Über die Entführung des Staatsanwalts Mehmet Selim Kiraz. Das letzte Telefoninterview mit dem den DHKC-Aktivisten Bahtiyar Doğruyol und Şafak Yayla vor ihrem Tod –
Am gestrigen Dienstag nahmen zwei Aktivisten der marxistisch-leninistischen Stadtguerilla DHKC in Istanbul den ermittelnden Staatsanwalt im Fall des von der Polizei getöteten Jugendlichen Berkin Elvan gefangen. Über Stunden zogen sich die Verhandlungen, die Angreifer stellten durchaus erfüllbare Forderungen nach der Veröffentlichung der Namen der Mörder Berkins. Am Ende stürmten Sondereinheiten der türkischen Polizei das Büro im Gerichtsgebäude von Caglayan, in dem Kiraz gefangen gehalten wurde und töteten beide Aktivisten. Ob auch der Staatsanwalt durch die Kugeln der Polizei starb, ist bislang unklar. Der linke Anwaltsverband CHD hat in einer ersten Einschätzung geschrieben, der Staat sei auch für die dann tödlichen Verletzungen des Staatsanwalts verantwortlich, eine Tonbandaufnahme kurz vor dem Sturm zeigt, dass noch verhandelt wurde, als die Polizei zu schießen begann.
Die Aktion der beiden DHKC-Mitglieder wurde am späten Abend in mehreren Städten der Türkei zum Ausgangspunkt schwerer bewaffneter Auseinandersetzungen zwischen der revolutionären Linken und der Staatsmacht. Militante aller – ansonsten einander eher skeptisch gegenüberstehender – Fraktionen, von DHKC über MKP, TKP-ML bis hin zur PKK-Jugend YDG-H zeigten sich solidarisch und begannen Barrikaden zu errichten und die Polizei anzugreifen.
Eine halbe Stunde bevor sie umgebracht wurden, haben die Aktivisten Bahtiyar Doğruyol und Şafak Yayla dem bekannten türkischen Journalisten Ahmet Şık ein Interview gegeben, das zuerst in der Cumhuriyet erschien. Wir haben das Gespräch übersetzt.
Werdet ihr eure Aktion beenden? Auf welchem Stand sind die Verhandlungen?
Über unseren Twitteraccount haben wir die aus den Verhörakten entnommenen Einsatznummern der Polizisten veröffentlicht. Laut den Akten hat das Kriminaldezernat („Emniyet Kriminal Bürosu“) diese drei der 21 Verdächtigten Polizisten besonders hervorgehoben. Wir haben also herausgefunden, dass diese drei Polizisten diejenigen sein könnten, die Berkin ermordeten. Auch der Staatsanwalt gab uns diese Information. Wir fordern bei den Verhandlungen, dass die Identität dieser drei Polizisten per Liveübertragung veröffentlicht wird. Dass Berkins Mörder mit einer 99 prozentigen Wahrscheinlichkeit diese Polizisten sind, haben uns auch die Verhandlungsteilnehmer gesagt. Wir fordern deshalb, dass diese Namen der Öffentlichkeit im Fernsehen gezeigt werden.
Wir haben auch die hier vorhandenen Akten studiert. Wir haben uns die Bilder der verdächtigten Polizisten angesehen. Im Bericht des Kriminaldezernats wurden diese drei Polizisten sowieso rot eingekreist. Einer heißt G.T. und seine Dienstnummer ist 35…. Die Dienstnummern der anderen Polizisten haben wir übermittelt und wollen, dass die Namen veröffentlicht werden.
Denkt ihr, dass man euren Forderungen entgegenkommt?
Bis heute kannte man die Namen der Mörder von Berkin Elvan, aber sie wurden nicht bekanntgegeben. Mit unserer Initiative werden die Namen bekanntgegeben und der Prozess durchgeführt. Auch bei den Prozessen von Ali Ismail Korkmaz und Ethem Sarısülük wusste man, wer die Mörder waren. Aber es liegt auf der Hand, wie diese Prozesse endeten. Die Mörder erhalten niemals die erforderliche Strafe. Aus diesem Grund wollen wir, dass die Mörder vor Volksgerichten verurteilt werden. Dies ist unsere zweite Forderung.
Was passiert, wenn die Forderungen nicht erfüllt werden?
