Ein Reisebericht aus Palästina in Schlaglichtern von Kreuzberg United
Von Ende Juli bis Mitte August waren wir Teil einer internationalen Delegation nach Palästina. Nach einer mehrtägigen politischen Tour zunächst durch israelisches Staatsgebiet und später durch die Westbank, ging es für eine Woche nach Farkha, einem kleinen Ort nahe Salfeet. Dort veranstaltete die Palestinian Peoples Party (PPP), die Erbin der historischen kommunistischen Partei, zum 27. Mal das „Farkha-Festival“ für Jugendliche aus Palästina und der ganzen Welt. Mit dabei diesmal Internationalist:innen aus Deutschland, Österreich, Dänemark, Italien und Kurdistan. Bei der Rundreise und bei politischen Vorträgen und kulturellen Programm, sowie der Freiwilligenarbeit auf dem Festival konnten wir viel lernen und erleben, wovon wir in ein paar Schlaglichtern berichten wollen.
Das Land
Kurz und knapp zum allgemeinen Verständnis: Palästina ist seit der Staatsgründung Israels 1948 im Großen und Ganzen in drei Teile gespalten. Ein Großteil wurde dabei offizielles Gebiet dieses Staates; die Palästinenser:innen nennen diesen Teil deshalb auch die ’48er-Gebiete‘. Die Westbank (zu deutsch: Westjordanland, da westlich des Flusses Jordan) ist eine weit kleinere Landfläche im Osten, die aus einem komplizierten Gewirr aus vom israelischem Staat militärisch kontrolliertem Gebiet, völkerrechtlich illegaler Siedlungen und kleinen unzusammenhängenden Abschnitten sogenannter palästinensischer Autonomie besteht. Hinzu kommt nun noch der abgeriegelte, belagerte und überbevölkerte Gaza-Streifen, ein Freiluftgefängnis im Westen an der Mittelmeerküste und der Grenze zu Ägypten.
Über die ganze Delegationsreise hinweg erleben wir das Land in seiner ganzen Schönheit und seiner ganzen Verzweiflung zugleich. Dazu gehören die Jahrtausende alten Olivenhaine, die bunten Märkte und historischen Städte und Häfen, aber auch die Trostlosigkeit heruntergekommener Dörfer und Behelfsbehausungen. Der bedrückende Anblick von Orten der Vertreibung, Bauruinen und offener Armut. Die Gewalt und Brutalität der Besatzung werden insbesondere in der Westbank unübersehbar. Die meterhohen Mauern, die Militärbasen und der Stacheldraht sind ihre beton- und stahlgewordenen Zeugnisse. Die Checkpoints und Siedlungen sind handfester Ausdruck von Schikane und Landraub. In Hebron (arabisch Khalil) konzentriert sich all das besonders beklemmend mitten in der Altstadt. Dort sind ganze Viertel abgeriegelt und so gut wie gänzlich gesäubert. In anderen schützen nur Gitter oder Netze über den Straßen vor Müll und Steinen, die Siedler aus den oberen, bereits übernommenen Stockwerken herabwerfen. Gegen Urin, Säure und Metallstangen schützen sie nicht. Überall zeugen Wandmalereien vom Leid der Hinterbliebenen Ermordeter und von der Sehnsucht nach Gerechtigkeit. Der Weltenwechsel beim Übertreten der Grenze des offiziellen Staatsgebietes Israels ist dabei besonders eindrücklich.
Die Spaltung
Unsere Reise beginnt bei Nazareth bei den jungen Genoss:innen der Israeli Communist Party (ICP, hebräisch Maki), die jüdische und arabische israelische Staatsbürger:innen im Kampf gegen Besatzung und Ausbeutung vereint. Beim späteren Zusammentreffen mit den Genoss:innen in der Westbank fällt auf, wie groß der Keil ist, der zwischen diese beide Seiten getrieben wird. Auf der einen Seite, im Staat Israel, kämpfen Palästinenser:innen gegen die Unterdrückung als Staatsbürger:innen zweiter Klasse an. Währenddessen finden sich die auf der anderen Seite in einer Situation wieder, in der ihnen derselbe Staat als militärische Besatzung gegenübertritt und ihnen gar nichts zugesteht, außer einer korrupten Kollaborationsregierung, die in ein paar zerstreuten Flecken Land auf dem Rücken ihrer Bevölkerung ein wenig Staat spielen darf.
