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Çağan Varol & Berena Yogarajah

Eine Zusammenfassung der Beobachtungen aus der Verhandlung und der schriftlichen Dokumentation des Strafprozesses.

Am 10.01.2022 endete die Verhandlung gegen den ehemaligen Kölner Bezirksvertreter H. J. Bähner nach fast drei Monaten mit einem Urteil. Der 74-Jährige wurde wegen gefährlicher Körperverletzung, (rassistischer) Beleidigung und dem illegalen Besitz von Waffen zu drei Jahren und sechs Monaten Freiheitsstrafe ohne Bewährung verurteilt. Bähner legte durch seine Anwälte zwar Revision ein. Von einem Erfolg ist aber nicht auszugehen.

Rassistischer Blockwart oder christlich-konservatives Opfer?

Bähner hatte in der Nacht vom 29.12.2019 dem damals 20-jährigen Krys M., der mit Freunden unterwegs war, wegen angeblicher Ruhestörung mit einer unregistrierten Waffe aus wenigen Zentimetern Entfernung in den Oberkörper geschossen. Die Kugel ging durch Oberarm und Schulter und verfehlte nur um wenige Zentimeter den Hals. Zuvor hatte der waffenaffine Sportschütze versucht, den Überlebenden durch Provokationen und Beleidigungen wie u.a. „Dreckskanacke“ auf sein Grundstück zu locken, um eine Notwehrsituation herbeizuführen. Bähner ließ sich in seiner Einlassung von seiner Verteidigung verschieden darstellen: als Waffenprofi, verantwortungsvoller Nachbar, entschlossen konservativ und dabei christlich-karitativ, auf gar keinen Fall rassistisch, sondern vielmehr Opfer jugendlich-migrantischer Bedrohung.

Dass Bähner über ein reaktionäres und rassistisches Weltbild verfügt, wurde von der Strafkammer und der Staatsanwaltschaft bestätigt. Er erfuhr Unterstützung durch Ralf Höcker, ehemaliger Bundessprecher der Werteunion, dessen Kanzlei wiederum die AfD vertritt und über knapp eineinhalb Jahre Hans-Georg Maaßen beschäftigte. Höckers Medienkanzlei überzog Pressevertreter*innen mit Abmahnungen und versuchte im Vorfeld zu verhindern, dass Bähners Name erwähnt und über die Tat berichtet wird. Seine Strafverteidiger im Prozess, Mutlu Günal und Boris Krösing, verfolgten eine aggressive und diffamierende Strategie und reproduzierte den Rassismus immer wieder.

Anerkennung muss erkämpft werden

Zu Anfang der Ermittlungen galt der Überlebende in den Kölner Medien als „polizeibekannt“, obwohl er zuvor nicht mit dem Gesetz in Konflikt gekommen war. Krys M. wehrte sich dagegen. Nur durch die ständige Auseinandersetzung mit den Tatvorkommnissen durch eine aktivistische Gegenöffentlichkeit, sowie das vehemente Eintreten der Geschädigtenveränderte sich die Medienresonanz zum Fall. Eine Polizeibeamtin sagte aus, dass auf dem Revier lediglich „Thermik“ geherrscht habe, nachdem ein WDR-Bericht von den Hasspostings Bähners auf Facebook sprach und Rassismus als Tatmotiv ins Spiel brachte. Erst in Folge des Berichts ging man den „Vorwürfen der Ausländerfeindlichkeit“ nach, um sich – nach Aussage des leitenden Ermittlers – zu versichern, dass es keine rechtsradikalen Inhalte auf Facebook gebe. 

Institutioneller Rassismus vom Notruf bis zur Zeugenvernehmung

Der Fall und selbst das anschließende Urteil sind definitiv keine Ruhmesgeschichte für die Institutionen. Vieles bleibt ungehört, unangetastet und wurde als irrelevant eingestuft: Während des Notrufs wurden die Betroffenen gefragt, ob ein Deutscher oder ein Ausländer geschossen habe – warum? 

