Gilets Jaunes in Belgien: „Ausdruck der proletarischen Klasse“

21. März 2019

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Gastbeitrag

Während sich die Gilets Jaunes in Frankreich seit vier Monaten jeden Samstag die Straße nehmen und die Regierung in eine Krise gestürzt haben, war die Bewegung in Belgien zwar heftig, aber nur kurz. Nach starken Mobilisierungen ab dem 30. November, dauerte sie noch bis ins neue Jahr im kleineren Maßstab an. Sascha Donati vom Revolutionärem Aufbau Schweiz hat im Januar ein Interview mit einem Genossen der Roten Hilfe International aus Brüssel zu seinen Erfahrungen mit der Bewegung geführt. Dabei sprachen sie über die allgemeine Situation in Belgien, faschistische Mobilisierungen, Polizeirepression und eine revolutionäre Perspektive auf die Gilets Jaunes.

Die Bewegung der Gilets Jaunes hat sich nicht überall an nationale Grenzen gehalten. Auch in Belgien gab es Demonstrationen. Welche Unterschiede kannst du zwischen den Bewegungen in Belgien und in Frankreich festmachen?

Die Bewegung der Gilets Jaunes begann in Frankreich und dem französischsprachigen Teil Belgiens etwa gleichzeitig. Es gibt aber mehrere Unterschiede zwischen den Bewegungen in Frankreich und Belgien. Zum Beispiel ist die Akzeptanz der Gewalt unter den Gelbwesten ähnlich, aber sie hat nicht die gleiche Bedeutung. Im Allgemeinen ist Gewalt und insbesondere politische Gewalt im französischsprachigen Belgien, wo die Bewegung mehrheitlich aktiv ist, sehr wenig akzeptiert. Das führt dazu, dass Gewalt generell als etwas abnormales oder ungewöhnliches gesehen wird. Die Akzeptanz der Gewalt auf Seiten der Gilets Jaunes in Belgien war deshalb erstaunlich. Sie wird sonst in der Bevölkerung selten als gerechtfertigt empfunden.

Ein anderer großer Unterschied zwischen Frankreich und Belgien liegt in den sozialen Bewegungen im Allgemeinen. Ein Beispiel: Als das neue Arbeitsgesetz in Frankreich verabschiedet wurde, gab es eine große Revolte. Im selben Zeitraum gab es ein belgisches Arbeitsgesetz, das radikaler war als das französische und das unter anderem die 45-Stunden-Woche legalisierte. Außer von ein paar revolutionären Militanten und einigen linken Gewerkschafter*innen, die kleine Versammlungen mit Teilnehmer*innenzahlen im zweistelligen Bereich, sowie ein paar Konferenzen organisierten, gab es keinen Widerstand gegen das Gesetz.

Diese belgische Willigkeit entstammt aus der Kompromisskultur und verschiedenen anderen Elementen, wie z.B. der Tatsache, dass die belgischen Gewerkschaften ausschließlich aus der Sozialdemokratie stammen. Es gibt keine einzige Gewerkschaft aus der kommunistischen Bewegung. Die Gewerkschaften sind große Verwaltungsmaschinen, die vom Staat benutzt werden, um Mediationen zu betreiben. Die Arbeitslosenversicherung wird beispielsweise sogar von den Gewerkschaften verwaltet. Es gibt eine Kultur der Neutralität, des Verhandelns und der Einigung, die eine historische aber auch kulturelle Realität darstellt. Der Ausdruck „Belgischer Kompromiss“ wird in der Kultur – inklusive der politischen – oft benutzt. Die Leute scheinen sich von vornherein darauf einzustellen, dass sie zu viel verlangen und auf einen Teil ihrer Forderungen werden verzichten müssen, bevor sie irgendwas erreichen.

Wie konnte die revolutionäre Linke in dieser Bewegung intervenieren?

