten Krieg, fordert Ende Gelände den sofortigen Gasausstieg als Konsequenz aus dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine. Nicht Staaten, Oligarchen und zwielichtige Konzerne sollten die Energieversorgung kontrollieren, sondern wir alle, dezentral, erneuerbar und klimagerecht. Wir brauchen Wärmepumpen statt Waffen.”

Ein solcher “Kurzschluss” zwischen Klimakrise und Krieg ist propagandistisch nachvollziehbar, in der Sache jedoch tendenziell nicht nur zynisch, sondern er verkennt auch den Zusammenhang zwischen dem Krieg und den Transformationsprozessen des grünen Kapitalismus, der Umweltzerstörung und Ausbeutung nach dem fossilen Zeitalter nur anders organisieren, aber bei weitem nicht überwinden wird.

Wenn wir uns als Klimagerechtigkeitsbewegung diese Zusammenhänge nicht aneignen, laufen wir Gefahr, nur in deren Fahrwasser mitzuschwimmen, anstatt die notwendigen Kämpfe für antikoloniale globale Klimagerechtigkeit zu organisieren. Eine andere Sache ist dann noch, dass Teile von FFF ganz auf Waffenlieferungen für die Ukraine setzen.  Dadurch geraten sie in die Problematik der Mittäterschaft imperialer Neustrukturierungen in dieser Welt und verstehen nicht, warum mit ihrer Forderung keine Kriege beendet, und die Verwertung fossiler Brennstoffe und anderer Energieträger nur geografisch anders organisiert werden.

Energiepolitik ist Sicherheitspolitik

Deutsche und europäische Thinktanks weisen seit Jahren auf die Abhängigkeit der EU von Öl- und Gasimporten insbesondere von Russland hin, die sie als Hindernis für eine offensivere europäische Außen- und Wirtschaftspolitik begreifen. Knapp 60% des deutschen Primärenergiebedarfs wurden durch importiertes Gas und Mineralöl gedeckt, 55% der Gasimporte kommen aus Russland. Die Lösung liege in einer stärkeren Unabhängigkeit, die man durch eine energiepolitische Wende hin zu erneuerbaren Energien, vorzugsweise „made in Europe“, erreichen will. Bereits 2019 erklärte der damalige Außenminister Heiko Maas: „Durch den Einsatz erneuerbarer Energien können Staaten […] ihre eigene Energiesicherheit […] erhöhen. Damit verliert das geopolitische Instrument Energie […] seine Macht.“ Klimapolitik sei auch „Sicherheits- und Außenpolitik“. Fast wortgleich äußerte sich vor kurzem Luisa Neubauer (FFF) und ähnlich hieß es schon 2006 im vom Verteidigungsministerium erarbeiteten Weißbuch zur Sicherheitspolitik Deutschlands: 
„Energiefragen werden künftig für die globale Sicherheit eine immer wichtigere Rolle spielen. […] Für Energieversorgungssicherheit sind dabei differenzierte Energiebezugsquellen, der Ausbau der heimischen erneuerbaren Energien und ein ausgewogener Energiemix sowie die Reduzierung des Energiebedarfs […] von herausragender Bedeutung.“ Aufrüstung, Kriege und erneuerbare Energieträger gehen nicht einfach nur gut zusammen, sondern bedingen sich! Umso gefährlicher ist es, die Frage regenerativer Energieerzeugung im Kontext des Militärischen aufzuwerfen: So droht sie uns – gewendet als Frage der nationalen Energiesouveränität – einen Schritt näher zur Normalität des Krieges als Mittel der Politik zu führen.

Energiewende

Als Hemmnis für das strategische Ziel einer Energiewende erwiesen sich die hohen Kosten. Gas wurde zur Übergangslösung einer verlangsamten Energiewende erklärt. Die Kooperation mit Russland im Rahmen der Pipeline Nordstream 2 galt wiederum als kostengünstiger und zuverlässiger als die etwa 20% teurere Alternative von Flüssiggas aus den USA. Hinter dieser Richtungsentscheidung stand auch ein grundsätzlicher Konflikt zwischen einer stärker transatlantischen Ausrichtung auf die USA einerseits und einem Ausbau der ökonomischen Beziehungen zu Russland andererseits innerhalb der EU und Deutschlands. Das Scheitern einer gemeinsamen europäischen Energie- und Außenpolitik wurde als Schwäche gegenüber den USA wie auch Russland wahrgenommen.

Mit dem russischen Angriff auf die Ukraine bot sich die Gelegenheit zu einer radikalen Neuausrichtung dieser Politik. Innerhalb weniger Tage wurde die jahrelang gegen erhebliche außenpolitische Widerstände durchgesetzte Pipeline auf Eis gelegt, die ökonomischen, politischen und kulturellen Beziehungen zu Russland so umfassend wie schnell entflechtet. Das ist nicht nur eine kriegsbedingte Störung von bilateralen diplomatischen Beziehungen. Hier deutet sich vielmehr eine Intensivierung der Geschwindigkeit der Energiewende an.

Dabei geht es um viel mehr, als nur um einen Austausch der Energieträger. „Grüner Kapitalismus“ wie wir ihn verstehen, benötigt neue Ressourcen, Infrastrukturen, politische Beziehungen, um Ausbeutung und Transport dieser Ressourcen sicherzustellen, Digitalisierung um sie zu optimieren. Er basiert weiterhin auf dem Wachstumszwang und wachsendem Verbrauch von Rohstoffen und Energien. Der Thinktank Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) rechnet bis 2050 mit einer Verdopplung des Stromverbrauchs in BRD und EU. „Grüner Kapitalismus“ hat nicht die Rettung der Umwelt als Ziel. Die Klimakatastrophe bietet den Horizont, die bestehende Industrie zu modernisieren und angesichts der multiplen Krise des Kapitalismus neue Akkumulationsmöglichkeiten zu eröffnen.

Wasserstoff als Energie der Zukunft

Deutschland wird deshalb mangels ausreichender eigener Stromproduktion auf einen Import von Wasserstoff angewiesen sein. Anders als bei fossilen Energieträgern lässt sich dieser Import aber besser diversifizieren. Außerdem kehren sich die Machtverhältnisse um, da die Erzeugerländer stark auf Technologie und Vertriebsnetze der reicheren Länder angewiesen sind. In Nordafrika und Südosteuropa konkurriert China mit der EU um Einflusszonen. Im globalen Wettbewerb geht es darum, sich möglichst schnell einen Vorsprung zu erarbeiten, um Zugriff auf Erzeugerländer zu erhalten, eigene technologische Standards zu setzen und Liefernetzwerke möglichst exklusiv aufzubauen.

Ein Schwerpunkt der Wasserstofferzeugung war der Ukraine zugedacht. Seit Sommer 2020 existiert eine deutsch-ukrainische Wasserstoffpartnerschaft. Im Januar 2021 eröffnete Außenministerin Annalena Baerbock ein Wasserstoffbüro in Kiew. Damit sollten deutsche Investitionen vorangebracht werden. Spekuliert wurde etwa über Entsalzungsanlagen, um die benötigten Süßwassermengen aufbringen zu können. Durch weitere technische Aufrüstung wäre auch eine Nutzung der Gaspipelines und Speicher für den Wasserstofftransport in den Westen möglich gewesen. Der ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, formulierte das Ziel, sein Land solle innerhalb von fünf bis zehn Jahre zu Europas größtem Wasserstofflieferanten werden. Die Abhängigkeit von russischem Gas und der Status als Transitland wären damit gebrochen worden. Die von Tomasz Konicz vorgebrachte Analyse, Russland habe im Angriff auf die Ukraine präventiv gehandelt, weil es seine auf fossilen Rohstoffen basierende Konkurrenzmacht in den nächsten Jahren schwinden sieht, scheint hier besonders hellsichtig.[1]

Auf der Jagd nach Rohstoffen

Zur Konkurrenz um Energieträger wird sich in den nächsten Jahren die verstärkte Jagd nach bestimmten Rohstoffen gesellen, die für den Ausbau von erneuerbaren Energien und Elektromobilität benötigt werden, etwa in Elektronik, Robotik und Umwelttechnologien. Die Nachfrage nach Lithium und sogenannten Metallen der Seltenen Erden werden um ein Vielfaches steigen.

Etwa 70% der weltweiten Förderung und 90% der Verarbeitung der Seltenen Erden werden von China kontrolliert. Um langfristig 20% des eigenen Bedarfs an Seltenen Erden und anderen benötigten Metallen selbst zu kontrollieren, gründete die EU daher 2020 die European Raw Materials Alliance (ERMA) als Zusammenschluss von Unternehmen, Forschungseinrichtungen, Regierungsstellen und Verbänden.

Grundsätzlich ließen sich Vorkommen von Seltenen Erden auch in Europa nutzen, insbesondere in Norwegen. Der Aufwand für Abbau und Verarbeitung ist aber sehr hoch im Vergleich zu den erzielbaren Gewinnen. Die entscheidende Wertschöpfung findet statt, wenn eingekaufte Rohstoffe in der E-Mobilität, im Maschinenbau oder der Chemieindustrie eingesetzt werden, das Wachstumspotential von Mobilitäts- und Automobilmarkt in der EU wird auf 350-400 Milliarden Euro geschätzt. Ein weiterer Faktor sind die umweltschädlichen Bedingungen, unter denen Seltene Erden gefördert werden. Vorkommen von Lithium in Chile oder Bolivien, Kobalt in der DR Kongo, Platin in Albanien, werden Ziele eines in Zukunft noch hungrigeren grünen Neokolonialismus werden.

Halbleiter und der Kampf um Taiwan

Der Ausbau eines „grünen Kapitalismus“ ist ohne die digitale Steuerung von Prozessen in Produktion, Zirkulation und digitalem Alltag nicht zu denken. Eine weitere Schlüsselkomponente stellen deshalb Halbleiter bei der Chipproduktion dar. Ihr Mangel führte in den letzten zwei Jahren immer wieder zu einem Stau in globalen Wertschöpfungsketten und Produktionsausfällen vor allem in der Automobilindustrie. Die globale Konkurrenz um Halbleiter wird deren Produktion bis 2030 voraussichtlich verdoppeln, während die EU mittels milliardenschwerer Subventionen ihren Weltanteil ihrerseits auf 20% verdoppeln will.

So stark die Position Chinas im Bereich von Rohstoffen und (digitalen) Technologien ist, ist das Land bei Halbleitern selbst von massiven milliardenschweren Importen abhängig. Die Konkurrenz in den pro-westlichen Ländern Japan, Südkorea und vor allem Taiwan hat noch einen Vorsprung.

Gerade Taiwan ist technologisch qualitativ wie quantitativ in der Chipproduktion führend. Hier könnte sich ein neuer Krieg andeuten. Denn China strebt im Rahmen seiner Ein-China-Politik die Wiedervereinigung mit Taiwan an. Die Strategie, dies ohne offenen militärischen Konflikt zu lösen, würde sich ändern, wenn Taiwan sich einseitig als Republik unabhängig erklären würde. Die USA wiederum erklärten, Taiwan (im Unterschied zur Ukraine) im Fall eines chinesischen Angriffs militärisch verteidigen zu wollen. Seit Jahren verlagern die USA militärische Kapazitäten an die pazifischen Inseln vor Chinas Küste und rüsten auch Taiwan selbst mit milliardenschweren Waffenlieferungen und Militärprogrammen auf.

Von der „strategischen Autonomie“ zu den Kriegen der Zukunft

Lange Jahre galten der Linken die Kriege der Vergangenheit als Kriege um fossile Ressourcen, Öl und vor allem im Fall der Ukraine um Gas. Doch mit dem sich abzeichnenden Ausklingen des fossilen Kapitalismus werden die Kriege nicht aufhören. Der Umstieg auf Erneuerbare Energien ist Teil eines neuen kapitalistischen Akkumulationsregimes. Der „grüne Kapitalismus“ ist wie der bisherige auf bestimmte Energieträger, Rohstoffe und Komponenten angewiesen, um die es eine neu entfachte globale Konkurrenz gibt. „Ökologisch, digital und resilient“[2] sollen die weltweiten Liefer- und Handelsrouten abgesichert werden.

Nicht wenige EU-Strategen werden den Krieg in der Ukraine als glückliche Chance betrachten, einen entscheidenden Schritt zur gemeinsamen ökonomischen und politischen Koordinierung,  und militärischer Aufrüstung zu unternehmen.Die Stimmung in der Bevölkerung, die sich in der Kriegskonfrontation mit Russland als europäisch zu begreifen anfängt, soll sich hin zu einer Bereitschaft ändern, für die Verteidigung Europas Krieg zu führen. Die Entflechtung der russisch-europäischen Beziehungen war dafür eine Notwendigkeit, die Unabhängigkeit von russischen fossilen Energien der letzte noch ausbleibende Schritt. Die „strategische Autonomie“ durch erneuerbare Energie zeigt nicht den Weg zu einer friedlicheren Welt auf, sondern ist im Gegenteil die Ermöglichung der nächsten Kriege. Der von unseren Herrschenden geäußerte Wunsch, jetzt zusätzlich von China unabhängig zu werden, muss in dieser Hinsicht beunruhigen. Die real-existierende „ökologische Transformation“ ist Teil eines grünen Imperialismus, gegen den es den Widerstand einer radikalen, antimilitaristischen, antikolonialen und antiimperialistischen Klimagerechtigkeitsbewegung braucht.

Linker Öko-Standortnationalismus

Trotz des wachsenden Bewusstseins für Kapitalismuskritik und Neokolonialismus landen Teile der Klimabewegung immer wieder bei der Forderung nach Investitionen in erneuerbare Energien. Damit wird die Klimakatastrophe auf ein rein technisches Problem reduziert. Vorstellungen einer Gesellschaft die mit Wachstum, Kapitalismus und Kolonialismus bricht, geraten in den Hintergrund. Dabei sind milliardenschwere technische Investitionen im Kapitalismus nicht zu trennen von einem neokolonialen Imperialismus nach außen und Sicherheits- und Klassenpolitiken nach Innen. Somit verschreibt sich die bewegungsorientierte Linke mit ihrem Denken von gesellschaftlichen „Möglichkeitsfenstern“ und „Hegemonieüberlegungen“ über Energiewandel und Ende des fossilen Kapitalismus in Zeiten des Krieges einer Art linkem Öko-Standortnationalismus, statt die Frage von Klimapolitik bereits als Sicherheits- und Kriegspolitik zu benennen. So droht der Linken, der herrschenden Politik einen progressiven Anstrich zu verpassen und zu ihrer ideologischen Verdoppelung beizutragen.

Unter einem Bruch mit der kapitalistischen Produktionsweise ist die Rettung der Welt aber nicht zu haben. Dafür braucht es eine analytische Auseinandersetzung mit dem entstehenden neuen Akkumulationsregime in globaler Perspektive. Unter dem ökologisch-digitalen Paradigma werden alle Bereiche des Lebens restrukturiert, von Arbeit, Reproduktion, sozialen Beziehungen und Subjektivität bis hin zur imperialen Neuordnung der Welt. Aus dem Verständnis dieser Veränderungen lassen sich einige Fallstricke linker Politik erkennen, aber auch Potentiale des Widerstands.


[1]Tomasz Konicz: Eine radikale Friedensbewegung ist nötiger denn je, in Analyse&Kritik 680 vom 15.03.2022, https://www.akweb.de/politik/ukraine-droht-atomkrieg-eine-radikale-friedensbewegung-ist-noetiger-denn-je/

[2]Jörg Kronauer zufolge dürften diese immer häufiger auftauchenden Schlagworte zum proklamierten Selbstverständnis der EU-Bemühungen nach strategischer Autonomie werden. Siehe: Jörg Kronauer: Verordnete Aufholjagd, junge Welt vom 18.02.2021, https://www.jungewelt.de/loginFailed.php?ref=/artikel/396748.wohlfeile-tr%C3%A4ume-verordnete-aufholjagd.html

#Bildmaterial: Hütte Kollektiv

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Einfach gegen Krieg zu sein, ist noch keine politische Position. Die Friedensbewegung in Deutschland aber muss eine klare Haltung einnehmen – sonst droht ihr, dass sie für die Interessen des Kapitals instrumentalisiert wird.

Krieg, bis Putin aufgibt!

Berlin erlebte am Sonntag nach Beginn der Invasion der Ukraine durch den russischen Staat die größte „Friedensdemonstration“ seit dem Irakkrieg. Über 100.000 Menschen seien auf die Straße gegangen. Die Teilnehmer:innen gehörten unterschiedlichen politischen Richtungen an – von linksorientierten Menschen bis hin zu Vertreter:innen von FDP/CDU/SPD/Grüne. Der Tenor allerdings war, dass „Putins Krieg“ gestoppt werden müsse. Und zwar in dem Sinne, dass Putin als alleiniger Verantwortlicher für den Krieg in der Ukraine kritisiert wurde.