So fällt uns im Nachhinein auf, wie ausgesprochen wertvoll der Kontakt auch mit der ICP/Maki und ihre erstmalige Teilnahme am Farkha-Festival ist. So können wir die linke Perspektive und den Kampf auf beiden Seiten der Mauer kennenlernen und werden Zeuge davon, wie der gemeinsame Kampf der Jugend über die Trennung hinweg eine Stärkung erfährt. Wichtig ist auch, dass wiederholt klar gemacht wird: Sich auf die Spaltungslinie entlang von Religion und vermeintlicher Ethnie einzulassen, würde der Logik des Zionismus, und damit der falschen ideologischen Rechtfertigung des politischen Projektes Israel folgen. Hier waren wir sehr froh über die Teilnahme und inhaltlichen Beiträge des Genossen von der Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost, der die Vereinnahmung des Judentums für diesen Staat als einen Gewaltakt an progressiven Jüd:innen, wie denen seiner Organisation, zurückwies. Wir begreifen: Die Überwindung der aufgezwungenen Spaltung findet im gemeinsamen politischen Kampf statt. Die beste Voraussetzung dafür findet sich aber in der persönlichen Begegnung.
Die Arbeit
Tragendes Element des Farkha-Festivals ist die gemeinsame Freiwilligenarbeit im Dorf. Wir werden in gemischte Gruppen aufgeteilt, die sich auf Baustellen in den kommunalen Schulen, dem Kindergarten, der Dorfklinik, oder dem ökologischen Garten betätigen. Jeden Morgen werden wir in aller Frühe geweckt durch ein lautes „Yallah, shabab, good morning!“, das uns für die Arbeit frisch macht. Diese Volunteer-Work, mit der unser Tag beginnt, hat seit dem Sozialisten Tawfiq Ziad eine lange Tradition in der palästinensischen Linken.
Wir verstehen schnell, warum: Hier erleben wir Arbeit auf eine ganz neue Weise. Zuhause, in unseren Seminaren zur Kritik der politischen Ökonomie und im Alltag begegnen wir unserer Tätigkeit in ihrem Zwangsgewand der Lohnarbeit. Wir lernen, wie sie uns zur Nötigung und zum Prozess unserer Ausbeutung wird und dass die Minutendieberei und das Getrödel der Beginn des Klassenkampfes im Kleinen sind. Hier verkehrt sich dies. Wenn wir den Nutzen unser Arbeit für die Gemeinschaft erkennen, beginnen wir, den Spaß an unserem Schaffen zu entdecken. Wir fangen an, darin aufzugehen, alles aus uns herauszuholen und uns selbst in unser Werk und die Verbesserung der Arbeitsprozesse einzubringen. Wir beginnen damit auch, uns gegenseitig und uns selbst auf eine ganz neue Weise kennenzulernen. Es mag nicht viel sein, was wir am Ende vollbringen. Aber es ist die kurzzeitig erlebte Ahnung, dass unsere Zukunft nicht einfach die Beseitigung alles bedrückenden Bestehenden, sondern auch die praktische Schaffung des Neuen sein wird. Eines Neuen, in dem wir die Gegebenheiten nach unseren eigenen Zielen und Zwecken umformen und die Dinge selbst in die Hand nehmen. Und wir erkennen, dass wir das nur zusammen schaffen werden.
Der Widerstand
Gegen Mitte des Festivals werden wir eingeladen, uns an einer Demonstration gegen den aktuellen Siedlungsbau in dem kleinen Ort Beit Dajaan zu beteiligen. Dieses Dorf befindet sich in der Situation, durch bestehende israelische Siedlungen so gut wie gänzlich vom Rest des palästinensischen Landes in der Westbank abgeschnitten zu sein. In dieser Lage sieht es sich nun mit einem weiteren Akt der Kolonialisierung konfrontiert: Ein einzelner Siedler ist drauf und dran, sich unter dem Schutz des israelischen Militärs rund die Hälfte der landwirtschaftlichen Fläche ihres Ortes unter den Nagel zu reissen.