Die Betroffenen berichteten von Anfang an mehrfach von rassistischen Beleidigungen, die von der Polizei nicht dokumentiert wurden, weil diese Information als unwichtiges Detail erachtet wurde. Die Rassismusvorwürfe des Geschädigten wurden von den ermittelnden Polizist:innen von Beginn an als zu „unkonkret“ abgetan, so wie auch die anderen Betroffenen diesbezüglich nicht ernst genommen wurden. Krys M. sei aufgedreht gewesen, sehr gesprächig, unkonzentriert und auf Adrenalin. Ob das damit zu tun haben könnte, dass dieser gerade von einem alten Mann aus dem Nichts mit einer Waffe in die Schulter geschossen wurde? Auch im Krankenhaus konnte der Betroffene keinen Schutz erwarten. Der Überlebende Krys M. wurde noch in der Tatnacht im Krankenhaus verhört – trotz seiner Schmerzen und des Schockzustands. Der behandelnde Arzt zog sich aus der Verantwortung, da „die Polizei doch wissen müsse, wen sie vernehmen könne oder nicht“. Wieder machte der Geschädigte Aussagen darüber, dass „irgendetwas gegen Ausländer“ gesagt wurde, aber fand weiterhin kein Gehör.

Für die Bewertung der Facebook-Posts von Bähner wurde seitens der Polizei kein:e Expert:in hinzugezogen. Dabei hatte der leitende Ermittler nach eigenen Angaben keinerlei Expertise über politische Begriffe und Thematiken, benutzte diese dennoch ständig. Es wurde der Frage nachgegangen, ob auch Rechtsextremismus, Ausländerfeindlichkeit oder ähnliches als Motiv vorliegen könnte. Das Wort „Rassismus“ wurde kein einziges Mal verwendet. Die Aussagen Bähners auf Facebook beurteilte er als Laie nur als kritische und teilweise grenzwertige Aussagen, ohne die Fachabteilung hinzuzuziehen. Daran zeigt sich, wie leichtfertig mit der Tat umgegangen wurde.

Nicht zuletzt ließ das Gericht zu, dass die Zeugen und der Geschädigte durch die Verteidigung „gegrillt“ und herabgewürdigt wurden – die Betroffenen gingen mit dem Gefühl aus dem Zeugenstand sie seien die Angeklagten, was sicherlich deren Retraumatisierung förderte. Es ist nicht nur die fehlende Sensibilität für Betroffene rechter Gewalt, es ist auch die explizite Reproduktion rassistischer Bilder, die in diesem Prozess griff: Die Verteidigung fragte, ob der Tatort als „Ort marodierender Jugendlicher“ und als „Treffpunkt der Kifferszene“ bekannt sei. Auch schon während der Ermittlungen wurden der Hinweis auf eine „gewisse Szene“ ernst genommen und ein Anruf beim Ordnungsamt getätigt. Die Polizistin fragte dort nach, ob es sich um einen „Brennpunkt für Ruhestörungen“ handele. Die Antwort war negativ. Während den Jugendlichen kaum geglaubt wurde, ging man den Verleumdungen Bähners immer wieder nach. All das verdeutlicht die mangelnde Sensibilität für rassistische Gewalt und ihre Betroffenen.

Weißes Privileg und Ignoranz sind Teil von Rassismus

Dass die Erfahrung Bähners, eines weißen Mannes, anders ist als die Erfahrung der Betroffenen, zeigte sich mehrfach: Trotz des Schusses auf einen Menschen und die Kenntnis, dass der Täter bewaffnet war, wurde in der Tatnacht von der Herbeirufung eines SEK-Teams abgesehen und zunächst ein sechsminütiger Anruf getätigt, um Bähner auf seine Festnahme vorzubereiten. Dieses Telefonat wurde nicht aufgezeichnet. Die Festnahme verlief sanft. Die Begründung des leitenden Ermittlers dafür war sehr banal, aber vielsagend: Es habe sich um ein bürgerliches Haus in einem bürgerlichen Viertel gehandelt: „Wir dachten, das klären wir so“. Für die zuvorkommende Art bedankte Bähners Verteidigung sich im Prozess bei der Polizei. Die Zeugenaussagen der anderen Polizist:innen über Bähners kühles und trotziges Verhalten am Tatort und dessen Aussage „Man muss sich schon selber helfen“ als Indiz für Selbstjustizbestrebungen wurden nicht mit den späteren Erkenntnissen über sein Weltbild in Verbindung gesetzt. Der Tatverdächtige wurde nicht einmal in Untersuchungshaft genommen. Stattdessen wurde der umfassende Waffenfund und die unangemessene Aufbewahrung der Waffen und Munition verharmlost, obwohl die Mordkommission ermittelte.

