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Die Türkei führt – weitgehend unbeachtet von der Weltöffentlichkeit – ihren Krieg gegen die kurdische Befreiungsbewegung nicht nur an der irakisch-türkischen Grenze weiter. Sie setzt dabei neben der Luftwaffe und Bodentruppen mittlerweile auch immer häufiger international geächtete Waffen wie Giftgas ein. Doch die Guerilla und die Bevölkerung leisten weiterhin Widerstand – mit Erfolg. Wir haben mit Şoreş Ronahî, Mitglied der Revolutionären Jugendbewegung Syriens und der Internationalistischen Kommune in Rojava (Teil der Kampagne Riseup4Rojava) über die aktuelle Lage gesprochen.

Du bist ja derzeit in Rojava, im Norden Syriens, und dort politisch aktiv. Wie ist die Situation im Moment vor Ort nach deiner Einschätzung? Wir hören vermehrt von der konkreten Gefahr einer neuen Großoffensive der türkischen Armee gegen kurdische Gebiete in Syrien. Wie ist die Stimmung bei euch und wie bewertet ihr die aktuellen Entwicklungen in der Region?

Was auch immer passiert, das Leben geht hier natürlich weiter. Die Menschen hier haben sich daran gewöhnt unter Kriegsbedingungen und mit dem andauernden Embargo zu leben. Auch die Drohung mit neuen Angriffen gegen das befreite Rojava ist nichts neues, sondern immer wiederkehrende Realität. Das soll nicht heißen, dass wir das nicht ernst nehmen, doch Krieg und Widerstand sind hier nicht an einen “Tag X” gebunden. Der türkische Staat handelt in Zeiten, in denen er nicht mit einer großangelegten Offensive versucht Gebiete zu besetzen, nach einer Strategie des Krieges niedriger Intensität.

Sie töten unsere Genossi:nnen und auch Zivilist:innen täglich durch Luftschläge mit ihren Drohnen. Sie schneiden die Wasserversorgung Rojavas ab, versuchen für Probleme und Chaos zu sorgen, indem sie Agenten in die Region einschleusen, versuchen Kurd:innen und Araber:innen gegeneinander aufzuhetzen und verbreiten Lügen und Anti-Propaganda. Gleichzeitig hat der physische Krieg an den essentiellen Frontlinien nie aufgehört. Tagtäglich werden die Gebiete rund um Til Temir, Eyn Îsa, Minbic und Şehba bombardiert und natürlich leisten die Leute hier dagegen Widerstand und verteidigen sich aktiv.

Es geht auch nicht nur um Rojava, sondern wir müssen verstehen, dass die Kriege in den Bergen, in Rojava, in Nordkurdistan, usw. miteinander verbunden sind. Der türkische Staat ist ein faschistischer Staat, seine Regierung ist faschistisch. Sie haben ihre eigene Existenz auf Krieg und Völkermord aufgebaut und setzen diese ihre Existenzgrundlage heute auf gleiche Weise fort. Der Widerstand dagegen ist immer legitim und dieser Widerstand ist heute grenzübergreifend und im Interesse aller Völker der Region.

Die letzten Jahre waren geprägt von Krieg und Widerstand, sowohl hier in Rojava als auch überall anders in der Region. Seit Februar diesen Jahres versucht die türkische Armee verzweifelt in weitere Gebiete der von der Guerilla im Süden Kurdistans (Nordirak, d. Red.) kontrollierten Medya-Verteidigungsgebiete vorzudringen. So startete sie eine aufwändige Blitzoperation gegen die Gare-Region am 10. Februar mit Unterstützung der KDP (vom Barzani-Clan geführte, von der Türkei, Deutschland und den USA abhängige Kompradorenpartei in der Kurdischen Autonomieregion im Nordirak, d.Red.), musste sich jedoch nach 4 Tagen schwerer Gefechte geschlagen geben und unverrichteter Dinge abziehen.

Kurz darauf begann die nächste Großoffensive am 24.04. gegen die Regionen Metina, Zap und Avaşîn. Diese Operation unter dem Namen “Claw Lightning and Claw Thunderbolt” hält bis heute an. Erst vor ein paar Tagen veröffentlichten die Volksverteidigungskräfte HPG eine Bilanz der letzten sechs Monate. Daraus geht hervor, dass die türkische Armee trotz allen Aufwands, modernster Technik, unablässiger Luftüberwachung, flächendeckender Bombardements, dem Einsatz tausender Soldaten und der hinterhältigen Unterstützung durch die KDP und Roj-Peşmergas (Von der Türkei ausgebildete KDP-nahe Milizen, d.Red.) schwere Rückschläge einzustecken hatte und keine großen Gebietsgewinne für sich verzeichnen kann.

Besonders in den Gebieten Zendura, Mamreşo, Girê Sor und Werxelê leistete die Guerilla einen historischen und kompromisslosen Widerstand, der weiterhin anhält. Die einzige Lösung, welche der türkische Staat für sich dabei zu sehen scheint ist der massive Einsatz von chemischen Waffen. Laut der sechsmonatigen Bilanz der Volksverteidigungskräfte HPG setzte die türkische Armee innerhalb dieses Zeitraumes 323 mal verschiedene Arten von Chemiewaffen und Giftgas ein.