So eine Sicht auf den Krieg verschleiert aber seine Ursache: den Konflikt zweier imperialistischer Blöcke, nämlich einerseits dem Block NATO/EU und andererseits dem russischen Imperialismus mit seiner Eurasischen Wirtschaftsunion und seinem Militärbündnis OVKS (Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit). Der Angriff des russischen Staates ist ein katastrophaler Eskalationsschritt – aber eben ein Schritt, dem viele weitere vorausgingen. Seit dem Ende der Sowjetunion waren es NATO und EU, die ihren Machtbereich nach Osten ausdehnten und Russland dabei zunehmend einkreisten. Die Ukraine wurde besonders seit den Maidan-Protesten 2013/14 Schauplatz des Konfliktes der beiden imperialistischen Blöcke, wobei auch hier NATO und EU ihren Einfluss aggressiv ausweiteten.

Bei der Mehrheit der ersten „Friedensdemonstrationen“ ging es nicht um diesen imperialistischen Konflikt. Sie positionierten sich nicht gegen den imperialistischen Krieg, sondern allein gegen den russischen Staat. Auf den wenigsten Demonstrationen wurde Kritik an NATO/EU geübt, die mit ihrer seit 30 Jahre anhaltenden Offensive zur Eskalation beitrugen und beitragen. Unterm Strich deckt sich die Stoßrichtung von „Friedensdemonstrationen“ wie der genannten in Berlin also in wesentlichen Punkten mit dem Interesse des Blocks NATO/EU.

So eine „Friedensbewegung“ ist nicht nur bequem für den deutschen Imperialismus, sondern spielt ihm sogar in die Karten: Bundeskanzler Scholz zog die „Friedensdemonstrationen“ in seiner Regierungserklärung heran, um weitere Eskalationsschritte und die zusätzlichen 100 Mrd. Euro für die Bundeswehr zu legitimieren. Und auch in der Springer-Presse gab es Lob für die Demonstrationen. Obwohl die meisten Demo-Teilnehmer:innen sich sicher aufrichtig Frieden wünschen, kann die Botschaft solcher Veranstaltungen von den Herrschenden leicht als „Krieg, bis Putin aufgibt!“ ausgelegt werden.

Wo steht der Hauptfeind?

Weil die aktuelle militärische Offensive vom russischen Staat ausgeht, kommt der Bevölkerung Russlands im Kampf gegen den Krieg zentrale Bedeutung zu. Sie befindet sich in der Position, dem russischen Imperialismus von innen empfindlichen Schaden zufügen und ihm die Kriegsführung erschweren zu können.

Es gibt in Russland bereits zahlreiche Proteste gegen den Krieg, woran sich auch Linke beteiligen. Sie müssen propagieren, den Krieg zwischen Nationen in Klassenkampf umzuwandeln – gegen Putin und die hinter ihm stehenden Großkapitalisten. Die Masse der Bevölkerung Russlands hat in diesem Ukraine-Krieg nichts zu gewinnen. Sie muss dessen immense Kosten tragen, unter Sanktionen leiden und ihre Söhne als Kanonenfutter hergeben.

Auch in Deutschland müssen Linke die Invasion der Ukraine durch den russischen Staat verurteilen und sich mit der Anti-Kriegs-Bewegung in Russland solidarisieren. Dabei sollte aber auch klargemacht werden, dass es sich um einen imperialistischen Krieg handelt und dass solche Kriege eine notwendige Folge des Konkurrenzkampfes im imperialistischen Weltsystem sind.

Die Hauptaufgabe von Linken in Deutschland ergibt sich allerdings aus der Position, in der sich die Arbeiter:innenklasse Deutschlands befindet. Denn sie lebt unter der Herrschaft eines der wichtigsten Staaten des NATO/EU-Blocks und der deutsche Imperialismus bemüht sich seit Jahren, seine Machtposition in Europa und darüber hinaus auszubauen. Dabei soll auch militärische Stärke eine wichtige Rolle spielen, weshalb Politiker:innen fast aller bürgerlicher Parteien sich seit Jahren für eine Aufrüstung der Bundeswehr aussprechen.

Für die Interessen des hinter ihm stehenden Kapitals hat auch der deutsche Staat zur aktuellen Eskalation des Konflikts mit dem russischen Imperialismus beigetragen. Deutlich wird das unter anderem daran, dass ernsthafte Verhandlungen mit der russischen Regierung verweigert wurden. Diese hatte im Dezember 2021 Forderungen gegenüber USA und NATO aufgestellt. Darunter: keine weitere NATO-Osterweiterung und der Abzug von NATO-Waffen, die sich in Nähe der Grenze Russlands befinden. Doch für die NATO kam es nicht in Frage, ernsthaft über diese Forderungen zu sprechen und Kompromisse einzugehen – nicht einmal, als die NATO-Geheimdienste wussten, dass es bei weiterer Verhandlungsverweigerung zu Krieg kommen werde. Die Regierungen der NATO- und EU-Staaten nahmen und nehmen die tausenden Kriegstoten wohl wissend in Kauf.

Seit Beginn der Invasion verfolgt der deutsche Imperialismus diese Linie weiter: mit Waffenlieferungen an das ukrainische Militär, Sanktionen gegen den russischen Staat, der Forderung, die Ukraine solle EU-Mitglied werden – und vor allem mit der Ankündigung massiver militärischer Aufrüstung. Deeskalationsversuche gab es keine. Die Interessen des Kapitals sollen ohne Rücksicht auf Verluste durchgesetzt werden.

Das ist die Politik des deutschen Staates. Dieser sollte im Fokus der Friedensbewegung in Deutschland stehen. Er ist ihr direkter Gegner und auf ihn kann sie am besten Druck ausüben – nicht auf die russische Regierung 1.800 Kilometer entfernt. Zudem ist der Kampf für das Ende des Krieges in der Ukraine unmittelbar verknüpft mit dem Kampf gegen die Wurzel der ständigen Kriegsgefahr, also dem Kampf für die Überwindung des Kapitalismus bzw. Imperialismus. Und den kann man nur Zuhause führen.

So wie die Anti-Kriegs-Bewegung in Russland Druck auf den russischen Staat macht, den Krieg zu beenden, muss auch die Friedensbewegung in Deutschland Druck auf den deutschen Staat machen. Statt dass dieser den Konflikt weiter mit eskaliert, muss seiner Aggression Einhalt geboten werden. Er muss dazu gedrängt werden, Verhandlungen zwischen den Konfliktparteien zu ermöglichen, damit das Blutvergießen ein Ende haben kann und es Aussicht auf einen Abzug der russischen Truppen gibt. Ein Ende der Kämpfe zwischen den kapitalistischen Staaten löst zwar den imperialistischen Konflikt nicht auf, aber je länger der Krieg dauert desto mehr Verluste müssen die Bevölkerungen hinnehmen, desto größere wirtschaftliche Kosten müssen sie tragen und desto gefährlicher kann sich die internationale Lage zuspitzen.

Die Heuchler entlarven

Die kapitalistischen Parteien und die großen Medien in Deutschland sind sich aktuell weitgehend einig. Kritik an weiterer Eskalation und Aufrüstung gibt es kaum. Man steht zusammen im „Konflikt zwischen Putin und der freien Welt“ (Scholz). Oder wie ein Vorgänger von Scholz es zu Beginn des Ersten Weltkriegs ausdrückte: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche!“ Die Einheit von herrschender Politik und großen Medien ermöglicht ihnen, die Bevölkerung Deutschlands von allen Seiten mit ihrer imperialistischen Propaganda einzudecken und NATO/EU als die „richtige Seite“ in einem Kampf von Gut und Böse darzustellen.

Aber dennoch besteht aktuell großes Potential, die in der Bevölkerung weit verbreitete Erzählung der Herrschenden ins Wanken zu bringen. Denn an zahlreichen Beispielen können Linke zeigen, dass es den Herrschenden nicht um das Wohl von Menschen geht, wie sie selbst ständig behaupten, sondern dass sie die Interessen des Kapitals vertreten und dafür buchstäblich über Leichen gehen. Hier sind einige eindrückliche Beispiele entlarvender Widersprüche:

  • Politiker:innen und Journalist:innen zeigen sich jetzt tief betroffen angesichts des Leids der Kriegsopfer in der Ukraine. Doch wie war das bei den Kriegen von NATO-Staaten wie in Jugoslawien, Afghanistan und dem Irak? Da haben die gleichen Parteien und Medien Kriegspropaganda betrieben und das Leid ihrer Opfer runtergespielt.
  • Plötzlich müsse man sofort hart gegen den russischen Staat vorgehen, um den Krieg in der Ukraine zu beenden. Aber kein Wort und keine Kritik bezüglich der Bomben, die der türkische Staat als NATO-Mitglied in den gleichen Tagen auf mehrheitlich kurdisch-besiedelte Gebiete in Rojava/Nordsyrien und Kurdistan-Nordirak wirft – stattdessen gibt es sogar freundschaftliche Social-Media-Posts. Und genauso wenig Kritik gibt es auch am saudischen Staat, der seit Jahren mit Waffen aus USA und Deutschland ausgerüstet die Bevölkerung des Jemens massakriert.
  • Als Azerbaidschan mit Hilfe des NATO-Mitglieds Türkei 2020 Armenien überfiel wurde das nicht nur nicht verurteilt, Politiker:innen aus CDU/CSU ließen sich für Kriegslobbyismus sogar von Azerbaidschan bezahlen.
  • Menschen, die jetzt vor dem Krieg aus der Ukraine flüchten, wird aktuell von Politik und großen Medien viel Aufmerksamkeit gegeben und Verständnis entgegengebracht – aber eben nur den passenden Flüchtenden. Diejenigen Menschen, die von Afrika über das Mittelmeer flüchten, sollen dort weiter ertrinken. Selbst an der Grenze Ukraine-EU müssen unzählige in der Kälte zu überleben versuchen, weil sie nicht dem Bild der Herrschenden der EU-Staaten entsprechen. Und auch Ukrainer:innen in Deutschland waren und sind der kapitalistischen Politik egal, solange sie nur überausgebeutete Arbeiter:innen sind, durch deren Arbeit deutsche Unternehmen Extraprofite erzielen können; als LKW-Fahrer, Pflegerinnen oder Reinigungskräfte. Es geht eben nicht um Schutz für Geflüchtete oder das Wohl von Ukrainer:innen – es geht darum, Notlagen von Menschen für imperialistische Propaganda auszunutzen.
  • Häufig hört man auch, dass man einem Diktator wie Putin härter hätte entgegentreten sollen und dass man mit Diktatoren eben nicht zusammenarbeiten dürfe. Aber das gilt natürlich nur, wenn der entsprechende Diktator ein Bösewicht ist, also nicht den NATO/EU-Block unterstützt. Im Februar noch war Außenministerin Baerbock in Ägypten. Dort herrscht eine brutale Militärdiktatur, unter der faktisch jede Opposition verboten ist und zehntausende politische Gefangene in den Knästen sitzen, in denen auch gefoltert wird. Aber mit Militärdiktator Sisi arbeitet der deutsche Staat gerne zusammen, weil der ägyptische Staat als Partner im internationalen Konkurrenzkampf des Imperialismus nützlich ist und den EU-Staaten außerdem lästige Geflüchtete vom Hals hält. Allein 2021 gab es aus Deutschland Waffen im Wert von 4,34 Mrd. Euro für die Diktatur.
  • Schließlich die 100-Mrd.-Euro-Aufrüstung: Sie macht eindeutig klar, dass die kapitalistischen Parteien die Bevölkerung all die Jahre angelogen haben, als sie sagten, menschenwürdige Pflege, mehr Rente oder bessere Bildung oder nur Luftfilter in Schulen während der Corona Pandemie könnten nicht finanziert werden.

Was soll man diesen Leuten noch glauben? Es ist offensichtlich, dass es ihnen nicht um das Wohl der Bevölkerung geht, sondern um die Interessen des Kapitals.

Die tatsächliche Friedensbewegung

Erfreulicherweise werden aktuell zunehmend linksorientierte Kundgebungen und Demonstrationen in Abgrenzung zu FDP/CDU/SPD/Grüne organisiert. Sie verurteilen den Angriffskrieg des russischen Staates, stellen sich aber auch gegen die massiven militärischen Aufrüstungspläne der Bundesregierung. Es beteiligen sich dort Gruppen mit durchaus unterschiedlichen Positionen und nicht alle sind antikapitalistisch. Aber hier kann sich eine Massenbewegung für den Frieden herausbilden, die vom deutschen Imperialismus unabhängig ist und den Eskalationskurs der Bundesregierung nicht mitgeht.

Es ist unsere Aufgabe als Linke, uns an dieser Bewegung zu beteiligen und deutlich zu machen, dass die Bevölkerung Deutschlands nicht zwischen russischem und NATO/EU-Imperialismus wählen muss. Denn diese Alternative ist falsch. Es gibt keinen friedlichen Imperialismus. Kein Imperialismus nutzt der Masse der Bevölkerung – weder in der Ukraine oder in Deutschland noch sonst wo. Stattdessen braucht es einen Kampf gegen die Herrschenden im eigenen Land und eine Befreiung vom Kapitalismus, um eine dauerhaft friedliche Welt zu ermöglichen.

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Die Aktienmärkte boomen. Trotz Coronakrise und der Verarmung hunderter Millionen Lohnabhängiger. Was auf den ersten Blick widersprüchlich erscheint, ist Folge der Krisenbekämpfung, und Symptom eines in sich kaputten Weltfinanzsystems, das sich abermals in einer gigantische Liquiditätsblase befindet. Thomas Konicz mit einer Analyse

Rund ein Jahr nach dem Beginn des jüngsten Krisenschubs, der – getriggert durch die Folgen der Pandemiebekämpfung – hunderte Millionen Lohnabhängige in bitterste Armut stieß, verzeichnen die Finanzmärkte eine der größten Boomphasen ihrer Geschichte. Zumindest den amerikanischen Märkten könnte es anscheinend kaum besser gehen. Nachdem der breit gefasste US-Index S&P 500 zu Beginn der Pandemie, im März 2020, um rund 34 Prozent innerhalb eines Monats einbrach, erreichte er im folgenden Jahr mit einem Kursanstieg von 75 Prozent neue historische Höchststände, während gleichzeitig Unterernährung und blanker Hunger auch in den USA massiv zunahmen. Es sei das beste Aktienjahr seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges gewesen, bemerkten US-Medien anlässlich des Jahrestages dieses geisterhaften Aktienbooms, der mit einem Einbruch des Bruttoinlandsprodukts der USA um 3,5 Prozentpunkte einherging.

Neben Internet- und Hightechkonzernen wie Amazon, die als klassische Krisengewinner der Pandemie gelten, wurde der Aktienboom laut dem in der Wirtschaftspresse verbreiteten Narrativ durch die rasch voranschreitende Impfkampagne in den USA befeuert. Der Crash im März 2020 habe das ganze Weltfinanzsystem erfasst und alle relevanten Aktienindizes auf Talfahrt geschickt, hieß es weiter. Folglich sei auch der hieran anschließende Aktienboom ein globales Phänomen. Die Börsen in Japan, China und Südkorea haben ähnliche Haussen erfahren wie im amerikanischen Zentrum des Weltfinanzsystems. Eine Ausnahme bilde nur Europa, wo die schleppende Impfkampagne samt der wieder ansteigenden Infektionsrate die Euphorie der Finanzmärkte dämpfe. Der breit gefasste europäische Index Europe Stoxx 600 hat gerade mal sein Vorkrisenniveau erreicht.

Schließlich hätten viele Kleinanleger:innen in den Vereinigten Staaten während des Lockdowns die staatlichen Direktzahlungen, die sie im Rahmen der Konjunkturmaßnahmen erhielten, zur Spekulation an den Finanzmärkten benutzt. Der Aufstieg der in den sozialen Netzwerken popularisierten „Meme-Aktien“, wie etwa des Wertpapiers der Videospielhandelskette Gamestop, sei gerade durch diese Einmalzahlungen zusätzlich befördert worden. Tatsächlich ist der Kurs der Gamestop-Aktie aber schon kurz vor der Auszahlung der Einmalhilfe von 1.400 US-Dollar enorm angestiegen.

