Um Mitternacht zum 5. August 2019 wurde im nördlichsten indischen Bundesstaat Jammu und Kaschmir, in der Stadt Srinagar und in der Umgebung von Jammu eine Ausgangssperre verhängt. Der Internetservice, Mobilfunknetz, Festnetz, kaschmirische Fernsehsender wurden blockiert und abgeschaltet. Artikel 370 und 35A der indischen Verfassung, der dem Bundesstaat Jammu und Kaschmir Autonomierechte und Sonderrechte für Muslime garantierte, wurde per Dekret des indischen Präsidenten Ram Nath Kovind ohne die kaschmirische Bevölkerung zu informieren und zu fragen, aufgehoben. Indische Aktivisten verurteilen diesen Beschluss als illegal, verfassungswidrig und unmoralisch. Der Bundesstaat Jammu und Kaschmir ist somit momentan aufgelöst und in zwei Union Territories geteilt. Es gab Tage davor Gerüchte in den indischen Medien, dass dieser konstitutionelle Coup von der hindu-nationalistischen BJP-Regierung unter Modi geplant sei. Kaschmir ist nun mit ungefähr 470 000 paramilitärischen indischen Truppen die stärkste militarisierte Zone der Welt.
Einen Tag zuvor, am 4. August 2019, beschuldigte Pakistans Regierung die indische Besatzungstruppe, an der Waffenstillstandsgrenze Kaschmirs Streu-Munition eingesetzt zu haben. Es gab dabei zwei Tote und elf Verletzte. Pakistan habe sogar den US-Präsidenten Donald Trump um Vermittlung im Konflikt Kaschmir gebeten.
Indien wies diese Vorwürfe zurück und hat eine Terrorwarnung für den indischen Teil Kaschmirs ausgegeben und vor allem Touristen, Student*innen und Pilger aufgefordert, die Unruheregion Kaschmirs zu verlassen. Pakistanische Soldat*innen und Milizionär*innen hätten versucht, die Waffenstillstandsgrenze in Kaschmir zu überqueren. Dies wurde von der indischen Besatzungstruppe verhindert worden, fünf bis sieben Angreifer wurden dabei getötet. Deutschland und Großbritannien haben Reisewarnungen für Jammu und Kaschmir ausgegeben. Tausende von Touristen und Menschen verließen das Gebiet. Es gab chaotische Zustände an Flughäfen und Busbahnhöfen, wo scharenweise Menschen, das Gebiet versuchten zu verlassen und viele nur ungültige Tickets vorweisen konnten.
Am 9. August bist 13. August reiste ein solidarisches Team von indischen Aktivist*innen Kavita Krishnan (CPIML und AIPWA), Jean Drèze (Ökonom), Maimoona Mollah (AIDWA) und Vimal Bhai (NAPM) nach Kaschmir. Indische Medien würden berichten, dass Leben in Kaschmir zurückgekehrt sei und die Lage sich nun normalisiere. Dies entspricht keineswegs der Wahrheit. Die Gruppe redeten mit unterschiedlichen Menschen in Kaschmir aus Srinagar, kleine Dörfer und andere Städte. Am 14. August publizierten sie online ein Informationsvideo, das die Situation in Kaschmir zeigt. Der Press Club of India ließ nicht zu, dieses Filmmaterial in ihren Räumlichkeiten zu zeigen. Am selbigen Tag veröffentlichten sie ihre Beobachtungen und Analyse in einem 10-Seitigen Bericht „Kashmir Caged“ (Kaschmir eingesperrt) auf Englisch.
Eingesperrt unter freiem Himmel
Kaschmir ist momentan völlig von der Außenwelt abgeschnitten. Der Internetzugang, kaschmirische Fernsehsender und das Festnetz, Mobiles Festnetz in Kaschmir wurden blockiert. Sie sind in ihren Häusern eingesperrt, können ihre Familien außerhalb Kaschmirs nicht erreichen und auch keine Sozialen Medien benutzen. Kaschmirische Zeitungen und politische Zeitschriften können sehr schwer über ihre eigene Lage publizieren. Mindestens 600 Politiker*innen und Aktivist*innen aus Kaschmir wurden von der indischen Regierung unter Hausarrest gestellt. Einige wenige mutige Journalist*innen aus Kaschmirs konnten jedoch Artikel über die momentane Situation veröffentlichen, wie Sankarshan Thakur oder Fahad Shah.
