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„Bis heute scheint die Migrationsgeschichte der Bundesrepublik im kollektiven Gedächtnis weitestgehend frei von widerständigem Handeln“ heißt es in der Einleitung von Simon Goekes knapp 400 Seiten umfassende Studie zur Beziehung von Gewerkschaften und migrantischen Kämpfen in der Bundesrepublik. Goekes Ziel ist es für den Zeitraum von 1960 bis 1980, eine Zeit in der betriebliche sowie außerbetriebliche Kämpfe nicht selten von immigrierten Arbeiter:innen in der BRD geführt wurden, unser kollektive Gedächtnis zu erweitern. In fünf Kapiteln legt Goeke eine recht umfassende Recherche zu einem Thema vor, welches sowohl bei Historiker:innen der Arbeiterbewegung, als auch bei Migrationsforscher:innen meist nur eine Randnotiz wert ist. Eine wichtige Ausnahme stellt Manuela Bojadžijevs Die windige Internationale: Rassismus und Kämpfe der Migration von 2007 dar.

„Nicht die streikenden Türken vor dem Tor 3 der Ford-Werke, sondern der schüchtern in die Kamera blickende Portugiese Rodrigues de Sá brannte sich in das kollektive Gedächtnis ein, als er zum millionsten ›Gastarbeiter‹ ernannt, feierlich empfangen wurde und als Geschenk ein Moped erhielt.“

Auf Basis dieser Schieflage untersucht Goeke die „gesellschaftsgeschichtlichen Zusammenhänge zwischen migrantischen Protesten, Gewerkschaften und Studentenbewegung“. Durch die Recherche in Archiven von Gewerkschaften und linken Gruppen, sowie dem Zusammentragen von Zeitzeug:inneninterviews gibt Goeke einen tiefen Einblick in die Lebenswelten sogenannter Gastarbeiter:innen ein. Analytisch bewegt sich Goekes Studie zwischen Geschichtswissenschaften, Arbeitssoziologie, Migrations- und Geschlechterstudien. Die Frauenfrage behandelt Goeke nicht losgelöst sondern als Querschnittsthema in allen Kapiteln. Hierbei versäumt er es nicht eine politisch-ökonomische Einbettung in die Dynamiken der Wirtschaftsentwicklung in Deutschland, sowie den Herkunftsländern der migrantischen Arbeiter:innen anzubieten. So erfahren wir im zweiten Kapitel, dass Migrant:innen, die von Unternehmen als Streikbrecher:innen eingesetzt werden sollten nicht selten selber mitstreikten. So zeigten laut Joachim Hoffmann im Frühjahr 1963 bei den Metallarbeiterstreiks in Baden-Württemberg besonders die italienischen und spanischen Arbeiter eine hohe Kampfbereitschaft und „erwiesen sich als erfahrene und entschlossene Kämpfer für die Arbeiterinteressen.“ Nationalistische Vorbehalte und Vorurteile der deutschen Kollegen wurden so im praktischen Kampf überwunden.

Goeke erzählt zwar von den klassischen Wilden Streiks wie der der migrantischen Arbeiterinnen beim Automobilzulieferer Pierburg in Neuss 1973, jedoch auch von den alltäglichen Kämpfen migrantischer Arbeiter:innen und einiger deutscher Kolleg:innen für die allumfassende Eingliederung der sogenannten Gastarbeiter:innen in ihre Branchengewerkschaften. Die Wahl migrantischer Kolleg:innen in Betriebsräte und später auch als hauptamtliche Gewerkschaftssekräter:innen mit der spezifischen Aufgabe migrantische Arbeiter:innen als Gewerkschaftsmitglieder zu organisieren war zwar eine Errungenschaft in Fragen migrantischer Arbeiterorganisierung, jedoch zeigt Goeke auch auf, wie die gewählten Kollegen nicht unbedingt die radikalsten Verbesserungen für die migrantischen Arbeiter:innen forderten, sondern oft schlussendlich in der sozialpartnerschaftlichen Gewerkschaftsdynamik verharrten. Die Aktivitäten verschiedenster sozialistischer Gruppen sind in diesem Lichte besonders interessant, denn sowohl sozialistische Parteien, Organisationen und Gruppen aus dem In- und Ausland unterhielten in der Zeit eine aktive politische Betriebsarbeit und agitierten gezielt auf den Muttersprachen der migrantischen Arbeiter:innen in den Betrieben – teilweise mit wöchentlichen oder monatlichen Publikationen auf verschiedenen Sprachen.

Schlussendlich zeigt Goekes Band wie das Nachkriegsdeutschland des Westens spätestens ab den 1960er Jahren zum „Einwanderungsland wider Willen“ wurde – denn trotz restriktiver Arbeits- und Aufenthaltsbestimmungen und Abschiebungen von Anführer:innen von Streikaktionen blieben viele Tausende der arbeitenden Gäste aus der Türkei, aus Jugoslawien, Spanien, Italien oder Griechenland und machten Deutschland zu ihrer neuen Heimat. Goeke zeigt die „multinationale Arbeiterklasse“ Deutschlands lebendig auf und schließt mit Mietstreikskämpfen und den Kindergeldkomitees der 1980er Jahre ab – ein Jahrzehnt in dem sich viele der migrantischen Kämpfe von den Betrieben auf die Sphäre der Reproduktion ausweiteten.

Eine gelungene Studie für alle, die keine Scheu vor wissenschaftlichen Aushandlungen haben und die Geschichte der westdeutschen Gastarbeit mit all ihren Widersprüchen besser verstehen wollen.

Simon Goeke: »Wir sind alle Fremdarbeiter!« Gewerkschaften, migrantische Kämpfe und soziale Bewegungen in Westdeutschland 1960-1980, 2020, Verlag Ferdinand Schöningh, 386 Seiten, 62 Euro

# Titelbild: Pierburg-Streik 1970

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Von Bahram Ghadimi und Shekoufeh Mohammadi

Unter dem Schutz von Schreien, welche die Nacht durchdringen, nimmt eine Frau ihr Kopftuch ab und wirft es tanzend in das auf der Straße lodernde Feuer, damit aus dem Herzen von mehr als vier Jahrzehnten Unterdrückung und Repression ein Weg zu Licht, Freiheit und Gerechtigkeit eröffnet werden kann. Es gibt viele solcher Brände und unzählige dieser Frauen, welche die Flammen mit dem Schleier nähren, der ihnen vom Regime der Islamischen Republik Iran als Kleiderordnung auferlegt wurde, um sie zu unterdrücken. Unerschrocken weben sie mit ihren Haaren ein Seil aus Bewusstsein und Widerstand, um den Gefängniszaun zu umgehen, der uns seit Jahren mit Mauern der Armut, Dächern der Erniedrigung und Fenstern aus Lügen gefangen hält.

Der Funke dieses Feuers wurde entzündet, als das Lächeln im Gesicht einer kurdischen Frau namens Mahsa (Gina) Amini ausgelöscht wurde. Eine 22-jährige Frau, die mit ihrem Bruder nach Teheran gereist war, um Verwandte zu besuchen, wurde von der Sittenpolizei der Islamischen Republik unter dem Vorwand verhaftet, sie halte sich nicht an die Kleiderordnung. In Gewahrsam schlug ihr ein Polizist auf den Kopf, so dass sie das Bewusstsein verlor. Mahsa wurde ins Krankenhaus eingeliefert und starb einige Stunden später. Schon in den ersten Stunden des Wartens und der Protestaktionen vor dem Kasra-Krankenhaus in Teheran war die Familie von Mahsa Amini nicht allein; die Mütter aller anderen Wegbereiter auf dem Weg in die Freiheit haben sie begleitet, damit dieser Kampf ein weiterer Stern am Himmel dieser dunklen Nacht wird, in der seit Jahren der Traum von einem hellen Horizont geträumt wird: mit dem Aufstand der Hungrigen im Winter 2018, mit den Protesten im Herbst 2019, mit dem Aufstand der Durstigen (Proteste gegen Wasserknappheit) im Sommer 2021 und mit Hunderten von Protesten und Streiks von Arbeitern, Lehrern, Rentnern, Studenten und Gewerkschaftern im ganzen Iran. So wird der Schrei “Tod dem Diktator” und die Parole “Brot, Arbeit, Freiheit” zu einer gemeinsamen Stimme, der die Ohren der Unterdrücker nicht mehr entkommen können.

Und wir können unsere Mobiltelefone keinen Moment aus den Augen lassen: Telegram ist der Kanal, der uns mit einer Heimat verbindet, die wir vor Jahren zurücklassen mussten und in die wir immer noch zurückkehren wollen. Jeden Augenblick erhalten wir von unseren Freunden im Iran Nachrichten über die Geschehnisse in verschiedenen Städten und Ortschaften, ein Foto, ein Video, eine Meldung:

Eine Person wird in Teheran verhaftet. Wir haben diesen Satz noch nicht zu Ende gelesen, als die Nachricht der Verhaftung von Aktivisten in der Provinz Aserbaidschan eintrifft… dann wird Minu Majidi in Kermanshah durch einen direkten Schuß der Polizei getötet… die Studentenwohnheime der Universität von Shiraz werden angegriffen… in Ashnaviyeh greift die Polizei die Menge an und tötet zwei Menschen…in Izeh wird der Belagerungszustand ausgerufen… überall im Iran schlagen Flammen aus den Barrikaden und die Menschen sind auf den Straßen… in Quchan wird das Gebäude der Staatsanwaltschaft in Brand gesteckt… in Anzali hat das Volk die Stadt erobert… in Esfarayen reißen sie die riesigen Transparente mit Bildern von Khamenei und anderen Persönlichkeiten des Regimes herunter… in Ahvaz, wo sich die Menschen seit Jahrzehnten gegen die rassistische staatliche Repression wehren und der Kampf der Arbeiter immer noch stark ist, verwandelt die Solidarität mit den Protestierenden in anderen Städten, insbesondere in Kurdistan, die Straßen in ein Schlachtfeld… Die Stadt Qom, eines der religiösen Symbole des Regimes, ist zu einem Kriegsgebiet geworden, und in der konservativen Stadt Mashhad, einem der wichtigsten Stützpunkte des Staates, wird ein Polizeipräsidium angegriffen und mit allen darin befindlichen Patrouillen in Brand gesetzt… In Teheran wird von einem Polizeipräsidium aus auf Demonstranten geschossen, einige Stunden später steht das Gebäude in Flammen.

Die Parole “Frau, Leben, Freiheit”, welche der Ruf der ersten spontanen Proteste war, umfasst immer noch die wichtigsten Forderungen des iranischen Volkes. Dieser Slogan, einer der wichtigsten Slogans der Frauen von Rojava gegen den männlichen Chauvinismus, hat aus symbolischen Gründen ein starkes Echo im Iran gefunden: In der kurdischen Sprache hat Gina eine gemeinsame etymologische Wurzel mit dem Wort Jian, das Leben bedeutet. Gleichzeitig ist es eine Parole gegen den staatlichen Machismus, der seit mehr als vierzig Jahren im Namen des Islam die verschiedenen Mechanismen des Kapitalismus im Iran anführt: Privatisierung, die Schaffung von Freihandelszonen und Industriekorridoren, unkontrollierte Ausbeutung und die Zerstörung des Lebens von Arbeitern und verarmten Menschen. Gleichzeitig ist die Ermordung von Gina ein weiteres Beispiel für die von der Islamischen Republik unterstützten Feminizide; und schließlich ist seit dreiundvierzig Jahren die Freiheit, sowohl politisch als auch gesellschaftlich, eine der zentralen Forderungen im Iran.

Und wir warten immer noch auf Nachrichten, die aufgrund der landesweiten Blockade des Internetzuganges durch den iranischen Staat nur tröpfchenweise kommen. Währenddessen steigt die Zahl der verletzten und getöteten Demonstranten weiter an.

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Von A-Küche

Am 27.04.2022 verstarb Marcel K. an den Folgen des Polizeieinsatzes vom 20.04.2022 in Berlin Schöneweide. Die Polizei lügt und leugnet die Tat. Marcel war 39 Jahre und krank. Er hatte Krätze, oft Krampfanfälle und eine offene Wunde am Bein. Marcel trank Alkohol seitdem er 6 Jahre alt war. Er lebte auf der Straße. Oft war er in sozialen Einrichtungen untergebracht, die er aber schnell wieder verließ und in sein Kiez, nach Schöneweide, zurückehrte. Hier hatte er Freunde und fühlte sich zu Hause. Er war im Kiez bekannt, Feuerwehr, Rettungskräfte und die Polizei kannten seine Krankheiten, wussten von seinem Schmerzen. Notunterkünfte mochte er nicht, hier wurde er beklaut oder durch kleine Tiere gebissen.