So falsch der Verweis auf die Einmalhilfen ist, so richtig ist die Annahme, dass die Krisenmaßnahmen der Politik die Ursache dieses historisch einmaligen Aktienbooms bilden. Ähnlich der Krise von 2007/08, als die Immobilienblasen in den USA und Europa platzten, reagierten die kapitalistischen Funktionseliten mit gigantischen Stabilisierungsprogrammen auf den durch die Pandemie initiierten Krisenschub von 2020. In der Tat übertrafen die letztjährigen Maßnahmen diejenigen von 2008 um ein Vielfaches. Laut der berüchtigten Beratungsfirma McKinsey (Verantwortlich unter anderem für die Hartz-IV-Arbeitsgesetze) summierten sich die staatlichen Krisenprogramme bis Mitte 2020 auf die gigantische Summe von umgerechnet 10 Billionen US-Dollar, was in etwa dem Dreifachen (!) der staatlichen Aufwendungen nach dem Platzen der Immobilienblasen ab 2008 gleichkommt. Dieser gigantische staatliche Konjunktur- und Verschuldungsschub ging einher mit massiver Gelddruckerei der Notenbanken beiderseits des Atlantiks, die im Rahmen sogenannter „quantitativen Lockerungen“ die Finanzmärkte mit Liquidität überschwemmten.

Gelddruckerei im Vergleich

Das Vorgehen bei diesen Aufkaufprogrammen der Notenbanken ist im Prinzip relativ simpel: Die Notenbank kauft auf den Finanzmärkten Schuldtitel wie Staatsanleihen (2020) oder Faule Hypthekenverbriefungen (2008) auf, wobei sie diese Wertpapierkäufe mit dem selbst geschaffenen Geld „bezahlt“. Dadurch verschwinden diese Papiere aus dem Marktkreislauf, sodass die Märkte stabilisiert werden. Zugleich wurde dabei Geld geschaffen, dass nun im Finanzüberbau weitere Nachfrage schaffen kann – während die aufgekauften Papiere in den Bilanzen der Notenbanken, die als Sondermülldeponien des Weltfinanzsystems fungieren, geparkt werden. Das frisch gedruckte Geld, die „Liquidität“, die in die Märkte gepumpt wurde, lässt folglich die Preise auf den Finanzmärkten steigen: sie heben zu einem Boom, zu einer Blasenbildung ab. Mensch kann hier folglich von einer Liquiditätsblase sprechen. Dies gilt für den langen Finanzmarktboom von 2009 bis Anfang 2020, wie für die gegenwärtige Hausse an den Finanzmärkten, die durch ungleich größere Aufkaufprogramme der Notenbanken ausgelöst wurde.

Eine Quantifizierung dieser Gelddruckerei, bei der oftmals einfach die zur Krisenbekämpfung aufgenommenen Staatsschulden von Notenbanken aufgekauft wurden, ist durch einen Blick auf die Bilanzen der „Währungswächter“ der EU und der USA möglich. Zu Beginn der Eurokrise, 2008, fanden sich in der Bilanz der Europäischen Notenbank EZB Papiere im Wert von rund zwei Billionen Euro. 2019, eine Dekade später wies die EZB war diese Bilanzsumme auf rund 4,6 Billionen Euro angeschwollen – und schnellte im Krisenjahr 2020 auf mehr als sieben Billionen Euro hoch.

Folglich wurden in der Eurozone seit dem Amtsantritt von Christine Lagarde mehr Schrottpapiere aufgekauft, als in der achtjährigen Amtszeit ihres Vorgängers Mario Draghi. Ähnlich dramatisch gestaltet sich die Gelddruckerei vermittels „quantitativer Lockerung“ in den USA: Die Fed hatte im Februar 2020, also vor Ausbruch der Pandemie, eine Bilanzsumme von rund vier Billionen US-Dollar (circa drei Billionen hiervon wurden in der Dekade nach Ausbruch der Immobilienkrise angehäuft); binnen eines Jahres ist diese auf knapp 7,7 Billionen angestiegen.

Diese historisch beispiellose Gelddruckerei erlaubte es den USA und der EU, durch die Ausgabe von Staatsanleihen Billionen in die Krisenbekämpfung zu pumpen. Diese Staatsanleihen wiederum wurden dann teilweise von den Notenbanken mit frisch gedrucktem Geld aufgekauft. Zudem kauften Notenbanken auch Schulden des privaten Sektors auf, um diesen zu stabilisieren. Bei der Fed beliefen sich diese entsprechenden Kapazitäten auf 750 Milliarden US-Dollar. Die spätkapitalistische Krisenalchemie scheint perfekt zu funktionieren: Die Wirtschaft wird durch kreditgenerierte Nachfrage belebt, die Zinsen bleiben mittels „Quantitativer Lockerung“ niedrig, die Inflation bleibt gering, solange die zusätzlich geschaffene Liquidität im Finanzüberbau zirkuliert – und die Aktienmärkte heben ab.

Etwas mehr als eine Dekade hat die letzte große Liquiditätsblase (2009 bis 2020) den Spätkapitalismus mittels wuchernder Finanzmärkte und steigender Schuldenberge ein zombiehaftes Scheinleben eingehaucht, bis die Pandemie die schon zuvor labile Blase zum Platzen brachte und den gegenwärtigen Krisenschub auslöste. Dies bedeutet aber nicht, dass die aktuelle Hausse an den Weltfinanzmärkten, die durch die geschilderten, gigantischen Krisenmaßnahmen initiiert wurden, genauso lange aufrechterhalten werden kann, wie der Boom zuvor. Die Krise stellt keinen linearen Prozess dar, wie es die um rund 300 Prozent angestiegenen Aufwendungen zur Stabilisierung des Weltfinanzsystems illustrieren (2007/08 vs. 2020). Sie folgt vielmehr einer Eskalationsdynamik, bei der nicht nur die „Dosis“ zur Stabilisierung der globalen Finanzblasisenökonomie des 21. Jahrhunderts bei jedem Krisenschub erhöht werden muss, sondern dessen gesamte Stabilität abnimmt, da das Krisenpotenzial – dessen konkreter Ausdruck die global anwachsenden Schuldenberge sind – beständig zunimmt.

Die jüngsten Turbulenzen an den Finanzmärkten legen den Schluss nahe, dass die aktuelle Finanzmarktparty weitaus schneller in den großen Krisenkater übergehen wird, als es bei der letzten Hausse der Fall war. Die Erschütterungen der Finanzmärkte samt der sich auf rund 20 Milliarden Dollar summierenden Bankenverluste, die jüngst durch die Implosion des windigen Hedgefonds Archegos Capital ausgelöst worden sind, mögen etwa für die Süddeutsche Zeitung wie ein „Unheil aus dem Nichts“ wirken, doch inzwischen ist auch vielen bürgerlichen Beobachter:innen zumindest klar, dass die Finanzmärkte sich in einer abermaligen Blasenbildung befinden.

„Mutter aller Aktienmarktblasen“

Konservative US-Medien etwa beschreiben das, was sich gerade an den Märkten vollzieht, als die „Mutter aller Aktienmarktblasen“. Wegen des steilen Anstiegs der Aktienmärkte inmitten einer schweren Rezession bildete sich ein historisch einmaliges Preisniveau an den Märkten aus. Der totale Börsenwert aller öffentlich gehandelten Aktienunternehmen mit Firmensitz in den USA (Wilshire 5000 index) ist inzwischen auf mehr als 125 Prozent des Bruttosozialprodukts der Vereinigten Staaten angestiegen, womit der letzte Spitzenwert auf dem Höhepunkt der Dot-Com-Blase im Jahr 2000 (also der Spekulationshausse mit Hightech-Aktien am Beginn des Internetzeitalters) um rund 25 Prozent überboten wird. Noch nie sind die US-Aktienmärkte in einer Krisenphase dermaßen steil abgehoben.

Seit dem Platzen der Immobilienblase 2008 und der darauf folgenden Liquiditätsblase verläuft der Anstieg des Werts der Aktienmärkte nahezu parallel zum Wachstum der Notenbankbilanzen, was die besagten „quantitativen Lockerungen“ der Geldpolitik als den zentralen Kurstreiber auf den Finanzmärkten identifiziert. Die Spuren dieser historisch beispiellosen Gelddruckerei lassen sich inzwischen auch auf dem US-Immobilienmarkt finden. Dessen Preisniveau in Relation zum Durchschnittseinkommen ist zwar mit 80 Prozent noch weit von seinem historischen Höchstwert während der Immobilienblase in den Jahren 2005-07 entfernt, doch ändert sich diese Relation gerade dramatisch. Die Immobilienpreise in den USA steigen seit Beginn der aktuellen Aufkaufprogramme der Fed um 20 Prozent schneller als die Privateinkommen. Dies ist die höchste je gemessene Steigerungsrate bei Immobilienpreisen – wodurch der Immobiliensektor sich mittelfristig zu einem neuen Krisenherd entwickel könnte.

Ein weiteres Problem, das auf die Kurzlebigkeit der gegenwärtigen Liquiditätsblase hindeuten dürfte, stellen die rasch ansteigenden Zinsen auf den Anleihemärkten dar. Ende 2020 standen die zehnjährigen US-Staatsanleihen bei 0,93 Prozent, bei 30-jährigen „Treasuries“ waren es 1,65 Prozent. Ende März betrug der Zinssatz bei zehnjährigen Staatspapieren 1,63 Prozent, die 30-jährgen Anleihen wurden bei 2,34 Prozent gehandelt. Dieser Anstieg kommt einem Erdbeben gleich, da diese Zinssätze für die „bombensicheren“ US-Staatsanleihen den zentralen Faktor für die Bewertung aller Anlageklassen in der Finanzsphäre darstellen, wie etwa Immobilien, Aktien, Rohstoffe, etc. Mit steigenden Anleihezinsen, die ja Ausdruck fallender Anleihekurse sind, wächst der Abwertungsdruck auf die Aktienmärkte, die bislang von realen Negativzinsen in diesem Bereich profitieren konnten. Finanzkapitalisten könnten verstärkt ihr Geld in den „sicheren“ Staatspapieren anlegen wollen – und es aus den Aktienmärkten abziehen.

Mehr noch: Die Zinsen der US-Staatspapiere steigen an, obwohl die Fed wie verrückt US-Staatspapiere aufkauft, die inzwischen rund vier Billionen der Bilanzsumme der Notenbank umfassen. Allmonatlich kommen 80 Milliarden an US-Staatsanleihen und 40 Hypothekenverbriefungen dazu. Jüngst hat die US-Notenbank angekündigt, ihre Gelddruckerei bis 2023 fortzusetzen.

Wenn nun die Zinsen auf Anleihen rasch ansteigen, obwohl historisch beispiellose Anleiheaufkaufprogramme laufen, dann deutet dies auf eine Erschöpfung dieses Kriseninstruments hin. Eigentlich müssten ja die geschilderten „quantitativen Lockerungen“ zu niedrigen Anleihezinsen führen. Doch die „Nachfrage“ nach US-Anleihen ist so niedrig, dass dies nicht mehr funktioniert. Das höhere Zinsniveau auf den Anlegemärkten übt so einen Zinsdruck auf andere Anlageklassen, etwa die Zinsen bei den Hypotheken, oder Unternehmensanleihen aus – und konterkariert so die Niedrigzinspolitik der Fed. Hohe Zinsen wären aber für die mit massiven Konjunkturspritzen stabilisierte US-Wirtschaft derzeit pures Gift, da hierdurch die mühsam stabilisierten Schuldenberge – etwa bei den Unternehmensschulden – abermals ins Rutschen gerieten.

Die Labilität der derzeitigen Blasenbildung wird auch anhand der zunehmenden Inflationserwartungen deutlich, die sich in den steigenden Anleihezinsen manifestieren (steigende Inflation lässt die Zinsen von Anleihen steigen) – und damit gerade die faktische Nullzinspolitik der Fed infrage stellen. In ersten Stellungnahmen machten Vertreter der US-Notenbank klar, dass sie weiterhin an der Nullzinspolitik festhalten, und notfalls eine höhere Inflation als zwei Prozent kurzfristig hinnehmen würden, um ihre Beschäftigungs- und Wachstumsziele zu erreichen. Laut jüngsten Umfragen sieht die Mehrheit der US-Ökonomen die USA mit dem „höchsten Inflationsrisiko seit zwei Dekaden“ konfrontiert.

Die Sehnsucht nach dem großen Reset

Der marxsche Ökonom Michael Roberts spricht angesichts der gegenwärtigen Lage von einer „Ökonomie im Zuckerrausch“, die durch die massiven Konjunkturprogramme der Politik und die Gelddruckerei der Notenbanken kurzfristig in einem Wachstumsrausch versetzt wurde, dem im besten Fall ein „langer Schlummer“ folgen werde. Der zunehmende Inflationsdruck (derzeit rund 1,5 Prozent) sorge vor allem im Zusammenspiel mit den Unternehmensschulden in den USA dafür, dass die Geldpolitik sich in einer Zwickmühle wiederfände, so Roberts, der darauf verwies, dass knapp 20 Prozent der 3000 größten, öffentlich gehandelten Aktiengesellschaften der USA als „Zombie-Firmen“ bezeichnet werden können. Diese 527 Konzerne sind nicht mehr in der Lage, die Zinsen ihrer rund 1,36 Billionen US-Dollar umfassenden Kredite fristgerecht zu bedienen.

Die Fed – wie auch die bürgerliche Krisenpolitik insgesamt – befindet sich aufgrund des historischen Krisenprozesses in einer politischen Falle, die Roberts folgendermaßen beschrieb: Sollte die Fed ihre „monetäre Großzügigkeit“ nicht irgendwann eindämmen, dann könnte die Inflation „die realen Einkommen verschlingen“ . Doch sollte die Notenbank gegen den Inflationsdruck mit Zinserhöhungen vorgehen, dann drohe ein „Crash der Aktienmärkte und Unternehmenspleiten“. Es zeichne sich demnach das Szenario einer Stagflation ab: Einer ansteigenden Inflation bei niedrigem Wachstum.

Diese sich immer deutlicher abzeichnende Aporie bürgerliche Krisenpolitik lässt inzwischen auch in den Leitmedien der kapitalistischen Funktionselite Diskussionen über die Entwertung des Werts aufkommen. In einem Beitrag in der Financial Times wird etwa dafür geworben, schlicht einen Großteil der Schulden zu erlassen. Da dies nicht ohne schwerste Verwerfungen auf den Finanzmärkten möglich wäre, sollen vor allem „die Staatsschulden, die von den Notenbanken gehalten werden“, schlicht entwertet werden. Faktisch würde die Betätigung eines solchen Reset-Knopfes darauf hinauslaufen, die aufgeblähten Bilanzen der Notenbanken zu bereinigen, also die „Sondermülldeponien“ des Weltfinanzsystems zu entsorgen – um die Kleinigkeit von 25 Billionen Dollar in „den wichtigsten Regionen der globalen Ökonomie“.

Ein ähnliches Vorgehen, das die oben geschilderte spätkapitalistische Verschuldungsmaschine wieder entschlacken soll, wird auch von Ökonomen in Europa diskutiert, die zuletzt in einem offenen Brief die EZB zur Streichung der Staatsschulden aufforderten, die sie in den vergangenen Jahre aufgekauft hat. Diese Überlegungen und Diskussionen laufen letztendlich darauf hinaus, einen neuen Verschuldungszyklus zu initiieren, indem Wert dort entwertet werden soll, wo es kaum Kaskadeneffekte (wie etwas während der Immobilienkrise, als faule Hypotheken zuerst Banken, dann Versicherungen und schließlich Staaten in Schieflage brachten)gäbe.

Unberücksichtigt bleibt dabei aber, dass der jahrzehntelange globale Schuldenturmbau selber nur Folge der Systemkrise kapitalistischer Warenproduktion ist, die an ihrer eigenen Produktivität erstickt. Es wird also weiterhin nur an den Symptomen laboriert.

# Titelbild: pixabay, collage: LCM, Frankfurter Skyline, Symbolbild

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Seit rund drei Monaten erlebt Belarus die größten Aufstände seiner Geschichte. Nachdem wir im ersten Teil (Link) näher auf die ökonomische Geschichte des Landes und die Entstehung der Protestbewegung eingegangen sind, wenden wir unseren Blick jetzt in die Zukunft. Welche Szenarien sind im Hinblick auf die ökonomische Krise und verschiedene geopolitische Interessen denkbar? Ist eine neoliberale Entwicklung unvermeidbar oder gibt es eine sozialrevolutionäre Perspektive?

Es gibt dabei verschiedene Richtungen, in die sich die Situation nach dem Sturz Lukashenkos entwickeln kann. Für uns am Wahrscheinlichsten (und deswegen Gegenstand dieses Artikels) sind die Annäherung an den russischen Staat bzw. die EU.