Laut dem Bericht Kashmir Caged sei seit dem 5. August in Srinagar, die Sommerhauptstadt Kaschmirs, eine Ausgangssperre ausgehängt worden. In der Stadt herrschte absolute Stille und nur das indische Militär sowie paramilitärische Kräfte waren in der Öffentlichkeit zu sehen. Wenn Menschen unterwegs waren, dann nur in maximal Zweiergruppen oder einzelne Personen. Alle Geschäfte, Schulen, Büchereien, Tankstellen, Banken und Regierungsbüros waren geschlossen. Nur einzelne ATM´s, Apotheken und Polizeistationen waren offen. Die Bevölkerung leidet unter mangelnder Nahrung und medizinischer Versorgung. Auch in der Zeit des BakrEid, islamisches Opferfest vom 10. August bist zum 14. August, ist diese Situation schlimm, da keine Lebensmittel gekauft werden können und nicht in der Moschee gebetet werden darf. Vor allem die Arbeiterklasse Kaschmirs leidet unter der Ausgangssperre sehr.
Das solidarische Team indischer Aktivisten redeten mit unterschiedlichen Menschen in Kaschmir aus Srinagar, kleine Dörfer und andere Städte. Keiner dieser Menschen, außer ein BJP (Bharatiya Janata Party) Pressesprecher unterstütze die Aufhebung von Artikel 370 und 35A und die Art und Weise, wie diese erfolgte. Bisher konnte der Bundesstaat Jammu und Kaschmir alle Angelegenheiten, die weder Verteidigung noch Außenpolitik betrafen, selbst regeln. Die Zentralregierung in der indischen Hauptstadt Neu-Delhi bedurfte die Einwilligung der Regierung von Jammu und Kaschmir. Dieser Autonomie-Paragraph diente im Jahre 1947 dazu, die Beziehung zwischen der indischen Zentralregierung und der Regierung Jammu und Kaschmir zu regeln, und diesen zu integrieren. Für viele Menschen in Kaschmir ist dieser Artikel identitätsstiftend. Jetzt nach der Aufhebung dieses Artikels, ist der Zentralregierung in Neu-Delhi nun möglich, das Gebiet komplett zu vereinnahmen. Eine Person aus Safakadal (Stadtgebiet in Srinagar) sagte: “Die Regierung hat uns Kaschmiris wie Sklaven behandelt und Entscheidungen über unser Leben und unsere Zukunft getroffen, während wir in Gefangenschaft sind. Es ist, als würde man uns etwas in den Hals bohren, während man uns gefesselt und geknebelt hält, mit einer Waffe im Kopf.”
Am 9. August protestierten 10.000 Menschen friedlich in Soura (Srinagar). Das indische Militär antwortete mit Gewalt und benutzten Streumunition. Zahlreiche Menschen wurden stark verletzt und erblindet. Erschreckend ist ebenfalls, dass sehr junge Kinder, vor allem Jungen* entweder von der Straße oder mitternachts aus ihren Betten geholt werden und von der indischen Polizei für Tage inhaftiert und geschlagen werden. Einige Kinder sind noch nicht zurückgekehrt. Diese Strategie diene dazu, Angst unter der kaschmirischen Bevölkerung zu schüren. Frauen* und Mädchen* werden vom indischen Militär sexuell belästigt. Trotz allem lassen sich Kaschmiris nicht geschlagen, eine Person aus Sopore, Stadt im Nordwesten Kaschmirs sagte: „Je mehr du uns unterdrückst, desto mehr werden wir uns erheben.“
Der historische Kaschmir-Konflikt
Im August 1947 erlangte Indien ihre Unabhängigkeit und es kam zur blutigen Teilung des indischen Subkontinents in die unabhängige Staaten Indien und Pakistan. Die Briten haben sich der Verantwortung gezogen, den Grenzverlauf dieser Staaten zu bestimmen und überließen den indischen Subkontinent in Chaos und brutaler Gewalt vor allem zwischen Hindus und Muslime. Die politischen Folgen der Teilung Britisch-Indiens sind in Kaschmir bis in die Gegenwart zu spüren.