Linke Militante haben an Versammlungen der Gilets Jaunes teilgenommen und diese mitorganisiert. Wir gehen davon aus, dass die Repression in Belgien momentan ihr Ziel, die Bewegung zu brechen erreicht hat. Wir denken deshalb, es wäre unsere Rolle gewesen, in Bezug auf die Repression ein Kräfteverhältnis zu schaffen, um das zu verhindern. Das haben wir nicht geschafft. Bei der ersten Mobilisierung in Brüssel, am 30. November, demonstrierten mehrere Tausend Menschen, die das Stadtzentrum gegenüber der Polizei verteidigen konnten. Aber ab der zweiten Mobilisierung wurden die Demonstrationen systematisch unterdrückt, was viele Leute entmutigte. Die Polizei führte systematisch Personenkontrollen durch, Menschen wurden alle fünf Minuten für eine Viertelstunde angehalten, auf kleinste Aktionen folgten Verhaftungen. Sobald eine Gruppe groß genug war, um losgehen zu können, wurden sie gekesselt. Die Kessel dauerten mehrere Stunden, darauf folgten Festnahmen. Bei der zweiten Mobilisierung gab es alleine in Brüssel 480 Festnahmen bei 1.000 Demonstrierenden. Wir als linke Militante waren nicht in der Lage in und durch die Bewegung zu wachsen. Vor allem aber waren wir unfähig, der Bewegung in Bezug auf die Militanz zu helfen – ein Bereich, in dem wir eigentlich Expert*innen sein müssten.

Politisch ist die Situation so, dass die Gilets Jaunes extrem misstrauisch gegenüber allen organisierten Bewegungen sind und dass wir daran scheiterten, ihr Vertrauen zu gewinnen. Dieser Misserfolg kann durch verschiedene Faktoren erklärt werden: Erstens haben wir die Bewegung nicht schnell genug analysiert und identifiziert. Weiter fühlten sich die Militanten nicht als Teil der Bewegung, auch wenn sie selbst eine gelbe Weste anzogen und sich als Gelbwesten präsentierten. Man hätte sofort merken müssen, dass die Gilets Jaunes ein Ausdruck der proletarischen Klasse sind und dass wir voll und ganz daran hätten teilnehmen müssen. Wir hätten Gruppen von Gilets Jaunes bilden, an den Diskussionen teilnehmen müssen, ohne das Gefühl zu haben, dass unsere Stimmen mehr Gewicht haben, nur weil wir erfahrenere Militante sind. Das sind zwei große Fehler, die wir nicht rechtzeitig korrigieren konnten.

Wie kann mit den verschiedenen Forderungen umgegangen werden? Konnte die Linke diese Forderungen beeinflussen?

Die Forderungen der Gilets Jaunes wurden von den Forderungen zum UN-Migrationspakt überdeckt. Dazu gibt es viele Fehlinformationen und es war schwierig, diese zu bekämpfen. Wir versuchten, auf diese Diskussion Einfluss zu nehmen, aber unsere Stimmen wurden vom Lärm übertönt. So riefen flämische faschistische Gruppen dazu auf, in Brüssel gegen den Migrationspakt zu demonstrieren und mobilisierten 5.000 Personen. Das ist mehr, als alle Versammlungen der Gilets Jaunes. Wir organisierten eine antifaschistische Demonstration. Es gab Gilets Jaunes in beiden Versammlungen. Wir müssen uns leider eingestehen, dass es die extreme Rechte aus Flandern ist und nicht die radikale Linke aus dem französischsprachigen Teil Belgiens, die sich in der aktuellen sozialen Stimmung verankern konnte. Es ist aber auch wichtig zu erwähnen, dass sich immerhin die französischsprachigen Reaktionären und diejenigen aus Brüssel auch nicht in der Bewegung verankern konnten.

Ist die revolutionäre Linke in den Regionen präsent, aus der die Demonstrierenden kommen?

Nein, im französischsprachigen Belgien kommt die revolutionäre Linke vor allem aus Brüssel und Lüttich (Liège), der größten wallonischen Stadt. Aber auch da zählt man nur ein paar Hundert Personen. Die PTB, die Partei der Arbeit Belgiens, die sogenannte radikale Linke, die in Wahrheit aber reformistisch und parlamentaristisch ist, ist in diesen Gegenden präsent und konnte wahrscheinlich von der Bewegung profitieren. Sie legten aber auch schon vor der Bewegung der Gilets Jaunes zu.