Eine Annäherung an Russland kann auf mehrere Weisen erfolgen. Zum Einen gibt es die Möglichkeit einer militärischen Intervention, so wie 2014 bei der Annexion der Krim im Kontext der Maidan-Proteste. Aktuell ist dies zwar unwahrscheinlich, das könnte sich jedoch ändern sobald die Proteste weniger friedlich verlaufen und sich Russland infolgedessen als Ordnungsmacht präsentiert. Dies wäre für Russland vor allem von Interesse, da es sich schon seit Längerem die Option offen hält, Belarus in das russische Staatsgebiet zu integrieren. Sollten Politiker*innen mit einer pro-russischen Agenda an die Macht kommen, so würden sie sich vermutlich durch Handelsabkommen und Staatshilfen an Russland binden. Das könnte die Übernahme der belarussischen Wirtschaft durch russische Oligarchen beinhalten. Auf der anderen Seite dieses Spannungsverhältnisses steht die EU. Sie repräsentiert für viele Menschen ein gutes Leben in einer gut funktionierenden Wirtschaft sowie einen funktionierenden Rechtsstaat.

Tikhanovskaja, eine wichtige Oppositionsfigur, hat bereits angedeutet, dass sie im Kontakt mit der EU steht und dass nach einem Abdanken Lukashenkos Gelder von dieser Seite fließen würden. Diesen ersten Annäherungen würden wohl Verhandlungen über Handelsabkommen folgen. Sowohl EU-Gelder als auch Handelsabkommen gehen typischerweise mit dem Druck neoliberale Reformen umzusetzen einher, die die Souveränität und das soziale Gefüge von Belarus und seiner Bevölkerung untergraben. Wenn wir von neoliberalen Reformen sprechen, meinen wir die Umgestaltung der Wirtschaft und Gesellschaft nach marktfundamentalistischen Prinzipien: der dogmatische Glaube an Privatisierung, Deregulierung, die forcierte Öffnung lokaler Märkte und Sparprogramme, welche meist hauptsächlich den sozialen Sektor treffen würden. Ein maßgebendes Instrument für neoliberale Reformen sind Kredite des Internationalen Währungsfonds (IWF). Diese sind normalerweise an sogenannte Strukturanpassungsprogramme geknüpft. Durch das de facto-Monopol des IWF für diese Art von Krediten besitzt diese Institution extrem viel Macht. Staaten, die auf Hilfsgelder angewiesen sind, haben meistens keinerlei Verhandlungsspielraum.

Ein gutes Beispiel, wie die neoliberale Umgestaltung ehemaliger Sowjetrepubliken in der Praxis aussehen kann, findet sich im Polen der 1980er und 90er Jahre. Dort schaffte es die Gewerkschaft Solidarność nach fast einem Jahrzehnt im Untergrund mit ihrem neu gegründeten Parteiflügel die Wahl zu gewinnen und die Regierung zu stellen. Nun stand Solidarność vor der Aufgabe, die ruinierte Wirtschaft zu reformieren. Dafür brauchte es dringend Gelder, um den Staatsapparat am Leben zu halten und nicht an den Staatsschulden bankrott zu gehen. Die Gewerkschaft schlug ein ökonomisches Programm vor, in dem Staatsbetriebe in selbstverwaltete Kooperativen umgewandelt werden sollten. Das war jedoch nicht kompatibel mit den Bedingungen, die der IWF für die Vergabe von Hilfsgeldern in Milliardenhöhe aufstellte. Das Abkommen sah die Abschaffung von Preiskontrollen, den Abbau von Subventionen, sowie den Verkauf der staatlichen Minen, Werften und Fabriken vor. Nach kurzer Zeit gab es im schwer verarmten Polen nun zwar wieder Brot in den Supermärkten zu kaufen. Dieses konnte sich jedoch kaum jemand leisten. Die Einkommensunterschiede stiegen rasant, 1994 ging die Arbeitslosenrate auf 16,4% hoch. Außerdem wurden 33% der Betriebe geschlossen. Laut Berechnungen eines polnischen Ökonomen hätte es 2016 1,5 Millionen weniger Arbeitslose gegeben, wenn die Reformierung der Wirtschaft nicht neoliberalen Grundsätzen gefolgt wäre.

Neoliberale Reformen würden für Belarus bedeuten, dass die staatseigenen Unternehmen, in denen 39,2% der Bevölkerung arbeiten, privatisiert und an ausländische Investor*innen verkauft werden. Das würde einen harten Schlag für den belarussischen Staatshaushalt bedeuten. Dadurch könnten internationale Kredite nicht mehr gedeckt werden, woraufhin der IWF nun von der Regierung verlangen könnte, die Wirtschaft durch Strukturanpassungsprogramme zu sanieren. Die Folgen wären absehbar: Abbau der universellen Gesundheitsversorgung und des Bildungswesens, Kürzung der Sozialhilfen, Flexibilisierung von Arbeitsverhältnissen, Streichung von Arbeitsschutzgesetzen. Die daraus resultierende Verarmung der Bevölkerung stellt für die EU eine Chance auf billige Arbeitskräfte dar, welche nur einen Steinwurf entfernt sind. Vom Beispiel Polens lässt sich auch ableiten, welche langfristigen Szenarien bei der neoliberalen Umwandlung der belarussischen Gesellschaft möglich sind. Die doppelte Enttäuschung – erst vom Staatssozialismus, dann von den Arbeitsrechtsreformen westlicher Demokratien – schafft einen Nährboden für das Erstarken faschistischer Bewegungen. Nicht nur der Aufschwung der polnischen rechtskonservativen PiS-Partei, sondern auch die Entwicklungen in Ungarn oder in der Ukraine verstärken das Bild einer (solchen) historischen Konstante.

In beiden oben beschriebenen Szenarien – Annäherung an die EU oder Russland – gehen wir also davon aus, dass sich die materiellen Lebensbedingungen der lohnabhängigen Klassen verschlechtern werden. Die unmittelbaren Verbesserungen, die mit einer Liberalisierung einhergehen können, wollen wir dabei nicht unter den Teppich kehren: aktuell werden Menschen für die Teilnahme an einer Demonstration oder Mitgliedschaft in einer politischen Organisation verhaftet, gefoltert und ermordet. Die Hoffnung, nach dem Sturz Lukashenkos neu gewonnene Freiheiten für eine langfristige Politisierung der Bewegungen nutzen zu können, ist unter diesen Umständen nachvollziehbar und berechtigt. Trotzdem sehen wir in der aktuellen Situation auch das Potential, dass die Proteste nicht nur minimale Verbesserungen, sondern auch aus sozialrevolutionärer Sicht positive tiefgreifende Veränderungen mit sich bringen. Die Nachbarschaftsversammlungen, die inzwischen überall in Minsk stattfinden, sind zu einer wichtigen Basis für die Proteste geworden. „Wir organisieren gegenseitige Hilfe wenn jemand etwas braucht, veranstalten Flohmärkte aus deren Erlös die Bußgelder gedeckt werden, die die Regierung von Demonstrierenden verlangt. Und wir helfen denen, die von der Polizei Gewalt erfahren“, erzählt Jasja bei einem dieser Treffen. „Das sind kleine Schritte, mit denen wir ein wenig Macht erlangen. Wenn wir all diese kleinen Schritte vereinen, haben wir große Macht“, ergänzt Wera ihre Nachbarin. Hier werden revolutionäre Konzepte wie Gegenmacht, gegenseitige Hilfe oder Dezentralisierung gelebt, auch wenn sie nicht immer als solche benannt werden.
Zwar scheinen bisher eher wenige Menschen die Nachbarschaftsorganisierung als Kernstück einer neuen Gesellschaftsordnung zu betrachten. Aber für eine Gesellschaft, die sich jahrzehntelang unter einem repressiven Regime weggeduckt hat, stellt diese Selbstermächtigung einen enormen Schritt dar.

Ähnliches lässt sich über die Selbstorganisierung der Arbeiter*innen sagen. Auch wenn den vergangenen Aufrufen zum Generalstreik, zuletzt zum 26. Oktober, nur einige Betriebe folgten, ist die Idee des Streiks als politischem Instrument dennoch in der Bewegung verankert. Langsam entstehen auch erste Impulse kollektiver Arbeit: Seit drei Jahren besteht in Minsk ein Druckerei-Kollektiv, das inzwischen vier Personen einen Lebensunterhalt garantiert. In den Protesten spielen sie eine wichtige Rolle: „Alle Druckereien hier werden zensiert, so dass sich seit Beginn der Proteste viele weigern, irgendetwas zu drucken, was damit oder der weiß-rot-weißen Symbolik zu tun hat. Aber unser Kollektiv arbeitet von Anfang an ohne jegliche Zensur. Als zum Streik aufgerufen wurde, druckten wir alle Materialien dazu kostenlos oder gegen Spenden“, erzählt ein Mitarbeiter.

Allerdings gibt es verschiedene Hürden, die der Entstehung einer kämpferischen Arbeiter*innenbewegung im Wege stehen. Zum einen die mangelnde Tradition gewerkschaftlicher Organisierung. Die staatlichen Gewerkschaften sind in realsozialistischer Kontinuität vor allem ein Mittel der verstärkten Ausbeutung, jeder Versuch der Selbstorganisierung wird im Keim erstickt. Genau wie in der BRD gibt es in Belarus kein Recht auf politischen Streik, auf die erste Streikwelle im August folgten Massenentlassungen und Verhaftungen. Zum anderen wird jegliche sozialistische oder kommunistische Rhetorik mit dem Lukashenko-Regime und Abhängigkeit von der Sowjetunion in Verbindung gebracht. „Nach 26 Jahren Überleben im „Sozialstaat“ glauben die Menschen nicht an Sozialismus. Durch die lange sowjetische Geschichte und der kontinuierlichen pro-kommunistischen Rhetorik in Fernsehen und Alltag, sind sie skeptisch im Bezug auf Kommunismus.“, berichtet ein belarussischer Anarchist im Interview mit Crimethink. Das macht es auch für jede außerparlamentarische Opposition schwer, revolutionäre Ideen mit realpolitischer Perspektive in der Gesellschaft zu verankern.

Ein mögliches Ende des Regimes wird kein Machtvakuum nach sich ziehen: schon jetzt verhandeln verschiedene oppositionelle und internationale Akteur*innen und Teile der herrschenden Klasse, um die ökonomischen und politischen Verhältnisse des Belarus von morgen neu zu ordnen. Die breite Protestbewegung hat momentan keine gemeinsame Vorstellung davon, was in dieser Situation geschehen soll. Nach monatelangen Protesten und einem ersten Erfolg ist es nicht unwahrscheinlich, dass sich viele durch kleine Zugeständnisse, wie Amnestie für gemäßigtere politische Gefangene, vorerst befrieden lassen. Wenn aber neoliberale Reformen mit der gleichen Geschwindigkeit wie z.B. in Polen umgesetzt werden, muss die Antwort der Bewegung direkt kommen. Wenn es einen Raum für die Mitgestaltung der Veränderung gibt, dann jetzt. Was es braucht, ist eine Organisierung der Gesellschaft an der Basis. Nur wenn sich die Nachbarschaftsversammlungen und Ansätze der unabhängigen Gewerkschaften konföderieren, können sie die Vision so einer Veränderung entwickeln. Die Impulse dafür zu setzen ist Aufgabe einer organisierten Kraft, die das Ende des Lukashenko-Regimes erst als Anfang einer sozialrevolutionären Umgestaltung der belarussischen Gesellschaft begreift

Diese Kraft sehen wir momentan am ehesten in der belarussischen anarchistischen Bewegung. Anarchist*innen haben von Beginn an an den Demonstrationen teilgenommen, sich in den Nachbarschaftsversammlungen eingebracht, Texte gedruckt und Programme veröffentlicht. Tatsächlich ist die anarchistische Bewegung die einzige größere linksradikale Kraft, die die Proteste unterstützt, da ein Großteil der kommunistischen Bewegung in regimetreuen Parteien organisiert ist. Das Potential, dass in der Annäherung der breiten Protestbewegung an libertäre Ideen steckt, hat auch das Regime erkannt: eine Verhaftungswelle folgt der nächsten, der größte Teil der Bewegung ist im Knast oder auf der Flucht, einigen Anarchist*innen droht nun sogar die Todesstrafe. Als Internationalist*innen begreifen wir die Kämpfe in Belarus auch als unser Ringen um eine lebenswerte Zukunft. Nicht aus einem westlichen Paternalismus heraus oder weil es hier nichts zu tun gäbe. Sondern weil auch die Kräfte der Herrschaft und Unterdrückung nicht vor Staatsgrenzen halt machen und ein Kampf um Befreiung genau deshalb nur international sein kann.

Die Kämpfe in Belarus stellen uns vor die Wahl: bleiben wir am Rand stehen als Zuschauer*innen von Kämpfen, deren Ende im Neoliberalismus doch eh schon zu Beginn klar war. Oder aber bringen wir uns ein, organisieren Kundgebungen, sammeln Soligelder, finden heraus, wer hier in der BRD an der Unterdrückung unserer Genoss*innen verdient. Und zeigen ihnen, dass sie nicht allein sind. Belarus befindet sich in einer Zeit des Umbruchs. Nach Jahren des Schweigens und der Isolation spüren die Menschen jetzt, dass die Macht auf der Straße liegt, dass nichts bleiben muss wie es ist.

Wir wünschen ihnen dabei viel Kraft und Hoffnung.

# Titelbild: Ara Holmes, Kim Garcia, Sonntagsdemo am 18.10.2020

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Von der Kampagne Shut Down Schweinesystem

Die Corona-Krise ist vorbei. Diesen Eindruck kann man zumindest gewinnen, wenn man sich anschaut in welchem Tempo eine Maßnahme nach der anderen gelockert wird. Insbesondere Nordrhein-Westfalen nimmt hierbei unter Ministerpräsident Armin Laschet eine Vorreiterrolle ein. Dass breite Teile der Bevölkerung wieder die Einkaufsstraßen fluten, ihre sozialen Kontakte reaktivieren, dicht an dicht gedrängt in öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs sind, ist kaum verwunderlich.

Denn der staatlicherseits angestrebte Spagat zwischen fortlaufendem Zwang zur Arbeit und den sogenannten Social Distancing Maßnahmen im Privaten war schwer nachvollziehbar. Die großen Corona-Partys fanden schließlich staatlich angeordnet in Großbetrieben, wie Amazon-Fulfillment-Centern, dem Bausektor oder Schlachtbetrieben statt und auch überall sonst, wo man auf Saisonarbeiter*innen aus dem (EU-)Ausland angewiesen ist. Diejenigen die nicht weiter arbeiten durften, sahen sich aus dem Nichts mit existenziellen Fragen konfrontiert, auf die der Staat mit Tropfen auf den heissen Stein, wie etwa einem viel zu gering ausfallenden Kurzarbeiter*innengeld, keine angemessene Antwort gab.

Die haarsträubenden Arbeits- und Wohnbedingungen tausender Saisonarbeiter*innen, die, einzig zum Wohl des deutschen Wirtschaftsstandorts und gegen jede Corona-Schutzverordnung, tausendfach eingeflogen wurden, sprechen Bände über die Prioritäten, die während der Pandemie gesetzt werden. Es geht hierbei nicht um den Schutz von Menschenleben, sondern um die Sicherung von Kapitalinteressen und die Fortführung des kapitalistischen Normalvollzugs.

Was die Kampagne #LeaveNoOneBehind schon zu Beginn der Pandemie voraussagte, wird spätestens jetzt Realität: Die Marginalisierten und Prekarisierten trifft die Krise – die auch ohne Corona-Pandemie zu erwarten gewesen wäre und jetzt noch verschärft zu Tage tritt – am stärksten. Die Beispiele aus Ernte- und Schlachtbetrieben wie in Bornheim oder Gütersloh, zahlreichen Geflüchtetenlagern (bspw. in Bremen, Suhl und Ellwangen), aus den Wohnkomplexen Maschmühlenweg und Groner Landstraße in Göttingen und zuletzt aus den Landkreisen Coesfeld und Oldenburg weisen trotz lokaler Besonderheiten viele Gemeinsamkeiten auf.

All diese Orte wurden während der noch immer grassierenden Pandemie zu Corona-Hotspots. Betroffen sind zum Großteil migrantische und prekarisierte Arbeiter*innen. Schon vor der Corona-Krise von der gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen, bis zur Unsichtbarkeit marginalisiert und nun von den implementierten Corona-Schutzmaßnahmen fast schon mehr betroffen als geschützt: Wo man dazu gezwungen ist, auf engstem Raum nebeneinander zu wohnen und zu arbeiten, sich mit hunderten oder gar tausenden Anderen eine prekäre Lebensrealität teilt und es gleichzeitig am Nötigsten für einen effektiven Infektionsschutz fehlt, ist Armut der Grund für Krankheit oder sogar Tod.

