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Am 12.05 verbat die Berliner Polizei zahlreiche palästinensische oder palästinasolidarische Veranstaltungen, die den jährlichen Nakbatag (15.05.) begehen oder an die Ermordung der palästinensischen Journalistin Shireen Abu Akleh (11.05.22) durch die israelische Armee erinnern wollten. Das OVG Berlin bestätigte diese Entscheidung am 13.05. Unmittelbar nach dem Bekanntwerden der Demoverbote hat sich ein Bündnis gegründet. Unser Autor Mohannad Lamees hat mit Aktivist:innen aus dem Bündnis über ihre Arbeit gesprochen.

Was bedeuten diese Demoverbote aus Eurer Sicht? Wie bewertet Ihr diese Entwicklung?

Wir begreifen die Verbote als Angriffe auf das palästinensische Leben in Deutschland, auf den palästinensischen Widerstand und auf das palästinensische Gedenken. Die Verbote stehen in einer langen Tradition von Repression gegen pro-palästinensische Bewegungen in Deutschland und sind, auch wenn sie sicherlich eine neue Stufe des schamlosen Gebarens der BRD darstellen, an sich nichts neues. Bereits vor einigen Wochen hatten die Berliner Behörden palästinensische Demos pauschal und präventiv verboten. Letztes Jahr gab es massive Polizeigewalt gegen palästinensische und palästinasolidarische Demonstrierende. Trotzdem wächst die Unterstützung für die palästinensischen Bewegungen in der Bevölkerung. Und nicht nur das, die Unterstützung wächst ganz konkret für junge revolutionäre pro-palästinensische Bewegungen, die die Rolle des deutschen Staates als Mittäter begreifen. Es ist deswegen nicht überraschend, dass die Behörden mit solcher Härte gegen die Demos vorgehen und verhindern wollen, dass sich die Solidarität mit Palästina auf den Straßen Bahn bricht. Ganz nüchtern müssen wir feststellen: Der deutsche imperialistische Staat reagiert auf die palästinensische Bewegung so, wie auf alle anderen revolutionären Bewegungen auch – also mit offener Gewalt.

Ihr habt unmittelbar nach dem Bekanntwerden der Demoverbote ein Bündnis gegründet. Warum?

Die Antwort ist recht einfach: Wir haben aus unseren Fehlern gelernt. Nach den Angriffen letztes Jahr auf die Nakba-Demos in Berlin haben wir organisierte Gruppen es weder geschafft, die Repressionen ausreichend zu thematisieren noch die direkt Betroffenen in irgendeiner Weise zu begleiten oder zu unterstützen. Auch bei dem Demoverbot Ende April gab es zwar kämpferische Statements – eine Reaktion auf der Straße konnten wir aber nicht zeigen. Dieses Mal konnten wir diese Fehler korrigieren, indem sich sofort nach Bekanntwerden der Verbote einige palästinensische und palästinasolidarischen Gruppen getroffen haben und ein gemeinsames Ziel festgelegt haben. Dieses Ziel war, organisiert und geschlossen eine Reaktion gegen die Repression auf die Straßen Berlins zu tragen. In der kurzen verbliebenen Zeit – das Bündnis hatte nur 4 Tage, um sich zu formieren und zu organisieren – konnten wir durch die gebündelten Kräfte trotzdem einiges an Energie freisetzen.

Was ist dann am Nakbatag in Berlin passiert? Wie bewertet ihr die Ereignisse?

Wir haben die Ereignisse in Berlin im Bündnis als Erfolg ausgewertet. Es ist gelungen, den Verboten zu trotzen und ganz eindeutig ein Zeichen von den Straßen Neuköllns in die ganze Welt zu senden, nämlich dass die Verbote nicht hingenommen werden, dass die Angriffe den palästinensischen Widerstand nicht aufhalten können, dass die gemeinsamen Rufe revolutionärer Gruppen für die Freiheit des palästinensischen Volkes nicht verstummen.

Es gab an dem Tag eine Demonstration durch den Berliner Stadtteil Neukölln gegen Umweltzerstörung im Globalen Süden. Dort wurde nicht nur Klimagerechtigkeit und das Ende der imperialistischen Ambitionen des deutschen Staates auf der ganzen Welt gefordert, sondern natürlich wurden immer wieder lautstark und gemeinsam Rufe für die Freiheit des palästinensischen Volkes angestimmt. Auf der Sonnenallee, also auf der Straße, die immer wieder im Visier rassistischer staatlicher Repression steht, wurde die Demonstration dann von aggressiven Polizeitrupps ausgebremst, in eine Seitenstraße gelenkt und dort zum Stehen gebracht. Zahlreiche Anwohner:innen und Passant:innen zeigten sich spontan solidarisch mit der Demonstration und stimmten in die Rufe ein. Die Polizei drang schließlich gewaltsam in die Demonstration ein und nahm einige Personen fest. Von ausnahmslos allen Demonstrierenden wurden die Personalien festgestellt, es wurden Bußgelder und Gewahrsam angedroht sowie weiträumige Platzverweise ausgesprochen.

Nur wenige Hundert Meter entfernt kam es dann fast zeitgleich bei einem pro-palästinensischen Flashmob ebenfalls zu massiver Repression.

Das Vorgehen der Bullen war dabei brutal. Teilweise wurden willkürlich am Straßenrand stehende Personen festgenommen, nur weil sie arabisch aussahen oder Dinge trugen, die als pro-palästinensisch identifiziert wurden. Es wurde mehr als deutlich, dass die Polizei racial profiling, Einschüchterung und Gewalt bereitwillig eingesetzt hat, um ihre Ordnung durchzusetzen.

Überall auf den Straßen Neuköllns zeigten die Menschen deutlich, auf welcher Seite sie stehen, überall gab es Solidarität und Freude über die Aktionen für Palästina. Den ganzen Tag wurde auf der Sonnenallee darüber gesprochen, wie es gelungen war, eine pro-palästinensische Demo abzuhalten, obwohl die Bullen pausenlos im Vorfeld mit Wannen Streife fuhren und die Kreuzungen belagert hatten. Für uns steht deshalb fest: Der Nakbatag war ein Kampftag gegen die Repression und gegen die ganze Mittäterschaft des deutschen Staates in der Unterdrückung der Palästinenser:innen.