Seit der Unabhängigkeit kämpften Pakistan und Indien in zwei Kriegen (1947-48 und 1965) und weitere kürzere militärische Konflikten um Kaschmir. Der erste Kaschmirkrieg begann als pakistanische Freischärler in das Fürstentum Kaschmir eindrangen. Der damalige hinduistische Maharadscha Hari Singh bat das indische Militär um Hilfe. Am 1. Januar 1949 endete der Krieg mit dem herbeigeführten UN-Waffenstillstand. Dies führte zur De-facto Teilung von Kaschmirs zwischen Indien und Pakistan Die Waffenstillstand-Linie von 1949 ist die heutige Line-Of-Control, die De-facto Grenze zwischen Pakistan und Indien. Die UN sah ein Referendum für den weiteren Verbleib von Kaschmir vor, doch dies lehnt die indische Region ab. Sie betrachten den Konflikt als eine zwischenstaatliche Angelegenheit und möchte keine Einmischung Dritter. 1949 wurde eine Beobachtermission zur Überwachung des am 1. Januar 1949 erklärten Waffenstillstandes eingesetzt, UNMOGIP (United Nations Military Observer Group in India and Pakistan). Diese wurde seitdem immer wieder verlängert, aber war kaum effektiv.
1957 wurde der indische Teil Kaschmirs zum Bundesstaat Jammu und Kaschmir. Der pakistanische Teil besteht aus der autonomen Teilregion Azad-Kaschmir (freies Kaschmir) und dem Sonderterritorium Gilgit-Baltistan. Nach dem Indisch-Chinesischen Grenzkrieg 1962 besitzt auch die Volksrepublik China Teile von Kaschmir, Aksaï Chin und Shaksgam.
Der zwischenstaatliche Konflikt in Kaschmir wird zusätzlich von Aktivitäten mehrerer bewaffneter Gruppen begleitet. Separatistische Gruppen wollen aus den beiden Teilen Kaschmirs einen unabhängigen Staat gründen. Islamistische Gruppen, die von Pakistan unterstützt werden, operieren in Jammu und Kaschmir.
Pakistan und Indien sehen ihre Territorien in Kaschmir als identitätsstiftend an. Pakistan versteht sich seit der Gründung 1947 als Staat und Heimat für alle Muslime Südasiens und fühlt sich für die mehrheitlich muslimischen Bevölkerung in Kaschmir verantwortlich. Indien hingegen ist laut Verfassung säkular und möchte durch Kaschmir den säkularen und pluralistischen Charakter des indischen Staates zeigen.
Neueste Entwicklungen unter der Regierung Modis seit 2014
Mit dem Wahlsieg im Mai 2014 des indischen Premierministers Narendra Modi wurde zunächst in den ersten zwei Amtsjahren ein Zickzack-Kurs gegenüber Pakistan eingeschlagen. Ab 2016 verschlechterte sich die indisch-pakistanische Beziehung deutlich. Die BJP Regierung ist eng mit der hindu-faschistischen Organisation RSS affiliiert, die die Idee einer Hindu-Nation verfolgt und nur Hindus, Buddhists, Sikhs als Teil Indiens ansehen. Muslime würden nicht zu Indien gehören. Seit der Regierung unter Modi gab es laut einer Analyse der Bertelsmann Stiftung mehr als 23 Lynchmorde an Muslime in vorwiegend BJP-regierenden Bundesstaaten.
Juli 2016 töteten indische Sicherheitskräfte den jungen Rebellenführer der kaschmirischen militanten und separatistischen Gruppe Hizbul Mujahideen, Burhan Wani. Dieser hatte in den Medien eine breite Anhängerschaft. So gingen tausende von Jugendlichen auf die Straße, die teilweise gewaltsam gegen den indischen Staat und seinen Sicherheitsapparat protestierten. Im September 2016 wurde laut Indien, der Militärstützpunkt von Uri im Bundesstaat Jammu und Kaschmir von durch Pakistan unterstütze Terroristen angegriffen. Dabei kamen 19 indische Soldat*innen ums Leben. Daraufhin hat die indische Regierung Trainingscamps von Terroristen auf pakistanischem Territorium angegriffen. Am 14. Februar 2019 eskalierte die Lage, als im indischen Teil Kaschmirs auf einer Autobahn ein Wagen mit 350 Kilo Sprengstoff explodierte. Die muslimische Terrorgruppe Jaish-e-Mohammed bekannte sich zu dem Anschlag. Es kamen mehr als 40 Menschen um. Tage später kam es zu gegenseitigen Angriffen auf Terroristencamps in Pakistan seitens Indien und Abschuss von indischen Kampfflugzeugen seitens Pakistans. In Indien verschärfte sich die anti-pakistanische Rhetorik.