In den Ermittlungsakten ist außerdem die Rede von einem „Gerangel“ zwischen Bähner und Krys M., was einen körperlichen Konflikt auf Augenhöhe suggeriert. Dabei schilderten die Betroffenen, dass Bähner sie beleidgt hatte. Der Überlebende hatte dann verbale Erwiderungen getätigt, während der Täter versuchte, mit seiner durchgeladenen Pistole auf ihn einzuschlagen. Auf Rückfrage im Gericht, insbesondere nach den Zeugenaussagen, wurde von dem zuständigen Beamten eingestanden, dass es sich dabei um eine „flapsige Interpretation“ handle. Er habe gewusst, dass nur der Täter zugeschlagen habe. Diese „Flapsigkeit“ hätte jedoch enorme Konsequenzen auf den Prozess haben und Bähners Konstruktion einer Notwehrsituation unterstützen können. Wir sehen, Bähner profitierte von weißen Privilegien und Klassenjustiz: Wohlwollen, Unschuldsvermutung bis zuletzt und das Fehlen des Generalverdachts. Ob es noch mehr Gründe für die kooperative Stimmung zwischen Behörden und Bähner gibt, bleibt unklar.

Institutioneller Rassismus ist eine Struktur, sie braucht keine bösen Absichten

Wir wissen: Polizist:innen müssen nicht selbst zu Täter:innen werden oder rassistische Einstellungen teilen, um ein Teil von institutionellem Rassismus zu sein. Der Richter William MacPherson (England) erarbeitete im Jahr 1999 nach dem Mord an einem Schwarzen Jugendlichen, Stephen Lawrence, eine Definition von institutionellem Rassismus. Nachdem dieser 1993 von einem rassistischen Mob erstochen wurde, ging die Polizei trotz der vielen Hinweise und Indizien nicht mit aller Ernsthaftigkeit gegen die Täter vor, welche in der Folge aufgrund von Mangel an Beweisen freigesprochen wurden. Erst Jahre später wurde nach Bestrebungen von Aktivist:innen und der Familie der Fall nochmals aufgerollt und zwei Täter verurteilt. Erst danach wurde MacPherson damit beauftragt, etwaiges behördliches Fehlverhalten zu untersuchen. Sein Bericht definierte den institutionellen Rassismus damals als das „kollektive Versagen einer Organisation, angemessene und professionelle Dienstleistungen für Personen aufgrund ihrer Hautfarbe, Kultur oder ethnischen Herkunft anzubieten. Dies kann in Entwicklungen gesehen oder festgestellt werden. Abwertende Einstellungen und Handlungsweisen tragen zur Diskriminierung und der Benachteiligung Angehöriger ethnischer Minderheiten bei. Dies erfolgt unwissentlich durch Vorurteile, Ignoranz, Gedankenlosigkeit und rassistische Stereotypisierungen.“ [Macpherson-Report, 1999] Hier wird deutlich, dass Motive, Intentionen oder ein spezifisch rassistisches Bewusstsein keine Voraussetzung für institutionellen Rassismus sind.

Es gilt zu dieser Definition hinzufügen, dass die Abwertung und Diskriminierung nicht nur unwissentlich, sondern auch bewusst erfolgen kann und nicht auf einer anderen Hautfarbe oder Ethnie basieren muss, sondern das Ergebnis von Konstruktion und Abwertung von Gruppen durch konkrete Handlungen ist. Die Institutionen schaffen es bis heute sich dieser hartnäckig zu verwehren.

Keine Ausländer:innen, keine Fremde – Rassismus!