Unsere Forderungen sind klar. Die Namen müssen veröffentlicht werden. Die Verhandlungsteilnehmer sollen ihr Engagement zum Ziel führen. Die Identitäten der Polizisten sollen veröffentlicht werden. Diese Polizisten sollen außerdem per Liveübertragung ein Schuldgeständnis ablegen. Sobald diese Forderungen erfüllt sind, sind wir bereit, über die vorher erwähnten Forderungen zu verhandeln. Sollte unseren Forderungen nicht nachgegangen werden, werden wir das Angekündigte realisieren. Wir haben die Dienstnummern („sicil numara“) der Polizisten übermittelt. Wir wollen, dass die Namen veröffentlicht werden. Wir könnten die Aktion nach der Veröffentlichung der Namen beenden. Wir geben hiermit ein letztes Interview und setzen eine halbstündige Frist (läuft ab um 19:40). Sollten sie nicht an die Öffentlichkeit treten und ein Schuldgeständnis ablegen, werden die Verhandlungen beendet. Die Telefonverbindung wird dann unterbrochen und wir werden den Staatsanwalt bestrafen.
War es eure Forderung, die den Polizeipräsidenten und den stellvertretenden Generalstaatsanwalt dazu veranlasst haben, gegen Mittag eine Erklärung abzugeben?
Ja, entsprechend unserer Forderungen wurde diese Erklärung abgegeben. Nachdem wir mit der Aktion anfingen, haben wir drei Stunden eingeräumt. Kurz vor dem Ablauf des Ultimatums konnten wir mit den Verhandlungsteilnehmern in Verbindung kommen. Wir haben gesagt, dass die Verhandlung fortgeführt wird, sobald sich die Zuständigen dazu verpflichten, die Namen der Mörder von Berkin Elvan zu veröffentlichen. Daraufhin haben der Polizeipräsident und der stellvertretende Generalstaatsanwalt öffentlich eine Erklärung abgegeben. Und wir haben das Ultimatum verlängert. Wenn diese Erklärung nicht stattgefunden hätte, würde das Ultimatum nicht verlängert werden.
Es verbreitete sich das Gerücht, dass ihr mit Anwaltsausweisen eingetreten seid, oder dass ihr selbst Anwälte seid. Wie konntet ihr das Gerichtsgebäude mit Waffen betreten?
Dazu werden wir keine Erklärung abgeben. Mit der Zeit wird dies sowieso ans Licht kommen. Aber zu diesem Zeitpunkt werden wir keine Erklärung abgeben. Solche Gerüchte machen die Anwälte zu Zielscheiben. (…) In diesem Land wurden Anwälte schon häufig zu Zielscheiben. Weil sie ihren Mandanten zur Seite standen, wurden sie in Knäste geworfen und sogar getötet. (…) Denn jeder, der nicht auf der Seite der AKP oder des Systems steht, stellt in diesem Land eine Zielscheibe dar. Wir sind zudem keine Anwälte sondern Kämpfer der DHKC. Letztendlich haben wir uns dazu entschlossen, diese Aktion durchzuführen und haben jede Möglichkeit probiert. Wir sahen uns zu dieser Aktion gezwungen.
Kann eine bewaffnete Aktion Gerechtigkeit verschaffen?
Für die Herstellung von Gerechtigkeit haben sich die Revolutionäre in diesem Land viel Mühe gegeben. Bis zum heutigen Tag gab es viele Aktionen. Die Revolutionäre haben Aktionen durchgeführt (…). Anstelle der Mörder wurden die Aktivisten festgenommen. Es wurden Ermittlungen gegen sie geführt. Sie wurden gefoltert. (…) Auch wir sind heute hier, um Gerechtigkeit zu schaffen. Unsere Methode und die Aktion sind legitim.
Ihr sagt, dass der Staatsanwalt bestraft wird, falls eure Forderungen nicht erfüllt werden. Ist dies legitim?
Wir geben uns alle Mühe, dass dies nicht geschieht. Ob unseren Forderungen nachgegangen wird und ob dem Staatsanwalt etwas zustößt, liegt in ihren Händen. Letztendlich sind es ihre eigenen Staatsanwälte und Polizisten. Diese Staatsanwälte und Polizisten sind es, die ihre Ordnung schützen. Wenn sie nicht wollen, dass ihnen etwas geschieht, dann sollen sie unsere Forderungen erfüllen. Wir denken nicht, dass diese Ordnung ihre eigenen Menschen schätzt. Sie werden benutzt, aufgebraucht und weggeworfen. Alles weitere ist ihnen überlassen. Weiteres werden wir nicht zur Verhandlung stellen.