Der Fall des am Virus verstorbenen Feldarbeiters in Bad Krozingen, wie auch die unzähligen Ausbrüche in Göttingen oder im Schlachtbetrieb Tönnies strafen die vielzitierte Phrase „Vor dem Virus sind wir alle gleich“ mit frappierender Evidenz Lügen. Die Corona-Krise zeigt überdeutlich auf, dass soziale Lage und Gesundheit unmittelbar miteinander verbunden sind und, dass man für Kohle bereit ist, über Leichen zu gehen.

Als wäre das für sich noch nicht genug, befeuern Politik und Medien eine rassistische Mobilisierung gegen die am schlimmsten von der Pandemie Getroffenen. So sprach etwa der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet vor dem Hintergrund der jüngsten Ausbrüche in den Schlachtbetrieben davon, dass das Virus aus Rumänien oder Bulgarien eingeschleppt worden sei, während die von ihm forcierte Lockerung der Maßnahmen in keinem Zusammenhang damit stünde. Gleichermaßen bediente etwa die bundesweite Presse rassistische Motive, wonach migrantische Großfamilien für die steigenden Infektionszahlen in Göttingen verantwortlich seien und fütterten somit jenes rassistische Narrativ, welches dem Terroranschlag von Hanau am 19. Februar 2020 den Nährboden bereitete.

Im Rahmen des jüngsten Skandals trifft es also wieder eine Produktionsstätte, in der mehrheitlich osteuropäische Saisonarbeiter*innen unter prekären Bedingungen beschäftigt und untergebracht sind: Wochenlang werden die Arbeiter*innen in die Schlachthöfe gekarrt, arbeiten und leben auf engstem Raum und sind so einem unverantwortlichen Infektionsrisiko ausgesetzt. Die öffentlich gewordenen Bilder zeigen überfüllte Kantinen, mangelhafte Schutzausrüstung und bereitgestellte Unterkünfte, die eher den Ställen der geschlachteten Tiere ähneln, als einer menschenwürdigen Wohnsituation. Den Arbeiter*innen werden mitunter 7-Bett-Zimmer zu horrenden Preisen bereitgestellt, deren Kosten bereits vom ohnehin unwürdig geringen Lohn abgezogen werden. Die Lebensmittelversorgung während des Lockdowns, die von Tönnies übernommen werden sollte, ist unzureichend und hat bereits zu massiven Versorgungsengpässen gesorgt.

Die rigorose Durchsetzung des Lockdowns in den betroffenen Landkreisen durch massive Polizeipräsenz an den Unterkünften der Belegschaft macht auch hier wieder den rassistischen Charakter der staatlichen Institutionen deutlich. Nirgendwo sonst wurde in solch einer repressiven Weise das Leben der Menschen während der Pandemie kontrolliert und durchleuchtet wie bei den betroffenen, meist osteuropäischen Saisonarbeiter*innen.

Ausgestattet mit Werk- und Leiharbeitsverträgen von Sub-Subunternehmen, ist es den Arbeiter*innen kaum möglich ihre Arbeitsrechte wahrzunehmen und gegen die miserablen Arbeitsbedingungen vorzugehen. Drohender Lohnausfall stellt die Betroffenen von einem Tag auf den anderen vor existenzielle Bedrohungen. Die Angst in Armut und Obdachlosigkeit abzurutschen und die neuerlich verabschiedeten Maßnahmen verschärfen die Abhängigkeit von diesem Schweinesystem und verhindern eine solidarische Praxis der Belegschaft untereinander.

Die Beschäftigung über Subunternehmen in Werksverträgen, menschenunwürdige Unterbringung, schlechte Verpflegung und der ausbleibende Seuchenschutz in Zeiten der Pandemie sind keine Einzelfälle, sondern haben System. Der deutsche Wirtschaftsstandort im Allgemeinen, das einzelne Unternehmen im Besonderen, profitieren hier von der ökonomischen Abgeschlagenheit osteuropäischer Nachbarstaaten. In Zeiten eines globalisierten Arbeitsmarktes wird hier ein internationaler Klassenwiderspruch deutlich: Es wurde eine Armee billiger Arbeitskräfte geschaffen, deren prekäre Situation sie dazu nötigt, unter widrigsten Bedingungen als Arbeitsmigrant*innen in der Reproduktion, auf Spargelfeldern oder in Schlachtbetrieben diejenigen Tätigkeiten zu verrichten, für die sich Deutsche noch zu schade sind und müssen dann auch noch froh darüber sein, damit ihre Familien ernähren zu können.

Dennoch zeigt der Arbeitskampf der Feldarbeiter*innen in Bornheim, dass sich, zumindest im Ansatz, gegen solche Zustände gewehrt werden kann. Sie legten die Arbeit nieder und organisierten sich, nachdem ihnen ihre Lohnzahlungen vorenthalten wurden. Die Folge waren acht Tage wilde Streiks, die es den Arbeiter*innen am Ende ermöglichten zumindest einen Teil ihrer rechtmäßig zustehenden Kohle zu erkämpfen. Es wurde deutlich, dass durch Organisierung und Solidarisierung gegen die Arbeitsbedingungen die Arbeiter*innen eine Selbstermächtigung herbeigeführt haben, das welche die strukturelle Benachteiligung der ausländischen Arbeiter*innen aufbrechen konnte.

Wir rufen dazu auf, die negative mediale Öffentlichkeit, die Tönnies gerade hat, nicht abbrechen zu lassen und sich mit den Arbeiter*innen sichtbar und praktisch zu solidarisieren. Das ist auf vielfältige Art und Weise möglich! Als anlassbezogenes Bündnis „Shut Down Schweinesystem“ werden wir in den nächsten Tagen und Wochen weiterhin Imageschaden gegen Tönnies und dem Schweinesystem als solchem betreiben und dabei Solidarität mit den Beschäftigten ausdrücken. Dementsprechend wollen wir auch alles tun, den Arbeiter*innen das zur Verfügung zu stellen, was praktisch gebraucht wird; seien es materielle Hilfsgüter oder Kanäle, um ihre Stimmen Widerhall zu verleihen. Als radikale Linke können wir die Geschehnisse mit skandalisieren, aber was benötigt wird, das wissen die Arbeiter*innen am Ende noch immer am besten.

#Titelbild: shut down schweinesystem, twitter, Aktion von Shut Down Schweinesystem, bei Besselmann, einem Subunternehmen von Tönnies

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Die Corona-Pandemie stellte die Linke vor eine schwierige Situation: Der Glaube in den Staat wächst, politische Praxis auf der Straße ist kaum noch möglich. Die Radikale Linke Berlin (RLB) mit einigen Überlegungen, wie der Kampf unter den neuen Bedingungen weitergehen könnte.

Seit Anfang des Jahres überrollt die Corona-Virus-Pandemie die gesamte Welt. Wo sich viele in Europa, uns inklusive, Anfang Januar noch in Sicherheit wägten, zwang das Virus innerhalb weniger Wochen eine der größten Volkswirtschaften der Welt zum Stillstand.

Nun wurde auch in Deutschland das gesellschaftliche Leben überwiegend zum Erliegen gebracht, wenn auch nicht so drastisch wie in anderen Ländern.

Die radikale Linke befindet sich indessen in einer scheinbaren Schockstarre – Überwältigt von den rasanten Geschehnissen, durch Kontaktsperre und häusliche Quarantäne in ihrer gewohnten Arbeitsweise gestört. Dabei sind linke Analyse, radikale Antworten und Agitation notwendiger denn je.

Der folgende Text soll zur Analyse der Situation und möglichen Handlungsoptionen aus linksradikaler Perspektive beitragen.

1. Der Globale Kapitalismus in der Krise – Das Recht des Stärkeren im Neoliberalismus

Als Anfang Januar der große Ausbruch in der chinesischen Bau- und Schwerindustriemetropole Wuhan begann, startete gleichzeitig in Europa und Nordamerika eine regelrechte Propagandaschlacht. Die Hauptthese bestand darin, dass die chinesische Führung das wahre Ausmaß der Epidemie verschleiern würde und mit autoritären Maßnahmen das Vertrauen der Bevölkerung verloren hätte. Es wurde das Ende des „Regimes“ herbei geschrieben und mit wackeligen Undercover-Aufnahmen aus überfüllten Krankenhäusern unterfüttert. Nun soll es aber nicht um chinesische Innenpolitik gehen sondern um die Folgen für uns in Europa.

Klar ist, dass in dieser Phase europäische und US-amerikanische Eliten das Virus als Chance begriffen einen starken Konkurrenten auf dem Weltmarkt langfristig geschwächt zu sehen. Sich selbst schien man in relativer Sicherheit zu wiegen, denn Vorbereitungen in europäischen Krankenhäusern wurden nicht getroffen. Ebensowenig gab es Unterstützungsangebote für die überlasteten Krankenhäuser Wuhans.

In die selbe Zeit fallen zwei weitere internationale Konflikte, die weitreichende Folgen für Europa haben. Einerseits tobt seit Anfang März ein unerbittlicher Preiskampf zwischen Russland und Saudi-Arabien um die Neuaufteilung von Förderquoten für Rohöl. Der davon ausgelöste, scheinbar unaufhaltsame Sinkflug des Rohölpreises wird weitreichende Folgen für einige kleinere Schwellenländer haben, die von dessen Export abhängig sind. In Kombination mit den weitreichenden Ausgangssperren und wirtschaftlichen Einschränkungen durch die Pandemie kann der Ölkrieg aber auch für die größeren Volkswirtschaften zum Verhängnis werden und neue Konfliktfelder eröffnen, die zur weiteren Instabilität von ganzen Weltregionen beitragen werden. Besonders im Nahen Osten – seit Jahrzehnten ein durch die imperialistischen Mächte geschürter Krisenherd – ist durch die Folgen der Pandemie und den Ölkrieg mit einer ernsten Zuspitzung der chaotischen Lage zu rechnen. Der Fast-Krieg zwischen Russland und der Türkei in Idlib im Februar diesen Jahres ist beispielhafter Ausdruck einer Weltlage, die die kurdische Freiheitsbewegung seit Jahren als den „dritten Weltkrieg“ beschreibt.

Insbesondere die Millionen Geflüchteten in den Lagern an Europas Außengrenzen sind dem Virus schutzlos ausgeliefert und werden von ihm besonders hart getroffen. Noch vor der Bedrohung durch einen um sich greifenden, neuartigen Virus, war die Lage hier äußerst angespannt. Die rassistische Pogromstimmung, die davon ausgelöste Flucht vieler Hilfsorganisationen und die sich deshalb weiter verschlimmernden hygienischen und vitalen Versorgungszustände ließen die Zustände in und um die Lager auf dystopisches Niveau sinken. Das Aussetzen des Anspruches auf Asyl seitens Griechenlandes wurde Anfang März noch erschreckend still hingenommen. Jetzt ist es de-facto gesamteuropäische Praxis, bei der ein Geschehenlassen der Katastrophe in den Lagern als „alternativlos“ verstanden werden soll und die Aufnahme von 50 unbegleiteten Kindern als humanitäre Großtat gilt.

Doch nicht nur an den Außengrenzen der EU ist alles dicht. Innerhalb kürzester Zeit wurden auch zwischen einigen EU Staaten wieder Grenzkontrollen eingeführt. Die Crux dieser kurzfristigen Grenzkontrollen lag für einige Staaten nur darin, dass mit den Einschränkungen in der Personenfreizügigkeit auch gleichzeitig die Warenströme zum Erliegen kamen. Innerhalb eines Tages bildeten sich an der polnischen Grenzen bis zu 50km lange LKW Staus. Dadurch wurden die Just-In-Time Lieferketten der Industrie 4.0 empfindlich gestört, woraufhin es zu größeren Einschränkungen innerhalb der Produktion gekommen ist. Diese Behinderungen sind nachwievor nicht durch staatliche Eingriffe, sondern durch unterbrochene Lieferketten und fehlende Absatzmärkte begründet.

Neben der Unterbrechung der Lieferketten wurde auch der Verkehr für Arbeitskräfte stark eingeschränkt. Dies trifft in Deutschland eigentlich alle Sektoren empfindlich, allerdings müssen zwei besonders hervorgehoben werden. Zum einen die sogenannten Saisonarbeiter*innen in der industriellen Landwirtschaft. Dauerhaft pendelten sonst zehntausende Arbeiter*innen aus den osteuropäischen Staaten nach West- und Nordeuropa, um hier zu schuften und zwar nicht nur in der Spargel- oder Erdbeerernte sondern das gesamte Jahr über auch in Schlachthöfen oder in der Beeren- und Weinernte.

Durch die Bedrohung dieses Stromes billiger Arbeitskräfte, entspann sich hier eine Debatte, die die hässliche Logik, der auch dieser Produktionssektor unterliegt, offenbart. Es geht darum, geduldete Geflüchtete „einzusetzen“, während anderen die Beschäftigung nicht sozialversicherungspflichtiger Gruppen lieber ist. Letzlich werden Sonderregelungen erlassen und osteuropäische Saisonarbeiter*innen in Kontingenten eingeflogen, die während ihrer Arbeit in ihren Betrieben quarantäniert werden sollen.

Zum anderen entfallen tausende Arbeiter*innen in der Pflege. Hier zeichneten sich bereits erste Konflikte ab, denn die deutsche Regierung versucht bereits seit einiger Zeit, gezielt und aggressiv Gesundheitspersonal in verschiedenen Ländern der Peripherie abzuwerben. Dabei wird sich nicht auf Ost- und Südeuropa beschränkt sondern auch in Schwellenländern an – beziehungsweise abgeworben. Denn letztendlich wird damit das gut ausgebildete Personal aus den Ländern abgeworben, die es selbst dringend bräuchten. Der Schluss daraus kann natürlich nicht sein, dass gefordert wird „Arbeit zuerst für Deutsche“, sondern vielmehr die seit Jahrzehnten geforderte Verbesserung der Pflegeausbildung und anschließenden Arbeitsbedinungen.

Ein ähnlicher Konkurrenzkampf ist auch in anderen Branchen und derzeit neben Fachkräften auch im Bereich der medizinischen Produkte besonders deutlich. So versuchte die US-Regierung deutsche Mikrobiologen, die an einem Impfstoff arbeiten, abzuwerben. Gleichzeitig kaufen und klauen sich die ‚europäischen Partner‘ Schutzausrüstung gegenseitig vor der Nase weg.

Nationale Lösungen haben Konjunktur. Auch das Gewäsch der europäischen Solidarität von gestern interessiert heute niemanden mehr. Eine gemeinsame Kostenbewältigung beispielsweise wird von den reicheren Staaten strikt abgelehnt, während die ärmeren der Bewältigung der medizinischen Erfordernisse mit dem kleinen Rest Gesundheitsinfrastruktur beikommen müssen, der ihnen nach den Zwangsprivatisierungen und -Sparmaßnahmen aus der letzten Krise geblieben ist. Ganz zu schweigen von der knallharten Interessenspolitik des Westens im globalen Kontext.

All das führt uns zu der Annahme, dass ein weiterer Krisenzyklus vor allem in der europäischen Peripherie auf uns zukommt. Die Frage, die wir uns stellen müssen ist, ob im Zuge dieser Krise links-populistische Kräfte gestärkt werden und ob es eine Wiederholung der deutschen Austeritätspolitik geben kann. Die Ausgangslage deutet nicht in diese Richtung. Aus den Antworten auf diese Fragen müssen wir unsere Politik ableiten.

2. Klassenkampf von oben – den lahmen Gaul am Laufen halten

Mit allen Mitteln versucht der staatliche Apparat die Produktion am Laufen zu halten. Das ist auch seine Aufgabe im Kapitalismus, wenn wir ihn als „ideellen Gesamtkapitalisten“ begreifen. Dazu wurden verschiedenste Maßnahmen ergriffen.

Gerahmt werden diese durch ein zentrales Narrativ: „Wir sitzen alle im selben Boot.“ Diese hinlänglich bekannte Phrase soll seit jeher Klassenwidersprüche verschleiern. Den Menschen, die über kurz oder lang ernsthaft um ihren Lebensunterhalt, ihre Wohnung und ihre Familienangehörigen bangen müssen, soll damit suggeriert werden, dass ihre Ängste und ihre Situation die selbe seien, wie die der Herrschenden und Bosse.