Die brutale Repression gegen Palästinenser:innen und Palästinasolidarische in Deutschland hat Tradition. Man denke an die Abschiebungswellen gegen dutzende Palästinenser:innen in Folge des Verbots der Generalunion Palästinensischer Studenten (GUPS) und Generalunion Palästinensischer Arbeiter (GUPA) 1972/73. Bei der Deutschen Welle gab es Anfang 2022 eine Säuberung, bei der mehrere Mitarbeiter:innen ihren Job nach inquisitionsartigen Befragungen zum Thema Israel-Palästina verloren. Letztes Jahr haben in ganz Deutschland, auch in Berlin, Demonstrationen und Kundgebungen zum Nakbatag stattgefunden, die Polizei ist hart in die Veranstaltungen reingegangen. Dieses Jahr wurden alle Veranstaltungen in Berlin verboten; wer eine Kufyie anhatte oder “Free Palestine” rief, wurde verhaftet. Wieso sind Palästinenser:innen und Palästinasolidarische so gefährlich für den deutschen Herrschaftsapparat?

Hier müssen wir ein wenig ausholen. Zuallererst lässt sich feststellen, dass die Bundesrepublik quasi seit ihrer Gründung nach dem Zweiten Weltkrieg in einem besonderen Verhältnis zum zionistischen Staat Israel steht. Das auch heute allgegenwärtige moralische Argument, wonach die BRD die deutsche Schuld über die industrielle Vernichtung der jüdischen europäischen Bevölkerung schultert und deswegen fest an der Seite des zionistischen Staates Israels stehen müsse, hat seinen Ursprung in den 1950er Jahren. Der im September 1952 zwischen der BRD und Israel unterzeichnete Vertrag über Reparationszahlungen an den Staat Israel wurde damals von der deutschen Regierung, allen voran Konrad Adenauer, als moralische Pflicht inszeniert. Wir wissen aber, dass diese Moral nur vorgeschoben war, und der Vertrag viel eher zustande kam, weil sich den imperialistischen Interessen der Westmächte, vor allem der USA, gebeugt wurde. Durch den Vertrag mit den Zionist:innen wurde außerdem die Tür für Verhandlungen mit den Westmächten über wirtschaftliche Vorteile für die junge BRD aufgemacht. Ganz nebenbei erfüllte dieses moralische Argument auch die Funktion, von der Nazi-Vergangenheit zahlreicher BRD-Staatsapparate und BRD-Staatsmänner abzulenken. 

Warum ist das so wichtig? Zum einen verhalf die BRD mit diesem Vertrag und den vereinbarten Zahlungen, sowie den sich in den 60er Jahren anschließenden und bis heute laufenden militärischen Unterstützungen, dem damals wirtschaftlich schwachen Israel zu großer Stärke. Westdeutschland ermöglichte so unter anderem die israelische Kriegsführung in den 50er und 60ern gegen die Palästinenser:innen und gegen die arabischen Nachbarstaaten. Zum anderen war die Unterstützung Israels damals  – und ist es auch noch heute  – das goldenene Ticket für den wiedererstarkten deutschen Imperialismus. Wenn wir also danach fragen, wieso seit den 60er Jahren so vehement gegen Palästinenser:innen in Deutschland vorgegangen wird, dann muss die Antwort lauten: Weil der deutsche Imperialismus die bedingungslose Solidarität mit dem Zionismus nicht nur mit Verträgen mit und Waffenlieferungen an Israel zur Schau stellt, sondern eben auch durch hartes Durchgreifen im eigenen Land.

Dass diese Politik nichts Moralisches an sich hat, verstehen mittlerweile immer mehr Menschen in Deutschland. Es ist absurd, dass Bundespräsident Steinmeier letztes Jahr im Juli, nur einige Wochen nach den massiven israelischen Angriffen auf die palästinensische Zivilbevölkerung, einen Staatsbesuch in Israel machte und dem Rassisten Naftali Bennet die Hand schüttelte. Absurd ist auch, mit welcher Wucht der deutsche Staat und die bürgerliche Öffentlichkeit gegen jedwede Solidarität mit dem palästinensischen Volk vorgehen – es hagelt Verbote, Entlassungen, Strafen und Abschiebungen. Deutschland ist mittlerweile das reaktionäre Zentrum des Anti-Antisemitismus, mit dem jedweder Antizionismus, eigentlich sogar jeder Anti-Imperialismus, pauschal als antisemitisch bezeichnet und verfolgt wird. 

Zwar wird das noch immer mit der deutschen Schuld und der angeblich vorbildhaften Aufarbeitung der Nazi-Herrschaft begründet. Den eigentlichen Grund dafür können wir aber nur verstehen, wenn wir erkennen, dass der deutsche Imperialismus, gerade in einer Zeit der Krise und Schwäche, sich mit aller Macht gegen laut werdenden Widerstand und Protest zur Wehr setzt. Die Palästina-Frage offenbart wie kaum ein anderes Thema, mit Ausnahme vielleicht der Kurdistan-Frage, den imperialistischen Charakter dieses deutschen Staates. Und dieser Staat bekämpft die pro-palästinensische Bewegung genau deshalb, weil die Angst groß ist, dass aus der Palästina-Bewegung eine breitere anti-imperialistische Bewegung wachsen kann, die den deutschen Imperialismus selbst ins Visier nimmt.

Nach der Repression am Tag der andauernden Nakba forderte die CDU, Palästinenser:innen und solche, die sich mit ihnen solidarisieren, im Vorfeld von Demos in Gewahrsam zu nehmen. Was würde das bedeuten?

Eine Sache ist uns wichtig, bevor wir genauer auf die Frage eingehen: Die Repressionen am Tag der Nakba und im Vorfeld haben uns in Berlin nicht die CDU oder andere als “rechts” geltende Parteien eingebrockt, sondern die Rot-Grün-Rote Koalition. Die Repression gegen pro-palästinensische Gruppen, aber auch gegen viele andere revolutionäre Organisationen ist keine Sache, die von einzelnen Parteipolitiken abhängig ist – gerade, weil sie aus dem deutschen Imperialismus an sich erwächst, der von allen bürgerlichen Parteien mitgetragen wird. Dass die Berliner CDU nun noch einen draufsetzt, sollten wir erstmal als Oppositionspolitik verstehen – ähnlich hatte beispielsweise auch letztes Jahr nach den Nakbatag-Demos auf Bundesebene die Linkspartei reagiert, als Dietmar Bartsch Horst Seehofer aufforderte, noch härter gegen Antisemitismus auf deutschen Straßen vorzugehen.

