Für eine revolutionäre Kultur der Zukunft – Über linke Gedenkkultur

20. Dezember 2017

Im letzten Kommentar zur linken Gedenkkultur in Deutschland von Auguste Salomon wurde richtig bemerkt, dass es nicht nur an der Gedenk-, sondern auch an der Diskussionskultur hapert. Wenn der Aufbau einer revolutionären Bewegung in Deutschland Realität werden soll, braucht es die konstruktive Zusammenarbeit von revolutionären und fortschrittlichen Kräften. Dieser Beitrag soll in diesem Sinne die Debatte solidarisch-kritisch weiterführen. Danke erst mal an die Verfasser*innen der bisherigen Beiträge.

Ich möchte an die interessanten Beobachtung Salomons anknüpfen, dass die linke Erinnerungspolitik – aber auch darüber hinaus die linke Politik – im Deutschland der letzten Jahrzehnte allzu oft eine Opfer-Politik war. Gedacht wird wenn dann „unschuldigen Opfern“, die aufgrund keiner nennenswerten politischen Einmischung auch keine Fehler begangen haben und keiner Kritik unterzogen werden können. Gefallene Genoss*innen werden nicht respektvoll in ihrer Lebensgeschichte mit all ihren (persönlichen, historischen, geografischen …) Widersprüchen wie Leistungen anerkannt, sondern aus der Vermeidung des Umgangs mit Widerspruch und Kritik auf einen Schlag aus dem kollektiven Bewusstsein als Einfluss oder Referenzpunkt gebannt.

Bürgerlich-intellektuell ist daran nicht nur der theoretische Abstraktionsgrad der „Gedenkarbeit“, der reine Theoretiker*innen (Adorno, Foucault, Spivak, Said …) eher zulässt als Menschen, die wirklich organisieren, kämpfen und Neues ausprobieren, sondern auch der polizeiähnliche Kontrollmechanismen, die zu Geschichtsverlust, Isolierung, Entsolidarisierung, Schweigen und reaktionären Widersprüchen in unsere Reihen führt.

Die durch die kurdische Bewegung wieder in die Diskussion gebrachte revolutionäre Praxis der Kritik und Selbstkritik sollte uns als bescheidene Revolutionär*innen aber gerade darin unterstützen mit den allgegenwärtigen Widersprüchen umzugehen. Widersprüche durchzeichnen unsere Welt, auch unser Selbst und unser Handeln. Lernen und wachsen können wir individuell wie kollektiv nur durch eine ehrliche Auseinandersetzung mit eben diesen Widersprüchen, mit unseren Fehlern und Problemen. Durch Verdrängung kann es bekanntlich keine Lösung geben, zumindest keine die einer „radikalen“ Linken würdig ist. Die selbe Offenheit, die wir im Sinne der Kritik und Selbstkritik unseren Genoss*innen entgegenbringen sollte auch unseren Gefallenen gelten, egal welcher revolutionären Tradition sie angehörten. Ich trauere um jede*n unserer gefallenen Genoss*innen, weil mit jeder*m von ihnen ein nach Gerechtigkeit und Freiheit strebender Mensch für die uns gemeinsame Sache sein Leben gegeben hat.

Gedenken an die Opfer dieses Systems

Im Beitrag von Kreutzhof wurde der Artikel von Maulhofer und Oggenbach damit kritisiert, die Opfer des NSU-Terror seien in der vorgenommenen Auflistung von Gefallenen unter den Tisch gefallen. Das ist zunächst eine richtige Beobachtung. Ob damit die Gültigkeit der ursprünglichen Kritik aufgehoben ist, ist eine andere Frage. Ich denke nicht. Das Versäumen eines Großteils der radikalen/revolutionären Linken, die Mordserie der NSU-FaschistInnen zu einem zentralen Thema zu machen, liegt aber nicht zuletzt auch an der Fragmentierung und Unorganisiertheit der Linken. Der liberal-identitären Verfassung vieler selbst erklärter antirassistischer Gruppen und dem häufigen Unvermögen von Antifa-Politik auf die aktuellen Geschehnisse zu reagieren und öffentlich jenseits von Black Block Demos, phrasenhafter Propaganda und Eventpolitik positiv wirksam zu sein.

Es gibt unzählige Opfer faschistischen, militärischen, polizeilichen oder imperialistischen Terrors (allein der BRD) denen unsere Bewegung leider nicht gedenkt. Tote Migrant*innen im Mittelmeer, tote Arbeiter*innen in den südasiatischen Produktionsstätten der imperialen Konsumgüter (ob durch Fabrikeinsturz oder Suizid), Tote durch US-Drohnen, die aus Rammstein nach Afghanistan, Pakistan und Somalia geflogen werden. Aber das liegt primär an der brutalen Gewalt dieses Systems, nicht an unserem Gedenken an unseren gefallenen Genoss*innen. Angesichts der zahllosen Opfer kann die Lösung nicht sein, in unendlichem Trauern zu verharren. Weil wir diese Gewalt gegen unsere Brüder und Schwestern nicht weiter hinnehmen wollen, muss revolutionäre Gedenkarbeit auf die Ablösung dieses brutalen Systems und den Aufbau einer freien, solidarischen und friedlichen Gesellschaft hinarbeiten.