Dem ist natürlich nicht so. Die gleiche Erzählung vom großen „Gleichmacher“, die zuletzt auch dem Klimawandel anhaftete, geistert auch jetzt wieder durch diverse nationale Öffentlichkeiten. Und auch hier ist sie wieder eine Lüge. Uns trifft das Virus im Falle einer Infektion nicht gleichermaßen. Die USA liefern ein besonders trauriges Beispiel dafür, wie stark sich die Einkommensunterschiede auf die medizinische Versorgung auswirken. Insbesondere, da in den USA oft Lohnarbeit und Krankenversicherung direkt aneinander gekoppelt sind. Ebenso jene Milliarden von Menschen, die keinerlei Möglichkeiten des Zugangs zu einem einigermaßen funktionierenden Gesundheitssystem haben. Genausowenig werden wir gleichermaßen von den gesellschaftlichen Auswirkungen der Epidemie getroffen. Wir hocken in unseren ein Drittel des Einkommens fressenden Wohnungen ohne Balkon eng aufeinander, uns wurde der Job gekündigt, ausgesetzt oder wir müssen weiterhin ohne Schutz arbeiten. Was bringt uns die ausgesetzte Kündigung als Mieter*in, wenn sie uns dann hochverschuldet zwei Monate nach der Corona-Zeit ereilt?

Die Reichen hingegen langweilen sich im Landhaus, während die private Haushaltshilfe weiterhin jeden morgen putzt und das Frühstück serviert. Zwischendurch wird gefordert, die Gürtel enger zu schnallen und „gemeinsam“ diese Krise zu bewältigen. Damit ist natürlich allerzuerst gemeint, die Wirtschaft am Laufen zu halten. Die Sorge vor einer Rezession macht vieles möglich und jede Menge Geld in Richtung von Unternehmen und Banken flüssig. Treffen wird diese Krise in den Auswirkungen aber am stärksten uns hier unten.

Über das Stöckchen des Klassenfriedens in der Krise und die Notwendigkeit des sozialen Zusammenhaltes springen auch die seit jeher wohldressierten DGB-Gewerkschaften und verkünden bereits in der zweiten Märzwoche, Konflikte mit dem Sozialpartner hintanzustellen. Hier müssen wir in die Bresche springen und diese Kämpfe führen. Das würde auch Kontakte und gemeinsame Erfahrungen schaffen, die jenseits der Pandemie dringend gebraucht werden.

Diesem ideologischen Angriff müssen wir uns entschieden entgegenstellen. Für uns muss klar sein, dass die (temporäre) Beilegung irgendeines Klassenwiderspruchs nie eine Option sein kann. Vielmehr sollten wir uns darauf konzentrieren, klar zu machen, dass gerade jetzt viele Klassengegensätze deutlich zu Tage treten und wir daraus Kämpfe entwickeln müssen. Es gilt den vermeintlich absoluten Ausnahmezustand als solchen zu dekonstruieren. Die offensichtlichen Probleme in der Daseinsvorsorge, sei es das auf Profitmaximierung ausgerichtete Gesundheitssystem oder die mangelnde Versorgung mit angemessenem Wohnraum, sind im Kapitalismus nicht lösbar und wir können dort anfangen zu kämpfen.

Doch die Herrschenden und der Staat haben auch direkte Maßnahmen ergriffen, um die kapitalistische Wirtschaft als ganzes zu schützen. Teilweise haben diese Regelungen auch Widersprüche offenbart. Wir denken hier an das zweiwöchige nationale Exportverbot für medizinische Ausrüstung welches der „Exportweltmeister“ verhängt hat.

Geschützt werden sollen aber vor allem Fachkräfte (z.B. Wissenschaftler*innen vom Tübinger Imstoffproduzenten CureVac ) und Schlüsselindustrien (z.B. Rüstungs-, Automobil- oder Landwirtschaftsindustrie) vor der internationalen Konkurrenz. Durch hunderte Milliarden Euro „rettet“ der Staat Großkonzerne. Ein solcher Eingriff ist stets Teil desselben Spiels: Die Gewinne werden privat ausgeschüttet, die Einbußen der Gesellschaft aufgehalst. Es findet also eine Umverteilung vorausgesehener Verluste im Zuge einer Rezession auf die Gesamtbevölkerung statt. Zahlen sollen wir alle, denn so ist es üblich im krisenhaften Spätkapitalismus.

Spannend bleibt die Frage, ob solche Mittel auch in Bereichen der gesamtgesellschaftlichen Daseinsvorsorge angewandt werden. Würde der Staat Gesundheits- und Pharmakonzerne oder die großen Immobilienaktiengesellschaften verstaatllichen? Letzteres käme ja einer teilweisen Erfüllung der Forderungen der Kampagne Deutsche Wohnen und Co. Enteignen gleich. Bisher wird durch die Aussetzung der Kündigungen von Mietschulden und deren Stundung nur Zeit gekauft. Das Problem hier wird sein, dass ein Großteil der Betroffenen durch Kurzarbeitergeld oder Kündigung auch nach der Pandemie keine Chance haben werden, diese Schulden zu begleichen und mit offenen Augen in die Kündigung und darauf folgende Zwangsräumung laufen werden. Die Pandemie kann also durchaus bisher als Beschleuniger von Verdrängungsprozessen dienen, wenn wir keine wirksamen Gegenmittel auf diese Fragen finden.

3. Autoritäre Formierung

Die Pandemie verstärkt ohnehin bestehende Vorstellungen und Organisationsweisen. Nationalismus, Rassismus und Repressive Maßnahmen sind bereits seit einigen Jahren wieder auf dem Vormarsch. Die Krise beschleunigt und verstärkt diese bestehenden Tendenzen und wir denken nicht, dass nach dem Virus alles so werden wird wie davor. Jetzt geschaffene repressive Regelungen und Gesetze werden auch danach zur Anwendung kommen.

Neben den bereits mehrfach erwähnten, über Nacht organisierten Grenzschließungen und der nationalen Abschottung soll auch kurz auf die Rolle der Repressionsorgane eingegangen werden. Der Einsatz der Bundeswehr im Inneren oder die Einbindung privater Sicherheitsfirmen in staatliche, sprich hoheitsrechtliche, Aufgaben ist keine neue Debatte. Interessenverbände, wie die Gewerkschaften der Polizei und andere rechte Zusammenschlüsse, nutzen die aktuelle Situation allerdings aus, um Fakten zu schaffen. Sie haben also durchaus ein Eigeninteresse für die Zeit danach. Auch bieten die getroffenen Regelungen eine Vielzahl von Einfallstoren für staatliche Willkür. Wer wird kontrolliert? Wer dokumentiert was 1,5m Abstand ist? Was sind notwendige Gründe um im Frühling an die frische Luft zu gehen? Wir denken, dass es durchaus notwendige Einschränkungen gibt, aber vertrauen keinen Deut auf das Urteilsvermögen derjenigen, die auch vor dieser Pandemie nie fähig waren menschliche Entscheidungen zu treffen.

Durch die umfassenden Einschränkungen im öffentlichen Raum und in der Zeit außerhalb der Lohnarbeit eröffnet sich schnell auch die generelle Frage in welchem Umfeld wir leben. Gerade die Unmengen von Leuten in prekären Lebensverhältnissen sind auf den öffentlichen Raum angewiesen um Kindern genügend Platz zum Spielen zu geben oder auch dem*r Partner*in aus dem Weg zu gehen. Dieser Raum ist jetzt verschlossen. Was in der Kombination mit der Schließung vieler Hilfs- und Unterstützungseinrichtungen zu einer enormen Zunahme von häuslicher Gewalt führt. Auch hier muss die radikale Linke deutlich auf die Zuspitzung der Situation und Widersprüche, die Klassenverhältnisse mit dem Patriarchat im Zuge der Krise verstärken, hinweisen.

Leider zeigt sich jetzt neben all der Solidarität und Umsichtigkeit auch, dass das kapitalistische System ungemein viele Individualist*innen hervorbringt. Diese wiederum brauchen den starken Staat und seine Vorschriften, um im Kollektiv überleben zu können. Wir begreifen gesellschaftliche Selbstverteidigung nicht nur im Sinne der direkten, körperlichen Selbstverteidigung, sondern auch darin, wie sich eine Gesellschaft schützen kann, vor Umweltzerstörung oder Gesundheitsgefährdung, aber auch vor ideologischen Angriffen. Der aktuell verbreitete positive Bezug auf starke Führungspersönlichkeiten oder das Expert*innentum der Wissenschaft und die Erwartung, möglichst klar gesagt zu bekommen, was richtig und was falsch ist, zeigt, dass dieses Wissen und die Fähigkeit, eine menschliche wie umsichtige Entscheidung selbstständig zu treffen, verloren gegangen sind. Dem sollten wir durch Selbstermächtigung und Bildung zu nicht-staatlichen Ansätzen entgegenwirken. Das Vertrauen in das staatlich-kapitalistische System kann nur durch den Aufbau und die Verbreitung von kommunalen Ansätzen gebrochen werden.

4. Zurück zur Handlungsfähigkeit

Klar ist in diesen Tagen, dass unsere Handlungsoptionen stark eingeschränkt sind. Persönliche Gespräche und Diskussionen sind zentrale Bestandteile von Selbstorganisierung. Doch diese Einschränkungen bedeuten keinesfalls, dass wir herum sitzen können und darauf warten bis dieser Zustand vorüber ist. Deshalb sollten wir uns fragen, was es heißt, sich in der Krise zu organisieren?

Auch in jeder*m von uns sind die Folgen von Jahrzehnten neoliberaler Politik und Individualisierung tief verwurzelt. Diese Mentalität hält uns in Zeiten der Krise wie auch sonst passiv und abwartend. Wir müssen uns aus dieser Umklammerung lösen und zum kollektiven und kommunalen Leben zurück finden-.

Organisieren heißt für uns, sich vorzubereiten und kollektive Antworten zu entwickeln im Kampf gegen das kapitalistische und patriarchale System. Diesen Ansatz verfolgten wir vor der Pandemie, genauso wie wir ihn während und nach der Krise verfolgen werden. Um handlungsfähig zu werden, erscheint uns als erster wichtiger Schritt eine umfassendere kollektive Analyse der gesellschaftlichen Widersprüche notwendig, um gemeinsam weiter kämpfen zu können. Damit wollen wir auch verhindern, in dieser Situation Forderungen rein entlang der Vorgaben der kapitalistischen Staatsordnung zu stellen und unsere generellen Ziele aus den Augen zu verlieren. Die Forderung nach mehr Personal im Krankenhaus ist absolut gerechtfertigt, aber verändert nicht das grundsätzliche Problem einer nach kapitalistischen Kriterien organisierten Daseinsvorsorge. Ähnliches gilt für unterbezahlte und überarbeitete Kassierer*innen, Lieferdienstfahrer*innen und Arbeiter*innen in den Amazon „Fullfillment-Centern“.

Ohne genaue Analysen der gesellschaftlichen Verhältnisse und organisierte Kräfte besteht die Gefahr, dass Selbstorganisation und Nachbarschaftshilfe schnell durch staatliche Akteure eingebunden wird und damit eher befriedet als Gegenmacht schafft. Das Vertrauen auf die Spontanität von kleinen Initiativen und Aktivist*innen stößt derzeit an seine Grenzen. Dies kann derzeit an den sich sehr schnell bildenden Nachbarschaftshilfe-Gruppen auf Telegramm und anderen Social Media Kanälen nachvollzogen werden, deren Aktivität bereits merklich abflaut und die durch staatliche und staatlich geförderte Angebote eingebunden werden.

Die letzten Wochen der Einschränkung zeigen uns aber auch, dass es durchaus gute Ideen gibt die umgesetzt werden. Per Videostream publizierte, „stille“ Besetzungen für Wohnungslose, Autokorso‘s und Kundgebungen mit Abstand oder Podcast und Zeitungsformate zeigen, dass es Potential für Aktionen gibt und wir sicher noch viele weitere Ideen entwickeln können. Das stimmt uns hoffnungsvoll und gibt uns Kraft auch in dieser schwierigen Zeit zu kämpfen.

# Titelbild: redfish media facebook

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Der gegenwärtige Krisenschub scheint den Spätkapitalismus im Rekordtempo in eine längst überwunden geglaubte, barbarische Vergangenheit abstürzen zu lassen.

Wie lange lässt sich die Notwendigkeit der Überwindung der spätkapitalistischen Produktionsweise ignorieren, während diese offen in Krise und Barbarei versinkt? Weite Teile der sozialdemokratisch verhausschweinten Umverteilungslinken in der Bundesrepublik mögen noch immer die Augen ganz fest zudrücken angesichts des sich global entfaltenden Desasters, um die notwendigen, radikalen Schlussfolgerungen nicht ziehen zu müssen, die so abträglich für Koalitionskalkül und Karriereplanung sind. Den deutschen Funktionseliten aber dämmert es inzwischen durchaus, was da auf sie zukommt. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), dem informellen Verlautbarungsorgan der deutschen Bourgeoisie, spricht man inzwischen von einem „Pearl-Harbor-Moment“. Der wirtschaftliche Umbruch, den das Virus ausgelöst habe, werde über „Generationen dauern“, hieß es in einem Kommentar. Die „Dramatik dessen, was sich gegenwärtig vollzieht“ entziehe sich weitgehend gängiger Einordnung.

Der wirtschaftliche Einbruch kommt

Der IWF versuchte sich Mitte April an einer ersten substantiellen Einschätzung des kommenden Wirtschaftseinbruchs, der durch die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung ausgelöst wurde. Schon jetzt stehe fest, dass die überschuldete Weltwirtschaft in die größte Krise seit der großen Depression der 30er abstürzen werde. Selbst die Finanzkrise von 2008/09 würde dahinter verblassen, so die Zusammenfassung der IWF-Prognose seitens der FAZ. Die Weltwirtschaft werde demnach in diesem Jahr um rund drei Prozentpunkte schrumpfen, wobei rund 170 Länder mit einem Rückgang der Wirtschaftsleitung rechnen müssten.

Der Währungsfonds geht von einem diesjährigen Einbruch von rund sieben Prozent in der Bundesrepublik aus, in der gesamten Eurozone soll die Wirtschaftsleistung um 7,5 Prozent schrumpfen. Besonders hart soll es Italien treffen, wo ein tiefer konjunktureller Fall von 9,1 Prozent prognostiziert wird. Auf die USA kommt ein Rückgang des Bruttoinlandsprodukts von mindestens 5,9 Prozentpunkten zu. Etliche Länder des globalen Südens, in der Peripherie des kapitalistischen Weltsystems, könnten hingegen auch in diesem Jahr ein knappes nominelles Wirtschaftswachstum verzeichnen. Für die übergroße pauperisierte Bevölkerungsmehrheit in diesen ökonomisch abgehängten Weltregionen bedeute dies nichtsdestotrotz eine Verschärfung des täglichen Überlebenskampfes, weil die „Wachstumsgewinne“ sehr ungleich verteilt seien, wie es die FAZ formulierte. Im Klartext: nur bei kräftigem Wachstum können in der „Dritten Welt“ Pauperisierungstendenzen eingedämmt werden, schwaches Wachstum führt zu fortgesetzter Verelendung.

Für nahezu alle Länder und Regionen prognostiziert der IWF im kommenden Jahr einen Aufschwung, der aber in kaum einem Fall die massiven Verluste dieses Jahres kompensieren können werde. Nennenswerte Ausnahmen bilden hier nur China und Indien. In diesem Jahr sollen beide „Schwellenländer“ um ein bis zwei Prozentpunkte wachsen, während 2021 ein kräftiger Aufschwung von 7,4 Prozent (Indien) bis 9,2 Prozent (China) vorhergesagt wird. Diese Zahlen des IWF beruhen allerdings auf einem optimistischen Szenario, das davon ausgeht, dass die Folgen der Pandemie in der zweiten Jahreshälfte 2020 erfolgreich eingedämmt werden. Sollten die schon jetzt anlaufenden Maßnahmen zur Lockerung des „Lockdowns“ nicht erfolgreich sein und die globale Mehrwertmaschine auch in der zweiten Jahreshälfte stillstehen, dann droht ein historisch beispielloser Zusammenbruch der Weltwirtschaft. Den kapitalistischen Funktionseliten aus Politik und Wirtschaft bleibt nichts Anderes übrig als, allen Warnungen von Virologen zum trotz, die Wirtschaft wieder schnellstmöglich „hochzufahren“.

Es brennt an allen Ecken und Enden. Inzwischen haben mehr als 90 Länder beim IWF Notfallfinanzierungen beantragt, um Schuldenkrisen oder Staatspleiten abzuwenden, wobei die für ihre berüchtigten Sparprogramme berüchtigte Institution diesmal die neoliberalen Zügel lockerer anlegen will. Rund 25 der ärmsten „Entwicklungsländer“ hat der Währungsfonds sogar Erleichterungen beim Schuldendienst zugesagt. Die Krise der „Schwellenländer“ (Semiperipherie) und der Peripherie wird durch eine historisch beispiellose Kapitalflucht in die Zentren des Weltsystems, sowie dem Absturz der Preise für Energieträger angefacht. Die Preise für Rohöl rutschten bei der US-Sorte WTI absurderweise sogar ins Negative, was auf die Auslastung aller Lagerkapazitäten bei weiterhin laufender Förderung und eine kollabierende Nachfrage zurückzuführen ist.