Trotzdem zeigen die aktuellen Forderungen, dass sich der deutsche Staat immer weiter die Maske vom Gesicht zieht und seinen wahren, repressiven Charakter zeigt. Dass bereits heute als “antisemitisch” kategorisierte Geflüchtete abgeschoben werden können und Hunderttausende de facto so eingeschüchtert werden, um sie von politischer Aktivität abzuhalten, ist bekannt. Wenn nun auch mehr und mehr Befugnisse im Vorfeld von eigentlichen Straftaten erteilt werden könnten, so ist das eine Entwicklung, die uns zeigt, dass der imperialistische Staat die Zügel anzieht – und wir noch lange nicht am Ende der Repression sind. Darauf sollten wir aber nicht mit Empörung

reagieren oder überrascht sein – als revolutionäre Kräfte müssen wir darauf gefasst sein und Wege finden, diesem Staat trotzdem Paroli zu bieten.

Ihr hab Euch wegen der staatlichen Repression am Nakbatag verbündet. Mit der Roten Hilfe gibt es bereits eine breite Solidaritätsstruktur gegen staatliche Repression, warum habt Ihr ein eigene Organisierung für notwendig erachtet?

Unser Bündnis versteht sich nicht als Alternativangebot zur Roten Hilfe. Ganz im Gegenteil. Genoss:innen von der Roten Hilfe waren und sind während der Bündnisarbeit extrem wichtig für uns gewesen, indem sie uns beraten haben und mit uns zusammen geplant haben, wie wir eine Reaktion auf der Straße zeigen können. Die Rote Hilfe wird auch direkt Betroffene der Repressionen gegen die Nakbatag-Aktionen unterstützen. Das ist ein wichtiger Schritt für uns alle. Wir können so deutlich zeigen: Die palästinensische Sache muss Sache der Linken sein!

Wird das Bündnis über die Repression im Zusammenhang mit dem Nakbatag 2022 heraus bestehen bleiben? Was sind Eure Ziele?

Ja, das Bündnis bleibt bestehen und soll demnächst auch einen Namen bekommen. Momentan arbeiten wir daran, die weitere politische Arbeit auszugestalten. Unser Ziel ist,die gemeinsame Arbeit revolutionärer Kräfte gegen die staatlichen Repressionen weiter voranzutreiben. Bereits vor dem Wochenende des Nakbatags hatten wir im Bündnis festgehalten, dass es nicht nur um die Demos an diesem Tag und auch nicht nur um die Palästina-Frage geht. Der Staat führt einen Kampf gegen alle revolutionären Bewegungen. Allein im Mai 2022 hat sich bei den Repressionen gegen die revolutionäre Abenddemo am Arbeiter:innenkampftag, am Tag der Befreiung vom Faschismus durch die Rote Armee und bei den Angriffen auf kurdische und türkische Genoss:innen gezeigt, dass wir alle gleichermaßen angegriffen werden. Das Bündnis hat sich zum Ziel gesetzt, die Verbindungen dieser Repressionen zu betonen und gemeinsam Antworten darauf zu geben.

Darüber hinaus wollen wir als Bündnis fest an der Seite derjenigen stehen, die von den Repressionen am Nakbatag unmittelbar betroffen sind. Dazu haben wir bereits in den ersten Tagen nach den Ereignissen ein Offenes Treffen veranstaltet, damit sich niemand mit den Repressionen und Angriffen alleine gelassen fühlen muss. Wir planen, die Rechtsfälle zu begleiten und Unterstützung zu leisten – in Form von Austausch, Beratung, und wenn wir es stemmen können, auch finanzieller Hilfe. Am wichtigsten ist für uns aber die politische, die revolutionäre Antwort auf die Repressionen – wir wollen weiterhin zeigen, dass gemeinsame Organisierung der Weg ist, um trotz Verboten und Anklagen die Straßen freizukämpfen.

Wie kann diese revolutionäre Antwort genau aussehen? Was bedeutet es, “revolutionär“ zu sein in Bezug auf staatliche Repression?

Auch wenn wir jetzt viel über die Demoverbote gesprochen haben: Repression, das ist nicht nur Demoverbot, Platzverweis und Polizeiknüppel. Dieser Staat dient der herrschenden kapitalistischen Klasse und wird mit allen erdenklichen Mitteln immer wieder gegen diejenigen vorgehen, die gegen diese Vorherrschaft kämpfen. Nicht nur auf Demos, sondern jeden Tag im Beruf, in der Schule, auf Ämtern, ideologisch, organisatorisch, politisch – alles was dieser Staat tut, um das Ausbeutungsverhältnis aufrecht zu erhalten, ist Repression. Wenn wir das verstehen, dann wissen wir auch, was die revolutionäre Antwort auf Repression ist. Nämlich nicht der Appell an mehr Menschlichkeit und Zugeständnisse, sondern der konsequente Kampf gegen das kapitalistische System und für den Sozialismus.

Dazu kommt: Dieses kapitalistische System, in dem wir alle leben, erzieht uns zur Passivität und zum Einzelgängertum. Viel zu oft nehmen wir Beschränkungen und Verbote einfach hin. Dass es am Nakbatag geklappt hat, sich trotz eines von den Behörden ausgesprochenen Verbotes und in vollem Bewusstsein über den Aufmarsch von Tausenden Bullen in Berlin-Neukölln trotzdem gemeinsam diesem zu widersetzen, das ist ein wichtiger Schritt, um aus dieser Passivität und Hörigkeit rauszukommen. Deswegen haben wir auch vor und nach den Aktionen Statements und Aufrufe in ganz Berlin verteilt, um allen deutlich zu machen: Wir werden die Verbote nicht hinnehmen! Und wir widersetzen uns, weil wir in die Stärke unserer gemeinsamen Organisierung vertrauen können. Das ist in unserer momentanen Lage das allerwichtigste und das müssen wir immer wieder betonen, dafür müssen wir ein breites Bewusstsein schaffen: Wenn wir uns zusammentun, sind wir stark. Der Erfolg am Nakbatag war ein Beispiel dafür. Wir müssen nun noch viel mehr solcher Beispiele schaffen!

#Titelbild: Bündnisarchiv

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Heute, am 06.08.19, wurde eine Wohngemeinschaft in Dubliner Straße 8 in Berlin-Wedding zwangsgeräumt – allerdings nicht ohne Widerstand. Die WG kämpft seit vier Jahren zusammen mit linksradikalen Stadtteilgruppen für ihre Wohnung. Was hat es gebracht und welche Konsequenzen können gezogen werden?

Mobilisiert hat die WG auf jeden Fall, auch zur heutigen Zwangsräumung. Schon Tage zuvor waren im Wedding überall Plakate zu sehen. „Zwangsräumung stoppen“ als Aufruf, am 06. August um 6 Uhr morgens zur Dubliner Straße 8 zu kommen und die Räumung zu verhindern. Auch online wurde auf allen Kanälen mobilisiert, die man sich vorstellen kann: Homepages verschiedener Gruppen, auf de.indymedia.org, Facebook und Twitter. Aber auch kiezübergreifend ist die Dubliner 8 bekannt. So mobilisierte zum Beispiel auch die geräumte Friedel54 . „Man darf nicht vergessen: die meisten halten solche Prozesse nicht ewig durch und ziehen lieber aus, als sich den ewigen Stress mit den Eigentümern zu geben. Die WG in der Dubliner aber kämpft entschlossen und antikapitalistisch seit vier Jahren. Das finden viele toll und deswegen unterstützen auch so viele.“, so Alex vom Bündnis Zwangsräumung verhindern.