Wie sah die Präsenz von Faschist*innen aus?

Die brüsseler Faschist*innen waren nicht sehr präsent, hatten aber einen größeren Handlungsspielraum, weil die Polizei deren Versammlungen tolerierte, hingegen diejenigen Versammlungen der Gilets Jaunes verbot, die linkere Forderungen hatten. Als die Polizei die systematischen Kontrollen durchführten, stellte sie uns sogar vor die Wahl, festgenommen zu werden oder zur Versammlung zu gehen, zu der von der extremen Rechten aufgerufen worden war.

Habt ihr über den politischen Einfluss diskutiert, den die militante Konfrontation mit der Polizei haben kann?

Die Diskussion ist sehr wichtig. Auf der einen Seite kann man sagen, dass die Bewegung wegen der Polizeirepression und unserer Unfähigkeit, darauf zu reagieren eingegangen ist. Auf der anderen Seite war die Tatsache, dass sich die Gilets Jaunes der Polizei entgegenstellten sehr wichtig für die Identität der Bewegung. In Brüssel war die Bewegung zuerst sehr militant, weil die Leute, die die gelben Westen trugen, plötzlich verstanden, dass es nur zwei Seiten gab: Gewalt gegen die andere Seite wurde als legitim betrachtet. In Brüssel waren dann die weiteren Mobilisierungen gewaltlos, weil es nur noch ein paar Handvoll Gilets Jaunes gab und es die ruhigeren waren, die blieben. Aber in den periurbanen Zonen flammen militante Kämpfe von Zeit zu Zeit wieder auf.

Was wird passieren, wenn die Bewegung schwächer wird und der Frustration Raum lässt? Können die reaktionären Kräfte von der Situation profitieren?

Wir gehen davon aus, dass die Gilets Jaunes ein Ausdruck der proletarischen Klasse sind. Es ist das Resultat eines sozialen Zusammenspiels, das plötzlich tausende von Leute auf die Straße bringt. In ein paar Sekunden wird etwas fassbar, wofür wir Jahre gebraucht hätten, um es zu erklären. Die revolutionäre Linke scheiterte daran, die grundlegendsten Forderungen zu verstehen – allen voran die Forderungen um die Abgaben zur Luftverschmutzung, die sie als reaktionär interpretierte. Dabei war diese Abgabe nur ein weiterer Angriff auf die Armen. Die revolutionäre Linke blieb mehrheitlich in einer Rolle, in der sie versuchte, den Leuten zu erklären, wieso sie denn wütend seien. Dabei hätte man diese Wut organisieren müssen. Bis jetzt hatte die extreme Rechte aber dasselbe Problem.

Für den Moment ist die Bewegung der Gilets Jaunes geschlagen. Aber sie wird bald auf eine neue Art wiederkommen und es ist bis dann unsere Aufgabe, aus den Fehlern zu lernen und uns vorzubereiten. Im Falle von Belgien kann man nicht von einer aufständischen oder revolutionären Situation sprechen, aber eine zukünftige revolutionäre Bewegung wird zum Teil ähnliche Charakteristika haben, zum Beispiel, dass sie direkt aus der proletarischen Klasse hervorgehen wird. Wenn wir es nicht schaffen, die Realitäten zu verstehen und danach zu handeln, werden die reaktionären Kräfte das vor uns tun. Bis jetzt haben die Rechtsextremen jedoch viel Energie investiert und schwere Fehler begangen. Der letzte war, dass sie die Marke Gilets Jaunes für die nächsten Wahlen angemeldeten, was nur feindliche Reaktionen von Seiten der Gilets Jaunes hervorgerufen hat.

# Interview: Sascha Donati, Revolutionärer Aufbau Schweiz
# Übersetzung aus dem Französischem: Revolutionärer Aufbau Schweiz
# Titelbild: Patrice CALATAYU/CC BY-SA 2.0

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