Die Lohnabhängigen trifft es am härtesten

Gigantisch sind insbesondere die – mitunter existenzgefährdenden – Verluste, die die Lohnabhängigen im Verlauf dieses Krisenschubes hinzunehmenhaben. Die International Labour Organization (ILO) der Vereinten Nationen spricht von „niederschmetternden Verlusten“ an Arbeitsstunden und Beschäftigung, die einen „katastrophalen Effekt“ auf die globale Arbeiterschaft hätten. Der Wirtschaftseinbruch werde durch pandemiebedingte Produktionsstillegungen mindestens 6,7 Prozent der weltweit geleisteten Arbeitsstunden ausfallen lassen, was knapp 200 Millionen Vollarbeitsplätzen entspräche. Insgesamt 1,9 Milliarden Arbeiterinnen und Arbeiter sind in Sektoren beschäftigt, die von „drastischen und verheerenden“ Arbeitszeitkürzungen, Lohnkahlschlag und Entlassungen bedroht seien. In Indien sind – trotz leichtem Wachstums – beispielsweise 400 Millionen arbeitende Arme im informellen Sektor vom Abrutschen in eine existenzgefährdende Armut bedroht, was auf die rasche Ausbreitung von Hunger und Mangelernährung hinausläuft. In Europa sollen allein im zweiten Quartal dieses Jahres 7,8 Prozent aller Arbeitsstunden ausgefallen sein, was in etwa 12 Millionen Vollzeitarbeitsplätzen entspricht. Zum Vergleich: Während der Eurokrise, als Spanien und Griechenland eine Arbeitslosenquote jenseits der 20 Prozent verzeichneten, sind in der Eurozone 3,8 Millionen Arbeitsplätze verloren gegangen.

Innenalb der Zentren des kapitalistischen Weltsystems sind die Vereinigten Staaten bislang am stärksten von dem Krisenschub getroffen worden – sowohl in Bezug auf die Anzahl der Todesfälle, als auch der ökonomischen Verheerungen im Gefolge der Pandemie. Die Arbeitslosenquote ist dort, nach dem Scheitern der halbherzigen Bemühungen sie durch Übergangsregelungen abzufangen, regelrecht explodiert. Innerhalb eines Monats mussten sich bis Mitte April 22 Millionen US-Bürger arbeitslos melden, was einen einsamen historischen Rekord darstellt und der globalen Prognose der ILO nahekommt. Somit haben rund 13,5 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung der USA ihre zumeist ohnehin prekären und mies bezahlten Jobs binnen kürzester Zeit verloren. Die offizielle Arbeitslosenrate der USA, die ohnehin stark geschönt ist, soll Prognosen zufolge von 4,4 Prozent im März auf rund 15 Prozent im April hochschnellen. Da breite Bevölkerungsschichten der Vereinigten Staaten bereits seit der Immobilienkrise 2008 einen sozialen Abstieg erfahren haben, der die Mittelklasse massiv abschmelzen ließ, sind auch kaum finanzielle Reserven gegeben, um den Absturz abzufangen.

Die Folge ist eine rasche Zunahme extremer Armut. Viele US-Bürger sind nicht mehr in der Lage, sich selbst zu ernähren: In Szenen die an die große Depression der 30er Jahre erinnern, werden die Lebensmittelbanken in den Vereinigten Staaten von rasch anschwellenden Massen verzweifelter Menschen überrannt, die mitunter stundenlang in ihren Fahrzeugen warten müssen, um etwas Nahrung für sich oder die Familie ergattern zu können. Zugleich werden von Agrar- und Lebensmittelkonzernen massiv Lebensmittel vernichtet, um die Marktpreise zu stabilisieren. Hilfsorganisationen berichten zudem über eine Zunehme sexueller Belästigung durch Vermieter gegenüber Frauen, die mit ihrer Miete in Verzug geraten seinen. Die verhassten „Landlords“ forderten bei diesen Erpressungsversuchen Sex gegen Mietnachlässe.

Sündenbock China

Die Trump-Administration setzt derweil auf die faschistische Karte, um den Wahlkampf gegen den dementen demokratischen Establishment-Kandidaten Joe Biden für sich zu entscheiden. Kurz nach der Kapitulation des linken Sozialisten Sanders mobilisierte Trump seine rechte Anhängerschaft zu Massenprotesten gegen den Lockdown, während zugleich die US-Administration und rechte Massenmedien wie Fox News zu wütenden Angriffen gegen China übergingen, das für die Pandemie verantwortlich gemacht wird. Die rechte Strategie im Wahlkampf 2020 zeichnet sich klar ab: Sofortiges Hochfahren der Wirtschaft und Aufbau von China als auswärtigem Sündenbock für das Desaster in den USA.

Dabei ist Peking ein bestenfalls relativer Gewinner der Pandemie. Auch die staatskapitalistische „Werkstatt der Welt“ musste einen der schwersten Wirtschaftseinbrüche ihrer Geschichte verzeichnen. Um 6,8 Prozent ist die Wirtschaftsleistung in der „Volksrepublik“ im ersten Quartal 2020 geschrumpft, das ist der stärkste Einbruch seit der Kulturrevolution. Inzwischen mehren sich die Anzeichen für eine Erholung der Wirtschaft, doch dürfte China mittelfristig kaum noch als eine globale Konjunkturmaschine fungieren können. Zum einen, weil die globale Nachfrage für die chinesische Exportindustrie eingebrochen ist, zum anderen, weil das Land selber schon unter hohen Schuldenbergen leidet, die gigantische Konjunkturprogramme wie 2008/09 verhindern dürften.

EU in der Existenzkrise

Die USA und China fallen somit bis auf Weiteres als Absatzmärkte aus. Für das Krisenkalkül der Bundesrepublik – die auf eine rasche Erholung ihres exportgetriebenen Wirtschaftsmodells hofft – dürfte das verheerend sein. Es waren ja insbesondere die gigantischen Handelsdefizite der USA, die in den vergangenen Dekaden stabilisierend auf die Weltwirtschaft wirkten. Die EU befindet sich ohnehin in einer Existenzkrise, da die Streitfrage gemeinsamer europäischer Anleihen die – ohnehin gegebenen – zentrifugalen Tendenzen in Europa befeuert. Die Saaten und Machtblöcke der „Europäischen Union“ bemühen sich wie 2008/09 die Folgen der Krise auf die europäische Konkurrenz abzuwälzen um selber im innereuropäischen Machtkampf gestärkt aus dem Krisenschub hervorzugehen.

Bislang ist es der Bundesrepublik gelungen, Forderungen der südlichen Peripherie nach gemeinsamen Anleihen und umfassenden Konjunkturmaßnehmen abzuwehren. Der Preis dafür besteht in einer zunehmenden Erosion der Eurozone. Ob es Berlin abermals möglich sein wird, die Krisenkosten auf die südliche Peripherie abzuwälzen darf diesmal aber bezweifelt werden – der konjunkturelle Einbruch ist zu heftig, als dass der dominante deutsche Wirtschaftsnationalismus nicht entsprechende politische Reaktionen, etwa in Italien, auslöste. Das Gespenst des europäischen Nationalismus, so irreal und funktionslos es angesichts der Dichte globale Verflechtung ist, könnte bei der Implosion der Eurozone ein letztes kurzes Revival in Form einer unbeständigen Krisenideologie erfahren.

Dies erodierende Europa dürfte sich in den folgenden Jahren mit den Folgen eines abermaligen Entstaatlichungsschubes in der Peripherie konfrontiert sehen. Die Folgen der Pandemie im subsaharischen Afrika, wo sich das Virus mit zweimonatiger Verspätung ausbreitet, drohten „Chaos, Unruhen und Bürgerkriege“ zu intensivieren, warnte Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU). Viele Saaten in der Peripherie, die unter einer historisch einmaligen Kapitalflucht in die Zentren leiden, hätten keine Möglichkeiten, sich auf die Krise adäquat vorzubereiten. Pandemievorsorge ist in den gigantischen Slums kaum möglich. Selbst Länder wie der Libanon, die rund 1,5 Millionen syrischer Flüchtlinge aufgenommen haben, stehen nun vor der Staatspleite. Islamistische Terrorgruppen dürften in vielen Zusammenbruchregionen die Krise für sich nutzen und ihre Kampagnen intensivieren und die staatlichen Erosionsprozesse beschleunigen.

Drohende Stagflation

Von den USA, über viele Peripherie- und Schwellenländer bis zu Europa – das System befindet sich am Abgrund. Dies wird vor allem anhand der Verwerfungen im Finanzsektor deutlich, wo nur noch extreme Maßnahmen den Zusammenbruch verhindern konnten. Die Notenbanken haben massenhaft Wertpapiere wie Staatsanleihen oder Bonds der Privatwirtschaft aufgekauft, um die panischen Finanzmärkte mit Liquidität zu überfluten. Diese Gelddruckerei lässt die Bilanzen der Zentralbanken im Rekordtempo anschwellen. Laut der Financial Times dürfte die Fed im aktuellen Krisenverlauf ihre Bilanz auf bis zu neun Billionen US-Dollar aufblähen – von rund vier Billionen bei Krisenausbruch. Zum Vergleich: Vor dem Ausbruch der Immobilienkrise 2008 lag die Bilanzsumme der Fed bei einer knappen Billion Dollar. Schrottpapiere werden also aufgekauft, um die Finanzsphäre liquide zu halten und eine „Kreditklemme“ zu verhindern. Kurzfristig ist dieses Vorgehen bürgerlicher Krisenpolitik alternativlos. Ähnlich agieren die Bank of Japan, aber auch die EZB, die ein Gegengewicht zur deutschen Blockadehaltung bei der Frage europäischer Anleihen bildet, indem sie Staatspapiere der südlichen Peripherie aufkauft.

Mit dieser Liquiditätswelle steigt aber auch das Risiko einer Inflation, vor allem wenn die Finanzmärkte wieder einbrechen sollten und diese frisch generierte Liquidität Zuflucht in realen Werten suchen müsste. Mittelfristig droht somit ein altes Gespenst wiederzukehren, das gewissermaßen als Geburtshelfer des neoliberalen Zeitalters fungierte: Die Stagflation, also eine Krisenphase einer stagnierenden oder schrumpfende Konjunktur, die von einer starken Inflation begleitet wird. Die Stagflationsperiode der 70er Jahre markierte in vielen Industrieländern das Ende des langen, fordistischen Nachkriegsbooms, da sich dieses Akkumulationsregime aufgrund zunehmender Automatisierungstendenzen in der Warenproduktion erschöpfte. Und es war gerade diese lang anhaltende Krisenperiode der Stagflation, an deren Überwindung der damals herrschende Keynesianismus scheiterte – und die dem Neoliberalismus ab den 80er Jahren in den USA und Großbritannien zum Durchbruch verhalf.

Der Neoliberalismus hat die Krise nur herausgezögert

Die strukturelle Krise kapitalistischer Warenproduktion, die durch das Auslaufen des fordistischen Akkumulationsregimes initiiert wurde, löste der Neoliberalismus durch eine blinde Flucht nach vorn ins kapitalistische Extrem, die einer Flucht in die brutale kapitalistische Vergangenheit gleicht: Die Ausbeutung der Ware Arbeitskraft wurde verschärft, sodass in den USA das reale Lohnniveau seit den späten 70ern stagnierte. Das Arbeitslebenben wurde prekarisiert, um bei zunehmender Krisenanfälligkeit schnell heuern und feuern zu können. Diese Maßnahmen wurden begleitet von umfassenden Privatisierungen der gesellschaftlichen Infrastruktur, die dem unter einer strukturellen Überproduktionskrise leidenden Kapital neue Verwertungsfelder eröffneten. Als Resultat ist diese so marode und heruntergewirtschaftet, dass die effiziente Bewältigung von Naturkatastrophen oder Pandemien kaum noch möglich ist.

Es war aber vor allem die Expansion des Finanzsektors, die dieses neoliberale Zeitalter erst ermöglichte, indem hier die kreditgetriebene Nachfrage in Gestalt beständig global wachsender Schuldenberge und der korrespondierenden Spekulationsblasen generiert wurde, die eine hyperproduktive Industrie vor dem Kollaps bewahrte. Die neoliberale Globalisierung war somit vor allem einer Globalisierung dieser Schuldenberge, indem Länder mit Exportüberschüssen (Deutschland China) sich Defizitländern wie den USA gegenübersahen.

Historisch betrachtet brachte der Neoliberalismus einen Aufschub der kapitalistischen Systemkrise um rund drei Dekaden mit sich. Jetzt zeichnet sich nun eine ähnliche Krisenkonstellation ab, wie am Vorabend des neoliberalen Zeitalters in der zweiten Hälfe der 70er: Stagnation samt drohender inflationärer Welle. Dennoch ist dies nicht einfach nur die Wiederkehr eines alten Krisengespenstes – Geschichte wiederholt sich nicht einfach, und beim Kapitalismus handelt es sich eben um keinen ewigen Naturzustand, sondern eine konkrete, historische und durch innere Widersprüche in blinde Expansion getriebene Gesellschaftsformation. Der neoliberale Krisenaufschub hatte einen furchtbaren Preis. Dies nicht nur im Hinblick auf die eskalierende Klimakrise, oder auf den Abbau demokratischer Rechte und die aus dem Zerfallsprodukten neoliberaler Ideologe sich formierende Neue Rechte. Das Krisenniveau – verstanden als Intensität der inneren Widerspruchsentfaltung des Kapitals – ist 2020 weitaus höher als in den 80er Jahren des 20. Jahrhundert, sodass die Krise nun mit dieser historisch beispiellosen Wucht einschlägt. Die Schuldenberge sind in Relation zur Weltwirtschaftsleistung viel höher, die Produktivität der globalen Verwertungsmaschine ist in astronomische Dimensionen vorgerückt, die Verrohung und Faschisierung der Metropolengesellschaften ist evident. Deswegen dürfte auch der nach der Deflation drohende Inflationsschub weitaus heftiger ausfallen als in den späten 70ern, als in den USA zweistellige Inflationsraten verzeichnet wurden.

Das ist die Krisenrealität, die sich nun gnadenlos entfalten wird. Alle Insassen der kapitalistischen Tretmühle werden gezwungen sein Stellung zu beziehen, wie inzwischen auch die Funktionseliten des Kapitals zu ahnen scheinen. Ob mensch es nun wahrhaben will, oder nicht, die Frage stellt sich mit aller Macht der an Dynamik gewinnenden Systemtransformation: Which side are you on?

#Titelbild: Gespenst eines Ermordeten von Katsushika Hokusai (1760–1849), gemeinfrei

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Die Wucht des aktuellen Wirtschaftseinbruchs ist so groß, dass es schwer geworden ist, überhaupt noch historische Analogien zu finden. In den Vereinigten Staaten, wo die Prekarisierung des Arbeitslebens besonders weit vorangeschritten ist, explodiert die Arbeitslosigkeit regelrecht. Allein in der zweiten Märzhälfte mussten sich in den USA rund zehn Millionen Lohnabhängige arbeitslos melden, wobei vor allem die letzte Märzwoche verheerend ausfiel, als 6,65 Millionen US-Bürger ihren Job verloren.

Zum Vergleich: Der stärkste wöchentliche Anstieg der Erwerbslosenzahl seit Einführung der Statistik war bis dahin im Jahr 1982, am Ende der historischen Krisenperiode der Stagflation registriert worden, als während einer schweren Rezession, die durch radikale Zinserhöhungen der Fed („Volcker-Schock“) ausgelöst wurde, rund 695 000 Lohnabhängige staatliche Unterstützung beantragen mussten.

Das beispiellose Tempo, mit dem aktuell Millionen Menschen aus der Lohnarbeit geschleudert werden, liegt weit über den Prognosen. Die waren davon ausgegangen, dass die sich auf insgesamt zwei Billionen US-Dollar summierenden Konjunkturmaßnahmen der Regierung Trump die Entlassungswellen abmildern würden. Die in der USA nur rudimentär vorhandene Arbeitslosenhilfe ist im Rahmen des trumpschen Konjunkturpakets vorübergehend ausgeweitet worden, indem neue Regelungen es dem Kapital erlauben, Lohnabhängige für einen Zeitraum von bis zu vier Monaten zu beurlauben, anstatt sie zu entlassen, während der Staat die Gehaltszahlungen partiell übernimmt. Diese neuen Regelungen haben auf die jüngsten Entlassungswellen bisher allerdings keinen Einfluss gehabt – es bleibt abzuwarten, ob sie in den kommenden Wochen greifen und die Dynamik abmildern. Zudem wurde in der US-Öffentlichkeit die Hoffnung genährt, dass Unternehmen, die milliardenschwere Hilfsleistungen vom Streuzahler erhielten, von massenhaften Entlassungen Abstand nehmen würden. Erste Prognosen von Konzernen, wie etwa der Fluggesellschaft United Airlines, gehen allerdings davon aus, dass die massenhafte „Freisetzung“ ihrer Mitarbeiter über kurz oder lang kommen wird, da eine wirtschaftliche Erholung nicht zu erwarten sei.