Der institutionelle Rassismus materialisierte sich auch im nicht zeitgemäßen und falschen Umgang mit analytischen Begriffen. Während der Verhandlung und seitens der Polizei war stets von Ausländer- und Fremdenfeindlichkeit die Rede. Dabei wissen wir, dass es weder um Nationalitäten, noch um eine vermeintliche „Fremdheit“ geht.. Rassismus trifft eben deutsche Staatsbürger:innen. Die Banalisierung des Rassismus und die Nutzung von Deckmantelbegriffen sind keine Lappalien. Durch die polizeiliche Behandlung der Betroffenen, also auch der traumatisierten Freunde des Angeschossenen, werden alltägliche rassistische Gewalttaten unsichtbar gemacht und tauchen dementsprechend weder in der Statistik noch im öffentlichen Bewusstsein als solche auf. Davon profitiert das Mittel der Täter-Opfer-Umkehr: Es wurde von Beginn an gemutmaßt, dass die Betroffenen aggressiv gewesen sein müssten, eventuell auch kriminell. Obwohl das Vorstrafenregister leer war, bohrte die Verteidigung Bähners mit Erlaubnis des Gerichts hier immer wieder vehement nach.

Noch immer fehlt deutschen Gerichten ein Rassismusverständnis. Bei der Strafzumessung kam der § 46 Abs. 2 StGB strafschärfend zur Anwendung, wobei hier nur das Motiv der Fremdenfeindlichkeit, nicht aber der rassistischen Beweggründe gewürdigt wurde. Eine Erklärung, warum diese Auswahl erfolgte, blieb das Gericht bei der Urteilsverkündung schuldig. Es setzte jedoch die gesamte terminologischen Vorgehensweise des Gerichts fort und fügte sich in die polizeiliche Sprache ein.

Die Kategorie Ausländerfeindlichkeit steht sinnbildlich für das deutsche Rassismusproblem, welches 1945 für beendet erklärt wurde. Die Binarität „Ausländer“ vs. „Deutsche“ ist dabei Ausdruck einer aus dem Kaiserreich stammenden rassialisierten Hierarchie, die noch auf dem alten Blutsprinzip basiert, das jedoch in der Einbürgerungspraxis bis in die 2000er zur Anwendung kam. Die Historikerin Maria Alexopoulou weist darauf hin, dass die Kategorie der sogenannten Ausländerfeindlichkeit noch von behördlicher Seite genutzt wird, obwohl die „biologistische, Herkunft wertende und hierarchisierende und damit an Rassekonzepte anschließende Bedeutungsdimension“ allseits bekannt sei. Es gebe ein geteiltes gesellschaftliches Wissen darüber, dass weiße Personen mit Hintergrund aus europäischern Ländern wie Schweden, Frankreich oder den Niederlanden, nicht in die „Ausländer-Kategorie“ kämen In den 1990er kam dann, mit den erneuten Pogromen, vermehrt der Begriff der Fremdenfeindlichkeit auf. Das Sprechen über Rassismus in Deutschland ist hingegen das Ergebnis der Kämpfe der Migrantisierten, die zuletzt in den 2000ern auch an den Universitäten und in der Zivilgesellschaft geführt wurden. Institutioneller Rassismus hängt eng mit Prozessen der Migration und ihrer begrifflichen Klassifizierung zusammen.

Der Kampf geht weiter!

Die Ignoranz gegenüber den Hinweisen auf Rassismus, die Laieneinschätzung zum Facebook-Profil, der Umgang mit den Betroffenen im Zeugenstand im Vergleich zu dem mit Bähner und den gewissenhaften Ermittlungen zu seiner Tatversion zeigen deutlich, wie tief verankert rassistische Mechanismen in den deutschen Institutionen sind. Solange Klassenjustiz und Ungleichheitsideologie im Polizei- und Sicherheitsapparat greifen, ist es an uns, Gerechtigkeit zu erkämpfen. Der Fall Bähner zeigt deutlich, wo es für die migrantische Gesellschaft wichtig ist, Druck auszuüben: Wir müssen weiterhin den rassistischen Normalzustand aufdecken und hinterfragen. Rassismus erkennen, ernst nehmen, als solchen benennen und entschlossen bekämpfen. Wir brauchen ein Ende der Täter-Opfer-Umkehr. Der Staat und seine Apparate müssen den Betroffenen und ihrer Erfahrung der rassistischen Kontinuität Gehör und Glauben schenken.