Wer sind wir? Wer wollen wir sein?

Die von Kreutzhof geleistete „Kritik“ stellt vielmehr die Frage nach dem Verhältnis von linken Aktivist*innen/Revolutionär*innen und den Massen der Gesellschaft im Licht der Debatte um linke Gedenkkultur.

Und hier ist gerade entscheidend, welches Verhältnis zum Volk1, d.h. auch welches Selbstverständnis unserer „linken“ Arbeit zugrunde liegt. Sehen wir uns als Aktivist*innen? Die Kritik an diesem Konzept wurde hier2 schön ausformuliert. Sehen wir uns als Revolutionär*innen? Wenn ja, was bedeutet das? Wenn es bedeutet, dass wir uns für etwas besseres halten als die Massen und deshalb die Opfer des NSU weniger Aufmerksamkeit erhalten sollten als ein Silvio Meier oder eine Ivana Hoffmann, dann ist die Kritik mehr als angebracht. (Aber das möchte ich den Genossen Maulhofer und Oggenbach nicht unterstellen. Es wäre sicherlich auch nicht im Sinne Silvios oder Ivanas gewesen.) Wenn es bedeutet, dass wir den revolutionären Prozess bewusst voran treiben (wollen), kann das nur unter engster Zusammenarbeit mit dem Volk passieren. Das Volk macht die Revolution, in den Massen liegt unsere Hoffnung. Entsprechend ist jeder faschistische (sexistische, rassistische, homophobe, …) Angriff auf das Volk eine Attacke, die wir als Revolutionär*innen nicht unbeantwortet lassen dürfen. Gleichzeitig sind das hohe Anforderungen an unsere organisierte Strukturen, die nicht direkt auf nationalem Maßstab umgesetzt werden können. Fangen wir deshalb am besten in unserer Nachbarschaft damit an.

Unsere Leute dabei abfällig als „Kartoffeln“ (Salomon) zu bezeichnen, wie Antideutsche, PoC-Identitäre oder andere kleinbürgerliche Linkskintellektuelle es tun, oder eine andere negative Haltung zu unseren (weißen Deutschen oder anderen) Brüdern oder Schwestern einzunehmen, sollten wir spätestens dann ablegen. Wie Salomon wiederum richtig bemerkt ist kein Mensch, auch kein*e Genoss*in, ganz frei von den Widersprüchen seiner Gesellschaft, die wir doch gemeinsam überkommen wollen. Unsere Politik sollte in diesem Sinne darauf abzielen, anstatt prinzipiell die negative Seite eines existierenden Widerspruchs zu betonen, nach einer praktischen Lösung des Widerspruchs zu suchen. Wir sollten im Hier und Jetzt beginnen positiv vorzuleben, wie wir uns stattdessen eine revolutionäres Miteinander vorstellen.

Deutsche Kultur – ein Anachronismus

Viel Kritik an der Linken wird aktuell unter Heranziehen der Theorie und Praxis der kurdischen Bewegung formuliert. Das ist gut, zumal von der kurdischen Freiheitsbewegung viel zu lernen ist, und dennoch unausreichend, weil die PKK selbst nicht fehlerfrei ist und es auch andere Beispiele revolutionärer Organisierung in unserer Zeit gibt, denen mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden könnte. So geht auch Salomon auf die in der Türkei und Kurdistan verbreitete linke Gedenkkultur ein und behauptet, dass ein „solcher Umgang mit den Toten (…) in Deutschland jedoch schwerlich zu erreichen sein“ würde. Es stimmt dass der Umgang mit dem Tod in der deutschen Gesellschaft anders als in der Türkei und Kurdistan. Auch wenn ich diesen Gedanken teile, handelt es sich dabei doch um eine leere Phrase. So wie es ist, darf es nicht bleiben – die deutsche Linke muss sich ändern und weiterentwickeln. So wie sich eine in der Gesellschaft verankerte revolutionäre Bewegung (ich meine keine subkulturelle Szene) erst noch entwickeln muss, muss sich auch eine entsprechende revolutionäre, kollektive und emotionale Gedenkkultur erst noch entwickeln.