Sein letztes Lebensjahr begann am 22.12.21 im Krankenhaus. Wenige Tage später wurde er mit seiner offenen Beinverletzung aus dem Krankenhaus geschmissen. Er ging zurück in den Kiez in eine Filiale der Deutschen Bank. Dort war es warm, da waren seine Freunde. Aktivist:innen kamen vorbei, brachten warmes Essen und versorgten sein Bein. Die Wochen vergingen und oft kamen die Cops und warfen die Menschen aus der Filiale. Das ärgerte ihn, denn danach war sein ganzes hab und Gut meist weg. Oft musste er auf Grund der Krampfanfälle ins Krankenhaus, das er nach einigen Tagen wieder verlassen musste. Dann beschloss die Deutsche Bank, ihre Filiale aus Sicherheitsgründen für ihre Kund:innen über den Winter zu schließen. Marcel saß nun tagsüber in der Kälte auf einer Bank und schlief mal auf einen Dachboden, in einen Hauseingang oder in einen Hinterhof. In eine Notunterkunft wollte er nie wieder, nachdem sich die Wunden der Tierbisse von dort entzündeten.

Den Aktivist:innen fiel es immer schwerer, seine Wunden auf offener Straße zu versorgen. Ins Krankenhaus wollte er nicht, denn da wurde ihm nie geholfen. In den folgenden Wochen kam es immer wieder zu kurzen Krankenhausaufenthalten, sein Bein entzündete sich immer schlimmer und er konnte kaum noch laufen. Die Polizei ging eines Nachts durch den Kiez, um obdachlose Menschen zu vertreiben. Es wurden immer weniger um ihn herum. Ende März 2022 saß er mit Freund:innen auf einer Bank und sie hörten im Radio einem Fußballspiel zu. Sie freuten sich schon auf warmes Essen, das, wie jeden Freitag, von Menschen aus dem Umland gekocht wurde. Plötzlich flogen Eier aus dem Wohnhaus gegenüber und verfehlten Marcel nur knapp. Kurze Zeit später kam die Polizei und ermahnte Marcel und die anderen wegen Ruhestörung. Er war wütend, dass die Cops nicht zum Wohnhaus sind, denn man wollte ihnen mit den Eiern wehtun. Marcel hatte Hunger und die Menschen mit dem Essen kamen zum Verteilen. Doch die Bullen gingen dazwischen und erklärten ihnen “sie möchten doch bitte wo anders Essen verteilen, die würden ja hier drauf warten und so würde man sie ja nicht los“. Außerdem wäre das jetzt eine polizeiliche Maßnahme und da wäre es „eh nicht drin”. Die Menschen drehten mit dem Essen um und Marcel musste hungrig einschlafen.

Am 16.04. gab es dann eine Kundgebung gegen die Verdrängung obdachloser Menschen in Schöneweide auf Grund dieser Vorfälle. Marcel genoss den Tag, es gab warmes Essen und gute Musik, für ihn war es eine Party. Er bedankte sich bei den Organisator:innen, besorgte eine Schachtel Pralinen für alle. Seinen Freund:innen erzählte er noch einen Tag später, dass es der schönste Tag seines Lebens war. Noch nie hatte es so eine Party für ihn gegeben.

Am 20.4 suchte er am Abend mit zwei Freunden einen Schlafplatz. Diesmal wollten sie im Innenhof der Brückenstr.1 hinter dem Waschcenter schlafen. Sie legten sich hin, Marcel trank noch ein Schluck Bier, stellte seine Flasche hin und schlief ein. Gegen 23 Uhr, wurde er durch lautes Gebrüll wach. Er und seine Freunde sprangen auf. Es war die Polizei. Marcel verspürte starken Schmerz am verletzen Bein, er schrie vor Schmerz, schmiss dabei seine Flasche Bier um. Es war ein Cop, der an sein Bein zog. Seine Freunde rannten weg. Sie konnten nur aus der Ferne zusehen wie immer mehr Cops auf Marcel einschlugen, sie setzen Pfefferspray ein. Marcel lag leblos am Boden, ein Krankenwagen wurde gerufen. Marcel wurde reanimiert und ins Krankenhaus gebracht.

In der Pressemittelung der Polizei vom 21.04.2022 stand später: “Der alkoholisierte 39-Jährige versuchte weiter, sich den polizeilichen Maßnahmen zu entziehen, litt dann aber plötzlich unter Atemnot und verlor das Bewusstsein. Die Beamtinnen und Beamten leiteten umgehend Reanimationsmaßnahmen ein und alarmierten einen Rettungswagen. So konnte er stabilisiert werden und kam mit dem Rettungswagen zur weiteren Behandlung und stationären Aufnahme in ein Krankenhaus.“

Aktivist:innen versuchten später seinen Verbleib ausfindig zu machen. Bei Anrufen in Krankenhäusern wurde Marcels Aufenthalt stehts verneint. Der Rettungsdienst behauptete, es hätte keinen Transport in ein Krankenhaus aus Schöneweide gegeben. Beim Versuch, die Tat öffentlich zu machen, wurden Aktivist:innen von der Polizei kriminalisiert. Am 2.6 erfuhren dann seine Freund:innen, dass Marcel tot ist. Er starb am 27.4.2022 an den Folgen des Polizeiangriffs vom 20.04.2022. Marcel ist tot, die Polizei hat ihn ermordet.

Mehr Infos bei der A-Küche

#Titelbild: Malteser Obdachlosenhilfe

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Uns wird das Geld aus der Tasche gezogen – Woche für Woche mehr. Und das wird auch so weitergehen, wenn sich nicht langsam eine Bewegung gegen den Preisanstieg formiert. Lasst uns dieser Entwicklung Kritik von links entgegensetzen und unsere Klasse unterstützen, ihre Stimme zu erheben.

Das Kapital verschlechtert unsere Lage

Was das Statistische Bundesamt für April mit einer Inflationsrate von 7,4 Prozent beschreibt, trifft breite Teile der Bevölkerung noch weit härter. Denn die Energiepreise sind viel stärker gestiegen als um „nur“ 7,4 Prozent und genauso die Preise vieler Grundnahrungsmittel: Gurken, Tomaten und pflanzliche Öle sind in den letzten zwei Monaten beispielsweise um jeweils circa 30 Prozent teurer geworden. Und Lebensmittel sind eben das, was wir notwendig zum Leben brauchen und wofür wir schon vorher einen beträchtlichen Teil unseres Einkommens ausgegeben haben – zumindest von dem, was nach der Miete noch übrig bleibt. Die Lage ist ernst für uns und sie wird noch ernster: Die Supermarktkette Aldi hat angekündigt, ihre Lebensmittelpreise in der nächster Zeit um weitere 20 bis 50 Prozent zu erhöhen. Die anderen Supermärkte werden da selbstverständlich mitgehen. Und auch bei den Energiepreise ist keine Normalisierung in Sicht.

Wenn man die Berichte großer Medien verfolgt, kann man den Eindruck gewinnen, die Inflation falle vom Himmel oder folge irgendeinem Naturgesetz. Die BILD-Zeitung ist sich nicht zu blöd, sogar von einem „Inflationsmonster“ zu sprechen. Doch die Preise erhöhen sich nicht selbst – sie werden erhöht, und zwar von Lebensmittelkonzernen und Supermarkt-Ketten. Wir können hier eindeutig Verantwortliche und Profiteure benennen. Allein die Eigentümerfamilien von Aldi und Lidl besitzen ein Vermögen von zusammen über 100 Milliarden Euro und haben während, beziehungsweise „dank“ der Corona-Pandemie nochmal ordentlich weiteren Reichtum angehäuft. Der bürgerliche Mainstream würde solche Leute in Russland als „Oligarchen“ bezeichnen.

Auch der ständige Verweis allein auf den Krieg in der Ukraine verschleiert, wie Konzerne profitieren. Und er dient dazu, die Bevölkerung für die Interessen des Kapitals einzuspannen. Die Lebensmittelkonzerne und Supermarkt-Ketten haben die Preise schon vor Beginn des Krieges stark erhöht und haben jetzt eine bequeme Ausrede um damit weiterzumachen. Auch am Benzinpreis kann man sehen, wie der Krieg als Ausrede vorgeschoben wird: Von Anfang Februar bis Anfang März steig dieser um 28 Prozent. Die Ölkonzerne aber haben ihre Marge um 145 Prozent erhöht – das sind fast 30 Cent mehr pro Liter.

Kapitalistische Politiker:innen und Medien erzählen bereits seit Wochen, dass „uns“ wegen des Krieges schwere Zeiten bevorstehen – ja, dass wir uns sogar darauf einstellen sollen zu frieren. Das trifft allerdings nicht auf sie selbst zu und vor allem nicht auf die Großkapitalist:innen, sondern „nur“ auf die Arbeiter:innenklasse und kleine Selbstständige – die allerdings die große Mehrheit der Bevölkerung ausmachen. Indem die Herrschenden von „uns“ sprechen, wollen sie uns vermitteln, alle Einwohner:innen Deutschlands säßen im selben Boot, als gäbe es eine Einheit über Klassengrenzen hinweg. Sie erklären es für „uns“ zur patriotischen Pflicht, diese schweren Zeiten kritiklos zu ertragen – „für den Frieden“, wie sie sagen. Doch eigentlich geht es ihnen darum, dass der Imperialismus der führenden Staaten von NATO und EU sich gegen den russischen Imperialismus durchsetzt. Dafür wollen sie die Bevölkerung hinter sich vereinen. Und bisher sind sie damit recht erfolgreich. Aber um Frieden geht es ihnen nicht. Und wenn wir wirklich zum Frieden in der Ukraine beitragen wollen, können wir das nicht als brave Untertanen tun, sondern gerade umgekehrt nur durch den Einsatz für Deeskalation und damit in erster Linie mit dem Kampf gegen den deutschen Imperialismus.

Natürlich hat der Preisanstieg auch mit dem Krieg und den Sanktionen der NATO und ihrer Verbündeten zu tun. Aber erstens dürfen wir dem Kapital hier keine Ausreden für die Preissteigerungen durchgehen lassen und zweitens zeigt das auch nur wieder, dass die internationale Arbeiter:innenklasse die Kosten der Kriege tragen muss, die die imperialistische Konkurrenz hervorbringt. Wir haben kein Interesse an ihren Kriegen.

Die Lage zusammenfassend kann man sagen: Die hohe Inflation bedeutet für breite Teile der Bevölkerung, dass der Lebensstandard sinkt. Wir können uns weniger leisten. Viele können die laufenden Kosten für Strom, Heizung und Treibstoff nur noch stemmen, wenn sie auf anderes verzichten. Für einige ergibt sich aktuell sogar eine Existenzkrise und eine gesundheitliche Gefahr. Um zumindest auf dem gleichen Niveau zu bleiben, müssten sich unsere Löhne, Gehälter und Sozialleistungen im gleichen Maß erhöhen, wie die Preise der Waren steigen, die wir täglich kaufen (müssen).

Wir können uns nur selber retten

Viele Menschen sind wegen des enormen Preisanstiegs besorgt, wütend oder verzweifelt. Das wird in den nächsten Monaten auch so weitergehen und sich verstärken, solange sich die Lage weiter verschärft. Trotzdem hat sich bisher in den Betrieben nur begrenzt etwas bewegt und auch auf den Straßen gab es bisher wenig Protest gegen die gestiegenen Lebenshaltungskosten – vom 1. Mai abgesehen. Doch ohne gewerkschaftlichen und politischen Kampf wird sich kaum etwas daran ändern, dass Lebensmittelkonzerne, Supermarkt-Ketten und Ölkonzerne uns immer höhere Preise abverlangen, dass wir die Kosten des Krieges und der Aufrüstung tragen sollen und dass sich unser Lebensstandard verschlechtert. Wir als Linke können dazu beitragen, dass sich Protest formiert

Vor allem sollten wir schauen, wie wir uns in den Betrieben gemeinsam für mehr Lohn beziehungsweise Gehalt einsetzen können – ob im Rahmen einer Tarifrunde oder auch nicht. Denn staatliche Preisbegrenzungen oder Unterstützungszahlungen für die Bevölkerung können die Lage nur kurzfristig abmildern. Dauerhaft verbessern sie unsere Lage nicht und vor allem stärken sie auch nicht wirklich die Macht unserer Klasse, die wir brauchen, um langfristig etwas zu bewegen. Wenn wir uns hingegen mit unseren Kolleg:innen im Betrieb zusammentun und für bessere Bezahlung einsetzen, haben wir nicht nur Aussicht auf mehr Geld, sondern stärken auch unsere Stellung dem Unternehmen gegenüber. Besonders aus antikapitalistischer Sicht ist der Fokus auf den Betrieb wichtig. Denn als Ort, an dem wir arbeiten, ist er die Keimzelle des Klassenkampfes. Dort haben wir als Arbeiter:innen strukturelle Macht – weil ohne unsere Arbeitskraft nichts läuft.