Wie sieht es mit dem Gesundheitszustand des Staatsanwalts aus? Können wir mit ihm sprechen?
Ich kann euch nicht mit ihm sprechen lassen. Aber sein Gesundheitszustand sieht gut aus. Er hat ohnehin schon mit einem anderen Staatsanwalt und einem zuständigen Polizisten gesprochen und selber gesagt, dass es ihm gut geht.
Hattet ihr irgendeine Diskussion mit dem Staatsanwalt?
In den Medien kursieren Nachrichten, die sagen, dass er sich viel Mühe gegeben hat, um die Mörder von Berkin Elvan zu finden. Ja, wir haben mit ihm gesprochen. Er versucht, sich selbst zu verteidigen. Aber wenn man in die Akten schaut, sieht man einzig und allein die Anfragen der Anwälte. Wir sehen keine Bemühung des Staatsanwalts, die Akte voranzubringen. Wir kennen den Entwicklungsprozess der Akten bis zum heutigen Tag. Bis zum heutigen Tag haben die Staatsanwälte in keinster Weise in diesen Vorfall eingegriffen.
Die Anwälte und die Familien (der Ermordeten) sind den Kameraaufnahmen (des Mordes an Berkin Elvan) nachgelaufen. Die Revolutionäre haben aus diesem Grund zigmal Aktionen durchgeführt. Sie wurden in Gewahrsam genommen, gefoltert und verhaftet. (…) Es liegt ohnehin auf der Hand, was die Justiz bei ähnlichen Prozessen getan hat. Sie schützen einzig und allein den Staat und die Verbrecher. In dieser Akte ist der Staatsanwalt dafür verantwortlich, die Polizisten geschützt zu haben. Wir haben ihm das auch gesagt. Berkin Elvans Ermordung hat ohnehin eine breite Reaktion in der öffentlichen Meinung erreicht. Hunderttausende Teilnehmer an Berkins Beerdigung hatten gegen diese Ungerechtigkeit rebelliert.
Relativiert eure Aktion nicht diese legitime Unmutsbekundung?
Berkin Elvan war ein Kind wie jedes andere, aber er war unser Kind. Wir kannten Berkin. Persönlich kannten wir ihn aus dem Viertel. Berkin ist ein Kind, dass unter unserer Obhut aufwuchs. Er ist unser Herzblut, unser Bruder, unser Genosse. Die Teilnahme von Millionen an seiner Beerdigung kam nicht von selbst. Die Revolutionäre haben 360 Tage lang Aktionen durchgeführt, um auf die erlebte Ungerechtigkeit hinzuweisen und eine öffentliche Meinung zu bilden. Während der Juni-Aufstände sind viele Märtyrer gefallen, aber keiner hatte solch eine Beerdigung. Natürlich war Berkin ein Kind und auch sein Alter spielte eine Rolle dabei, dass sich diese Massen für Berkin zusammengefunden haben. Als wir uns zu dieser Aktion entschlossen, haben wir ganz am Anfang darauf hingewiesen, dass alles mögliche versucht wurde. Es wurde darauf bestanden, dass auf Wegen der Demokratie etwas geschieht. Aber da nicht für Gerechtigkeit gesorgt wurde, haben wir gesagt, dass wir die Gerechtigkeit mit unseren Gewehrläufen herstellen werden. Die Legitimität hierfür ziehen wir aus unserer Ideologie.
Istanbul: TelefonINTERVIEW mit Bahtiyar Doğruyol und Şafak Yayla (DHKC) kurz vor ihrer Ermordung (Lowerclassmagazin) | Initiative gegen Militarisierung und Krieg 2. April 2015 - 12:47
[…] http://lowerclassmag.com/2015/04/berkin-war-unser-herz-unser-bruder-unser-genosse/ […]
“Berkin was our heart, our brother, our comrade.” | aNtiDoTe 13. April 2015 - 21:01
[…] gag order. One such page was that of our comrades at Lower Class Magazine, which had published a German translation of Şik’s interview with Bahtiyar Doğruyol and Şafak Yayla along with a short foreword, all of […]