Stress haben die Bewohner*innen der seit 2010 bestehenden WG schon lange: 2012 wurde das Haus an die italienische Briefkastenfirma „Großvenediger GmbH“ verkauft, darunter ist seit 2014 die Martina-Schaale-Hausverwaltung zuständig. Seitdem musste sich die WG immer wieder mit falschen Betriebskostenabrechnungen, absurden Vorwürfen und mehreren fehlerhaften Kündigungen herumschlagen. „Zunächst kämpften wir gegen die Eigentümerfirma und die Hausverwaltung. Allein das war schon anstrengend.“ so Flo, einer der Bewohner der Dubliner 8.

Der Rechtsanwalt der Briefkastenfirma Hans Georg Helwig hatte schon in der Vergangenheit immer wieder gezeigt, was er damit meint, wenn er auf seiner Homepage mit “kreativen rechtlichen Lösungen” wirbt. So verklagte er die WG zum Beispiel wegen einer vermeintlich unzulässigen Mietminderung. Diese erfolgte, weil ein Wasserschaden nicht behoben wurde. Vor Gericht meinte Helwig anschließend, dass die Mietminderung zwar zulässig war, sie aber in den darauffolgenden Wochen nicht dem Abtrocknungsgrad des Wasserschadens angepasst worden sei. Die WG wurde daraufhin zu einer Räumung zum 25.04.18 verurteilt, das Urteil wurde aber wegen schwerer Rechtsfehler in der Berufung aufgehoben und die Räumung kurzerhand wieder abgesagt. Helwig blieb weiterhin kreativ.

So behauptete er nun, dass die WG gar keine WG sei, sondern eine “Personenmehrzahl”. Während man in einer WG die Mieter*innen selbstständig wechseln kann, bedeutet ein Wechsel bei einer Nicht-WG eine “unerlaubte Überlassung der Wohnung an Dritte” – und ist dadurch ein Kündigungsgrund. Richter Reifenrath bestätigte den gegnerischen Anwalt darin, dass die vier jungen Menschen in der Wohnung keine WG seien. Reifenraths Begründung: bei zwei Frauen und zwei Männern in einer Wohnung handle es sich ganz klar um Paarbeziehungen. Diese konservative Vorstellung von Beziehungen führte schließlich zum Räumungstitel. Den Stress mit Eigentümer, Hausverwaltung und Justiz macht die WG seit vier Jahren öffentlich und bettet sie durch die Zusammenarbeit mit dem Bündnis „Zwangsräumung verhindern“ und der linksradikalen Stadtteilinitiative „Hände weg vom Wedding“ in antikapitalistische Stadtteilkämpfe ein.

„Eigentlich war alles dabei, was man sich vorstellen kann. Menschen haben im Kiez plakatiert und geflyert, ständig auf unsere Situation aufmerksam gemacht. Wir haben an vielen Demonstrationen und öffentlichen Veranstaltung teilgenommen, zum Beispiel auch beim dem Lauf ‚Run for Rebels‘. Dieser wurde von der Radikalen Linken Berlin (RLB) organisiert und ging an vielen bedrohten Projekten und Wohnungen vorbei. Wir waren mit einem Stand vertreten. Insgesamt haben wir viel Zuspruch, vor allem von der Nachbarschaft, bekommen.“, so Flo. Eine besondere Aktionsform: die Online-Soap „Verdrängt in Berlin“. Sie dokumentiert all die Einzelheiten rund um die WG, die Vermietung und Hausverwaltung und deren Zusammenarbeit mit dem staatlichem Repressionsapparat. Denn diesen bekommt die WG, seit sie ihren Stress mit dem Eigentümer und der Hausverwaltung zusammen mit antikapitalistischen Gruppen öffentlich macht, auch deutlich zu spüren. „Am 30.04.19 gab es zum Beispiel im Rahmen der Organize Demo eine Kundgebung vor unserem Haus. Das ganze Haus war von einer Polizeikette umstellt.“ Aber nicht nur bei Demonstrationen, wo die Präsenz von Polizist*innen schon Normalität geworden ist, war die WG mit ihnen konfrontiert.

Als die angedrohte Räumung zum 25.04.2018 zwei Tage vorher abgesagt wurde, veranstaltete die WG in Freude darüber vor ihrem Haus ein gemeinsames „Käffchen statt Räumkommando“. Nicht eingeladen, trotzdem vor Ort: uniformierte Bullen, welche die Aktivist*innen und solidarischen Nachbar*innen stundenlang beim Kaffeetrinken beobachten. Im Innenhof des Hauses waren die Beamt*innen auch schon mal, „wahrscheinlich, um sich für die Zwangsräumung vorher die Lage anzuschauen“. Flo sieht sich seit der intensiven Stadtteilarbeit auch mit vielen Anzeigen konfrontiert. Die Vorwürfe: „eine Anzeige wegen angeblicher Verleumdung durch Verbreitung eines Plakats, eine weitere wegen geklebten DIN-A4-Zetteln an Haustüren. Das Klebeband soll wohl Rückstände an den Türen hinterlassen haben, woraus eine Sachbeschädigung konstruiert wurde. Die meiner Meinung nach lächerlichste Anzeige war wegen Hausfriedensbruch. Die Hausverwaltung hatte uns wegen Betriebskosten betrogen, weswegen wir direkt zu ihnen gingen. Sie ließen uns rein, aber als ich nach den Betriebskostenbelegen fragte, rief sie die Polizei und erstattete Anzeige. Die wurde auch angenommen.“

Die WG ist der Hausverwaltung und den Repressionsbehörden offensichtlich ein Dorn im Auge, weshalb, lassen sie auch durchsickern: im Zuge der Anzeige wegen Sachbeschädigung bekam Flo im Dezember 2017 von der Polizei eine schriftliche Befragung zugesandt. In dieser wird er nach seiner Beziehung zur linksradikalen Gruppe „Hände Weg vom Wedding“ gefragt.