Auch wenn gewerkschaftliche Kämpfe nicht auf Tarifauseinandersetzungen beschränkt bleiben sollten, ist es sinnvoll, die diesjährigen Tarifrunden im Auge zu haben und dort kämpferische Perspektiven zu stärken. Für die chemische Industrie hat die IG BCE (Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie) im April bereits einem übergangsweisen Abschluss zugestimmt, den die Kommunistische Organisation als „Burgfrieden für’s Kapital“ kritisiert. Die Kapitalseite hat den Ukraine-Krieg hier als Grund angeführt, weshalb Geld fehle und den Forderungen der Gewerkschaft nicht nachgekommen werden könne. Auch in der noch laufenden Tarifrunde für 330.000 Beschäftigte im Sozial- und Erziehungsdienst findet die Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände Ausreden, während der Staat gleichzeitig über 100 Milliarden Euro für militärische Aufrüstung einplant. Und für die ab Oktober anstehende Tarifrunde der Metall- und Elektroindustrie kündigt die Kapitalseite bereits an, dass die Beschäftigten „Einschnitte in den gewohnten Wohlstand“ akzeptieren müssten.

Die Gewerkschaften sollten sich nicht auf diese Ausreden des Kapitals einlassen und damit zu Verwirrung und Unentschlossenheit innerhalb unserer Klasse beitragen. Stattdessen brauchen wir einen klaren Klassenstandpunkt und einen wirklichen Kampf für Tariferhöhungen oberhalb der Inflationsrate. Bei aller Kritik an der Führung der DGB-Gewerkschaften und sozialpartnerschaftlicher Verhandlungsführung sollte nicht vergessen werden, dass für die Abschlüsse in erster Linie das Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit entscheidend ist.

Aber auch über die Betriebe hinaus können wir in der Öffentlichkeit aktiv sein. Am 1. Mai wurde der Preisanstieg an vielen Stellen mehr oder weniger kämpferisch aufgegriffen – mit Mottos wie „Preise runter – Löhne hoch!“. Das ist ein guter Beginn, aber eine einzelne Demonstration reicht bei Weitem nicht, um unsere Position zu stärken. Wir können noch weitere Demonstrationen organisieren oder auch andere Aktionsformen ausprobieren. Zum Beispiel Aktionen oder Infostände in der Nähe von Discountern oder Einkaufszentren organisieren, Flyer verteilen und mit den Leuten ins Gespräch kommen, um gemeinsam aktiv zu werden.

Dabei halte ich es für wichtig, dass wir Aktionen organisieren, die massentauglich sind. Wir sollten also den Anspruch haben, auch Menschen zu erreichen, die noch nicht links politisiert sind, denn das ist die Mehrheit unserer Klasse eben nicht. Wirklichen Druck aufbauen können wir nicht mit Demonstrationen, an denen nur Leute aus der linken Szene teilnehmen – wir brauchen breitere Teile unserer Klasse. Da der Preisanstieg viele betrifft und beschäftigt, bietet dieses Thema eine gute Möglichkeit, um mit neuen Leuten in Kontakt zu kommen.

Die Perspektive ist antikapitalistisch

Um zum Thema aktiv zu werden, brauchen wir als Linke zunächst eine schlüssig formulierte Kritik am Preisanstieg, den Ausreden von Konzernen und Politiker:innen und auch an dem imperialistischen Krieg in der Ukraine und der Beteiligung des NATO/EU-Blocks. Und wir brauchen Vorschläge, wie sich unsere Lage unmittelbar verbessern kann. Das sogenannte „Entlastungspaket“ der Bundesregierung hilft an dieser Stelle kaum. Außerdem benachteiligt es Menschen mit geringem Einkommen, die wie in jeder Krise auch jetzt am stärksten betroffen sind. Für weitere Maßnahmen wie eine Mehrwertsteuersenkung auf Lebensmittel gibt es im Bundestag bisher Kritik – so unsinnig diese auch begründet sein mag.

Wie kann eine tatsächliche Entlastung für die Arbeiter:innenklasse also aussehen? Sollten wir staatlich angeordnete Preissenkungen, eine Mehrwertsteuersenkung oder finanzielle Unterstützung vom Staat fordern? Diese und weitere Fragen sollten wir als Linke diskutieren, um in der Öffentlichkeit mit klarer Kritik und konkreten Vorstellungen auftreten zu können.

Doch wir sollten auch über kurzfristige Entlastung hinausdenken und den Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse insgesamt werfen. Während wir uns nämlich Sorgen machen, wie wir über die Runden kommen, läuft es für das Kapital fantastisch: „Deutsche Konzerne zahlen 70 Milliarden Euro Dividende – so viel wie noch nie“ titelete der Spiegel anfang April. Dass wir zu wenig haben, liegt nicht daran, dass es zu wenig gäbe. Der Großteil ist bloß in den Händen einiger weniger Großkapitalist:innen. Für einige Branchen ermöglicht die aktuelle Krise sogar noch Extraprofite: Unter anderem Supermarkt-Ketten, Ölkonzerne, die Logistikbranche und Waffenhersteller machen aktuell Bombengeschäfte. Der Hunger der einen ist der Profit der anderen.

Dass dieses System nicht unseren Interessen dient, spüren viele. Ganze 31 Prozent der Bevölkerung in Deutschland halten das politische System der Bundesrepublik für eine Scheindemokratie. Und tatsächlich geht es im Kapitalismus nicht um die Bedürfnisse der Bevölkerung, sondern in erster Linie um das Interesse des Kapitals. Dieses bestimmt sowohl die Politik im Land selbst als auch die Außenpolitik. Mitreden können die Bürger:innen nicht wirklich. Am Ende ist die kapitalistische parlamentarische Demokratie auch nur eine Herrschaftsform, die die kapitalistische Gesellschaftsordnung aufrechterhalten soll.

Dass viele Menschen dem System gegenüber skeptisch sind, bedeutet aber nicht, dass sie das kapitalistische Gesellschaftssystem auch wirklich verstanden haben. Viele erklären sich die Scheindemokratie der BRD auf eine ganz andere, falsche Weise und folgen dabei teilweise rechten Verschwörungserzählungen, die sehr wenig mit der Realität zu tun haben und keine Perspektive für Veränderung und echte Demokratie bieten. Im Gegenteil: sie sind gefährlich. Auch den Preisanstieg können Rechte ideologisch besetzen und für ihre Zwecke instrumentalisieren. Wir dürfen ihnen dafür nicht den Raum lassen und müssen das Thema endlich ernsthaft aufgreifen. Sowohl der Preisanstieg als auch das kapitalistische Gesellschaftssystem insgesamt müssen von links kritisiert und angegangen werden.

Die aktuelle Krise für breite Teile der Bevölkerung ist eine Folge des kapitalistischen Systems und der imperialistischen Konkurrenz. Ihr gingen eine ganze Reihe weiterer Krisen allein in den letzten Jahrzehnten voraus. Und es werden weitere folgen, solange der Kapitalismus herrscht. Diese zukünftigen Krisen drohen sowohl in wirtschaftlicher als auch in politischer Hinsicht noch dramatischer zu werden als die aktuelle. Das kapitalistische System bietet uns keine Zukunft, egal wo – auch in AlbanienGriechenlandSri Lanka und Indonesien gibt es aktuell Proteste gegen den Preisanstieg und die Krise.

Ausgehend von den Alltagsproblemen unserer Klasse müssen wir aus einer internationalistischen Perspektive dafür kämpfen unsere Lage zu verbessern, in den Klassenkämpfen zu lernen und uns letztendlich vom Kapitalismus zu befreien.

#Foto: 8. März, Karanfilli Adam

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Es geht um viel weniger als damals und zugleich um viel mehr. Als am 1. Mai 1886 in den ganzen USA mehrtägige Streiks begannen, kämpften die Arbeiter:innen um eine Reduzierung der Arbeitszeit von zwölf Stunden. Die Arbeitsbedingungen in den Fabriken waren miserabel. Für die zwölf Stunden Schufterei gab es im Schnitt lumpige drei Dollar, Gegenwert eines mageren Essens im Restaurant. In Chicago/Illinois kam es im Zuge der Streiks zum sogenannten Haymarket Massacre, als die Polizei das Feuer auf die dort versammelten, unbewaffneten Arbeiter:innen eröffnete und Dutzende tötete. Die Ereignisse begründeten die Tradition des 1. Mai als Kampftag der Arbeiter:innenklasse.

Dass die Polizei am 1. Mai 2022 auf Demonstrant:innen scharf schießt, ist eher unwahrscheinlich. Auch ist der Acht-Stunden-Tag bereits Realität und sonst manches besser geworden in der Arbeitswelt seit 1886, zumindest hierzulande. Insofern geht es am diesjährigen Kampftag der Arbeiter:innenklasse um weniger als damals – aber eben zugleich um so viel mehr. Zwei Jahre Pandemie haben die Gesellschaft weichgekocht und neue Möglichkeiten der Observanz, Kontrolle und Repression eröffnet. Das schuf eine gute Grundlage für das, was wir seit dem Beginn des Krieges in der Ukraine erleben. Es werden Weichen für eine Aufrüstung und Militarisierung ohnegleichen gestellt.

Die Kehrseite: Die Herrschenden sind dabei, die hinteren Wagen abzukoppeln. Die „Überzähligen“, „Unnützen“ liegen ihnen nur noch auf der Tasche. Es droht ein umfassender Sozialabbau, eine Forcierung der Umverteilung von unten nach oben. Um all das abzusichern wird die Repression weiter angezogen. Vor diesem Hintergrund kann es für diesen 1. Mai nur ein Motto geben:

Raus auf die Straße! Widerstand leisten gegen die offensichtlichen Faschisierungstendenzen!

Noch ist die Ausgangslage gut, noch ist die Öffentlichkeit da. Darum ist es so wichtig, Versuche beim Namen zu nennen und energisch zu bekämpfen, wie momentan etwa in Berlin, wo versucht wird, das Demonstrationsrecht durch die Hintertür zu kassieren. In der Hauptstadt will gerade ein ebenso reaktionärer wie größenwahnsinniger Bezirksfürst namens Martin Hikel die Revolutionäre- 1. Mai- Demo von Neukölln nach Kreuzberg torpedieren.

Hikel ist der Bezirksbürgermeister von Neukölln, auf diesem Posten Nachfolger des Protofaschisten Heinz Buschkowsky und dessen Ziehtochter Franziska Giffey, die es auf den Stuhl des Stadtoberhauptes geschafft hat. Aus seiner rassistischen Gesinnung hat der 2,08 Meter große SPD-Mann gleich zu Anfang kein Hehl gemacht. Er zog die Razzien in Neukölln auf, die sich angeblich gegen „Clan-Kriminalität“ richten, aber hauptsächlich große Teile der Bevölkerung im Kiez stigmatisieren. Dafür ließ er sich bundesweit von den bürgerlichen Medien feiern, tauchte mit TV-Teams persönlich in Shisha-Bars auf – natürlich erst nachdem bewaffnete Polizeibeamte die Lokalitäten „gesichert“ hatten.

Dieser Mann und seine Spießgesellen also versuchen momentan die Revolutionäre-1. Mai-Demo, die vom Hertzbergplatz über die Sonnenallee, den Kottbusser Damm und die Adalbertstraße bis zum Oranienplatz in Kreuzberg führen soll, mit einem Trick zu verhindern, der derart dummdreist ist, dass man sich als Beobachter:in nur an den Kopf fassen kann. Er hat auf wichtige Punkte der Demo-Route, von der seine Leute zum Zeitpunkt ihrer Planungen nichts geahnt haben wollen, unter dem Motto „Neukölln feiert den 1. Mai“ fünf Veranstaltungen, sogenannte „Straßenfeste“, gelegt. Die Anlässe dieser „Feste“ sind dermaßen an den Haaren herbeigezogen, dass niemand ernsthaft leugnen kann: Hier geht es offensichtlich nur darum, den Demo-Organisator:innen Steine in den Weg zu legen. Es ist Hikels Hindernisparcour, der da aufgebaut wird.

„Mit Kinder- und Familienfesten, Flohmarkt, Live-Musik und einem öffentlichen Fastenbrechen steht der 1. Mai in diesem Jahr für die Vielfalt und das friedliche Miteinander in Berlins buntestem Bezirk“, heißt es in einer Mitteilung auf der Homepage des Bezirksamtes. Verlogener geht es kaum!