Schon jetzt sind es aber die prekär Beschäftigten des breiten amerikanischen Niedriglohnsektors, die am schnellsten und härtesten getroffen werden. Die Löhne sind dabei oftmals so mager, dass mehrere Jobs übernommen werden müssen, um überhaupt über de Runden zu kommen. Rund 44 Prozent der Lohnarbeiter*innen muss mit Löhnen zurecht kommen, die keinerlei Rücklage für Krisenzeiten erlauben. Von diesen 53 Millionen arbeitenden Armen, die sich allmonatlich bis zum nächsten Gehaltscheck durchschlagen müssen, lebt rund ein Drittel in extremer Armut, knappe 50 Prozent sind in ihren Familien Alleinverdiener*in, mehr als die Hälfte verfügt über eine abgeschlossene Schulbildung, Frauen und Afroamerikaner sind in dieser Gruppe überrepräsentiert.

Die Deindustrialisierung der USA der letzten Jahrzehnte, bei der sich die ehemaligen Industriezentren im Norden in den berüchtigten „Rust Belt“ verwandelten, ging mit der sukzessiven Ausbreitung dieses Niedriglohnsektors einher, der vor Krisenausbruch kurz davor stand, die Mehrheit der US-Bürger auszubeuten. Die Erosion der amerikanischen Arbeitsgesellschaft wird auch an dem Aufkommen der Sharing- oder Gig-Economy deutlich, bei der internetbasierende Plattformen wie der berüchtigte Fahrdienst Uber als Vermittler von Dienstleistungen dienen. Inzwischen sollen sich rund 30 Prozent der Lohnabhängigen in den Vereinigten Staaten in diesem Sektor in Teilzeitjobs als scheinselbstständige prekäre Tagelöhner durchschlagen. Und es sind gerade diese von ihren jeweiligen Plattformen abhängigen Tagelöhner des Internetzeitalters, die von der Pandemie besonders gefährdet sind. Arbeiten und eine Infizierung riskieren oder Verhungern – das sind die Alternativen, mit denen sich etwa die „vogelfreien“ Fahrer des Beförderungsdienstes Uber konfrontiert sehen, wie The Guardian berichtete.

Die Krise der US-Arbeitsgesellschaft

Die Krise des Jahres 2020 trifft somit auf eine kriselnde US-Arbeitsgesellschaft, die ganz anders strukturiert ist als beim Krisenschub von 2008. Das große Drama entfaltete sich damals in den Vororten der US-Metropolen, wo Massen absteigender Mittelklasse-Familien ihre mit Hypotheken belasteten, überschuldeten Eigenheime verloren. Diesmal sind es eher Geschichten von schlecht bezahlten Beschäftigen, etwa im Gesundheitswesen, die sich durch plötzliche Kündigungen ihrer Mietwohnungen durch panische Vermieter auf der Straße wiederfinden, die für Empörung sorgen. Die massiven sozialen Umbrüche nach dem Platzen der Immobilienblase haben zu einem raschen Abschmelzen der einstmals breiten amerikanischen Mittelschicht geführt, die angesichts jahrzehntelang stagnierender Löhne und steigender Lebenshaltungskosten bis zum Krisenschub von 2008 ihren Lebensstil ohnehin nur durch zunehmende Verschuldung – etwa durch Hypothekenaufnahme auf das im Preis steigende Eigenheim – halten konnte.

Studien, bei denen die soziale Selbsteinschätzung von US-Bürgern untersucht wurde, konstatierten ein Abschmelzen der Mittelschicht von rund 53 Prozent am Beginn der Immobilienkrise 2008, auf nur noch 44 Prozent im Jahr 2014. Zugleich stieg der Anteil der US-Bürger, die sich als arm wahrnahmen, von 25 Prozent im Krisenjahr 2008 auf 40 Prozent 2014 – was ziemlich genau dem Anteil der arbeitenden Armen an der erodierenden US-Arbeitsgesellschaft entspricht. Hinzu kommt, dass ein breiter Anstieg der Löhne in den Vereinigten Staaten, von dem endlich auf die arbeitenden Armen profitierten, erst ab 2018/19 einsetzte, während der „Aufschwung“ zuvor an den Lohnabhängigen größtenteils vorbeiging. Ein Jahr lang vor dem gegenwärtigen Wirtschaftseinbruch stiegen die Löhne am unteren Ende der Einkommenspyramide.

Erst die langfristige Perspektive mach aber deutlich, wie schwach der letzte, hauptsächlich von der Liquiditätsblase der Notenbanken getragene Aufschwung in den Vereinigten Staaten war. Die durch die neoliberale „Finanzialisierung“ des Kapitalismus generierte Blasenökonomie, bei der Kreditwachstum und Spekulationsblasen auf den wuchernden Weltfinanzmärkten als Wirtschaftstreiber fungieren, verliert zunehmend an konjunktureller Dynamik: zwischen dem Platzen der Immobilienblase 2008 und dem letzten Boomjahr 2019 stieg das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der Vereinigten Staaten durchschnittlich um 1,7 Prozent pro Jahr. In der Aufstiegsphase der großen transatlantischen Immobilienblase, zwischen 2001 und 2007, konnte die US-Wirtschaft hingegen jährlich im Schnitt noch um 2,5 Prozent wachsen. In der Hochphase des neoliberalen Finanzmarktbooms, im Zeitraum von 1991 bis 2000, als die Hoffnung auf ein neues Akkumulationsregime die Aktien von High-Tech-Unternehmen während der Dot-Com-Blase in absurde Höhen trieb, konnte die amerikanische Volkswirtschaft gar durchschnittlich um 3,4 Prozent wachsen. Doch selbst diese Boomphase während der Clinton-Administration verblasst vor dem langen fordistischen Boom der Nachkriegszeit zwischen 1948 und 1973, da in dieser Periode die US-Wirtschaft im Schnitt um 4 Prozent jährlich wuchs.

Der gegenwärtige Krisenschub trifft also eine von konjunkturellen Stagnationstendenzen erfasste, verarmte US-Gesellschaft, die sich von den Verwerfungen der Immobilienkrise samt Rezession 2008/09 nicht mehr erholt hat. Die US-Mittelklasse schmilzt rapide ab, der Arbeitsmarkt weist die charakteristische Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse und Elendslöhne auf, die die Erosion der kapitalistischen Arbeitsgesellschaften seit dem massiven Rationalisierungsschüben im Gefolge der IT-Revolution in den meisten Kernländern des Weltsystems begleitet. Selbst wenn es der US-Notenbank Fed gelingt, mittels ihrer historisch beispiellosen Stützungsmaßnahmen den Zusammenbruch der Weltfinanzmärkte und die Entwertung des darauf kursierenden, fiktiven Kapitals vorerst zu verhindern, scheint klar zu sein, dass die dargelegte historische Tendenz zur Stagnation und Erosion der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft in den Vereinigten Staaten weiterhin bestehen wird. In der Konsequenz können sich die sozialen Realitäten für Lohnabhängige in den Zentren des Weltsystems denjenigen der Peripherie oder Semiperipherie angleichen, wo es schon längst eine breite Schicht ökonomisch „überflüssiger“ Menschen gibt – die ja das zentrale Subjekt der „Flüchtlingskrise“ bildete.

Historisch betrachtet spiegeln die Schübe von Arbeitslosigkeit, Prekarisierung und Tagelöhnertum in der Zerfallsphase des kapitalistischen Weltsystems die ungeheure Verelendung bei der historischen Durchsetzung des Kapitals vor rund 300 Jahren wider, bei der ebenfalls eine breite Schicht ökonomische Überflüssiger geschaffen wurde, die mit Terror und Folter drangsaliert wurden. Der Krisentheoretiker Robert Kurz hat den sozialen Fallout dieser historischen Widerspruchsentfaltung des Kapitals auf den Punkt gebracht: „Der Blick in das 18. Jahrhundert ist der Blick in die Hölle unserer eigenen Zukunft“. Das bedeutet, dass die gegenwärtige „Proletarisierung“ der Lohnabhängigen selber ein zeitlich begrenztes Moment einer systemischen Krisendynamik ist, bei dem keine stabile Arbeiterklasse entsteht, sondern sich die Arbeitsgesellschaft als solche – über die Zwischenstufen von Prekarisierung und Verelendung – auflöst. Die notwendigen Versuche, diese wachsende Schicht von prekären arbeitenden Armen zu organisieren, finden somit in einem historischen Zeitfenster statt, bei dem die von Bernie Sanders verkörperte linkssozialdemokratische Perspektive, die von einer Rückkehr zum Wohlfahrtsstaat des Fordismus träumt, längst anachronistisch ist. Stattdessen müssten die Kämpfe in diesem prekären Sektor als Momente eines Transformationskampfes begriffen und gestaltet werden. Konkret: Das prekäre Proletariat könnte nur dann noch als „Revolutionäres Subjekt“ einer Systemtransformation aktiv werden, wenn es nicht mehr Proletariat sein will.

Die Nuklearoption der Fed

Rezession oder Kollaps? Der Ausgang des gegenwärtigen Krisenschubes ist keinesfalls klar. Ob es den USA noch gelingt, die Schockwellen der Coronakrise vor einer Kernschmelze des Weltfinanzsystems abzufangen, hängt im Wesentlichen von der US-Notenbank Fed ab. Das zwei Billionen US-Dollar umfassende Konjunkturpaket Washingtons mag die Konjunktur kurzfristig vor dem totalen Absturz bewahren und etliche Wirtschaftszweige am Leben halten. Es sind aber die Maßnahmen zur Stützung der globalen Schuldenberge auf den Weltfinanzmärkten, die darüber entscheiden, ob der marode Spätkapitalismus noch einmal irgendwie stabilisiert werden kann. Bereits jetzt ist klar, dass auch hier die kapitalistische Geldpolitik Neuland betritt, da die zuletzt beschlossenen Maßnahmen weit über die Gelddruckerei hinausgehen, die ab 2008 betrieben wurde. Die Befürchtung, „die Notenbank werde sich an das Manuskript von 2008″ halten sei zerstreut worden, heißt es in ersten Einschätzungen.

Der Versuch einer ersten Quantifizierung der großen Geldflut der Fed, die sich nun über das panische Weltfinanzsystem ergießt, vorgenommen durch die New York Times (NYT), geht aus von „Kreditprogrammen der Fed, die vier Billionen US-Dollar überschreiten“ könnten. Diese geschätzten 4 000 Milliarden US-Dollar der Fed dürften nicht mit den 454 Milliarden verwechselt werden, die von der US-Regierung im Rahmen des Konjunkturpaketes dafür vorgesehen sind, die amerikanische Wirtschaft während des „Lockdown“ mit Krediten zu versorgen und so vor dem Kollaps zu schützen. Dabei sei es aber bislang unklar, ob dieses gigantische Kreditprogramm wirken werde, bemerkte die NYT. Weil es unklar sei, wie lange die Pandemie andauern werde, könne auch nicht abgeschätzt werden, wie viel Kredit notwendig sein werde. Bereits jetzt manifestiert sich die Krise in einem rasanten Anschwellen der Bilanz der Fed, die binnen weniger Wochen von 4,1 Billionen auf aktuell 5,8 Billionen US-Dollar hochschnellte. Zum Vergleich: Im September 2008, am Beginn der Immobilienkrise, lag die Bilanz der Fed unter einer Billion, bei rund 920 Milliarden, um dann innerhalb weniger Monate, in denen massiv Werpapierschrott aufgekauft wurde, auf 2,5 Billionen anzusteigen.

Die Fed würde die nukleare Option („going nuclear“) ausführen war die allgemeine Einschätzung nach dem obligatorischen Absenken des Leitzinses auf nahezu Null Prozent. Die diversen Aufkaufprogramme für Wertpapierschrott auf den Finanzmärkten sind prinzipiell nach oben hin offen – und sie suchen ihresgleichen in der Geschichte der US-Notenbank. Bei der klassischen „Quantitativen Lockerung“ sollen vorerst 500 Milliarden an Bonds der US-Regierung und 200 Milliarden an Hypothekenverbriefungen (mortgage-backed securities) aufgekauft werden, um die Konjunkturprogramme Washingtons zu finanzieren und den abermals strauchelnden Immobilienmarkt zu stabilisieren. Um darüber hinaus ein verheerendes Einfrieren des Interbankenmarktes zu verhindern, wie es sich nach der Pleite von Lehman Brothers abspielte, hält die Fed Garantien (repurchase agreements) im Umfang von fünf Billionen US-Dollar bereit.

Eine Reihe von Programmen geht erstmals daran, Schuldtitel von Konzernen und Unternehmen aufzukaufen, da diese Schuldenberge bei einer längeren Rezession das größte systemische Risiko für das Weltfinanzsystem bilden. Weil die Fed diese Bonds der Privatwirtschaft – im Gegensatz zu Staatsanleihen – nicht direkt aufkaufen kann, wird dies mittels eigens eingerichteter Zweckgesellschaften (special purpose vehicle – SPV) abgewickelt. Überdies werden inzwischen auch Schuldtitel von Kommunen der US-Notenbank aufgekauft. Diese große Geldflut geht einher mit Maßnahmen, die zur Stabilisierung des Finanzsystems auf globaler Ebene beitragen sollen. Mit rasch abgeschlossenen Währungsabkommen mit fünf weiteren Notenbanken (Darunter die EZB und die Bank of Japan), sogenannten swap-lines, will die Fed zudem die globale Verfügbarkeit der Weltreservewährung sicherstellen. Schließlich wurden die strikten Eigenkapital-Vorgaben für Banken, die nach dem Ende Immobilienblase erlassen wurden, von der Notenbank rasch ausgehebelt, um der Finanzsphäre zusätzliche Manövrierräume zu verschaffen, indem diese gesetzlich vorgeschriebenen „Reserven“ nun mobilisiert werden können.

Diese Gigantomanie macht vor allem eins deutlich: Die Funktionseliten des Kapitals wurden diesmal – im Gegensatz zu 2008 – nicht vom Krisenschub überrascht, sie handeln systemimmanent richtig, indem sie alle Hebel in Bewegung setzen, um das System zu stabilisieren. Dennoch hängt der Erfolg dieser großen amerikanischen Geldflut vor allem vom Faktor Zeit ab, also von der Länge der Pandemiebekämpfung und der anschließenden globalen Rezession, die laut jüngsten Prognosen unvermeidlich sein wird. Laut der Financial Times, die sich auf Prognosen des IWF beruft, droht der Weltwirtschaft der schärfste Einbruch seit der „Großen Depression“, gegenüber der NYT erklärten Ökonomen, die Krise von 2008/09 erscheine ihnen als ein bloßer „Probelauf“ für das, was sich nun entfalte.

Sollte diese drohende Rezession zu lange dauern, würde sich das Scheitern der Großen Geldflut in einer gigantischen Entwertung des Werts in allen seinen Aggregatzuständen manifestieren: Vom Wertpapierschrott auf den Finanzmärkten, über stillgelegte Produktionsstätten und die ohnehin abstürzenden Rohstoffpreise, den Preis der zunehmend überflüssigen Ware Arbeitskraft, bis hin zum Geld als dem allgemeinen Wertäquivalent, das dann einem inflationären Schub ausgeliefert wäre.

Deswegen wächst der Druck, die Pandemiebekämpfung einfach einzustellen und den Verwertungsprozess des Kapitals umgehend wieder aufzunehmen. Während die US-Administration, die mit der Krisenbekämpfung aufgrund der maroden sozialen Infrastruktur der USA und rasch steigender Todeszahlen gnadenlos überfordert ist, inzwischen zu Maßnahmen einer Kriegsökonomie greift, konkretisieren sich schon die Planungen zum baldigen Hochfahren der Verwertungsmaschine – trotz Pandemie. Das Virus sei ohnehin „überall“, agitierte ein bekannter Kommentator des erzreaktionären Fernsehsenders FoxNews. Gegenmaßnahmen würden ohnehin kaum was bringen, sie stellten vielmehr eine „sich selbst zugefügte Wunde“ dar.

#Titelbild: Gemeinfrei

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