Eindeutig: wenn linksradikale Gruppen eng mit der Nachbarschaft, wie in dem Fall der WG der Dubliner 8 zusammen arbeiten und von dieser auch viel Zuspruch erfahren, stellt das eine Bedrohung für den Staatsapparat dar. Anders ist die Aufdringlichkeit der Bullen nicht zu erklären. „Umso mehr wir mobilisieren und mit antikapitalistischen Perspektiven in die Nachbarschaft reingehen, desto mehr betreibt natürlich auch die Gegenseite, um uns im Keim zu ersticken“, so Alex von dem Bündnis „Zwangsräumung verhindern“.

Heute ist der Tag, an dem diese Mobilisierung und intensive Arbeit von vier Jahren um 6 Uhr zusammentrifft in Form von über 100 Menschen, die sich gegen die Zwangsräumung wehren wollen. Die Gerichtsvollzieherin hat sich um 7 Uhr angekündigt. „Unsere Erfahrung ist aber, dass es besser ist, früher da zu sein. Sonst machen die Bullen vielleicht alles um sieben dicht, dann kommt man nicht mehr zum Haus und kann nicht blockieren“, so Alex. Es gibt eine angemeldete Kundgebung direkt am Eingang der Dubliner Straße 8 mit bis zu 30 Demonstrant*innen, zwei Sitzblockaden vor Eingängen in der Glasgowerstraße, jeweils mit etwa 20-30 Blockierenden. „Wir sitzen hier, weil wir denken, dass die Bullen und die Gerichtsvollzieherin über die Eingänge zur Wohnung wollen.“, so eine Aktivistin in den Blockaden.

Vor Ort sind anfänglich nur wenige Polizist*innen, sowie allerdings die Zahl Demonstrant*innen steigt, kommen auch immer mehr Einsatzfahrzeuge und Wannen dazu. Zwischenzeitlich sind sieben Einsatzfahrzeuge und fünf Wannen vor Ort. „Fast eins zu eins Betreuung hier“, kommentiert ein Aktivist. Von Anfang an mit dabei: Zivilkräfte vom Staatsschutz, der PMS („Politisch Motivierte Straßengewalt“), welche das Geschehen beobachten . Die PMS-Einheit umfasst etwa 60 Polizeibeamt*innen zur Überwachung, Verfolgung und Einschüchterung politischer Aktivist*innen. Wer bei einer Demo von ihnen ins Visier genommen wird, kann später in der Datei „Straftäter-Links“ auftauchen. Angesicht der sehr freidlichen Proteste vor der Dubliner Str. 8 völlig absurd. Zwar dröhnt es durch die Lautsprecherboxen laut und kämpferisch, von einer Gewaltbereitschaft kann aber weder bei der angemeldeten Kundgebung noch bei den Sitzblockaden ausgegangen werden.
Unter den Demonstrierenden sind linke Aktivist*innen, sowie Nachbar*innen– der Protest ist vielfältig. Sie sind laut und wütend, mit vielen Parolen, Transparenten und Schildern gekommen und machen mit Pfannen und Kochlöffeln Lärm. „Nicht wir sind kriminell, sondern das System, was solche Schweinereien wie heute hier zulässt!“ dröhnt es vom Lautsprecher.

Es zeigt sich wieder einmal, dass es nicht einmal konfrontative Aktionsformen braucht, um die Staatsgewalt im Nacken zu haben. So wird auch die gewaltfreie Sitzblockade um 6:35 Uhr von den Bullen angegriffen. Allerdings ziehen diese auch schnell wieder ab, nachdem die Blockierenden lautstark demonstrieren. „Insgesamt wirken die Bullen heute ganz schön verwirrt. Vielleicht können die hier im Wedding nicht mit so etwas umgehen? Auch ist ihre Präsenz im Vergleich zu einer Zwangsräumung in Kreuzberg nicht so stark“, so Alex.

Allzu verwirrt scheinen sie dann aber doch nicht zu sein. So wie sich Flo damals schon dachte, dass die Polizei den Innenhof der Dublinerstr. 8 ausspäht, um sich über mögliche Wege zur Wohnung zu erkunden, bestätigt sich diese Vermutung heute. Gegen 7:20 Uhr, also kurz nach Ankündigung der Gerichtsvollzieherin, verschafft sich diese mitsamt Polizeiunterstützung einen völlig anderen Zugang zum Haus als die Blockierten. „Alle Innenhöfe zwischen der Dubliner und der Parallelstraße sind miteinander verbunden, beziehungsweise nur abgetrennt durch Zäune“, erklärt ein Aktivist vor Ort. So wird ein Maschendrahtzaun von den Bullen zerstört, die Gerichtsvollzieherin nutzt einen Eingang der Parallelstraße und räumt zusammen mit der Polizei gegen 7:30 Uhr die WG.

Die Räumung bleibt nicht unkommentiert. Gegen 8 Uhr zieht anschließend eine Spontandemonstration durch den Kiez Richtung Leopoldtplatz. Auch hier sind die Leute laut und wütend. Die Nachbarschaft wird über den Lautsprecher auf die Räumung hingewiesen, was Wirkung zeigt. Trotz der Uhrzeit schließen sich einige Passant*innen an und laufen bis zum Endpunkt mit.

Obwohl die WG heute geräumt wurde und in der Vergangenheit Repression erfahren musste, bereut sie ihren Kampf nicht, im Gegenteil. Es hat sich gezeigt, dass linksradikale nachbarschaftliche Organisierung sehr viel bringen kann. „Ein Mal stand auf einem „Verdrängt in Berlin Plakat“ mit Kuli geschrieben: ‚Weiter so – ihr seid stark!‘. Auch die Unterstützung und der Zuspruch beim Flyern war viel größer als wir dachten, was uns Mut gemacht hat. Ganz viele berichteten von eigenen Problemen durch die Gentrifizierung und haben uns Unterstützung zugesagt. Das fand ich cool!“., so Flo.

„Antikapitalistische Perspektiven müssen aber noch viel mehr in die aktuelle Mietenbewegung einfließen.“, so Alex. Diese sind im Wedding durch die WG der Dubliner. 8, dem Bündnis „Zwangsräumung verhindern“ und „Hände weg vom Wedding“ heute auf jeden Fall schon einmal angekommen. Für zukünftige antikapitalistische und herrschaftsfeindliche Kämpfe, welche nicht in der linken Blase verharren wollen, kann das nur vom Vorteil sein. Linksradikale Stadtteilarbeit und nachbarschaftliche Organisierung sind bitter nötig. Laut dem Bündnis „Zwangsräumung verhindern“ gibt es in Berlin jährlich 5.000 Räumungsurteile, 30.000 Menschen leben in Notunterkünften, 10.000 auf der Straße. Aktuell sind Alex, Cora, Diesel A, Gerald, die Habersaathstraße, Lene, die Meuterei, Munir, der Oranien-Späti, die Potse, die Liebig 34, die Reiche 73 und das Syndikat von Zwangsräumung bedroht, wobei dass nur diejenigen sind, welche ihre Situation öffentlich gemacht haben.