Nun in den Parlamentswahlen von April-Mai 2019 in Indien gewann die BJP-Partei landesweit die absolute Mehrheit der Wahlkreise (303 von 543) und eine absolute Mehrheit der Sitze im Unterhaus (545 Sitze). Es ist seit dem ein offensichtlich konfrontativer Kurs der aktuellen indischen Regierung gegen Pakistan und der muslimischen Minderheit in Indien zu sehen. In einem Interview sagt Historiker Andrew Whitehead, dass die BJP nun das umsetzt, was schon lange auf ihrer hindu-nationalistischen Agenda stehe, nämlich die Aufhebung der Autonomierechte des einzigen indischen Bundesstaates, dessen Bevölkerung mehrheitlich muslimisch ist.
Parlamentarische Demokratie nur auf Papier
Mit der plötzlichen Aufhebung des Artikels 370 der indischen Verfassung über Nacht führte die indische Regierung ihr Projekt der Abschaffung der Verfassung, des Föderalismus und der Demokratie fort. Es gibt keine gewählte Versammlung in Jammu und Kaschmir. Dies wurde 2018 aufgelöst. Es hätte daraufhin 2019 Parlamentswahlen in Jammu und Kaschmir geben müssen, doch diese fanden nicht statt. Kavita Krishnan sagt in einem Video von Tathya: „Wenn die indische Verfassung so abgeschafft werden kann, wenn eine föderale Struktur, ein Staat über Nacht abgeschafft werden kann, dann wird es morgen nicht bei Kaschmir aufhören, es wird zu uns vor die Türschwelle kommen. Dies ist im Grunde genommen eine Notstandserklärung. Sie werden alle unsere Rechte über Nacht so aufheben. Deshalb müssen wir jetzt protestieren. Wir protestieren nicht nur für Kaschmir, sondern auch für jeden Inder für Indien und die konstitutionelle Demokratie Indiens.“ Die indische Demokratie war besonders unter der Regierung Modi mit polarisierender, autoritärer und populistischer rechter Politik schon vor der illegalen Aufhebung der Artikel 370 und 35A defekt. Dies zeigt sich jetzt nur offensichtlicher und fortgeschrittener. Der indische Staat ist auf dem Weg einer faschistischen Diktatur mit der hindu-nationalen BJP Regierungspartei und keiner effektiven bzw. zerstreuten Opposition. Die „indische Demokratie stirbt im Schweigen“, so Aman Sethi.
Forderungen und internationale Dimension
Kaschmir ist jetzt ein offenes Freiluftgefängnis. Der Bericht Kashmir Caged verlangt eine Widerherstellung des Artikels 370 und 35 A, sowie freie Meinungsäußerung, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit und Aufhebung der unbegründeten Hausarreste. Des Weiteren müsse sofort jegliche Kommunikation über kaschmirische Fernsehsender, Festnetz und Mobilfunknetz und Internetzugang wiederhergestellt werden. Was in Kaschmir passiert, müsse international in den Medien verbreitet werden.
Eine internationale Solidarität sei erforderlich. So sagt eine Person aus Kaschmir, die gerade in Deutschland lebt: „Deutschland oder Europa könnte Kaschmir enorm helfen, aber Indien ist ein großer Markt, und ich denke, keines der europäischen Länder würde sich irgendwelche Probleme mit Indien wünschen. Aber ich wünschte, sie würden ihre Interessen beiseite lassen und den Menschenrechtsverletzungen mehr Bedeutung beimessen und den Völkermord in Kaschmir stoppen.“ Vor allem die Vereinten Nationen müsse jetzt schnell und effektiv handeln, doch bisher ist nur Passivität zu sehen. Es wird gefordert, Druck auf die indische Regierung auszuüben und Resolutionen gegen diese zu verabschieden.
Die Annektierung Jammu und Kaschmirs von der indischen Regierung ist eine Provokation vor allem für Pakistan, aber auch für China, Pakistans ältester Verbündeter. Am 15. August forderte China, den UN-Sicherheitsrat auf, noch diese Woche zur Lage in Kaschmir zu tagen und unterstützt dabei die Forderung Pakistans. Pakistans Premierminister Imran Khan ist der Meinung, Indien würde Angriffe auf den pakistanischen Teil Kaschmirs planen und bringt Truppen in Stellung. Russland und Israel hingegen sind enge Verbündete Indiens. Israel ist daran interessiert rechte Politik international zu unterstützen und befürwortet Siedlerkolonien und Mauernziehungen in Kaschmir und anderen Staaten, um auch ihre eigene Kolonialmacht zu legitimieren. Die Vereinigten Staaten würden Indien unterstützen, da China und USA zurzeit wirtschaftlich einen Krieg führen. Auch konkurriert China mit Indien wirtschaftlich. Es droht ein verheerender Konflikt zwischen den beiden Atommächten Indien und Pakistan, was internationale Dimension erlangen würde.