Wir wissen alle, dass das ein international anerkanntes Verbrechen ist, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, doch wirklich zu kümmern scheint das niemand. Nun sieht es so aus, dass die türkische Armee in den Bergen an ihre Grenzen gestoßen ist. Gleichzeitig geht es der Erdoğan-Regierung alles andere als gut. Laut Umfragen würde ihr Regierungsbündnis nicht einmal annähernd in die Nähe einer Mehrheit kommen bei kommenden Wahlen. Die Wirtschaft steckt in der Krise, den Menschen in der Türkei geht es nicht gut und sie sind unzufrieden. Der Staat versucht jetzt, wie immer, die Probleme einfach unsichtbar zu machen, indem die Kriegspolitik weiter angeheizt wird. Für das AKP-MHP-Regime sind die Menschen im eigenen Land nichts wert, sie haben alles und jeden dem Ziel untergestellt den Widerstand des kurdischen Volkes zu brechen und die Freiheitsbewegung militärisch zu vernichten. Die gesamte Innen- und Außenpolitik des türkischen Staates ist darauf ausgerichtet und auch die Wirtschaftskrise selbst rührt eben genau daher. Als diesen Sommer Wälder in der Türkei brannten, da bemühten sie sich sehr darum die kurdische Freiheitsbewegung dafür verantwortlich zu erklären, doch auch mit diesen dreckigen Spielchen konnten sie nicht davon ablenken, dass die Unfähigkeit zur Bekämpfung der Brände vor allem daher rührte, dass Investitionen zum Großteil ins Militär, Kriegstechnologie und Waffen gesteckt werden, während es dann z.B. an notwendig ausgerüsteter Feuerwehr mangelt.

Interessant ist auch, dass die türkische faschistische Regierung seit Jahren alles tut, um die HDP zu isolieren, ihre Verankerung in der Bevölkerung zu brechen und sie somit in die Bedeutungslosigkeit zu schicken. Doch Massenverhaftungen, drakonische Strafen für quasi nichts und wieder nichts, Folter, Mord und Verfolgung haben nichts dergleichen erreichen können und die Unterstützung der Bevölkerung für die HDP ist ungebrochen. Das Erdoğan-Regime erhofft sich nun durch eine Fortsetzung ihrer vorherigen Invasionen in Nordsyrien/Rojava ein Deckel auf die eigenen Problem packen zu können und einen lang ersehnten Erfolg für sich verbuchen zu können, welchen sie weder in den Bergen militärisch noch gesellschaftlich und politisch im eigenen Land erreichen konnten.

Natürlich spielen noch viele andere Faktoren eine Rolle. Die weitere Besatzung eines Gebietes in Rojava, nach der Besatzung von Efrîn und Serêkaniyê, wäre ein schwerer Schlag gegen die Revolution, von dem sich Rojava nur noch schwer erholen würde. Dessen ist sich der türkische Staat bewusst und auch die internationalen, imperialistischen Kräfte, die in der Region aktiv sind, sprich USA und Russland, wissen das und versuchen dementsprechend für ihre eigenen Interessen Druck aufzubauen. Die Türkei selber versucht für sich die notwendige politisch-diplomatische Grundlage zu schaffen, um grünes Licht für eine neue Invasion zu bekommen. Ob sie dieses grüne Licht bereits bekommen hat von einer der genannten Großmächte und ob sie vielleicht schon morgen mit der nächsten Offensive anfangen wird, das wissen wir nicht. Doch hier sind sich alle dessen bewusst, dass eine solche Situation nicht unwahrscheinlich ist und wir uns deshalb alle auf den Widerstand vorbereiten müssen. Die Stimmung ist aber nicht negativ, ganz im Gegenteil. Das ist die Realität hier: Ohne Krieg und Widerstand hätte sich die Revolution bis heute nicht halten können und da Gewalt die einzige Sprache ist, die der Faschismus versteht, müssen wir ihm mit aller uns zur Verfügung stehenden Gewalt gegenübertreten. Wir sind zuversichtlich, dass wir erfolgreich Widerstand leisten werden. Natürlich gibt es auch viel Wut, Frust und Hass der Türkei und der internationalen Staatengemeinschaft gegenüber. Wenn es anders gehen würde und allein mit Worten ein würdevolles Leben erkämpft werden könnte, dann würde hier niemand zur Waffe greifen. Da die Realität jedoch anders aussieht, sind die Menschen hier dazu bereit die Waffe in die Hand zu nehmen um die eigene Würde zu verteidigen.

In den kurdischen Nachrichten wird insbesondere von Til Refat und Kobane als möglicher Zielorte einer neuen Invasion gesprochen. Wie schätzt ihr vor Ort ein, wo und wann es eskalieren wird?

Das ist schwer zu sagen und es wäre falsch anzunehmen eine hundertprozentige Vorhersage treffen zu können. Nichtsdestotrotz zeichnen sich einige mögliche Szenarien ab und türkische staatsnahe Medien sprechen selber von diesen Szenarien. Wie du selber gerade gesagt hast, stehen die Regionen Til Refat, also Şehba im Norden Allepos und Südosten Efrîns, Kobanê und Minbic zur Zeit im Vordergrund. Alle diese drei Regionen sind der Türkei seit Jahren ein Dorn im Auge. Ein weiteres mögliches Szenario wäre eine Operation in der Region Dêrik im nordöstlichen Länderdreieck Rojavas. Dies ist ein weiteres strategisches Ziel für den türkischen Staat, da dort die Verbindung Rojavas nach Südkurdistan besteht, desweiteren könnte eine für den türkischen Staat erfolgreiche Besatzung der Region Dêrik den direkten Landweg für den türkischen Staat nach Şengal öffnen.