Aber auch berlinweit werden, angesichts dieser zuspitzenden Wohnungspolitik, linksradikale antikapitalistische Positionen lauter. Kiezkommunen bilden sich, Aktivist*innen besetzen leere Häuser und Wohnungen, in Kreuzberg verhinderten Kiezinitiativen weltweit zum ersten Mal einen Google Campus und die Zahl der militanten Aktionen gegen Verdrängung und in Solidarität mit bedrohten Projekten nimmt stetig zu. „Für tatsächliche Veränderungen ist ziviler Ungehorsam notwendig. Davon braucht es auf jeden Fall noch mehr!“, so Alex.

Am Beispiel der Dubliner 8 zeigen sich beide Seiten wachsender linksradikaler Kämpfe: Wenn antikapitalistische Perspektiven in die Mietenbewegung einfließen, fühlt sich der Staat bedroht, „denn man könnte ja ein gemeinsames Klassenbewusstsein entwickeln und damit die herrschende kapitalistische Ordnung in Frage stellen, sich gegen sie organisieren und rebellieren“, sagt Alex zwinkernd. Infolgedessen schwingt der Staat die Repressionskeule, um es gar nicht erst zu einer Organisierung kommen zu lassen. Und manchmal funktioniert diese Keule auch ganz gut. „Durch die zunehmende Repression nehmen an unseren Aktionen zivilen Ungehorsams immer weniger Leute Teil. Da merkt man dann leider schon, dass deren Strategie ganz gut aufgeht“, so Alex.

Die WG ließ und lässt sich aber nicht einschüchtern. „Wir machen auf jeden Fall weiter. Solange, bis alle in dieser Stadt leben können, unabhängig von ihrem Geld auf dem Konto.“

#Titelbild: Spontandemonstration nach der Zwangsräumung zum Leopoldtplatz

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Interview mit Fridolin vom antikapitalistischen Block bei der zentralen “Fridays-For-Future”-Demo am 21. Juni in Aachen

Die Schüler*innenbewegung „Fridays For Future“ hat in den vergangenen Monaten weltweit Bekanntheit erlangt. Alles begann mit der damals 15-jährigen Greta Thunberg, die beschloss, jeden Freitag die Schule zu bestreiken, um ihren Widerstand gegen die Zerstörung unserer Umwelt auszudrücken. Schneller als man ahnen konnte, wurde aus diesem Streik eine Bewegung; „Fridays For Future“ war geboren. Hunderttausende Schülerinnen und Schüler auf der ganzen Welt begannen, auf die Straße zu gehen – für ihre und unsere Zukunft und gegen die Zurichtung dieser Welt.

Immer wieder wird versucht, solche Proteste zu befrieden und zu entradikalisieren. Eine der Besonderheiten an der Initiatorin Greta Thunberg ist, dass sie sich beharrlich gegen diese Befriedungs- und Vereinnahmungsversuche wehrt, indem sie zum Beispiel mit einer bewundernswerten Geduld die meist dümmlichen und diffamierenden Fragen von Journalist_innen immer wieder auf ihre zentralen Forderungen umlenkt: Wir brauchen eine radikale Veränderung; wir brauchen sie jetzt und so schnell und umfassend wie möglich. Und wenn sie nicht innerhalb des Bestehenden umsetzbar ist, dann schaffen wir das Bestehende eben ab und machen es neu.

Wichtig ist jedoch: „Fridays For Future“ hat zwar mit Greta Thunberg angefangen, aber sie ist weder ‘Führerin’ noch alleinige Repräsentantin all der jungen Menschen, die sich Woche für Woche lautstark für ihre Zukunft einsetzen. Genauso wenig sind es allerdings die meist selbsternannten Sprecher_innen der Bewegung; diese Bewegung ist genauso divers wie die Menschen, die sie tragen.

So kommt es immer wieder zu Auseinandersetzungen, wenn es um die Protestformen und die Radikalität der Forderungen geht. Ein solcher Kampf wird auch in Aachen ausgetragen; hier sind Teile der örtlichen „Fridays-For-Future“-Gruppe mit linksradikalen Strukturen gut vernetzt und formulieren eine antikapitalistische Perspektive.

Am 21.06.2019 findet eine internationale Großdemonstration von Fridays For Future genau dort statt, Zehntausende Teilnehmer_innen werden erwartet. Wir haben uns mit Fridolin, einem Genossen unterhalten, der an der Vorbereitung des antikapitalistischen Blocks beteiligt ist.

Bevor wir zu der Demo kommen, lass uns einen allgemeinen Blick auf „Fridays For Future“ und Ökologie aus linksradikaler Perspektive werfen. Wie schätzt du die Bewegung ein?

Als ich die Proteste das erste Mal mitbekommen habe, war ich begeistert. So etwas habe ich in der rasanten Entwicklung noch nicht gesehen; dass vor allem junge Menschen sich so sehr für das Leben in dieser Gesellschaft interessieren und Probleme erkennen und benennen – und nicht ausschließlich konsumieren, was ja den Jugendlichen oft vorgeworfen wird. Das, was die Generationen davor jahrzehntelang verkackt haben, kommt jetzt von 16-jährigen auf den Tisch, und das find’ ich super.

Findest du, dass linskradikale Kräfte sich dabei genug und richtig einbringen?

Teils, teils. Ich glaube, dass schon viele Leute in linksradikalen Kreisen die Proteste befürworten – aber auch, dass viele da zu hochnäsig rangehen, in der typisch deutsch-linken Art meinen, dass man selbst alles viel besser macht. Die Toleranzschwelle für Widersprüche und Dinge, die nicht hundertprozentig in die eigene Agenda passen, ist da sehr gering. Statt sich den Debatten zu stellen, wird lieber ganz geschwiegen. Auf der anderen Seite gibt es aber auch viele Leute, die das unterstützen und auch zu den Demos gehen, und das hat auch schon sehr viel gefruchtet. Ich habe selten bei vermeintlich bürgerlichen Protesten so viele Aufnäher mit irgendwelchen Antifa-Emblemen oder ähnlichem gesehen wie bei „Fridays For Future“ in Aachen. So oder so sollte aber in der linksradikalen Bewegung das Ganze noch ernster genommen werden.

Was hat denn Antikapitalismus überhaupt mit Ökologie zu tun?