#Foto: Initiative Tatort Porz

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Der Friedensprozess in Kolumbien ist weit davon entfernt Frieden zu bringen. Oft tödliche staatliche und parastaatliche Gewalt sind an der Tagesordnung. Unsere Autorin war im Rahmen einer Menschenrechtsbegleitung im Norden Kolumbiens und plädiert dafür, sich auch an solchen Aktionen zu beteiligen.

Am Donnerstag den 7. März war der 18-jährige Landarbeiter Coco mit seinen Nachbarn und Kollegen nach Feierabend zum Fußballspielen in der Nähe der Gemeinde Micoahumado, im Norden Kolumbiens, verabredet. Noch vor dem Anpfiff wurde von einem nahe gelegenen Hügel das Feuer eröffnet. Als er wegrennen wollte, traf Coco ein Schuss in die Seite. Er starb noch am gleichen Ort. Eine weitere Kugel verletzte den 27-jährige Henry Sarabina so schwer am Arm, dass er seine Hand wohl nie wieder bewegen können wird.

Die Angreifer waren Soldaten des kolumbianischen Militärs, die unter den Fußballern zwei Guerilleros des marxistischen Nationalen Befreiungsheers ELN erkannt haben wollen. Doch obwohl alle auf dem Sportplatz Versammelten unbewaffnet und sogar mehrere Kinder anwesend waren, griff das Militär die Gruppe mit drei Helikoptern und einem Dutzend vermummter Soldaten mit Maschinengewehren an. Die beiden vermutlichen ELN-Kämpfer konnten fliehen, doch die Soldaten zwangen mit gezogenen Waffen die Arbeiter über Stunden auf dem Boden zu liegen, verhörten Einzelpersonen und drangen in die Wohnhäuser ein, wo sie Handys und Bargeld klauten.

Mit dem Militär ist kein Staat zu machen

Der Mord an Coco und die massive Repression der Anwohner*innen sind kein Einzelfall, sondern reihen sich ein in den seit Jahrzehnten andauernden bewaffneten Konflikt in der Region. Der Süden des Bundesstaates Bolívar gilt seit den 1970er Jahren als Stammgebiet des ELN. Die Guerilla profitierte lange vom Rückhalt in der Bevölkerung und den bewaldeten Bergen als Rückzuggebiet. Der Staat ist hier vor allem in Form des Militärs präsent, paramilitärische Gruppen können von diesem unbehelligt agieren. Bisher scheiterten allerdings alle Versuche die Region gewaltsam einzunehmen. 2001 besetzten Paramilitärs das Dorf Micoahumado und vertrieben die Menschen. Erst als es nach dreimonatigen Kämpfen dem ELN gelang das Dorf zu befreien, konnten die geflüchteten Familien aus den umliegenden Bergen in ihre von den Paras geplünderten Häuser zurückkehren. Die Menschen in Micoahumado wissen: Auf den Staat ist kein Verlass. Es ist daher die Bevölkerung selbst, die in Selbstverwaltung die soziale Infrastruktur wie Bildung und Gesundheitsversorgung aber auch den Straßenbau umsetzt und sich dadurch eine beachtliche Unabhängigkeit geschaffen hat.

Allerdings ist die Region reich an Bodenschätzen und das Gold unter den Bergen ruft internationale Konzerne auf den Plan. Zuletzt versuchte 2001 der kanadische Bergbaukonzern Braeval Mining Corporation mit staatlicher Unterstützung die Kleinbauern und den traditionellen Bergbau zu verdrängen. Doch die Bevölkerung wehrte sich erfolgreich. Auch die Anwesenheit des ELN hat dazu sicher ihren Teil beigetragen: Nachdem der Staat dem Braeval-Konzern bereitwillig die notwendigen Bergbaulizenzen ausgestellt hatte, entführte der ELN kurzerhand den für die Grabungen verantwortlichen Vizepräsidenten des Unternehmens. Erst als das Braeval-Management zusagte, alle geplanten Aktivitäten abzusagen und die Region zu verlassen, kam der Verantwortliche wieder frei. Der Konzern zog sich 2003 aus der Region zurück.