Besonders das geplante Fastenbrechen ist an Verlogenheit und Perfidie nicht mehr zu übertreffen. Der Sprecher des Demo-Bündnisses Martin Suchanek hat es in einer Erklärung auf den Punkt gebracht: „Dass ausgerechnet der SPD-Bürgermeister Hikel, der dafür bekannt ist sich medienwirksam bei Razzien bei migrantischen Gewerbetreibenden abblitzen zu lassen – genau derselbe Martin Hikel, dessen ehemaliges Projekt „konfrontative Religionsbekundung“ auf einem Generalverdacht auf muslimische Jugendliche beruhte – nun sein Herzen für den Islam gefunden hat, scheint mehr als unglaubwürdig.“ Suchanek macht auch noch auf einen fachlichen Fauxpas aufmerksam, der ebenfalls die wahren Absichten entlarvt. Das viel bedeutsamere Zuckerfest finde erst am nächsten Tag statt, zudem wurde die Uhrzeit mit 19 Uhr glatt mindestens eine Stunde zu früh angesetzt, da das Fastenbrechen erst bei Sonnenuntergang beginnt.

Bündnissprecherin Aicha Jamal spricht von einer „Instrumentalisierung des letzten Iftar im Fastenmonat Ramadan seitens des Bezirksamt Neukölln“. Dies sei „nicht nur grotesk, sondern auch undemokratisch“. Mit Blick auf die Razzien gegen „Clankriminalität“ sagte Jamal: „Unter dem Vorwand organisierte Kriminalität zu bekämpfen führt Martin Hikel seit Jahren eine rassistische Hetzkampagne zu Lasten des gesamten migrantischen Kleingewerbes in Neukölln, welches tagtäglich unverhältnismäßigen Razzien ausgesetzt wird. Er unterstützt Projekte, die dazu führen, dass wir uns die Mieten nicht mehr leisten können und aus Neukölln verdrängt werden. Migrantisches Leben interessiert ihn nur, wenn es dazu dienen kann, das Image des Bezirkes aufzupolieren, um ihn interessanter für Investoren und Besserverdienende zu machen.“

Diese Agenda Hikels lässt sich auch beim Flohmarkt auf dem Hermannplatz erkennen. Veranstalter ist hier nämlich Spotlight, ein Verein, so schreibt das Bündnis in seiner Erklärung, „der seine Spenden offenbar von Signa erhält“. Signa ist der Konzern des dubiosen und rechtslastigen österreichischen Milliardärs Rene Benko, der in vielen deutschen Metropolen und auch im Ausland mit hochwertigen Immobilien jongliert. Jenem Konzern, wie Suchanek es formuliert, „der auf Biegen und Brechen mit SPD-Bausenator Geisel gegen den Willen der Anwohner den Karstadt am Hermannplatz abreißen und einen Luxuspalast aufbauen“ wolle.

In der Erklärung des Demo-Bündnis heißt es dazu: „Signas Gründer René Benko ist nicht nur einer der reichsten Menschen der Welt, er ist zudem mutmaßlicher Großspender der rechtsextremen FPÖ. Das wurde 2019 durch das Skandalvideo von H. C. Strache bekannt. Benko plant ein gigantisches
Neubauprojekt am Hermannplatz, welches erheblichen Einfluss auf die Mietpreisentwicklung der Umgebung haben wird und deshalb bei vielen Bewohner:innen Neuköllns unbeliebt ist. Dies beweisen die 6.000 Unterschriften, die von einer Anwohner:inneninitiative gegen Benkos Pläne gesammelt wurden. Die Initiative Hermannplatz habe des öfteren darauf aufmerksam gemacht, dass Benko mit kulturellen Projekten versucht, die Akzeptanz für seine Bauvorhaben in der Bevölkerung zu steigern.“

Die ganze Aktion ist ganz offensichtlich ein Alleingang Hikels und seiner Leute. Die Bezirksversammlung (BVV) war nicht in die Planung der fünf Veranstaltungen eingebunden. Das bestätigte Ahmed Abed, BVV-Abgeordneter für Die Linke in Neukölln, am Mittwoch auf Twitter. Nach Informationen vom Lower Class Magazine liefen die Planungen auch komplett an Sarah Nagel von der Linkspartei, der Stadträtin für das Ordnungsamt und Jochen Biedermann, stellvertretender Bezirksbürgermeister, Bezirksstadtrat und Leiter des Geschäftsbereichs Stadtentwicklung, Umwelt vorbei.

Wie es aussieht, hat der Bezirkschef für die Planung und Umsetzung der Veranstaltungen am 1. Mai eine von ihm selbst, vor allem für seine Razzien geschaffene Stabsstelle genutzt: die Koordinierungsstelle für öffentliche Sicherheit und Ordnung, in deren Aufgabenbeschreibung auf der Bezirkshomepage steht: „einschließlich Problemimmobilien sowie die Planung und Koordinierung von Verbundeinsätzen u. a. zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität“.

Die Linksfraktion in der Bezirksversammlung hat sich in einer Erklärung auf die Seite der Demo-Organisatoren gestellt. Darin heißt es: „Wenn SPD-Bürgermeister Hickel wirklich Straßenfeste organisiert, um damit eine Demo zu behindern, würde dies die Einschränkung des Versammlungsrechts bedeuten. Wir fordern klar: Die 1. Mai-Demo muss wie geplant stattfinden!“ Ferat Koçak, Neuköllner und Mitglied im Abgeordnetenhaus für Die Linke, erklärte ausserdem, Hikel behindere mit seinem Vorgehen „das Grundrecht der Versammlungsfreiheit und blockiert die Demo“. Offenbar wende er dieselbe Strategie an, mit der in Kreuzberg mit dem „Myfest“ operiert wurde – also eine Entpolitisierung des 1. Mai mittels Eventisierung.

Tatsächlich beweist SPD-Mann Hikel mit seinem Vorgehen überdeutlich, welche Prioritäten er setzt. Er tritt das Versammlungsrecht mit Füßen, den „Investoren“, die sich die halbe Stadt unter den Nagel reißen, rollt er dagegen mit Vergnügen den roten Teppich aus. Jeglicher Widerstand und jegliches positives Signal für eine Organisierung gegen diese Pläne sollen verhindert und gestört werden. Deshalb kann es in diesem Jahr nur umso mehr heißen:

Heraus zum 1. Mai!

Jetzt erst Recht!

Yallah Klassenkampf!

Dokumentation zum Revolutionären 1. Mai in Berlin:

# Titelbild: 1. Mai 2021, Copyright: 2021 PM Cheung

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„Serê cîlo çarçella
Benda te me ey Zagros
Baranek hûr hûr barî
Mervanê’m şehîd ketî”

Wenn Genossen und Genossinnen fallen tut das weh. Tausende Emotionen, Erinnerungen, Versatzstücke kommen hoch, ziehen an den Augen vorbei. Und heute ist genau so ein Tag.

Heval Serfiraz Nîdal ist am 10. April 2022 in Rojava nach Kampf gegen eine Krebserkrankung von dieser Welt gegangen.

Wenn ich mich mit Genossen und Genosssinnen über Gefallene unterhalte kommt manchmal die Frage auf, ob man viel Zeit gemeinsam verbracht habe, sich besonders intensiv kennen würde. Denke ich an Heval Serfiraz müsste ich auf den ersten Blick wohl beide Fragen verneinen. Gerade einmal vier Wochen begegneten wir uns, kannten uns nicht aus unseren Kindheitstagen oder gemeinsamer politischer Organisierung.

Revolutionen sind mächtig. Sie bringen tausende Dinge hervor, das Gute, das Schlechte und das Unbestimmte. Und die Revolution in Kurdistan hat ihren Beitrag dazu geleistet, dass sich die Wege von mir und Heval Serfiraz in Rojava kreuzten, für 28 Tage. Und 28 Tage gemeinsam in einer Revolution zu kämpfen, zu leben, zu lachen und zu weinen sind intensiv, lehrreich und unvergesslich.

Die Märtyrer sterben nicht. All diejenigen, die länger mit der kurdischen Freiheitsbewegung und revolutionären Organisationen weltweit zusammengearbeitet haben kennen diesen Satz. Er ist weit mehr als eine Floskel oder pathetisches Gerede, denn der Satz drückt eine grundlegende philosophische Annäherung an das Leben selbst aus. Denn Märtyrer sterben deshalb nicht, weil die Militanten sie weiterhin in ihren Herzen tragen und in ihren Handlungen, Werte und Prinzipien repräsentieren. Dabei geht es nicht um einen Todeskult. Denn wie es viele Revolutionär:innen bereits gelebt haben, lieben wir das Leben so sehr, dass wir bereit sind dafür das eigene Leben zu geben.

Heval Serfiraz war unser Kommandant für den Frontabschnitt an welchem wir im Februar 2021 eingesetzt waren. Wir waren drei Freunde, Internationalisten, welche im Februar noch etwas unsicher in dem Dorf eintrafen, in welchem Serfiraz uns in Empfang nahm und welches für die kommenden Wochen unser Zuhause wurde.

Was uns allen direkt auffiel war die Wärme und der unglaublich gute Humor unseres Verantwortlichen und das in einer Situation in der uns zuerst nicht zu Lachen zu Mute war. Die türkische Armee und ihre dschihadistischen Söldnertruppen hatten sich seit ein paar Wochen wortwörtlich auf das kleine Dorf festgeschossen, welches von kurdischen, assyrischen und arabischen Kämpfern verteidigt wurde.

Eines Abends war ich zur Nachtwachse gemeinsam mit Serfiraz eingeteilt. Meine erste an diesem Abschnitt und es lag ein Schleier dichten Nebels über dem Gebiet. Kein gutes Wetter, sofern man davon ausgeht ein Angriff könnte stattfinden. Meine Hände waren schwitzig, mein Körper angespannt und ich versuchte Krampfhaft die tausenden Geräusche zu unterscheiden. Serfiraz legte seine Hand an meine Schulter und sagte, dass Angst ein normales Gefühl sei, es ginge aber darum sie steuern zu können. Heval Serfiraz schaffte es mit nur wenigen Worten genau die Ruhe zu erzeugen die es an einem Ort wie der Front braucht, unterschätzte die Lage aber auch nicht. Er verstand es sehr gut eine militante Führung im Alltag und organisatorisch zu entwickeln. Das notwendige Gleichgewicht aus Zärtlichkeit, Zugewandtheit und notwendiger Härte. Allen und vor allem auch sich selbst gegenüber.

Es regnete viel in diesen Tagen, das Dorf glich einem Moor, so tief sanken wir teilweise in den Schlamm ein. Er ließ es sich dennoch nie nehmen, einen tägliche Rundgang zu machen, jede Position und jeden Freund einmal am Tag zu sehen und sich nach deren Befinden zu erkundigen. Serfiraz war zwar unser Kommandant, aber er delegierte nicht nur arbeiten, sondern packte selbst da an wo es notwendig war, für keine Arbeit war er sich zu schade.

Er hatte das große Talent militärische Disziplin mit menschlicher Art und Weise zu leben. Es gab kaum einen Abend, an welchem wir nicht zusammen saßen, Tawla spielten, dutzende Teegläser leerten, an manchen Tagen gemeinsam aßen an anderen gemeinsam nichts aßen oder in der feuchten Erde froren. Serfiraz sprach drei Sprachen, kurdisch, türkisch, arabisch. Denn auch für ihn war die Sprache ein Schlüssel zur Welt, zumal in unserer Einheit wirklich die gesamte Sprachbreite Rojavas repräsentiert war, und die Sprache des Gegenübers zu erlernen bzw. zu sprechen war für ihn eine wichtige Geste des gegenseitigen Respekts. Für mich legte er damit eine große Wertschätzung den eigenen Genossen gegenüber an den Tag, da er selbst bereit war neues zu lernen um sie zu verstehen, er ging nicht davon aus, dass alle ihn verstehen müssten.

Heval Serfiraz war ein sehr neugieriger Mensch, er wollte alles Wissen, über die Lage der revolutionären Kräfte in Europa, über die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse. Vor allem aber begrenzte sich sein Interesse nicht lediglich auf die „harten“ politischen Fragen. Wir diskutierten über den Einfluss von Mode, Popkultur und Musik auf die jeweiligen Gesellschaften. Und Heval Serfiraz hatte eine Eigenschaft, die uns allen als Militante leitend sein sollte: Er schämte sich nicht zu fragen, wenn er etwas nicht wusste oder verstand. So saßen wir teilweise Abende zusammen und übersetzten gemeinsam die Bedienungsanleitungen notwendiger Gerätschaften vom englischen ins kurdische und anschließend ins arabische oder türkische. In all diesen Erinnerungen bleibt für mich immer besonders prägend, dass er bei weitem kein Dogmatiker war. Unsere Diskussionen reichten von Lenins Imperialismustheorie, der Rolle Stalins, Neuerungen in den Programmen der weltweiten kommunistischen Parteien, Diskussionen mit einem anarchistischen Genossen über die Ukraine und Machno, über unsere Lieblingsrezepte unserer jeweiligen Küchen bis hin zur zentralen Rolle der LGTBIQ-Bewegung bei den Gezi-Protesten in der Türkei.