Sehr viel. Wenn man sich die Wirtschaft anguckt, also was und wofür produziert wird, wird man feststellen, dass viele dieser Produkte eigentlich völlig überflüssig sind und nur produziert werden, um vermeintlichen Luxus zu schaffen und Profite zu maximieren. Die Wirtschaft ist nicht bedürfnisorientiert. Es gibt viel zu viele Autos, viel zu viele Handys, viel zu viel Essen, das schlecht verteilt wird.

Und man kann sich ja anschauen, wie rasant die CO2-Emissionen steigen, was eben mit Überproduktion, mit schlechter Landwirtschaft und einem vermeintlichen Luxusangebot für Menschen insbesondere in Nordeuropa zu tun hat. Derartiges Wachstum funktioniert aber eben nicht auf einem Planeten mit begrenzten Ressourcen. Klimawandel und Ungleichverteilung sind zwingend mit Kapitalismus verbunden. Und die Abschaffung des Kapitalismus ist die einzige Möglichkeit, den Klimawandel zwar nicht mehr zu stoppen – weil das wahrscheinlich gar nicht mehr geht -, aber wenigstens einzudämmen.

Wie schätzt du das linksradikale und antikapitalistische Potential der Bewegung? Wie ist die Stimmung auf den Demos?

Ich treffe viele Leute, die sich über „Fridays For Future“ politisieren. Die eben nicht dabei stehenbleiben, zu sagen, Klimawandel sei böse und andere Probleme dann ausklammern – sondern Aspekte wie Ausbeutung, Diskriminierung und dergleichen mitdenken. Die Schlussfolgerung, dass der Kapitalismus das Problem ist, ist vielleicht noch nicht bei allen angekommen. Aber in Anbetracht der kurzen Zeit, in der es die Bewegung gibt, wird sich das mit Sicherheit noch verbreitern. Das Spannende an dem Thema ist ja: Es geht alle etwas an, und wir brauchen einen radikalen Wandel, um diesen Planeten nicht innerhalb kürzester Zeit unbewohnbar zu machen. Das sagen nicht nur wir, sondern sehr viele Expert*innen.

Gleichzeitig gibt’s aber natürlich diese typischen ‘Grünen’; die immer noch meinen, dass mit der richtigen Stimmabgabe der Kapitalismus schöner gemacht werden könnte. Die sind aber meiner Wahrnehmung nach in der Unterzahl.

Trotzdem sind ja gerade die reformistischen Stimmen relativ laut, vor allem in der bürgerlichen Presse – die, die sich distanzieren von radikaleren Protestformen und antikapitalistischer Positionierung. Was sagst du zu diesen Distanzierungen?

Ich glaube, eines der Probleme von „Fridays For Future“ sind diese vermeintlichen Führungspersonen, die sich in die Öffentlichkeit drängen. Das hat man natürlich weniger von Leuten, die antihierarchisch geprägt sind, als von eher bürgerlichen Leuten, die ihre Meinung überall herausposaunen wollen. Distanzierungen gibt’s ja bei vielen Protestbewegungen nach einer Weile. Aber es ist so, dass FFF auch teilweise dazu aufruft, sich beispielsweise bei „Ende Gelände“ zu beteiligen, um verschiedene Aktionsformen zu vereinen.

In Aachen gibt es jetzt auch Versuche von Staat und Polizei, „Ende Gelände“ zu kriminalisieren. Es wurden Flyer an Schulen geschickt mit der Info, dass man sich doch bloß nicht an deren Aktionen beteiligen dürfe, weil die – Zitat – „gewaltbereit“ seien. Ich denke aber, dass diese Kriminalisierungsversuche nicht sonderlich weit führen werden, und ich kann mir gut vorstellen, dass es klappen wird, verschiedene Protestformen zu vereinen. Hoffe ich zumindest.

Wie würdest du die gesamtgesellschaftliche Perspektive von „Fridays For Future“ einschätzen?

Ich denke, dass FFF das Potential hat, wirklich in die Gesellschaft hineinzuwirken. Was es ja auch schon tut; Klimawandel ist Top-Thema überall im Moment. Ich vergleiche das manchmal mit dem Rechtsruck, den wir die letzten Jahre hatten; die Klimabewegung als progressive Antwort von jungen Menschen, die nicht damit einverstanden sind, wie seit Jahrzehnten regiert wird. Und ich denke, dass das durchaus die Perspektive bietet, für solidarische Werte und eine solidarische Gesellschaft zu werben. Und auch ältere Generationen zu überzeugen, dass es im Moment einfach scheiße läuft und der Kapitalismus ein rasendes Monster ist, das sich von selbst natürlich nicht abschaffen wird oder abbremsen lässt.

Die Stadt Aachen fällt ja immer mal wieder auf durch Umwelt- und Ökologiethemen; Überall hängen Tihange-Plakate, und der Hambacher Forst befindet sich auch in unmittelbarer Nähe. Eine gute Ausgangslage für die Großdemonstration?

Ich glaube, dass in Aachen ein besonderes Bewusstsein entstanden ist durch die kaputten AKW in Belgien, Tihange und Doel, die bei einer Explosion die Stadt auch direkt betreffen werden – und natürlich auch durch den Hambacher Forst. Jede*r in Aachen weiß, was der Hambacher Forst ist. Und „Fridays For Future“ ist hier auch ein großes Thema; Aachen hat die größten FFF-Demos in ganz NRW – gehabt, zumindest, bis Köln uns dann überholt hat.

Dann kommen wir mal zu dem antikapitalistischen Block. Wer hat das angestoßen? Warum gibt es diesen Block?

Bei den Freitagsdemos haben wir in den letzten zwei Monaten mehrfach einen eigenen kleinen Block gemacht, also dazu aufgerufen, mit eigenen Transpis, Schildern, Fahnen was auch immer, dahin zu kommen und das Thema gesamtgesellschaftlich-kritisch zu betrachten. Als wir dann gehört haben, dass es diese internationale Demo geben wird, war klar, dass wir da eine antikapitalistische Position beziehen sollten. Wir haben auch sehr schnell sehr viel Zuspruch bekommen. Die Aachener „Fridays For Future“ Gruppe selber trägt ja auch im Vergleich zu vielen anderen Städten deutlich progressivere Inhalte mit, hat zum Beispiel ein eigenes Transpi mit klaren antikapitalistischen Positionen.

Wir finden „Fridays For Future“ an sich schon super, aber oft fehlt eben einfach noch ein bisschen; nämlich die Systemanalyse, wo die wirklichen Ursachen liegen, warum die Leute überhaupt auf die Straße müssen.