Eine andere Möglichkeit ist auch die Fortsetzung einer Offensive an den bestehenden Frontlinien in Eyn Îsa, Til Temir und Zirgan. Es kann auch sein, dass mehrere dieser Szenarien zur selben Zeit versucht werden. Wie auch immer, die Rhetorik des türkischen Staates ähnelt sehr der Rhetorik im Vorlauf zum Krieg in Efrîn und später in Serêkaniyê. Truppenbewegungen an den Grenzen finden vermehrt statt, die islamistischen Banden der SNA werden mobilisiert und offensichtlich versucht die Türkei, die notwendige internationale Unterstützung für sich zu sichern. Ob es morgen anfängt oder in einem Monat ist weniger wichtig, wichtig ist, dass wir alle darauf vorbereitet sind, sowohl hier vor Ort als auch international, um Widerstand zu leisten und den türkischen Faschismus zu zerschlagen.

Als Kampagne RiseUp4Rojava, was ist eure Antwort auf die aktuellen Entwicklungen und wie wird eure Antwort aussehen, sollte es zu einer neuen Bodenoffensive gegen die Autonome Selbstverwaltung in Nordost-Syrien (AANES) kommen?

Als Kampagne RiseUp4Rojava existieren wir ja bereits seit Frühjahr 2019 und insbesondere zur Zeit des Krieges in Serêkaniyê und Girê Spî waren wir dazu in der Lage, gemeinsam mit anderen Initiativen weltweit hunderttausende Menschen auf die Straße zu bringen und ernsthaften Druck von unten aufzubauen. Seither versuchen wir eine Kontinuität in unserer Arbeit gegen den türkischen Faschismus zu gewährleisten und auf dieser Grundlage fanden über die letzten 2 Jahre zahlreiche Aktionstage zur Unterstützung der Revolution in Rojava und dem Widerstand gegen die türkische Aggression, als auch gegen die internationalen Profiteure vom Krieg und Kollaborateure mit dem Faschismus statt. Wir versuchen durch unsere Website als auch soziale Medien über die Situation vor Ort zu informieren, die internationalen Helfer der Türkei aufzudecken, unsere Position zu verbreiten und gegen den türkischen Faschismus zu mobilisieren.

Kampagnenintern haben wir diskutiert, dass wir bei einer erneuten Offensive der Türkei nicht direkt von einem “Tag X” sprechen können, denn der Krieg ist jeden Tag, auch wenn er in den Mainstreammedien meistens nicht sichtbar ist. Gleichzeitig können auch wir uns nicht komplett der Dynamik eines solchen “Tag X” entziehen. Im Falle einer neuen Offensive rufen wir alle auf unserem Aufruf zu folgen und den Protest direkt vor die Türen der internationalen Vertretungen des türkischen Staates zu tragen. Gleichzeitig geht es uns nicht um eine einzige Aktion oder einen Tag. Wir werden kontinuierlich weiter mobilisieren und mit unseren Initiativen versuchen den türkischen Staat und alle Institutionen, die ihn unterstützen zu blockieren, zu stören und zu besetzen.

Unabhängig davon bereiten wir auch im Moment neue internationale Aktionstage für das Wochende vom 26. bis 28. November vor. Der Slogan lautet “Smash Turkish Fascism – Stand with the Guerrilla!”. Unter unserem Motto “Block! Disturb! Occupy!” rufen wir auch hierzu alle auf aktiv zu werden und auf die Straße zu gehen.

Die Aktionstage vom 26.-28. November, von denen du sprichst, wie werden die konkret aussehen und wie können sich Gruppen und Menschen außerhalb eurer Kampagne daran beteiligen?

Der Aufruf zu den Aktionstagen wird in den kommenden Tagen veröffentlicht werden. Unsere zentralen Ziele sind erstens, den Vertrieb von Olivenöl aus dem besetzten Efrin anzugreifen, an dem sich einige eine goldene Nase auf Kosten des Leidens der Bevölkerung von Efrin verdienen. Zweitens, die Waffenindustrie, welche weiterhin für die türkische Kriegsmaschinerie produziert. Drittens, die Kollaborateure in Politik und Diplomatie, welche weiterhin mit Erdogan liebäugeln und dem türkischen Faschismus Grund und Boden für seine Vernichtungspolitik liefern. Gleichzeitig wollen wir den Widerstand der Guerrilla unterstützen und den Gebrauch von Chemiewaffen durch den türkischen Staat verurteilen. Der 27.11. stellt auch den 43. Jahrestag der Gründung der PKK dar. Wir erklären uns solidarisch mit dem Kampf der PKK, gratulieren ihr zum Geburtstag und sagen klar und deutlich, dass die Kriminellen hier nicht die Kämpfer:innen der PKK sind, sondern diejenigen, die Kurdistan besetzt halten und ausbeuten.

An den Aktionstagen können alle teilnehmen, die wollen. Es wird in einigen Städten sicherlich auch zentrale Veranstaltungen geben, aber darüber hinaus wollen wir, dass alle dezentral selbst aktiv und kreativ werden.