Er war ein wandelnder Erzähler, konnte seine Werdung zu einem militanten der MLKP mit Leben füllen, erzählte auch von seinen eigenen Erfahrungen in der Türkei, Kurdistan oder den türkischen Gefängnissen. Er machte diese Entwicklung greifbar. Ein lebendes Vorbild.

Als wir nach mehreren Worten aufbrachen, erinnere ich mich noch an unseren Händedruck des Abschieds und unser Versprechen, uns wiederzusehen, die feste Umarmung und unser gemeinsames herzliches Lachen.

Lieber Freund, heute habe ich den Namen kennengelernt, den dir deine Mutter bei deiner Geburt gab. Welat. Dein Familienname Yildiz. Land der Sterne. Serfiraz yoldaş, ich werde dich vermissen, genau wie hunderte Andere dich vermissen und in ihren Herzen tragen werden. Und auch ich werde dich bei mir tragen, unabhängig davon wo ich mich befinde und in den Sternenhimmel schauen werde. In meinem oder in deinem Land. Welat.

#Deniz Nîdal

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Am vergangenen Dienstag fanden zeitgleich in mehreren Städten im grün-schwarz regierten Baden-Württemberg Hausdurchsuchungen statt, unter anderem von einer Person, die im Linken Zentrum Lilo Herrmann lebt. Sie bauen auf fadenscheinigen Vorwürfen auf, bei denen es um die Beteiligung an Aktionen gegen die faschistische Gruppe „Identitäre Bewegung“ und um eine angebliche Beteiligung an der sogenannten „Stuttgarter Krawallnacht“ gehen soll. Diese aktuellen Ereignisse sind dabei nur das neueste Kapitel im Agieren der Repressionbehörden gegen linke Aktivist*innen und Strukturen.

Das rechte Auge zuzudrücken, während man solch harte Vorgehensweisen gegen Antifaschist*innen und Kommunist*innen einsetzt, hat Kontinuität. Wir erinnern uns noch gut daran, als 2020 in Hamburg 28 Hausdurchsuchungen – als Teil des größten Verfahrens gegen eine linke Organisation in Deutschland seit Jahrzehnten – stattfanden. Ziel des Angriffs der Staatsgewalt, der mit dem „Schnüffel-Paragraphen“ 129a geführt wurde, war der Rote Aufbau Hamburg. Der Kampf für eine sozialistische Gesellschaft wird kriminalisiert, faschistische Organisierungen werden aber vom Staat gedeckt.

Gerade erst informierte die Rote Hilfe e.V. zum Tag der politischen Gefangenen am 18. März darüber, dass in Deutschland aktuell mindestens 15 Menschen wegen ihrer politischen Betätigung im Knast sitzen. Die Antifaschistin Lina ist trotz geringer Beweislast seit über 500 Tagen inhaftiert. Der linke Aktivist Jan aus Nürnberg ist seit sechs Monaten in Haft, acht weitere hat er laut Urteil noch vor sich. Allein im Raum Stuttgart saßen in den letzten Monaten, teils bis heute, mit Findus, Dy und Jo drei aktive Linke im Knast. Ebenso mehrere kurdische Aktivist*innen, darunter Merdan – für den Vorwurf einer Mitgliedschaft in der PKK, deren Kriminalisierung dem türkischen Staat in die Hände spielt. Am kommenden Freitag, 25.03., ist der Prozess des Kommunisten Chris angesetzt, bei dem von der Anklage mehrere Monate Haft ohne Bewährung gefordert werden. Vorgeworfen wird ihm, nach jahrelanger Kriminalisierung seines politischen Einsatzes, eine Beteiligung an den Silvesterspaziergängen an der JVA Stuttgart-Stammheim, die dort seit den Zeiten der RAF-Gefangenen Tradition haben.

„Ganz allgemein und konkret im Fall von Chris geht es bei staatlicher Repression nicht nur darum, Einzelne für angebliche Straftaten zu verurteilen; den Verfolgungsbehörden geht es um viel mehr“, schreibt das Solibündnis zu Chris’ Prozess. „Politische Strömungen der Linken, die Widerstandsformen entwickeln und anwenden, die das Maß des Konformen überschreiten, werden mit Repression überschüttet. Sobald Proteste und Strukturen als potenzielle Gefahr wahrgenommen werden, wird zugelangt und in akribischer Kleinarbeit alles verfolgt, was kriminalisierbar ist.“

Gefängnisstrafen stellen die momentan extremste Forme der Repression gegen linke Aktive in der BRD dar, denen verschiedene andere vorausgehen: von Kontrollen, Geldstrafen und Arbeitsstunden über Einträge im Führungszeugnis, Hausdurchsuchungen bis hin zu Gewahrsam und Bewährung. Das Vorgehen der BRD gegen antikapitalistische und antifaschistische Bewegungen scheint seit Jahren an Aggression zuzunehmen. Auffällig sind die Bündelung unzusammenhängender Tatvorwürfe sowie immer häufigere absurd hohe Strafmaße, die Kriminalisierung von Praktiken, welche früher gerade so als Ordnungswidrigkeiten galten, und Paragraphen, die offensichtlich vor allem der Überwachung linker, antiimperialistischer, revolutionärer Gruppierungen dienen.

Dabei sollte unsere Empörung über all diese Umstände keineswegs als Überraschung missverstanden werden. Revolutionäre linke Praxis stellt die herrschende Ordnung nicht nur in Frage, sondern greift sie an. Die Staatsgewalt, die der Aufrechterhaltung des kapitalistischen Systems dient, wird natürlich gegen diejenigen Aktivist*innen und Bewegungen gerichtet, die ihm gefährlich werden können. Die Krisen des Kapitalismus spitzen sich zu und mit ihnen wächst der Widerstand, der von den Repressionsorganen des Staates niedergeschlagen werden soll.

Diese Vorgehensweisen sind vor allem Spaltungs- und Einschüchterungsversuche, denen wir nicht nachgeben dürfen. Wir müssen ihre Unterteilung in „gute und schlechte“ Protestformen, in „legitimen und kriminellen“ Widerstand ablehnen, denn diese Unterteilung folgt den Definitionen des bürgerlichen Staates. Konsequenter linker Widerstand wird unumgänglich in Konfrontation mit der Staatsgewalt geraten, da er sich gerade gegen diese richtet. Fügen sich Teile der linken Bewegung der staatlichen Einteilung unserer Protestformen, entfernen wir uns voneinander. Die einen sollen in reformistische Bahnen gelenkt werden, bis sie nicht mehr im Antagonismus zum herrschenden System stehen, die anderen werden weiter die volle Brutalität des Staates zu spüren bekommen und damit in ihrer Praxis gehindert.

Das Aufgeben revolutionärer antikapitalistischer Politik darf keine Option sein. Ein organisierter Umgang mit Repression gegen unsere Genoss*innen und konsequenter Zusammenhalt ist stattdessen unsere Antwort auf staatliche Angriffe. Das äußert sich in den zahlreichen Solikreisen, die sich für die Betroffenen bilden, in der Arbeit der Roten Hilfe und insgesamt in der Fortsetzung antifaschistischer, antimilitaristischer, klassenkämpferischer und nicht zuletzt revolutionärer Praxis.

„Wir dürfen uns nicht von ihren Schikanen und Machenschaften einschüchtern lassen, sondern gemeinsam Widerstand leisten. Ihr draußen, ich drinnen.“ – Dy, inhaftierter Antifaschist aus dem „Wasen-Verfahren“

Dass die revolutionäre Bewegung in Deutschland sich nicht einschüchtern lässt und handlungsfähig bleibt, zeigt sich auch in den direkten Antworten auf die Hausdurchsuchungen in Baden-Württemberg am vergangenen Dienstag. Nachdem den Betroffenen schon direkt am Morgen von ihren Genoss*innen Beistand geleistet wurde und es erste Solidaritätsbekundungen aus zahlreichen anderen Städten gab, kam es noch am Abend desselben Tages zu spontanen Kundgebungen, Aktionen und Demonstrationen unter anderem in Stuttgart, Tübingen, Magdeburg und Hamburg. Mehrere hundert Menschen, aus verschiedenen Spektren und mit verschiedenen Hintergründen, gingen in Stuttgart als direkte Reaktion gemeinsam auf die Straße und machten klar, dass sie sich nicht abschrecken lassen und auch hinter der verfolgten Praxis stehen.

Unsere Parolen sind keine leeren Phrasen, wenn wir sie umsetzen. Zeigt euch also solidarisch, indem ihr weitermacht!

# Titelbild: indymedia, Knastspaziergang 2021/22 in Stuttgart Stammheim

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Kleinteiligte algorithmische Steuerung ist auf dem Vormarsch in die Arbeitwelt. Elmar Wigand hat, inspiriert durch Lektüre von Simon Schaupps Studie „Technopolitik von unten.“ und Gesprächen mit dem Autoren, 40 vorläufige Thesen zu dieser Entwicklung aufgestellt. Eine Möglichkeit diese Thesen und das Thema allgemein zu diskutieren ist folgende Veranstaltung mit dem Arbeitssoziologen Simon Schaupp in Berlin:
Wenn dein Boss ein Algorithmus ist. Solidarität & Widerstand in digital gesteuerter Niedriglohnarbeit. Samstag, 26. März 2022, 19:00 Uhr, Café Wostok, Weitlingstr. 97, 10317 Berlin-Lichtenberg. Live-Stream auf youtube.

Was haben Ryanair-Pilot:innen, Spieler des FC Schalke 04, Fahrradkuriere von Lieferando und Arbeiter:innen bei Amazon gemein? Sie alle werden digital erfasst, analysiert, kontrolliert und bewertet. Während die Spieler des FC Schalke zumindest beim Spiel selbst noch frei entscheiden können (oder müssen), sieht es in der Nachbearbeitung des Spieltags, im Training oder beim Scouting neuer Talente schon anders aus. Piloten haben durch Automatisierung und maschinelle Steuerung faktisch immer weniger zu tun – auch wenn die Verantwortung für Leib und Leben der Passagiere gleich bleibt. Ermüdung (Fatigue) durch ständiges Starren auf Bildschirme, ständige Wachsamkeit bei faktischem Nichtsmehrtunmüssen, ist gerade bei Langstreckenflügen eines ihrer größten Probleme. Während dessen sollen Amazon-Arbeiter:innen durch kleine mobile Endgeräte (Handys/Armbanduhren) nicht nur gelenkt, sondern auch getrackt und durch Vibrationen gezielt manipuliert werden.

Wir haben es mit wichtigen Umwälzungen zu tun, die menschengemacht sind und daher von der Mehrheit der Menschen auch gestaltet, vielleicht sogar zum Scheitern gebracht werden können. Die Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung sind Lohnabhängige. Wir müssten uns als solche bloß organisieren…

Die folgenden Thesen dienen als Grundlage für Diskussionen. Sie sind nicht in Stein gemeißelt, sondern vorläufig und als Einladung zu verstehen, sie gemeinsam weiter zu entwickeln.