Friedensprozess? Militarisierung des Alltags!

Nach Jahrzehnten im bewaffneten Konflikt sind die Menschen müde von der alltäglichen Gewalt. Es gibt immer wieder Schießereien im Dorf, die Militarisierung betrifft den Alltag der Bewohner*innen massiv. Zudem leiden sie wirtschaftlich unter den steigenden Abgaben an den ELN und sorgen sich um ihre Jugendlichen, die mangels beruflicher Perspektiven nicht nur vom Militär, sondern auch vom ELN leicht rekrutiert werden.

Gleichzeitig hält die staatliche Repression an: Militär und Polizei stellen die lokale Bevölkerung unter den Generalverdacht, mit dem ELN zu kooperieren. Schon wer Gummistiefel oder dunkle Kleidung trägt, gilt als Terrorist. Die Schikane reicht von Einschüchterungsversuchen durch das plötzliche Auftauchen bewaffneter Einheiten, willkürlichen Anzeigen, ungerechtfertigten Haftstrafen bis hin zum Mord von sozialen Aktivist*innen oder sogar Unbeteiligten wie Coco. Das alles geschieht weitestgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit. Und der viel beredete Friedensprozess? Von einem Ende des Konflikts kann man nicht reden. Stattdessen schützt ein Deckmantel des Schweigens die Machenschaften des Militärs. Und genau deswegen sind wir hier.

Was wir tun können

Eine Woche nach dem Mord an Coco durch das Militär besuchen wir den Tatort, treffen die Anwohner*innen, dokumentieren ihre Berichte, machen Fotos. Wir kommen zu zweit aus Deutschland und begleiten die kolumbianische Menschenrechtsorganisation Corporación Sembrar. Möglich ist unser Einsatz dank des internationalistischen Netzwerks Red der Hermandad y Solidaridad, kurz RedHer. „Internationale Begleitung“ und „Menschenrechtsbeobachtung“ heißt unsere Arbeit – eine unangenehme Bezeichnung. Wie begleitet man einen bereits geschehenen Mord? Was bringt es, nur daneben zu stehen und das Unrecht zu beobachten? Klimaproteste, Mietendemos, AfD-Blockaden – unsere Erfahrungen der politischen Kämpfe in Deutschland scheinen plötzlich sehr weit weg. Es fühlt sich an, als wären wir hier fehl am Platz – mindestens nutzlos, wenn nicht gar eine zusätzliche Last für unsere Genoss*innen.

Doch das Gegenteil ist der Fall. Für die Aktivist*innen vor Ort ist unser Besuch nicht nur eine menschliche Wertschätzung und eine politische Anerkennung ihrer Situation, sondern auch ein ganz konkreter Schutz: Gleich an unserem ersten Tag in Micoahumado kommen Soldaten ins Dorf und führen einen der sozialen Aktivisten ab. Sofort bilden die Dorfbewohner*innen eine Traube um die Militärs. Als wir dazu stoßen, fühlt sich deren Kommandant gezwungen, sich namentlich vorzustellen und schüttelt uns die Hand, lächelt, sagt: „reine Routinekontrolle“. Seine Rolle als good cop kostet ihn eine Dreiviertelstunde Diskussion mit den empörten Dorfbewohner*innen. Als er mit seiner Einheit schließlich unverrichteter Dinge wieder gehen muss, sagt uns einer der Aktivisten: Wenn ihr nicht gewesen wärt, hätten sie den Genossen einfach ohne Haftbefehl festgenommen. Aber unter den Augen der Gringos trauen sie sich solche schmutzigen Spielchen nicht.