#Bildquelle: ANF

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Türkische Militäroperationen gegen die sozialistische Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) werden in der westlichen Öffentlichkeit zumeist totgeschwiegen. Dabei handelt es sich bei den mit Luftwaffe und Bodentruppen, Helikoptern und Panzern durchgeführten Attacken keineswegs um irgendwelche Polizeieinsätze, sondern um handfeste Kriege samt ziviler Opfer. Die Namen der Operationen wechseln, aber eigentlich handelt es sich um einen durchgängigen Feldzug im Grenzgebiet zwischen der kurdischen Autonomieregion im Nordirak und den mehrheitlich kurdischen Gebieten auf dem Territorium der Türkei.

Die Operationen haben allerdings häufig wenig Erfolg. Die Guerilla der PKK hat Jahrzehnte Erfahrung und die gebirgige Region ist ihre Heimat. Türkische Soldaten geraten häufig in Hinterhalte, nennenswerte Gebiete über längere Zeit halten, können sie nicht. Auch deshalb greift die Türkei nun seit einigen Monaten auf international geächtete Waffen zurück.

Bereits Anfang Oktober behauptete die Guerilla-Kommandantin Beritan Dersim vom Militärrat der Frauenverteidigungskräfte YJA-Star, dass die Türkei schon seit 5 Monaten Chemiewaffen gegen die Guerilla einsetze. Seitdem sind eine Reihe weiterer Indizien an die Öffentlichkeit gelangt. Neben Augenzeugenberichten existiert Videomaterial aus den Tunnelsystemen der Guerilla, die selbige gefüllt mit grünlich schimmerndem Gas zeigen. „In ihren monatlichen Bilanzen haben die HPG (Volksverteidigungskräfte) 132 Angriffe mit chemischen Waffen auf Guerillakräfte zwischen dem 23. April und dem 23. August bestätigt. Seitdem gab es Dutzende weiterer Angriffe. Diese Angriffe haben unmittelbar zum Tod von mehr als einem Dutzend Mitgliedern der Guerilla geführt“, schreibt der Kurdische Nationalkongress KNK in einem Dossier.

Es ist dabei keineswegs das erste Mal, dass die Türkei verbotene oder geächtete Waffen gegen kurdische Gruppierungen einsetzt. Bereits bei ihrem Einmarsch im nordsyrischen Serekaniye im Oktober 2019 zeigten Aufnahmen Bombardierungen von Wohngegenden mit Weißem Phosphor. Nachgewiesen ist auch, dass die Türkei im Mai 1999 in der kurdischen Provinz Sirnak military-grade-CS-Gas-Granaten einsetzte, um Kämpfer:innen der PKK aus einer Höhle zu treiben – eine ebenfalls verbotene Praxis. Die Gasgranate stammte aus der Produktion einer deutschen Firma. Wie der frühere Biowaffeninspekteur der UN, Jan van Aken, feststellt, produzierte die Türkei derartige Granaten auch selbst. Die Beteuerungen, diese mittlerweile vernichtet zu haben, können als wenig glaubwürdig gelten. Van Aken beschreibt auch weitere Vorfälle, zumindest in den Jahren 2009 und 2011, die Indizien für einen Einsatz von Chemiewaffen in Kriegshandlungen aufweisen.

Welches Gas aktuell genau zum Einsatz kommt, ist schwer zu sagen. Eine Kämpferin, die Augenzeugin der Angriffe wurde, sagte gegenüber Reportern des kurdischen Fernsehsenders Sterk TV: „Manchmal verwendeten sie Tränengas, manchmal andere Giftgase.“ Die Guerilla-Kämpferin berichtet von Gasen unterschiedlichen Geruchs und unterschiedlicher Wirkweise. Und: Sie fordert auf, in den Tunneln und an den Leichen gefallener Genoss:innen eine Untersuchung durchzuführen.

Doch genau hier hapert es. Die Verbündeten Erdogans in EU und USA haben keinerlei Interesse an Aufklärung, denn sie stehen fest an der Seite ihres NATO-Partners, wenn es um die Vernichtung der kurdischen Bewegung geht. Verwunderlicher ist da schon, dass sich bislang kein einziger aus der Zunft der Starjournalist:innen gefunden hat, der es auch nur der Mühe wert fand, den Vorwürfen unvoreingenommen nachzugehen. Zum Zeitpunkt der Niederschrift dieser Zeilen – und damit nach mehreren Monaten von Berichten des Einsatzes von Chemiewaffen durch einen engen Partner Deutschlands – existiert von ARD bis Spiegel, von FAZ bis Süddeutsche keine Zeile zum Thema.

# Bildquelle: ANF

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Interview mit Welat Direj, 28, Internationalist und Mitglied der militärischen Verteidigungsstrukturen Rojavas zu den aktuellen Angriffen des türkischen Staates in Kurdistan und dem revolutionären Widerstand.

Bei euch in Nordsyrien sind es bereits über 30 Grad und der Sommer ist da. Seit vielen Monaten erreichen uns Nachrichten, dass die Türkei den Wasserzufluss nach Rojava unterbindet. Was ist Erdogans Kalkül hinter dieser Blockade?