  1. Algorithmische Steuerung zielt auf die Entwertung der Arbeitenden und ihrer Tätigkeit zwecks Steigerung des Profits.
  2. Die Entwertung der Arbeit durch algorithmische Steuerung geschieht durch totalitäre Überwachung, Kontrolle und Angst vor Strafe.
  3. Die Arbeitsleistung der Beschäftigten soll ergänzend zu Überwachung und Kontrolle auch durch Anreize und Belohnungssysteme gesteigert werden.
  4. Die algorithmische Steuerung geht Hand in Hand mit Automatisierung, Digitalisierung und virtueller Vernetzung.
  5. Es gibt keinen Weg zurück in den vorherigen Zustand. Die Technologien, die der algorithmischen Steuerung zugrunde liegen – Smartphones (mobile Endgeräte), digitale Plattformen (Webseiten, Google Maps, Clouds, Apps etc.), soziale Medien (Chatgruppen, Slack, Discord etc.), Kontroll- und Analyseprogramme – sind nicht mehr wegzudenken. Sie müssen aber ganz dringend anders gedacht, demokratisch kontrolliert und zum Wohle der Allgemeinheit umfunktioniert werden.
  6. Es gibt zwei Entwicklungslinien, die teils konkurrieren, sich zum Teil ergänzen: Roboterisierung (das vollständige Ersetzen menschlicher Arbeit) und Automatisierung menschlicher Arbeit samt algorithmischer Steuerung. Derzeit scheint die algorithmische Steuerung größere Gewinnerwartungen zu versprechen. Die Robotertechnik hinkt den Zukunftserwartungen hinterher, die seit den 1970er Jahren als Science-Fiction oder Dystopien kursierten.
  7. Eine neue Technologie setzt sich nie automatisch und linear durch, sondern wird in verschiedenen Milieus und Klassen und Rechtsrahmen (Nationalstaaten) teils völlig unterschiedlich interpretiert, akzeptiert, abgelehnt oder bekämpft.
  8. Die Durchsetzung einer neuen Technologie gelingt den Herrschenden und Besitzenden selten so, wie sie es sich vorstellen. Sie ist ein Ergebnis von Klassenkämpfen, die auf historischen Erfahrungen basieren und aufsetzen. Gesellschaften, Klassen und Milieus weisen große Unterschiede in der Nutzung und Akzeptanz von Technologie auf.
  9. Der Motor der Entwicklung sind Krisen des Kapitals – Überakkumulation, Verwertungskrisen, Profit- und Kreditklemmen, Klassenkämpfe und (verlorene) Kriege. Die Hoffnung des Kapitals besteht darin, einen neuen mittelfristigen Boom durch Umwälzung der Verhältnisse und Verdrängung der alten Ökomomie zu schaffen.
  10. Wir sind Zeugen einer technologische Revolution, die auf allen Ebenen angreift. Ihr sind die bestbezahlten Lohnabhängigen – Piloten, Fußball-Bundesliga-Spieler, Ärzte und IT-Spezialist:innen – ebenso unterworfen wie die am schlechtesten bezahlten wie z.B. scheinselbständige Fahrer:innen von Uber Eats, Amazon Flex und andere.
  11. Der technologische Angriff betrifft also nicht nur Niedriglohnarbeiter:innen, sondern alle Beschäftigten. Es handelt um eine Umwälzung, die nicht nur aus moralischen oder menschenrechtlichen Gründen gesamtgesellschaftliche Beachtung verdient.
  12. Die algorithmische Steuerung ist ein technologischer Angriff auf Facharbeit, Tarifverträge und Lohnniveaus.
  13. Der technologische Angriff geht einher mit einem juristisch-betriebswirtschaftlichen Angriff auf Arbeitsstandards, der parallel stattfindet, aber sich nicht im Gleichschritt vollzieht: Scheinselbständigkeit, Franchising, Sub-Subunternehmertum, Auslagerung, Arbeit auf Abruf, Kettenbefristung.
  14. Der einzelne Arbeiter, die einzelne Arbeiterin soll leicht ersetzbar sein. Oder das zumindest glauben. Die Arbeitenden werden von Software und mobilen Endgeräten so gesteuert, dass sie immer weniger Qualifikation und Anlernzeit benötigen.
  15. Die algorithmische Steuerung entkoppelt die Arbeit auch weitgehend von der landesüblichen Nationalsprache, so dass ein rudimentäres Englisch bzw. internationales Pidgin-English ausreicht, um arbeiten zu können. Dadurch vergrößert, ja globalisiert sich das Einzugsgebiet, aus dem die Beschäftigten kommen. Es entsteht, zumindest in Metropolregionen, eine bunt gemischte internationale Belegschaft.
  16. a) Der unpersönliche Algorithmus soll die Steuerung durch menschliche Vorgesetzte ersetzen. Dahinter steckt die Erkenntnis, dass intensives Management hohe Kosten verursacht, die eingespart werden müssen. b) Die Arbeitenden frustriert es, keine direkten Ansprechpartner:innen selbst für grundlegendste Anliegen zu haben.
  17. Dem (Alb-)Traum einer vollständigen algorithmischen Steuerung liegt ein falsches Menschenbild zu Grunde, das lautet: Es gibt keine Gesellschaft, nur unverbundene, vereinzelte Individuen, die sich dauerhaft durch unpersönliche Kommunikation, Maschinen und Programme steuern lassen.
  18. a) Die landläufige Annahme, dass der Mensch Fehler macht, aber die Technik nahezu perfekt funktionieren könnte ist falsch. Technik, Management, Logistik und Geldflüsse funktionieren meist fehlerhaft bis mangelhaft – vor allem schmerzt das bei Lohn, Boni und Trinkgeld, die meist zu Lasten der Beschäftigen falsch berechnet werden. b) Darin hat sich im Vergleich zum Fabriksystem wenig geändert: Ohne das geheime Wissen der Beschäftigten und deren Umgehungsstrategien läuft fast nichts. Auch die Computersteuerung der Arbeit muss von den Arbeitenden stets umgangen, relativiert oder sogar ausgetrickst werden, damit der Laden läuft.
  19. Die technischen Möglichkeiten und der Druck zur Kostensenkung und Profitmaximierung verleiten das Management zu kriminellen Handlungen gegenüber Beschäftigten (Lohnraub, Trinkgelddiebstahl, Arbeitszeitbetrug), Zulieferern, Subunternehmern und Kunden.
  20. a) Beschäftigte, die algorithmischer Steuerung unterworfen sind, empfinden einen grundlegenden Mangel, der sie – in der derzeitigen Entwicklungsstufe – fast automatisch zu arbeitgeberunabhängiger Organisierung treibt. b) Beschäftigte haben – wie alle Menschen – das natürliche Bedürfnis nach Sozialisierung, Anerkennung, Austausch, Sinnhaftigkeit ihrer Tätigkeit, Orientierung, Gerechtigkeit; sie entwickeln daraus Organisierung und Interessenvertretung, im Konfliktfall auch Renitenz.
  21. Beschäftigte, die algorithmischer Steuerung unterworfen sind, empfinden die Verhältnisse, denen sie unterworfen sind, als zynisch, ungerecht, ineffizent und unnatürlich.
  22. Humor, Spott und Zynismus sind deutliche Vorboten von Rissen im System der Herrschaft. Diese Ausdrucksformen sind zweischneidig und müssen genau interpretiert werden, da sie die Herrschaft stabilisieren können – als folgenloses Dampfablassen – oder aber die Herrschaft erschüttern können – als Vorform arbeitgeberunabhängiger Organisierung. Humor kann eine Waffe sein.
  23. Viele Beschäftigte sind hoch qualifiziert und daher von der Arbeit unterfordert. Sie sind durch wirtschaftliche Verwerfungen (Perspektivlosigkeit in der Heimat), oft auch nur für eine Zwischenzeit (Studium, Warten auf etwas Besseres) in dieser Arbeit gelandet. Der Impuls, Betriebsräte und Gewerkschaftsgruppen zu gründen rührt auch aus dem Bedürfnis, brach liegende Fähigkeiten einzusetzen und zu entwickeln. Die Weiterbildungs-, Gestaltungs- und Aufstiegsmöglichkeiten von Betriebsräten und Gewerkschaften sind eine Art „zweiter Bildungsweg“ oder alternative Karriere.
  24. Traditionelle Formen wie Betriebsräte, Betriebsgruppen und Gewerkschaften oder vergleichbare Vorformen entstehen derzeit fast zwangsläufig.
  25. Hard Power (Union Busting) setzt darauf, arbeitgeberunabhängige Organisierung im Keim zu ersticken.
  26. Soft Power versucht die Bedürfnisse nach arbeitgeberunabhängiger Organisierung aufzugreifen und zu pervertieren, zu karikieren, zu unterwandern und zu korrumpieren.
  27. Management und Arbeiterunruhe sind zwei korrespondierende Säulen. In Deutschland reagieren Management und Co-Management recht sensibel auf Veränderungen im Verhalten der Beschäftigten, insbesondere wenn es um Renitenz, Streiks und ähnliche Formen geht.
  28. Management, Co-Management und ihre Hilfskräfte interessieren sich in Deutschland mehr für Arbeiterunruhe und Risse im System der Arbeit als (selbsternannte) Revolutionäre, (eingebildete) Linke und (sogenannte) Radikale. (Vermutlich werden sie auch diesen Text intensiver studieren und ernster nehmen, als die eigentliche Zielgruppe dieser Zeilen 😉 .)
  29. Die Aufgabe von Radikalen (Linken, Klassenkämpfer:innen, Sozialist:innen & utopischen Romantiker:innen etc.) dürfte es sein, das Salz in der Suppe oder die Hefe im Teig zu sein. Also als verschwindende Minderheit dennoch Prozesse voran zu treiben und Organisierung schmackhaft zu machen.
  30. Die traditionelle Gewerkschaftsbewegung – in Deutschland bestehend aus sozialdemokratisch dominierten Industriegewerkschaften – hat aus verschiedenen Gründen (derzeit noch) große Probleme, algorithmisch gesteuerte Beschäftigte zu organisieren. Möglicherweise ist sind andere Formen – berufsständische, syndikalistische oder Mischformen – passender bzw. attraktiver.
  31. Die traditionellen Gewerkschaftsapparate finanzieren sich über Abgaben von einem Prozent vom Monatslohn dauerhaft tätiger Festangestellter, der durch Tarifverträge und periodische Steigerungen erhöht werden soll. Dieses Modell greift oftmals ins Leere, wenn die Fluktuation der Belegschaft sehr hoch ist und der Gewerkschaftsbeitrag von den Beschäftigten als zu hoch empfunden wird. Zudem erscheint das Lohnniveau der Gewerkschaftssekretäre vielen Niedriglohnbeschäftigen obszön.
  32. Für Niedriglöhner:innen, die am Monatsende kaum Geld über haben, sind 1 Prozent des Brutto-Lohnes eine zu hohe Abgabe. Hier muss die Abgabe ein Teil des zur Verfügung stehenden monatlichen Geldes sein (nach Abzug von Miete, Krankenversicherung, Monatsticket), nicht des Bruttoverdienstes. Oder die Finanzierung der Organisation bzw. Kampagne muss über Spenden und Fundraising erfolgen.
  33. Professionelle Gewerkschaftsapparate und ihre Angebote bieten den Beschäftigten (derzeit) nicht das was sie suchen und was ihnen fehlt.
  34. Möglicherweise müssen neue Formen gefunden werden. Möglicherweise müssen auch ganz alte Formen wieder belebt werden – Arbeitervereine, Gewerkschaftslokale, Gilden oder Ähnliches.
  35. Das Zusammenkommen unterschiedlichster Menschen aus unterschiedlichsten Ländern – bei Berliner Supermarkt-Lieferdiensten wären das z.B. Indien, Argentinien, Ghana, Deutschland, Tunesien, Algerien – kann Spaß machen und bereichernd sein. Gerade wenn die Arbeit unterfordert und langweilig ist, entstehen fast automatisch Cliquen und Freundschaften, Spiele und Palaver.
  36. Die Beschäftigten besitzen mehr Produktions- oder Organisationsmacht als sie glauben.
  37. Viele Online-Firmen – Amazon, Lieferando, Gorillas, Zalando – leben vom Marken-Image bzw. einem Mythos, der oft mehr Geld wert ist als ihre Produktionsanlagen.
  38. Das digitale Proletariat arbeitet an zwei neuralgischen Schnittstellen: Der Programmierung und Optimierung der Software und der Auslieferung zum Kunden auf den letzten Metern. Der letzte Meter, der direkte Kundenkontakt, kann im Konfliktfall genutzt werden, um das Marken-Image anzugreifen.
  39. Der Konsumstreiks (Boykott) ist eines der ältesten Mittel der Arbeiterbewegung, das auf seine Wiederentdeckung wartet. Viele historische Streiks wurden erst durch einen flankierenden Konsumstreik gewonnen.
  40. Die algorithmische Steuerung und Erfassung betrifft nicht nur die Beschäftigten, sondern auch Kundinnen und Kunden. Möglicherweise besteht im Data-Mining, der Erfassung und Manipulation der Konsument:innen und ihres Verhaltens, sogar der produktivere Teil des gesamten Geschäftsmodells – wie im Fall von Facebook und Google. Daher haben die Kund:innen ebenfalls allen Grund, sich angegriffen zu fühlen (etwa in ihrer informationellen Selbstbestimmung) und sich mit Lohnabhängigen zu solidarisieren, wenn diese im Arbeitskonflikt sind.
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Das Interview führten die Stadtteilgewerkschaft Solidarisch in Gröpelingen und die Stadtteilinitiative Bergfidel Solidarisch mit Débora Nunes vom Direção Nacional do MST (Bewegung der Arbeiter:innen ohne Land in Brasilien)

Kannst du uns zu Beginn des Interviews erklären, was die MST ist?