Auch wenn bei euch lokal diese Vernetzung funktioniert, wird es ja bei der Gesamtstruktur „Fridays For Future“ um diesen Block doch Diskussionen geben …

Natürlich gibt es innere und auch öffentliche Debatten. Ich denke, dass es nicht wenig Leute gibt, die sich eine etwas radikalere Form der Proteste und der Forderungen wünschen, und sich in den Ortsgruppen selber einbringen und dafür werben, gegen den Kapitalismus vorzugehen. Zu den Auseinandersetzungen bezüglich dieses Blocks: Was ich sagen kann ist, dass es durchaus Kritik daran gibt und teilweise offene Ablehnung. Das ist aber auf jeden Fall nicht die Mehrheit. Die radikaleren Kräfte wachsen stetig, und ich denke, dass die Leute, die zum Beispiel Mitglied bei den Grünen sind, nach und nach verstehen werden, dass auch die Grünen das Problem nicht lösen werden, weil sie sich eben an die Profitlogik des Marktes halten.

#Informationen zum antikapitalistischen Block: https://antikap2106.noblogs.org/

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Minerva, 28, ist marxistische Feministin aus dem Iran. Sie hat an verschiedenen linken Kampagnen teilgenommen und arbeitet mit einer Organisation, die Bildungsangebote für Arbeiter*innenkinder und Kinder aus Familien, die aus Afghanistan in den Iran geflohen sind, organisiert. Zu ihrer Sicherheit benutzt sie ein Pseudonym, da ihr Inhaftierung und Folter drohen, sollte die iranische Regierung von ihrem Kontakt zu linken oder feministischen Organisationen oder Medien erfahren. Minervas echter Name ist der Autorin bekannt.

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Während sich die Gilets Jaunes in Frankreich seit vier Monaten jeden Samstag die Straße nehmen und die Regierung in eine Krise gestürzt haben, war die Bewegung in Belgien zwar heftig, aber nur kurz. Nach starken Mobilisierungen ab dem 30. November, dauerte sie noch bis ins neue Jahr im kleineren Maßstab an. Sascha Donati vom Revolutionärem Aufbau Schweiz hat im Januar ein Interview mit einem Genossen der Roten Hilfe International aus Brüssel zu seinen Erfahrungen mit der Bewegung geführt. Dabei sprachen sie über die allgemeine Situation in Belgien, faschistische Mobilisierungen, Polizeirepression und eine revolutionäre Perspektive auf die Gilets Jaunes.

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Der Internationale Frauenstreik hat durch monatelange massive Mobilisierung auch in Deutschland tausende Menschen auf die Straßen gebracht. Unsere Autorinnen bieten einen Überblick über die Aktionen am vergangenen Freitag, sowie eine politische Einordnung und zeigen auf, welche Zielsetzungen erreicht wurden.

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Die deutsche Debatte um die Gelbwesten ist weiterhin geprägt von mangelnder Information, Desinteresse und unzähligen bizarren Analysen. Anders als von Vielen prognostiziert und von der Regierung Macron gehofft, hat sich die Bewegung keinesfalls in Luft aufgelöst. Während sie vom Großteil der Bevölkerung unterstützt wird, berichtet man ob in Frankreich oder in Deutschland weiterhin gerne vorrangig über „Krawallmacher“ und „Extremisten“. Die Ziele der Bewegung werden entweder als zu radikal und unrealistisch verschrien, oder auf Veränderungsmöglichkeiten im Rahmen der parlamentarischen Demokratie reduziert. Was vor Ort passiert, zeichnet ein sehr anderes Bild.

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Nicolás ist Student und militanter Anarchist in Paris. Seit dem 8. Dezember nimmt er an den Protesten der »Gilets Jaunes« teil und ist über Unterstützungsgruppen aktiv an der Mobilisierung der Universitäten beteiligt.

Online findet man eine Liste von 42 Forderungen der »Gilets Jaunes«. Gefordert werden unter anderem eine Erhöhung des Mindestlohns, der Rücktritt von Präsident Emanuel Macron und die Wiedereinführung der Vermögenssteuer »ISF«, welche Macron zu Beginn seiner Amtszeit außer Kraft setzte. Die »Gilets Jaunes« sind eine breite Massenbewegung. Wer spricht für die Bewegung und wie ist sie organisiert?

Die sogenannten Rädelsführer sind schwierig zu definieren: viele von ihnen wurden von den »Gilets Jaunes« denunziert, da sie keine Mandate hatten um für die Bewegung zu sprechen, andere weil sie extrem rechts sind. Es gibt keine politische Koordinierung auf nationaler Ebene. Die Demonstrationen werden über die sozialen Medien, vor allem Facebook, angekündigt. Dort finden sich je nachdem wo man sucht verschiedenste soziale Forderungen. Allerdings gibt es durch die Heterogenität der Bewegung auch Forderungen die kritisch zu betrachten sind – einige sind pro Migration zum Beispiel, andere aber auch rassistisch. (mehr …)

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In Kolumbien sind die Studierenden seit zwei Monaten im Ausstand. Einstürzende Universitätsgebäude und unbezahlbare Studiengebühren will hier niemand. Endlich reagiert die Regierung mit einem Finanzierungsvorschlag. Unsere Autorin berichtet aus Bogotá.

Donnerstag, 13. Dezember, der 64. Tag des nationalen Bildungsstreiks in Kolumbien. Wieder versammeln sich Studierende in ganz Kolumbien mit Flaggen und Parolen enthusiastisch auf den Hauptplätzen ihrer Universitäten um zusammen zu demonstrieren. Nicht nur Studierende sind anwesend. Große Teile der Bevölkerung unterstützen mittlerweile ihre Forderungen. Den Streikenden ist anzusehen, dass sie erschöpft sind. Es sind nicht mehr die gleichen Menschenmassen, wie bei den ersten Demonstrationen, aber die Motivation hält weiter an. Sie sehen Hoffnung in den wöchentlich organisierten Protesten. (mehr …)

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Die Polizei freute sich schon regelrecht auf die negativen Schlagzeilen, die sie provozieren könnten. Die Gewerkschaft der Bullen (GDP) warnte schon vor Tagen vor gewalttätigen Auseinandersetzungen und freute sich wohl schon Händereibend auf das Opfernarrativ, in das sie sich bald stürzen könnten. Tatsächlich ist auch das Echo der deutschen Öffentlichkeit weiterhin gleich: mimimi Steuergelder mimimi viele Polizisten mimimi kein Versammlungsrecht für Ausländer.

Dabei war die Menge an Auflagen, die im Vornherein schon von der Stadt Köln auferlegt wurden eine Unverschämtheit. Kein Essensverkauf, auch kein unentgeltlicher und auch keine Genehmigung der Essensversorgung der Mengen durch das Rote Kreuz. (mehr …)

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