Das ist Teil der Kriegsführung des faschistischen, türkischen Staates. Sie versuchen, mit allen Mitteln das Projekt der Selbstverwaltung im wahrsten Sinne des Wortes auszutrocknen. Ihnen ist vollkommen bewusst, dass sich Nord Ost Syrien, zu einem Großteil wirtschaftlich auf die Landwirtschaft stützt, für welche kontinuierliche Bewässerung ein essentieller Bestandteil ist, genauso wie natürlich einfach nur Trinkwasser. Zudem läuft durch die in der Vergangenheit starke Zentralisierung – ein Relikt aus Zeiten des Baath-Regimes – die Stromerzeugung zu einem sehr großen Anteil über den Staudamm in Tabqa und Tischrin. Ihr Ziel ist also, wenn sie auf militärischer Ebene keine Erfolge erzielen können bzw. es dafür gerade keinen Raum gibt, mit Hilfe von Wasserverknappung, Spezialkrieg, Embargo etc. das Volk zur Flucht und damit in die Verteidigungslosigkeit zu zwingen.

Wie reagiert die Selbstverwaltung Nord-Ost-Syriens auf diese Angriffe?

Es gibt natürlich nicht erst seit heute verschiedene Planungen und Projekte dem zuvorzukommen bzw. diesen Angriff abzuschwächen, aber diese reichen bei weitem nicht aus. Das reicht von Wasserumleitungsprojekten über Brunnenbohrungen zu neuen Bewässerungsmethoden in der Landwirtschaft. Außerdem ist auch ein wichtiger, nicht zu unterschätzender Aspekt die Aufklärung und Bildung, welche Ziele der faschistische, türkische Staat mit diesen Angriffen verfolgt, um sie damit ins Leere laufen zu lassen. Wir müssen begreifen, dass dieser kurdenfeindliche Staat eine Agenda des kulturellen Genozids verfolgt, er also vielleicht nicht 40 Millionen Kurdinnen und Kurden physisch auslöschen kann, aber diese in alle Himmelsrichtungen zerstreuen, sie vertreiben, schwächen und assimilieren will.

Mit der Besatzung Afrins durch den türkischen Staat und seine dschihadistischen Banden im März 2018 begann eine neue Phase von Guerillawiderstand, angeführt von den Befreiungskräften Afrins (HRE). Wie läuft es aktuell an dieser Front?

Ich würde das so formulieren: Afrin ist noch immer besetzt durch den Feind und daher ist der Widerstand nicht ausreichend, da Afrin bisher nicht befreit wurde. Aber wir sehen eindeutig eine positive Entwicklung in die richtige Richtung. In den letzten Jahren wurde in Rojava im Kampf gegen den Islamischen Staat eine bestimmte Art und Weise des Kampfes erlernt. Die türkische Invasion und Besatzung Afrins 2018 mit Drohnen, Kampfhubschrauber und Kampfflugzeugen war für die militärischen Kräfte in Rojava an vielen Stellen eine neue Herausforderung, die eine vollkommen neue Art und Weise der Kriegsführung erforderte. Sich dahingehend zu adaptieren, braucht etwas Zeit, aber wir können in jedem Fall eine deutliche Entwicklung sehen.

Seit April führt der türkische Staat eine neue Großoffensive gegen die Guerillaeinheiten der PKK in Südkurdistan/Nordirak. Nach der Niederlage gegen die siegreiche Guerilla in Haftanin 2020/21 folgt nun eine weitere Großoffensive. Wie bewertest du diese Angriffe?

Das wird schwer darauf kurz zu antworten, aber ich versuche es mal. Wir können ganz klar sehen, dass der Diktator Erdogan seit Jahren innenpolitisch nicht nur immer mehr an Popularität einbüßt, sondern zugleich eine schwere Wirtschaftskrise das Land erschüttert, die sich noch intensivieren wird. Erdogan steht mit dem Rücken zur Wand, was auch die erneuten Bemühungen seitens der Türkei zeigen, die Guerilla zu einem Waffenstillstand zu überreden. Eine alte Taktik der AKP um sich wieder in Position zu bringen.

Die AKP-MHP Regierung versucht alles, um mit Hilfe von billigem Nationalismus ihre Misserfolge zu überdecken. Außerdem existieren natürlich noch geopolitische Interessen der NATO, das muss man ganz klar festhalten: Die Guerilla kämpft nicht nur gegen den türkischen Staat, sondern gegen die gesamte NATO. Der Luftraum des Nord-Iraks ist immer noch unter der Kontrolle der USA, die für diese Operationen grünes Licht gaben. Wenn verschiedene imperialistische Konstellationen gerade keine Angriffe in Rojava zulassen, dann werden die Angriffe gegen die Guerilla, das Herz der kurdischen Freiheitsbewegung, intensiviert.

Wie sieht der Widerstand der Guerilla aus? Murat Karayilan, Oberkommandierender der HPG, spricht seit einer gewissen Zeit von der „Guerilla des 21. Jahrhunderts“. Wie sehen diese neuen Taktiken konkret aus?

Der Widerstand einer Guerilla mit kleinem Waffenarsenal gegen die gesamte NATO ist bis jetzt mehr als beeindruckend. In Gare wurden die extra trainierten Spezialkräfte der Türkei in vier Tagen in die Flucht geschlagen und zu allem noch der verantwortliche Kommandant für die Operation getötet.

Obwohl die Türkei ununterbrochen Dutzende Drohnen und Kampfflugzeuge in der Luft hat, kann sie die Guerilla nicht finden, die im Sinne der angesprochenen Reorganisierung bzw. Entwicklung hin zu einer Guerilla des 21. Jahrhunderts mit effektiver Tarnung, über spezielle Regenschirme gegen Wärmebildkameras zu den neu gegründeten Sehid-Delal-Flugabwehrkräften viele neue Methoden anwenden. Die Guerilla dezentralisiert ihre Kräfte noch mehr als zuvor, und wird den türkischen Staat so weit in die Enge treiben, dass er um einen Waffenstillstand betteln wird.