Die MST ist die Bewegung der Arbeiter:innen ohne Land in Brasilien. Sie ist 1984 aus den strukturellen Notwendigkeiten der damaligen Zeit entstanden. Nach dem 2. Weltkrieg hat die kapitalistische Entwicklung zu tiefgreifenden Veränderungen in der Landwirtschaft geführt. Es wurden immer größere Maschinen und immer mehr Chemie eingesetzt. Viele Menschen wurden von ihren Ländereien vertrieben. Sie zogen in die Städte, wo sie weder Arbeit noch ein Zuhause oder Zukunftsaussichten erwarteten. Die Bewegung ist entstanden, um eben diese Arbeiter:innen vom Land zu organisieren und einen Zugang zu Land zu erkämpfen. Denn es braucht Zugang zu Land, um Arbeit, Gesundheit und ein Zuhause für Menschen zu garantieren. Und da der brasilianische Staat nicht bereit war, den Menschen diese Rechte zur Verfügung zu stellen, gab es die Notwendigkeit, sich zu organisieren und zu kämpfen. Die MST existiert inzwischen seit 38 Jahren. Sie ist die einzige ländliche Massenorganisation, die so lange existiert. Alle anderen Organisationen wurden von oben zerschlagen.

Die MST hat den Ansatz der Basisarbeit stark geprägt. Kannst du genauer ausführen, was das bedeutet? Welche Kriterien muss Basisarbeit erfüllen, damit sie einen transformativen Charakter hat?

Wenn wir von Basisarbeit sprechen, dann sprechen wir über zwei Dimensionen. Die erste Dimension ist die Organisierung. In den 80er Jahren gab es eine Masse an Arbeiter:innen ohne Land und ohne Arbeit, aber es gab keine Perspektive der Organisierung oder spontane Organisierungen. Der erste Schritt war deshalb, die landlosen Arbeiter:innen dazu einzuladen, sich zu organisieren. Menschen aus der Peripherie, aus den Favelas, Menschen, die keine Arbeit und nicht genügend Lebensmittel hatten. Die Botschaft der MST war: Es ist möglich, etwas zu bewirken, wenn wir uns organisieren. Der Staat wird von allein nichts machen. Nur wenn wir organisiert sind, können wir genügend Druck aufbauen.

Die zweite Dimension von Basisarbeit ist die Bildung des Bewusstseins. Es ist wichtig, dass Menschen verstehen lernen, wie die Gesellschaft aufgebaut und wie Ungleichheit organisiert ist, wie sie sich immer weiter fortsetzt. Oder warum manche Menschen kein Haus haben und andere zwei, drei oder viele Häuser. Nur wenn man das versteht, ist man bereit längerfristig zu kämpfen und weiß, wo und wie das passieren muss. Wenn die Energiepreise z.B. hoch sind, dann bleiben die meisten Menschen dabei stehen, sich darüber zu beschweren oder die Rechnung einfach nicht zu bezahlen, weil sie dazu nicht in der Lage sind. Basisarbeit bedeutet darüber hinaus zu lernen, das gesamte System infrage zu stellen. Zu begreifen, dass hohe Energiepreise nichts Natürliches sind, sondern ein Ergebnis der Privatisierung von Energie. Dass Energie aber ein Gemeingut ist, weil sie aus der Natur gewonnen wird, wie z.B. aus Wasser. Bei Basisarbeit geht es um eine bestimmte Art der Bewusstwerdung. Diese Bewusstseinsbildung ist ein permanenter Prozess. Es gibt keinen Anfang und kein Ende. Die Bewusstseinsarbeit der MST findet in den Mobilisierungen und Besetzungen von Land statt. Aber es gibt auch eine richtige politische Schule, wo Aktivist:innen ausgebildet werden [Escola Nacional Florestan Fernandes].

Mit der Basisarbeit verfolgen wir drei Ziele. Das erste Ziel ist die massenhafte Teilhabe der Arbeiter:innen, um Auseinandersetzungen und Kämpfe führen zu können. Dafür braucht es Multiplikator:innen oder multiplikatorische Effekte. Wir können nicht zehn Menschen bleiben, sondern jede der zehn Personen muss  wiederum zehn weitere Menschen aktivieren, anrufen, mitbringen, miteinbeziehen. Nur so können wir garantieren, dass genügend Menschen an dem Prozess teilnehmen.

Das zweite Ziel der Basisarbeit ist die Demokratisierung der Macht. Das bedeutet, Menschen zu befähigen, ihre Probleme selbst zu verstehen und in einem kollektiven Prozess Lösungen zu erarbeiten. Dazu gehört auch, den kapitalistischen Werten andere Werte gegenüberzustellen, wie z.B. Solidarität. Damit die Macht im Dienst der Mehrheit steht und die Probleme des Alltags gelöst werden können.

Das dritte Ziel der Basisarbeit ist der Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft. Das Ziel ist also, den konkreten Kampf zu organisieren um langfristig mit Ungerechtigkeit, Ungleichheit, Ausbeutung und der gesamten Unterdrückung zu brechen. Das setzt aber voraus, dass es stets eine Perspektive des Klassenkampfes gibt. Denn wir leben in einer Welt, in der sehr tiefe, an Klassen ausgerichtete Ungleichheiten und die ständige Ansammlung von Reichtum in den Händen Weniger und auf dem Rücken Vieler existieren. Eine klassenkämpferische Perspektive bedeutet hier, die Arbeiter:innen zu ermächtigen und auf grundlegendere Auseinandersetzungen vorzubereiten. 

Aber eines muss klar sein: Es gibt kein fertiges Rezept für Basisarbeit, sondern es gibt erstmal nur die Notwendigkeit als Ausgangspunkt. Wir müssen bereit sein, dort anzusetzen und einen permanenten politischen und ideologischen Kampf daraus zu entwickeln.

Kannst du etwas genauer ausführen, was für den Prozess der Teilhabe und Bewusstseinsbildung im Rahmen der Basisarbeit wichtig ist?

Am Anfang kommen Menschen aufgrund eines spezifischen Anliegens zur MST: Sie haben kein Land. Das Ziel ist aber, über die konkreten Kämpfe auch das Bewusstsein zu verändern und ein Verständnis dafür zu entwickeln, in welcher Realität wir leben und wie wir diese Realität in unserem Interesse verändern können. In Brasilien gibt es keine Kultur der politischen Teilhabe. Das gängige Verständnis ist, an Wahlen teilzunehmen – in Brasilien gibt es eine Wahlpflicht – und danach lebt man mit der repräsentativen Demokratie. Niemand fragt, ob es besser ist, eine Schule zu bauen oder eine Statue auf einem öffentlichen Platz. Diese Haltung stellen wir infrage. Wenn Menschen zu uns kommen, dann geht es darum, gemeinsam zu verstehen, dass es niemanden gibt, der unsere Probleme löst. Und auch, dass wir nicht von anderen abhängig sind, sondern dass sich nur etwas verändern wird, wenn wir selbst Hand anlegen. Wichtig dafür ist, dass sich Menschen als Teil dieses Prozesses fühlen, dass jede:r eine Aufgabe hat, dann sind sie bereit Verantwortung zu übernehmen.

Aber wir dürfen uns nichts vormachen. Wir laden Millionen von Menschen ein und natürlich bleiben nicht alle dabei. Wenn Menschen sehen, was wir erreicht haben, dann werden auch andere davon angezogen und verstehen, dass es wichtig ist, sich zu organisieren. Das ist zumindest unsere Erfahrung. Wenn wir am Anfang Menschen einladen, mit zu einer Besetzung zu gehen, dann kommen viele aus Angst vor Repression nicht mit. Es gibt bewaffnete Gruppen, die verhindern sollen, dass Land besetzt wird oder dass Menschen an solchen Besetzungen teilnehmen. Aber wenn sich die Gesellschaft solidarisch erklärt, wenn es Erfolge gibt, dann entsteht so ein gewisser Spirit. Dann merken Menschen, dass es voran geht, dass wir etwas bewirken können. Es geht nicht darum, etwas schön zu reden. Sondern die Hoffnung zu bewahren. Wie der Pädagoge Paulo Freire gesagt hat: Wir müssen hoffend weitermachen (esperançar = das ist eine Wortneuschöpfung aus hoffen, warten und machen). Die Bewegung muss diese Transformation ständig neu erschaffen.

Um nochmal zu verdeutlichen, was das bedeutet. Brasilien ist ein sehr christliches Land, bis heute. Es gibt viele Menschen, die die Ungleichheit in Brasilien damit begründen, dass es Gott so gewollt und die Menschen so erschaffen hat. Manche, die reich sind, manche, die arm sind und das ist eben so. Da müssen wir ansetzen, das bedeutet in Brasilien Basisarbeit zu machen. Solche Vorstellungen zu durchbrechen. Zu sagen: Nein, was sind die Prozesse, die dahinterstehen und warum haben manche Menschen viel und ganz viele fast nichts? Basisarbeit ist also eine pädagogische Reflexion, die einen kritischen Blick auf die Gesellschaft entwickelt. Wenn Menschen anfangen so etwas zu verstehen, dann fangen sie an, sich in die Bewegung zu verlieben. Dann entwickelt sich eine Leidenschaft für die Bewegung. Und es ist wichtig, dass die Menschen selbst Protagonist:innen in diesem Prozess sind.

Gibt es weitere Aspekte, die für das Konzept der Basisarbeit wichtig sind?

Essenziell für Basisarbeit ist, dass man die Realität der Menschen kennt, mit denen man zusammenarbeitet. Erst dann kann man verstehen, was die Menschen sagen und konkret mit ihnen arbeiten. D.h. die Aktivist:innen der MST, die in die Viertel gehen und Basisarbeit machen, müssen die Bedürfnisse und Realitäten der Menschen kennen. Sie müssen sowohl wissen, was in den Communities fehlt als auch was die Potentiale dort sind.

Ein weiterer Aspekt ist, dass Basisarbeit ein permanenter Prozess und mit dem Ziel verbunden ist, eine Massenbewegung entstehen zu lassen. Es ist gefährlich, sich zu isolieren. Wenn man Ungleichheiten aufbrechen will, darf man sich nicht isolieren. Denn wir haben mächtige Feinde, denen wir gegenübertreten. Die MST  ist im Süden von Brasilien entstanden, aber wir haben von Anfang an verstanden, dass wir keine lokale Bewegung bleiben dürfen, sondern eine landesweite Bewegung werden müssen. Weil es sonst für die Eliten sehr einfach gewesen wäre, uns zu zerstören und in kleinere Stücke aufzuteilen.

Wir haben viel über Organisierung und Politisierung gesprochen. Welche Rolle spielen soziale oder kulturelle Aktivitäten innerhalb der MST und wie tragen sie zur Politisierung bei?

Das ist eine sehr gute und wichtige Frage. Wir haben bei der MST dafür einen Begriff, wir nennen das „Mystik“ – aber es gibt ihn auch in anderen Bewegungen. Gemeinsame Feste, gemeinsame Rituale etc., das alles wird Mystik genannt. Denn Menschen sind keine Maschinen. Menschen haben Bedürfnisse, Gefühle. Die Mystik hat verschiedene Funktionen: Eine bestimmte Art der ländlichen Kultur und bestimmte Werte zu bewahren, die der Kapitalismus zerstört. Andere Werte infrage zu stellen, die Menschen mitbringen, wie Individualismus, Chauvinismus, Homophobie usw. Kulturelle Aktivitäten spiele hier eine wichtige Aufgabe. Gleichzeitig geht es bei der Mystik auch darum, zu zeigen, dass Kultur – also Theater, Musik etc. – kein Privileg der Oberschicht ist, sondern ein Teil von uns allen. Diese Mystik nährt unseren Kampf, aber es ist auch eine Art von Utopie, die wir darin feiern und ausüben. Mit den kulturellen Aktivitäten können wir die Utopien, die wir aufbauen wollen, schon ein Stück weit antizipieren. Denn es wird kein Wunder geben, nachdem wir plötzlich eine neue Gesellschaft haben, sondern wir müssen diese in einzelnen Schritten schon leben und neue Beziehungen zwischen uns entwickeln. Die Herausforderungen sind sehr groß und es wird nicht einfach sein, aber es ist möglich, es zu schaffen.

Wir würden gerne nochmal auf die aktuelle Situation zu sprechen kommen. Aktuell gibt es in Brasilien große Demonstrationen gegen den faschistischen Präsidenten Bolsonaro. Wie geht eine Organisation, die v.a. Basisarbeit macht, in so einer Situation mit solchen Protesten um?