Auch wenn es sich komisch anfühlt, sich als Antirassistin solcher postkolonialen Machtstrukturen

als strategisches Mittel zu bedienen – es funktioniert. Und es ist vielleicht die beste, wenn nicht gar die einzige Möglichkeit, wie wir uns solidarisch und auf Augenhöhe für emanzipatorische Kämpfe weltweit einsetzen können. Für uns, ausgestattet mit einem deutschen Pass und einem europäischen Aussehen, ist es nicht schwer, diese Privilegien strategisch einzusetzen. Mit nur einem kleinen Schritt raus aus der Komfortzone der imperialistischen Zentren bekämpfen wir die rassistischen und imperialistischen Machtstrukturen dieser Welt mit ihren eigenen Mitteln. Unsere Anwesenheit zeigt den staatlichen Autoritäten: Was ihr hier tut geschieht unter den Augen einer internationalen Öffentlichkeit. Und unseren Verbündeten zeigen wir: Ihr seid nicht allein, wir stärken euch den Rücken. Im Gegenzug dafür haben uns die Menschen in Micoahumado und anderswo viel zu geben: Von ihrer Unabhängigkeit gegenüber allen bewaffneten Gruppen, von ihrer Widerständigkeit und ihrem Willen, dem Militär nicht das Feld zu überlassen und ihrer Beharrlichkeit, sich auch unter den widrigsten Bedingungen selbst zu organisieren – davon können wir noch viel lernen.

Sophie ist aktiv bei der Interventionistischen Linken (iL) und war mit dem Red de Hermanidad y Solidaridad (RedHer) und dem Congreso de los Pueblos in Kolumbien. Sie hat mit RedHer vom 11.-14. März 2019 an einer Menschenrechtsbegleitung im kolumbianischen Bundesstaat Bolívar teilgenommen.

Kontakt zu Internationalist*innen in Kolumbien und mehr Informationen über menschenrechtliche Begleitung gibt es hier https://www.redcolombia.org/ und bei der kolumbianischen Menschenrechtsorganisation http://corporacionsembrar.org/. Im August findet eine vom RedHer organisierte Caravana statt, bei Interesse kann Kontakt über die Homepage aufgenommen werden.

# Bild: Policía Nacional de los colombianos CC BY-SA 4.0

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Alte, junge, durchaus weiße und vermutlich besonders männliche Männer, sind es, die nicht aufhören, in Kommentarspalten Sophie Passmanns angebliche sexuelle Unverwertbarkeit zu betonen. Diese Form der „Kritik“ bedarf keiner Kreativität. Sie ist der einfache Ausdruck des misogynen Grundrauschens im Abendland.

Es gibt aber auch weibliche Kritik an Sophie Passmann. Eine österreichische Lehrerinnentochter zum Beispiel, Lisa Eckhart, die sich nicht zu schade ist, in einer Polemik über Passmann, mit einer Me-Too-Lamoryanz-Keule die Debatte um strukturellen Sexismus zu zertrümmern, um sodann Passmanns augenscheinlich identitätspolitischen Ansatz zu demontieren, haut im Standard, bumm bumm, auf die Pauke. Dabei hätten Passmann und Eckhardt so viel gemeinsam. Beide sind female, beide sind future. Junge weiße Frauen. Gymnasial sozialisierte, durchsetzungsfähige Kleinstadt-Emporkömmlinge mit bisher erfolgreichem Berufsweg. Beide sind im Entertainment-Business. Und dann wird eine Göre von einer Göre als Göre bezeichnet. Die eine Göre erntet Schulterklopfen von bürgerlichen Konservativen, die andere Göre von bürgerlichen Liberalen. Zwei Frauen stehen gegeneinander im Ring. Statt eines Faustkampfes bewerfen sie sich gegenseitig mit ihren Poetryslam-Preisen und der Hauptgewinn ist ein eingeölter reicher weißer Mann – Ulf-Poschardt-Type – im Julius-Cäsar-Kostüm der glücklich #Teamkarriere ruft.

Stell dir vor, es ist Pop-Feminismus und alle machen mit.

