Die Produktionsseite der imperialen Lebensweise
Profit und Kapitalakkumulation sind dem Kapitalismus ebenso Ziel wie Voraussetzung. Daraus ergibt sich ein Wachstumszwang, ein innerer Zwang zu expansiver wirtschaftlicher Aktivität, deren Grundlage die Ausbeutung von Mensch und Natur bildet.1
Mit ihrer dynamischen Ausweitung wurden zunehmend gesellschaftliche Verhältnisse und Naturverhältnisse der Warenförmigkeit unterworfen und in die kapitalistische Produktionsweise integriert. Eigen ist der kapitalistischen Produktionsweise u.a., dass sie für ihre ökonomische Expansion zwar zunächst außerökonomischer Unterstützung bedarf, aber nicht notwendig eine dauerhafte politische Kontrolle der erschlossenen Territorien voraussetzt, sobald sich ihre Einbindung in die Warenproduktion und den Warenaustausch vollzogen hat. Auch wenn Ungleichheit, Macht, Herrschaft und Gewalt immanente Bestandteile des kapitalistischen Systems sind. Dies ist für Brand und Wissen eine zentrale Voraussetzung, dass sich die imperiale Lebensweise entwickeln und entfalten konnte.
Neokoloniales Nord-Süd-Verhältnis
Der Kapitalismus erreicht seit jeher seine Produktivität nicht nur durch eine innere Entwicklung und Ausdehnung der Warenproduktion sondern stets auch darüber, sich Arbeitskraft und Naturproduktivität andernorts anzueignen. Der Transfer, der im globalen Süden geschaffenen Werte in die kapitalistischen Zentren, in Form von Rohstoffen, Vor- oder Endprodukten niedriger Verarbeitungsstufe, wird rechtlich durch Handelsabkommen, durch politischen Druck und/oder militärische Gewalt sichergestellt. Die Abnahme industriell hochwertiger Endprodukte oder beispielsweise landwirtschaftlicher Überproduktion des globalen Nordens sowie die Möglichkeiten der Einflussnahme auf Preisniveaus ergänzen die ungleichen ökonomischen Beziehungen. Ein in den Zentren kaum erkennbarer Druck der Unternehmen und Endverbraucher auf Mensch und Natur im globalen Süden ist das Ergebnis der imperialen Lebensweise. Sie geht einher mit Enteignung und Vertreibung, etwa durch Privatisierung von Gemeingütern, Verarmungsprozessen, Naturzerstörung oder der Reduktion von Ökosystemen auf CO2-Senken, um den CO2-Ausstoß im globalen Norden teilweise zu kompensieren.
Die Profiteure der Ausbeutung
Am stärksten profitieren von der Entwicklung des globalen Kapitalismus und der imperialen Lebensweise die Vermögenden und Eigentümer der Produktionsmittel in den kapitalistischen Zentren. Allerdings auch weite Teile der Lohnabhängigen im globalen Norden, sei es als ArbeitnehmerInnen und/oder EndverbraucherInnen, wenn auch durchaus heterogen sowie qualitativ und quantitativ in anderen Sphären als die besitzende Klasse. Eine schmale Elite und teilweise auch die Mittelschichten des globalen Südens können sich ebenfalls zu den Profiteuren zählen, v.a. und zunehmend in den Schwellenländern.
Die Ausweitung der imperialen Lebensweise
Mit der sich entwickelnden Teilhabe am zuvor vollständig in die Zentren transferierten Wohlstand, entwickelte die imperiale Lebensweise ab Mitte des 19. Jahrhunderts auch dort Attraktivität, wo zuvor nur die sozialen und ökologischen Kosten angefallen waren. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bewirkte die Fokussierung auf Massenkonsum, die Übereinstimmung von Produktions- und Konsumnormen, eine Ausdehnung der imperialen Lebensweise, jener Vorstellung eines „guten Lebens“, die die globalen menschlichen und natürlichen Ressourcen überbeansprucht. Seine enorm ressourcen- und emissionsintensive Produktions- und Konsumweise beansprucht die globalen Ressourcen und Senken in einem bis dahin unbekannten, zugleich nicht verallgemeinerbaren und nicht aufrechterhaltbaren Ausmaß. Zusehends löste der Transportsektor die Industrie als größten direkten Energieverbraucher ab.
„Entwicklungsmodell“ in Lateinamerika
In Lateinamerika bildet der Neoextraktivismus nach wie vor die Grundlage eines fragwürdigen Entwicklungsmodells. Mit der steigenden Weltmarktnachfrage nach unverarbeiteten Rohstoffen wurde verstärkt auf deren Ausbeutung bzw. eine auf sie ausgerichtete Industrie gesetzt. Damit zusammenhängende Investitionen, Arbeitsplätze, Exporte und Staatseinnahmen bildeten die Basis für Beschäftigung im öffentlichen Sektor, Umverteilung und Sozialtransfers, eine hohe Konsumquote und somit eine wirtschaftliche Dynamik. Das Einbrechen des Rohölpreises macht – nicht zum ersten Mal – auch ökonomisch die Kurzsichtigkeit dieses Entwicklungsmodells deutlich, das auf Ressourcenextraktion mit stark schwankenden Preisen setzt. Dennoch wird am neoextraktivistischen Entwicklungsmodell festgehalten, das teilweise sogar intensiviert wird, um die geringeren Einnahmen auszugleichen und die sozialen Folgewirkungen abzudämpfen. Abgesehen von der ökonomischen Fragwürdigkeit dieses Modells werden die ökologischen Folgekosten v.a. auf künftige Generationen ausgelagert.
– Benedicto Pacifico
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Ulrich Brand und Markus Wissen: Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur in Zeiten des globalen Kapitalismus. oekom verlag 2017. 224 S., € 14,95,-
Anmerkung:
1 Ausbeutung ist hier im Grunde ein ökonomischer und kein moralischer Begriff. Die Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft ergibt sich aus der Differenz zwischen dem – von der Arbeitskraft im kapitalistischen Produktionsprozess erarbeiteten – Mehrwert und den Reproduktionskosten der Arbeitskraft, die durch den Lohn abgedeckt werden sollten. Die Ausbeutung der Natur beschreibt ihre Nutzung als Rohstoffquelle oder Produktivkraft. Der Ausbeutungsgrad kann selbstverständlich variieren und zerstörerisch auf Mensch und Natur wirken.
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