In der BRD ist der Krieg gegen die Guerilla in den Bergen Nord- und Südkurdistans wenig präsent. Rojava und die restlichen Teile Kurdistans werden auch innerhalb der Solidaritätsstrukturen oft getrennt voneinander betrachtet. Was können wir tun um diese Trennung zu überwinden?

Mit dieser Trennung spielen wir nur dem Feind in die Hände, der ja genau das erreichen will. Das ist die alte, leider sehr erfolgreiche Taktik von Teile und Herrsche: „Die in Rojava sind ok, aber die PKK ist radikal“. Wenn linke, demokratische Menschen dieses Denken anwenden, ist das umso problematischer, denn nur der gemeinsame Kampf gegen Kolonialismus und für Freiheit aller kann erfolgreich sein.

Das gilt genauso für Südkurdistan, wo gerade wieder die KDP zusammen mit der Türkei einen Krieg gegen die Guerilla beginnt. Barzani und Co wollen scheinbar nicht sehen, dass sobald die Guerilla besiegt wäre, sie die nächsten auf der Liste des türkischen Staates sein würden.Wir müssen begreifen, dass es ohne den Kampf der PKK die anderen Kämpfe – zum Beispiel die in Rojava – nicht mehr geben wird, dass die Guerilla in den Bergen Kurdistans ein Garant für die Freiheit Kurdistans ist.

# Bildquelle: ANF

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Mit einem trilateralen Abkommen zwischen Armenien, Aserbaidschan und Russland wurde nach 44 Tagen der Krieg um die umstrittene Region Berg-Karabach beendet. Analyse eines dramatischen Zerfalls Armeniens und einer neuen politischen Situation in der Region.

Seit dem 10. November schweigen die Waffen. Rund 2.000 russische Soldaten überwachen den Waffenstillstand in der Region, die die Armenier*innen Arzach nennen und das bis vor kurzem die selbst erklärte Republik Arzach war. Der Krieg, der jetzt vorerst vorbei scheint, begann am 27. September mit einem groß angelegten Angriff seitens Aserbaidschans mit Hilfe der Türkei. Obwohl die armenische Armeeam Anfang einige Abwehrerfolge erzielen konnte, wurde mit der Zeit die türkisch-aserbaidschanische Überlegenheit zu groß. Besonders mithilfe der türkischen und israelischen Drohnen konnte Aserbaidschan zusammen mit den von der Türkei rekrutierten islamistischen Dschihadisten an der Südfront vorrücken. Da das Gelände dort flach ist, kontrollierte Aserbaidschan nach rund vier Wochen die südliche Grenze zum Iran, während sich Armenien in die Berge zurückzog. Die Drohnen erwiesen sich als sehr effizient und waren kriegsentscheidend: Obwohl die Verluste Aserbaidschans in die tausenden gehen, konnte damit regelmäßig vorgerückt werden.

Die entscheidende Schlacht begann um die Stadt Shushi, den die Aserbaidschaner*innen Shusha nennen und die im nationalen Mythos eine große Bedeutung hat, weil viele Schriftsteller*innen und Poet*innen aus erStadt kommen, die nur vier Kilometer von der Hauptstadt Azrachs,Stepanakert, entfernt liegt. Am 29. Oktober sagte der Präsident der Republik Arzach, Arayik Harutyunyan, dass die aserbaidschanischen Truppen nur fünf Kilometer vor der Stadt seien: “Wer Shushi kontrolliert, kontrolliert Arzach”, so die Aussage, die auch zutreffend beim letzten Krieg war, als die armenischen Partisan*innen die Stadt im Handstreich erobern konnten und von da an einen strategischen Vorteil hatten.

Doch Shushi wurde de facto ohne Kampf aufgegeben, am 8. November die Evakuierung der Stadt angeordnet. Spätestens als dann der aserbaidschanische Diktator Ilham Aliyev die Stadt für “befreit” erklärte und das Verteidigungsministerium in Baku entsprechende Bilder verbreitete, kam es zu einem beispiellosen Zerfall der armenischen Front, ja des armenischen Staates ingesamt.

Was besagt das Abkommen?

Bis zum Redaktionsschluss war nicht bekannt, wo sich der armenische Premierminister Nikol Paschinyan befindet. Paschinyans Verschwinden hängt damit zusammen, dass sich im Land eine enorme Wut gegen ihn richtet, weil er nach eigener Aussage das trilaterale Abkommen, das den Krieg beendet hat, unterzeichnet hat. Was besagt dieses Abkommen? Im Grunde ist es eine Kapitulation Armeniens und eine nationale Demütigung:

  • Ab dem 10. November tritt ein Waffenstillstand ein, beide Kriegsparteien bleiben an ihren Positionen; russische „Friedenstruppen” sorgen für die Einhaltung dessen
  • Armenien zieht sich in dei Phasen bis zum 1. Dezember aus den sieben umliegenden Provinzen zurück, Aserbaidschan übernimmt
  • Karabach wird de facto aufgeteilt, Aserbaidschan behält die eroberten Gebiete, wie Hadrut und Shushi; der Status der Region bleibt unklar
  • Der Rest von Azrach mit Stepanakert bleibt armenisch, die Versorgung über den Lachin-Korridor unter russischer Kontrolle sichergestellt
  • Die über 90.000 Geflüchteten aus Azrach können in die Restgebiete Karabachs zurückkehren
  • Austausch von Gefangenen und toten Soldaten
  • Aserbaidschan bekommt über Südarmenien eine direkte Verbindung zu seiner Enklave Nachitschewan. Diese Verbindung wird vom russischen Geheimdienst FSB überwacht.