Eine Frau, die mit Mitte zwanzig ihre Hausbibliothek alphabetisch sortiert, am meisten Geld für Weißwein ausgibt, eine junge Frau, die sagt, dass es angenehm ist, mit Andrea Nahles den Vormittag im »Arbeitskreis Pferd« zu verbringen. Eine junge weiße Frau, die bisher offenbar sehr gut funktionieren konnte in der Mühle Kapitalismus, deren Leben fast einer Blaupause für eine reibungslose Medienkarriere gleicht, Sophie Passmann, will die Frauen befreien.

Das ist an sich noch kein Widerspruch.

Eines ihrer Bücher heißt: „Alte weiße Männer, ein Schlichtungsversuch“. Darin isst, trinkt und plaudert sie nett mit weißen Männern. Leuten aus der gehobenen Mittelschicht, mehr oder weniger alten und mächtigen Leuten. (Btw. warum eigentlich nicht mit ihrem Parteigenossen Sarrazin?) Welche wirtschaftliche oder ob gesellschaftliche Macht sich allein daraus ergibt, als weiß und männlich geboren zu sein, so zu altern, warum das so sein soll, der versprochene Versuch einer Schlichtung worüber auch immer, all das bleibt offen. Sie reproduziert lediglich einen von ihr kritisierten Missstand: alte weiße Männer und ihre Standpunkte bekommen zu viel Raum.

Das ist dann schon ein Widerspruch.

Dabei hätte ein Passmann-Buch mit Geschichten von jungen schwarzen Frauen in meinem Regal stehen können. Jetzt steht nur ein Buch in Sophie Passmans Regal, eines dass von ihr selbst handelt, voller Worte von mitunter sehr reaktionärer Typen, aber immerhin neben Philip Roth.

Erste Regel der Leistungsgesellschaft: man spricht nicht über die Leistungsgesellschaft. Wir leben in einer weißen, hetero- und cis-normativen Klassengesellschaft, werden in einer von Silberrücken dominierten Kultur erzogen. Sexismus, Rassismus, Ableismus und der Ausschluß von wirtschaflich schwachen Menschen, sind allgegenwärtige Symptome einer Ökonomie, die frühstmöglich in Gewinnende und Verlierende, in verwertbar und unverwertbar aufteilt.

Diese Verhältnisse sind umzustürzen und es ist wichtig, dass so viele Menschen wie möglich darüber Sprechen. Wenn die Substanz einer feministischen Agenda aber selten darüber hinauskommt, „ich war früher hässlich und es ist egal“ und „hahaha du weißt ja gar nichts über den Menstruationszyklus!“ ins Internet zu schreiben, dann veralbert sich dieser Diskurs selbst und leistet der Bewegung einen Bärendienst.

Wenn eine junge weiße Sophie Passmann eine junge schwarze Beyoncé neoliberal nennt, ist das keine feministische Kritik, es ist heuchlerisch und undurchdacht. Du kannst deine eigenen Bücher mit dem Argument einer Hautfarbe vor dir hertragen, aber dann sei selbst keine neoliberale Sophie mit unreflektiertem white privilege im Unterhaltungsfernsehen, die einer Debatte um ihrem eigenen Rassismus nicht einmal bei Twitter standhält.

Sophie Passmann profitiert mehr von dem System der alten weißen Männer, als sie sich eingestehen will. Keine Frau braucht emanzipatorische Authentizität, um etwas zu vermarkten. Aber Feminismus braucht mehr als Selbstvermarktung der gehobenen Mittelschicht. Es ist der Lauf der Dinge, dass alte weiße Männer sterben, aber wenn dann alte weiße Sophies auf ihre Plätze nachrücken, verändert sich vielleicht gar nicht so viel.

Ich bin dafür über alte weiße Männer zu reden, über ihren Raum in der Gesellschaft, was stört, was zu ändern ist, ich bin dafür Feminismus in einen popkulturellen Diskurs einzubinden. Auch bin ich dafür, dass mehr Frauen Bücher veröffentlichen.Vor allem aber bin ich dafür, dass Feminismus das Umstürzen der Verhältnisse stärkt und dafür muss er klar formuliert, konfrontativ, unbequem und klassenbewusst sein. All das ist Sophie Passmann nicht.

#Titelbild: re:publica/CC BY-SA 2.0

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