Bedauerlicherweise sind wir in einer sehr traurigen Situation in Brasilien, auch einer sehr herausfordernden für alle Arbeiter:innen. Die Regierung ist letztendlich nichts anderes als eine Militärregierung; sie ist unglaublich korrupt, chauvinistisch, homophob usw. Es ist eine ultra-neoliberale Regierung, die alle öffentlichen Dienstleistungen, die es gab und selbst den Staat an sich zerstört. Hinzu kommen die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie. In Brasilien gab es schon über 500.000 Tote. Mit der Pandemie ist auch der Hunger zurückgekommen. Über 50 % der Bevölkerung erfahren irgendeine Art der Ernährungsunsicherheit, über 20 Millionen Menschen haben keine Garantie für drei Mahlzeiten am Tag. Wir sind seit über einem Jahr dabei uns mit anderen Organisationen zusammen zu tun und die Leute auf die Straße zu mobilisieren. Denn diese Regierung ist noch tödlicher als das Coronavirus. Unsere Forderungen sind u.a.: Impfmöglichkeiten für alle, Essen auf dem Tisch und ein Ende dieser Regierung. Um das noch deutlicher zu machen: Wir sind gerade in Brasilien an einem Punkt, in dem wir den Kampf um Land und die Besetzungen nicht weiterführen können, weil wir um Brasilien als Land kämpfen müssen. Wir reden darüber auch in unserer Basis. Landbesetzungen können gerade keine Priorität haben, weil wir dafür kämpfen müssen, dass zumindest die bürgerliche Demokratie zurückkommt. Das ist die Voraussetzung dafür, dass wir den Kampf um Land wieder aufnehmen können.

Aber wir machen auch aktuell weiter Basisarbeit, weil viele Menschen von den Folgen dieser Politik betroffen sind, Hunger haben, arbeitslos sind, kein Zugang zu Gesundheitsversorgung oder Bildung haben. In der Arbeit mit den Menschen in den dörflichen Gemeinden, der Peripherie, versuchen wir ein Bewusstsein dafür zu schaffen, woher die aktuellen Probleme kommen und wie sie entstanden sind. Und wir laden die Menschen dazu ein, sowohl gegen das Virus zu kämpfen als auch gegen die Regierung, um ein würdiges Leben führen zu können.

Du hattest vorhin gesagt, dass die politische Praxis nicht nur auf lokaler Ebene bleiben darf. Wie genau sieht die Zusammenarbeit des MST mit anderen Organisationen aus?

Die Zusammenarbeit mit anderen Organisationen und Bewegungen spielt eine wichtige Rolle für die MST. Voraussetzung für eine Zusammenarbeit ist, dass es ein Verständnis von Klassenkampf gibt. Wir führen unterschiedliche Kämpfe, wir arbeiten zu unterschiedlichen Themen, aber der Feind ist der gleiche. Es ist wichtig, die verschiedenen Segmente der Arbeiter:innenklasse zu organisieren, sei es in der Obdachlosenbewegung, den Gewerkschaften, den Bewegungen für ein Recht auf Wasser, gegen Staudämme, Vertreibung etc. Es geht darum, sich zusammen zu tun. Die MST hat anderen Bewegungen, wie z.B. der MAN (Movimento de Atingidos pela Mineração; Bewegung der von Bergbau Betroffenen) geholfen, ihre Basisarbeit zu entwickeln oder eine Organisationsstruktur aufzubauen und dafür auch Aktivist:innen freigestellt. Es geht um Solidarität innerhalb unserer Klasse. Wir haben auch zu Bewegungen in anderen Ländern Beziehungen, denn auch hier kämpfen wir gegen dieselben Feinde, wie z.B. multinationale Unternehmen. Wir müssen verstehen, dass es nicht darum geht, besser als andere zu sein, sondern dass wir zusammen besser sind, um dem Feind die Stirn zu bieten.

Ich möchte am Ende nochmal eines betonen: Es gibt kein Rezept und keine Formel, die man einfach kopieren kann. Wir müssen immer lernen. Auch die MST hat immer von anderen Bewegungen gelernt und von der Quelle der anderen getrunken. Aus der Geschichte und von anderen zu lernen, ist wirklich wesentlich. Nicht nur von den Kämpfen, sondern auch der Theorie. Ich möchte mit einem Motto der Via Campesina, einem Zusammenschluss von Kleinbäuer:innen, der auf unterschiedlichen Kontinenten aktiv ist, enden: Internationalisieren wir die Kämpfe und internationalisieren wir die Hoffnung. Und auch die Parole von Marx „Proletarierer aller Länder, vereinigt euch“ ist so aktuell wie lange nicht mehr.

#Bildquelle: Agencia Brasil

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Die Corona-Pandemie hat auch Gewinner. Biontech zum Beispiel, das Unternehmen, das einen der Impfstoffe gegen das Corona-Virus entwickelt hat. Die Eigentümer:innen sind so zu Milliardär:innen geworden. Neben der Formel für den Impfstoff greift Biontech für‘s Kohle scheffeln auf bekannte Rezepte zurück: Lobbyismus und untertarifliche Bezahlung.

Bekanntlich hat die Coronapandemie die Umverteilung von unten nach oben noch einmal erheblich beschleunigt. Superreiche wie Amazon-Gründer Jeff Bezos oder der Lidl-Eigentümer Dieter Schwarz haben heute ein paar Milliarden mehr auf dem Konto als vor der Seuche. Natürlich gehört auch die Pharmaindustrie zu den Branchen, die mächtig absahnen. Ganz vorn dabei die Firma Biontech SE aus Mainz. Für das 2008 gegründete und eigentlich in der Krebsforschung tätige Unternehmen war Corona der Jackpot. Uğur Şahin und Özlem Türeci, Gründer:innen und Inhaber:innen von Biontech, setzten bereits im Frühjahr 2020 – also kurz nach Ausbruch der Pandemie – auf die Entwicklung eines Impfstoffes gegen Covid-19 und hatte nicht nur pharmazetischen Erfolg. Über Nacht wurde das Paar traumhaft reich.

Die Firma präsentierte im Herbst 2020 einen Corona-Impfstoff, den es in Kooperation mit dem US-amerikanischen Pharmariesen Pfizer und dem chinesischen Pharmakonzern Fosun – unterstützt mit einigen Millionen aus der Staatskasse – entwickelt hatte. Dass es ein deutsches Unternehmen das erste war, das einen Impfstoff präsentieren konnte, führte zu Extase in der bürgerlichen Öffentlichkeit. „Es ist die deutsche Mondlandung“, harfte die Bild-Zeitung. Für den liberalen, nach Aufstiegsstorys lechzenden Teil der Öffentlichkeit kam noch hinzu, dass Şahin und Türeci türkischstämmig sind und der Vater von Şahin als „Gastarbeiter“ bei Ford am Band stand. Die Begeisterung kannte und kennt keine Grenzen. Im Frühjahr 2021 heftete Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) den Mediziner:innen das Bundesverdienstkreuz ans Revers.

Wichtiger als der Ruhm dürfte dem Paar aber wohl die finanzielle Entwicklung ihres Startups Biontech gewesen sein. Bereits im ersten Halbjahr machte Biontech rund 3,9 Milliarden Euro Gewinn – Gewinn, nicht Umsatz wohlgemerkt. Im Januar 2022 verkündete Şahin, das Unternehmen habe mit dem Impfstoff im Vorjahr einen Umsatz von 16 bis 17 Milliarden gemacht, für das laufende Jahr gehe er von einem ähnlichen Volumen aus. Das Vermögen von Şahin und Türeci erhöhte sich im Handumdrehen auf knapp zwölf Milliarden Euro, wie Medien berichteten. Damit gehören die beiden, gemessen am Forbes-Ranking für 2021, zu den zehn reichsten Menschen in Deutschland.

Dieser Reichtum kommt nicht von ungefähr. Im kapitalistischen Hauen und Stechen ist auch die lebensnotwenige Versorgung mit Medikamenten nur eine Ware, die es gilt möglichst profitabel unter die Leute zu bringen. Und damit die Profite sicher bleiben, wird entsprechend lobbyiert. Vizekanzler Robert Habeck etwa, machte in Bezug auf die Freigabe von Patenten, die Biontech und anderen Pharmakonzerne die Milliarden sichern, eine 180 Grad-Wende. In der Opposition hatte er noch die Freigabe der Impfstoffpatente gefordert, in Regierungsverantwortung, nachdem er mit „Unternehmen noch mal intensiv gesprochen“ habe, diese Position komplett aufgegeben. Das einzige Unternehmen mit dem er gesprochen hatte: Biontech.

Biontech ging in seinem Lobbyismus aber noch einen Schritt weiter. Um der gobal betrachtet krassen Unterversorgung armer Staaten mit Impfstoffen Herr zu werden, hatte die Weltgesundheitsorganisation WHO in Südafrika ein Konsortium damit beauftragt, einen eigenen Impfstoff herzustellen. Nach Recherchen des British Medicinal Journal versuchte Biontech über die vom Unternehmen finanzierte Stiftung Kenup, diese Initiative zu verhindern, unter Verweis auf das Patentrecht. Stattdessen solle in Ruanda und im Senegal in Containern von Biontech hergestellt werden. Profite für die Mainzer natürlich inklusive.

Und während nach außen die Absatzmärkte gesichert werden, werden nach innen die Beschäftigten gekonnt ausgepresst. Bereits in der Debatte um einen möglichen Staatseinstieg bei Biontech im Februar 2021 hatte die auch für die Pharmaindustrie zuständige Gewerkschaft IG BCE (Bergbau, Chemie, Energie) gemahnt, die Politik müsse Biontech daran erinnern, „dass die Sozialpartnerschaft auch für Start-ups gilt“. Biontech warb damals um weitere Staatsgelder, um die Impfstoff-Produktionskapazitäten rasch auszubauen. Man befürworte diese Förderung, erklärte aus diesem Anlass Roland Strasser, Landesbezirksleiter der IG BCE, plädiere aber zugleich dafür, dass sich auch Biontech zur etablierten Sozialpartnerschaft bekennen. Stattdessen aber würden Gesprächsangebote abgeblockt.

Dass sich bis heute – also nach einem Jahr – an der Misere offenbar nicht wirklich etwas geändert hat, zeigte ein Beitrag, der jüngst in der Tageszeitung junge Welt erschien. Dort hieß es, die IG BCE bemühe sich weiterhin um Zugang zur Biontech-Belegschaft. Gefordert würden Mitbestimmung, Tarifverträge und transparente Gehaltsstrukturen. Biontech habe sich für einen in der Startup-Szene üblichen Weg entschieden: Durch die EU-Rechtsform der SE würden nationalstaatlich verankerte Arbeitsrechte ausgehebelt. Betriebsräte und Tarifverträge versuche man zu verhindern, die Vergütungsstrukturen würden verschleiert. Laut Angaben der Gewerkschaft klagten viele Beschäftigte des Konzerns zudem über eine „Arbeitsbelastung am Anschlag“ und eine „mangelnde Führungskultur“.

Die Forderung der Gewerkschaft: Um die Situation zu verbessern, müsse Biontech als Gegenleistung für die Millionen vom Staat endlich akzeptieren, dass „Sozialpartnerschaft und Tarifverträge im gesamten Unternehmen Standard werden“. Die Kritik bezieht sich vor allem auf die rheinland-pfälzischen Standorte Mainz und Idar-Oberstein. Denn im zur Erweiterung der Produktionskapazitäten zugekauften Werk im hessischen Marburg gelten alle Mitbestimmungsrechte und der Flächentarifvertrag der Chemieindustrie. Biontech hatte die Anlage im Herbst 2020 von der schweizerischen Novartis AG übernommen – einschließlich der bestehenden Arbeits- und Tarifverträge. Allerdings gibt es auch in Marburg für die rund 100 nach der Übernahme eingestellten Mitarbeiter nur befristete Verträge.

Die IG BCE will, wie junge Welt berichtete, Tarifverträge für alle Beschäftigten an allen Standorten erreichen. Denn vor allem dort, wo diese fehlten, seien die Bedingungen miserabel. Die Gewerkschaft verweist immer wieder darauf, dass Mitbestimmungsrechte und Tarifverträge in der Pharmaindustrie durchaus üblich sind. Kooperationspartner von Biontech wie Pfizer, Sanofi und Bayer seien „alle tarifgebunden und schätzen die Sozialpartnerschaft zur IG BCE“. Es wird sich noch zeigen, ob die Goldgrube Biontech auch ihre Mitarbeiter flächendeckend am Erfolg des Unternehmens zu beteiligen gewillt ist. Sicher ist aber, dass Biontech den Eigentümer:innen weitere Milliarden in die Taschen spülen wird. Dafür wird auf allen Ebenen gesorgt.

# Titelbild: Neben Milliarden gibt’s auch eine Ehrendoktorwürde. Empfang für Özlem Türeci und Uğur Şahin, im Rathaus Köln und Verleihung der Ehrendoktorwürde der Medizinischen Fakultät der Universität zu Köln. © Raimond Spekking / CC BY-SA 4.0 (via Wikimedia Commons)

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