Diese Siedlungspolitik, bei der israelische Bürger sich Landflächen aneignen und diese damit im Gleichschritt mit der militärischen Gewalt faktisch für den Staat Israel annektieren, ist im Übrigen selbst dem internationalen Recht nach unbestritten illegal. In voller Ignoranz dieser alltäglichen Gewalt schlägt die reine Existenz von Widerstand gegen diese Landnahme besonders in Deutschland regelmäßig Wellen der heillosen Empörung. So auch in diesem Fall: Die deutsche Presse berichtete über diese hilflose Aktion der Gegenwehr gegen eine militärisch abgesicherte Enteignung, als wäre sie ein niederträchtiger Terrorakt. In unserer Wahrnehmung aus erster Hand hingegen war dieser Tag ein Ausdruck der Alltäglichkeit der Gewalt und des Leides, der für die Menschen vor Ort ein trauriges, wöchentliches Ritual darstellt.
Nur ausnahmsweise sahen wir einmal die scharfen Waffen auf uns gerichtet, atmeten wir den Qualm der Granaten, stolperten wir übereinander her, weil wir wegen des Tränengases nichts mehr sahen, spürten wir die Härte der sogenannten ‚rubber coated bullets‘, die nichts anderes sind als Stahlkugeln in einer dünnen Plastikummantelung, die bekanntermaßen Augen und Schädelknochen zertrümmern können. Es war Glück, dass wir den Tag ohne schwerwiegende Verletzungen überstehen konnten – vier anderen Jugendlichen erging es weit schlimmer. Wo wir nur einen einzigen Tag‘Gast waren, sind Leid und Tod Stammgast.
Und wenn sich die deutsche Öffentlichkeit über die Gegenwehr gegen die Vernichtung der palästinensischen Lebensgrundlage hier wieder in gewohnter moralischer Überlegenheit zu empören wusste, können wir nur eins sagen: Wer über militärische Besatzung nicht sprechen möchte, über Landnahme, rassistische Schikane und Unterdrückung, über das Abgraben von Wasser, über Überausbeutung in der Industrie, über die zwangsweise Diaspora und alltägliche Gewalt und über den ebenso alltäglichen Einsatz von Kriegswaffen gegen (oft minderjährige) Zivilist:innen – wer von all dem nicht reden möchte, der soll von den Steinen in den Händen von Kindern, die der Enteignung des Landes ihrer Großeltern durch die Übermacht des größten Militärapparates der gesamten Region entgegensehen, schweigen.
Es gilt zu verstehen: Wie in jedem Herrschaftsverhältnis bedeutet auch hier der Normalzustand Gewalt. Jede Haltung, die sich in Ignoranz dessen auf einen scheinheiligen Appell an den Frieden zurückzieht, macht sich mit dieser Brutalität gemein. Es kann keinen Frieden geben, wo die Gewalt der Besatzung den Ton angibt. Es kann dazu auch keine Neutralität geben – jeder Versuch einer solchen Positionierung führt auf die Seite des Unterdrückers. Niemals werden wir uns diesem Unrecht schweigend zur Seite stellen können und niemand, der oder die eine Leidenschaft für das Leben empfindet, darf das jemals mit sich durchgehen lassen.
Die Jugend
Bei aller politischen Information und Diskussion, ist der Kern des Festivals die persönliche Begegnung als kämpfende junge Menschen. Und so liegt darin auch die prägendste Erfahrung dieser paar Tage. Die Freude, dass wir als Ausländer:innen uns für ihr Leben und ihren Kampf interessieren und daran ein Stück weit teilhaben, die Leidenschaft, mehr über uns zu erfahren, und die herzliche Gastfreundschaft bringen uns nicht selten in Verlegenheit. All das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir es sind, die am meisten von unserem Gegenüber lernen können.