Für Aserbaidschan bedeutet dieses Abkommen einen enormen Gewinn, besonders hinsichtlich der sieben Provinzen und der Einnahme Shushis. Das Land hatte infolge der letzten Kriegsniederlage ein tiefes nationales Trauma erlitten und rund 700.000 Geflüchtete im eigenen Land. Selbst heute noch bilden die Geflüchteten 7 Prozent der aserbaidschanischen Gesellschaft. Einige von ihnen sind zwar zum Beispiel nach Russland immigriert, andere wiederum werden sicherlich in diese Provinzen zurückkehren. Es bleibt aber fraglich, wie ihre soziale Lage inmitten eines hochmilitarisierten Gebiets sein wird, zumal seitens der Diktatur wenig Unterstützung kommen wird. Die Regierung kümmerte sich schon in den 90er-Jahren kaum um die Geflüchteten, sodass diese sogar Jahre später noch in Lagern lebten.

Karte: wikimedia commons emreculha, CC BY-SA 4.0,

Der letzte Punkt wiederum ist vielleicht der brisanteste, auch wenn er derzeit nicht so im Rampenlicht steht: Es ist die Realisierung der panturkistischen Träume von Reçep Tayyip Erdogan, da die Türkei damit eine direkte Verbindung bis nach Baku, zum ölreichen Kaspischen Meer bekommt. Für die Türkei bedeutet das die Etablierung im Südkaukasus, nachdem sie im Krieg quasi Kriegspartei war und an den Planungen und Durchführungen der Militäroperationen direkt beteiligt war. Anfang Oktober schoss ein türkischer F-16-Kampfjet sogar einen armenischen Kampfjet über armenisches Territorium ab; immer wieder heizte Ankara den Krieg unter dem panturkistischen Motto “Eine Nation, zwei Staaten” den Krieg an und drohte offen mit einer direkten Intervention.

Erdogan wird sich in dem Einsatz der islamistischen Söldner bestätigt sehen und diese als nächstes gegen Rojava einsetzen, da sie zusammen mit Aserbaidschan als klare Gewinner des Krieges rausgehen. Zwischenzeitlich war sogar auch von türkischen “Friedenstruppen” die Rede, die ebenfalls zusammen mit den russischen Streitkräften das Abkommen (das zunächst für fünf Jahre gilt) überwachen sollten, aber das wird nicht der Fall sein und wäre angesichts der türkischen Aggressionen blanker Zynismus. Nichtsdestotrotz wird die Türkei ihren Einfluss auf Aserbaidschan ausweiten und sehr wahrscheinlich eine Militärbasis im Land aufbauen. Mehrere hundert Militärangehörige waren die gesamte Zeit über im Land: Der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar war bei der Lancierung des Angriffs sogar im Kommandostab dabei.

Die Türkei hat es damit trotz großer eigener wirtschaftlicher Probleme geschafft, im Südkaukasus einen Zwischenerfolg zu erringen und das in einer Zeit, wo im Land selbst der Hunger wächst, wie der Kolumnist Bülent Mumay für die FAZ schreibt: “Der Konsum roten Fleisches ist im Laufe der vergangenen zwölf Monate um dreißig Prozent gesunken. Der Verkauf von Nudeln, einem der günstigsten Nahrungsmittel, stieg um 25 Prozent. Einer universitären Studie zufolge reicht in 38 Prozent der Haushalte das Geld nicht mehr für den Lebensmittelbedarf aus. Siebzig Prozent der Bürger kommen kaum über die Runden. Aus Verzweiflung häufen sich die Suizide. In den letzten fünf Jahren, die wir in der Wirtschaftskrise stecken, setzten 1380 Personen ihrem Leben aus wirtschaftlicher Not ein Ende.”

Hinzukommen 20.000 Verhaftungen von HDP-Politiker*innen in den letzten vier Jahren, die letzte große Welle gab es jüngst kurz vor Beginn des Krieges. Der Krieg der Türkei in Arzach war damit die Fortsetzung des Krieges im Inneren, aber es wird zu sehen sein, wie lange diese fragile Balance noch anhalten wird.

Die Bourgeoisie führt das Land in den Ruin

Auf der anderen Seite mutierte Armeniens Premierminister Nikol Paschinyan aufgrund der Unterzeichnung des Abkommens zur Hassfigur.. In der Nacht zum 10. November stürmten tausende Demonstrant*innen das Parlament und das Regierungsgebäude. Der Parlamentssprecher Ararat Mirzoyan wurde fast zu Tode geprügelt und liegt im Krankenhaus. Stundenlang war von Paschinyan selbst nichts zu hören, ehe er sich mitten in der Nacht per Livevideo von seinem privaten Facebook-Account meldete — allein diese Tatsache zeigt deutlich den dramatischen Zerfall der armenischen Staatsstrukturen. Die Regierung ist abgetaucht, die Armee in Auflösung begriffen und die oligarchische Opposition um den 2018 gestürzten Sersch Sargsyan in Lauerstellung für einen Putsch. Selbst der armenische Präsident Armen Sarkisyan erklärte, dass er von dem Abkommen durch die Presse erfahren habe.