Salomon bemerkt außerdem, dass eine „Sterbekultur wie sie in Deutschland vorherrscht“ sich „schlecht mit Märtyrertum und Gedenken“ verträgt. Das ist eine gute Beobachtung der Gegenwart. Aber was ist auch die deutsche Kultur (und Sterbekultur) aktuell anderes als eine zutiefst bürgerlich-kapitalistisch-imperialistisch-nationalstaatsgläubige Kultur – und damit auch im Fall eines Todes in der Regel fokussiert auf das private Individuum, sein Eigentum bzw. (Ver)Schulden und bürokratischen Stress? Die Gesellschaft, und damit die dominante Kultur, muss sich revolutionieren, deshalb sollten wir in unserer politischen Arbeit einen anderen Umgang mit Gedenken, Tod und unseren Gefallenen entwickeln: aufrichtiger, persönlicher, emotionaler, kollektiver. Der Gedanke, dass eine deutsche linke Gedenkpraxis „sehr viel differenzierter und kühler an die Sache gehen“ (Salomon) muss als die türkische oder kurdische Linke ist deshalb nicht richtig. Dass unsere Arbeit auf der wissenschaftlichen Analyse der internationalen und innergesellschaftlichen Verhältnisse aufbauen muss gilt für die Genoss*innen im Nahen Osten genauso wie für uns in Europa. Dass die deutsche Kultur allgemein „kühl“ ist, liegt am seit hunderfünfzig Jahre alten, hier herrschenden System hierarchisch-militaristischer, bürgerlich-liberaler, kapitalistisch-imperialistischer, und national-staatlicher Kultur. Es ist ein Umstand, den wir mit demokratisch-anti-militaristischer, proletarisch-revolutionärer, anarchistisch/kommunistisch-solidarischer und internationalistisch-anti-staatlicher Haltung, Ideologie und kontinuierlicher Organisierungspraxis bekämpfen müssen.

Erinnerungskultur und der Kampf für eine bessere Zukunft

Dass die Namen unserer Gefallenen wie Olga Benario, Tamara Bunke, Andrea Wolf und Kevin Jochim, Berkin Elvan, Ibrahim Kaypakkaya, Mazlum Doğan, Sakine Cansız, Bobby Sands, Fred Hampton oder Buenaventura Durruti nicht in Vergessenheit geraten, hängt nicht zuletzt an der Stärke unserer Bewegung. Das Selbe gilt für die Gefangenen in den Kerkern des Feindes. Es gilt für die Familien und Angehörigen der Gefallenen und Gefangenen. Und nicht nur politische Gefangene, auch alle anderen hinterlassen eine Familie, die von der Gewalt des Staates getroffen wurden und die auf Unterstützung angewiesen ist. Denken wir jenseits von Symbolik und dem Einzelfall, denken wir immer auch an die Gemeinschaften, die Familien und Freund*innen der Gefallenen, und wie wir mit ihnen den Kampf ihrer Geliebten weiterführen können.

Erinnerungskultur ist Kultur. Und Kultur ist mehr als passive Ästhetik, Bräuche und Tradition – zumindest hat sie das Potential dazu. Kultur „ist ein Mittel mit dem Menschen ihren Widerstand gegen Herrschaft ausdrücken, ein Mittel um die eigene Menschheit zu erklären und neu zu erfinden, ein Mittel um Handlungsfähigkeit durchzusetzen, den Kapitalismus zur Geschichte zu machen. In einem Wort, Kultur ist eines der grundlegenden Werkzeuge im Kampf um Befreiung.“3

Die Erinnerungskultur, das Bewusstsein für unsere Geschichte und unsere Gefallenen darf nicht in der Vergangenheit hängen bleiben. Dort ist sie nicht nur von keinem Nutzen für unsere Kämpfe von heute, sondern steht unter Gefahr von den historischen Tätern und ihren politischen Erben vereinnahmt zu werden, wie die Entwicklung der hegemonialen deutschen Erinnerungskultur zeigt4. Stattdessen sollte sie uns helfen eine bessere Zukunft zu errichten. Eine revolutionäre Erinnerungskultur muss das Ziel des Kampfes klar gesetzt haben, indem sie kontinuierliche gesellschaftliche Organisierung, politische Bildung und den Aufbau von nicht-staatlichen Strukturen vorantreibt.

#Can Yıldız

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1Im Sinne von „Halk“ (Türkisch), „Sha3b“ (Arabisch) oder „Pueblo“ (Spanisch). Gemeint ist hier anders als in den meisten deutsch-linken Räumen nicht die Nation oder die Rasse, sondern die ausgebeuteten Klassen der Gesellschaft, also Proletariat, Bäuer*innen, Lumpen, Kleinbürgertum. Ich finde es sinnvoller solche allgemeinverständlichen Begriffe mit revolutionärer Deutung zu versehen und sie den Faschisten strittig zu machen, als auf Wortspielchen wie „Normalbevölkerung“ (Jaab in http://lowerclassmag.com/2017/12/antistaatliche-raeume-muessen-ausgeweitet-werden-ueberall/) zu setzen und gleichzeitig zu bemängeln, dass die gängige „linke Sprache“ der Organisierung mit den „Leuten von unten“ (Nate57) komplett im Weg steht.

2https://libcom.org/library/give-up-activism

3Übersetzung CY. https://roarmag.org/essays/amilcar-cabral-revolutionary-anticolonialism/

4http://projektkritischeaufklaerung.de/de/die-konferenz/

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