Zugegeben: Die Lage der palästinensischen Jugend ist prekär. Jeder und jede hat jemanden an die Militärbesatzung verloren. Die allgemeine Situation ist sehr bedrückend. So streben viele im Zuge der jüngsten Neoliberalisierung danach, irgendwie Karriere zu machen. Sie wollen um jeden Preis im Ausland studieren oder arbeiten, um zumindest für sich selbst und ihre Familie ein klein wenig Perspektive zu schaffen. Auf der anderen Seite erleben wir aber auch einen beeindruckenden jugendlichen Kampfgeist. Viele wollen sich mit der Beerdigung ihrer Hoffnung auf Befreiung, mit der endgültigen Verewigung der Unterwerfung und auch insbesondere mit der Anpassung und dem Aufgeben der alten Generationen der linken Bewegung nicht abfinden. Wie auf vielen Wänden, prangt auf ihren T-Shirts das Portrait des lateinamerikanischen Revolutionärs Ernesto ‚Che‘ Guevara. Von ihm stammt der Ausspruch: „Solidarität ist die Zärtlichkeit der Völker“.
Dass in diesem Satz etwas Wahres steckt, entdecken wir in den persönlichen Freundschaften, die wir mit den Jugendlichen und teils sehr jungen Kindern, oft ohne gemeinsame gesprochene Sprache, schließen. Unsere jeweiligen Lebens- und Kampfsituationen mögen sehr verschieden sein – wir erkennen dennoch unsere Gemeinsamkeit in diesem unverkennbaren jugendlichen Drang nach einem Aufbruch. Von der besonderen Stärke, in der unsere Genoss:innen diesen zum Ausdruck bringen, können wir nur Kraft schöpfen. Zwischen all dem Tanzen und Klatschen zu traditionellen und sozialistischen Liedern ertönt in unnachgiebiger Regelmäßigkeit aus allen Kehlen ohrenbetäubend laut die Parole: تحيا الشبيبة الشيوعية – Tahya alshabibat alshuyueia – es lebe die kommunistische Jugend!
Die Perspektive
Die Situation der sozialistischen Sache in Nah-Ost ist ernst. Der israelische Staat verhält sich unter wachsendem Einfluss rechtsextremer Kräfte immer aggressiver und ist drauf und dran, die innere Apartheid auf den Gipfel zu treiben und die absolute Unterwerfung der Bevölkerung der Westbank endgültig zu zementieren. Die ehemalige Führung der einstigen Befreiungsbewegung gibt sich der Korruption und Kollaboration immer weiter hin und verstärkt die Repressionen nach innen. Der realpolitische Ansatz einer Zwei-Staaten-Lösung ist ungeachtet aller leeren internationalen Appelle durch die faktische Entwicklung in just diesem Augenblick endgültig vom Tisch. Die ganze Situation schreit nach einem sozialistischen Kampf um eine ganzheitliche Befreiung und für ein gerechtes multireligiöses Zusammenleben. Den Takt dafür gibt aber die Besatzungsmacht selbst an – die Zeit rennt.
Unsere Gastgeberin, die Peoples Party (PPP), lehnt den bewaffneten Kampf als Strategie in der aktuellen Situation zugunsten eines popular struggle, also eines breiten Kampfes der Bevölkerung, ab. Wir müssen hoffen, dass es ihr gelingt, eine Bewegung in enger Zusammenarbeit mit den Genoss:innen im israelischen Staat in Gang zu setzen, die dem Tatendrang der Jugend und der allgemeinen Enttäuschung über den zersetzenden Kurs aller herrschenden Kräfte ein Ventil bietet. Eine Bewegung, die die progressiven Kräfte stärkt und in eine handlungsfähige Position bringt. Und wir müssen alles daran setzen, unseren Teil dazu beizutragen – sowohl durch die tatkräftige Unterstützung des lokalen Kampfes, wie auch durch einen effektiven Kampf im imperialistischen Zentrum. Denn hier, bei uns zuhause im Westen, ist die Stabilisierung der dortigen Besatzung Teil des Interesses der Herrschenden. Wir kämpfen also nicht aus Großzügigkeit für jemand anderes, wir kämpfen einen gemeinsamen Kampf, Seite an Seite. Solidarität ist eben nicht nur Zärtlichkeit. Solidarität ist auch eine Waffe – lernen wir gemeinsam, sie schlagkräftig zu bedienen. Es gibt einiges zu tun. Auf geht’s, Jugend – Yallah, shabab!