Es herrscht eine desaströse Situation im Land, wo ein Teil den Kopf von Paschinyan fordert und in ihm den größten Verräter in der armenischen Geschichte sieht. Dieser wehrt sich und erklärte in seinem Livevideo, dass die korrupte Oligarchie um die ehemaligen Machthaber Robert Kocharyan und Sersch Sargsyan die Verantwortung für die militärische Niederlage trage, da sie das Land 25 Jahre ausgeplündert und die Armee unterfinanziert habe. Beide Tatsachen sind unbestritten richtig, aber das Problem sind nicht einzelne Personen, die Oligarchen, sondern die Klassenherrschaft der Bourgeoisie insgesamt. Armenien war im Krieg von Anfang gewaltig im Nachteil, nicht nur was die Ausrüstung anging (Aserbaidschans Militärbudget ist größer Armeniens gesamter Haushalt), sondern auch, was die Unterstützung von außen anging: Russland verhielt sich äußerst passiv und reagierte selbst dann nicht, als kurz vor dem Abkommen ein russischer Militärhubschrauber über Armenien von Aserbaidschan abgeschossen wurde und zwei russische Soldaten starben.

Zwar wurden die moskauhörigen Machthaber wie Kocharyan und Sargsyan nach der demokratischen Massenbewegung 2018 vor Gericht gebracht, allerdings fand eine Verurteilung, geschweige denn eine Enteignung ihrer riesigen Vermögen nie statt. Während es den Selbstverteidigungskräften Arzachs, die zu Recht für ihr Selbstbestimmungsrecht kämpften, sogar Schutzkleidung mangelte, wurde das Vermögen der reichen Bourgeoisie nicht angetastet. Während in der Diaspora für Armenien gespendet wurde und alleine über den zentralen Hilfsfonds Himnadram 160 Millionen US-Dollar zusammenkamen, wurde zur gleichen Zeit einer reichsten Menschen des Landes, Gagik Tsarukyan, aus der Untersuchungshaft entlassen und plant zusammen mit der alten Elite ein politisches Comeback. Er unterzeichnete zusammen mit 16 weiteren (teilweise sehr kleinen) Parteien noch vor der Unterzeichnung des Abkommens ein Dokument, das den Rücktritt der Regierung forderte. Mit dabei ist auch die Partei von Sersch Sargsyan, der aber im Land weiterhin sehr unpopulär ist.

Armenien konnte im Zuge der sogenannten Samtenen Revolution wirtschaftlichen Fortschritt und demokratische Errungenschaften vorweisen. Es bleibt nicht zu vergessen, dass das armenische Proletariat nach jahrzehntelanger neoliberaler Indoktrination am 2. Mai 2018 ein fulminantes Comeback hinlegte und mit einem spektakulären Generalstreik dafür sorgte, dass letztendlich Paschinyan Premierminister wurde. Anfang Dezember 2018 fanden in Armenien nach sehr langer Zeit wieder freie Wahlen statt, auch die Presse- und Versammlungsfreiheit besserte sich. Nun aber stehen diese Errungenschaften auf dem Spiel, weil nicht nur politisches Chaos herrscht, sondern sogar ein Bürgerkrieg droht.

Das Abkommen zementiert auch die politische Herrschaft des Kremls über Armenien: Russland zwang dieses Abkommen Yerevan auf und verwandelt das Land damit in seine eigene Kolonie. Die Tatsache, dass Arzach aufgeteilt und unter russischer Herrschaft gestellt wird, ist eine Tatsache, eine andere, dass der FSB die Routen Armeniens mit Aserbaidschan und dem Iran überwacht. Russland ist schon länger für die Überwachung der Grenzen zur Türkei und dem Iran zuständig und hat eine eigene, souveräne Militärbasis im Land und weitet diese Präsenz nun weiter aus. Das Abkommen ist auch eine Bestrafungsaktion dafür, dass die liberale Regierung es wagte, sich mehr in Richtung Westen zu bewegen, freilich ohne mit Moskau zu brechen (im Gegensatz etwa zu den rein westlich orientierten ehemaligen Präsidenten Michail Saakaschwili in Georgien oder Petro Poroschenko in der Ukraine).

Dieser Krieg hinterlässt eine tiefe Wunde im nationalen Bewusstsein der Armenier*innen, nicht nur weil es eine Niederlage gab, sondern wie diese Niederlage zustande kam. Tausende Soldaten starben, mehr als 90.000 Menschen sind geflüchtet, sodass gleichzeitig eine ethnische Säuberung stattfand und die Bilder der flüchtenden Konvois nur allzu sehr an die Bilder auf Afrin 2018 erinnern, die ebenfalls Opfer der türkisch geführten Aggression wurden. Zusammen mit der heftig wütenden Corona-Pandemie im Land und einer kommenden politischen Machtprobe befindet sich das Land am Abgrund und so wie es aussieht, wird die nächste Regierung sowieso unter der Kontrolle Russlands stehen.

Aber das ist die Geschichte Armeniens über Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg, eine Geschichte des Überlebens. Auch wenn die unmittelbare Zukunft düster aussieht und viel Ungewissheit mit sich bringt, bleibt der Geist der Massenmobilisierungen und des Generalstreiks im Gedächtnis.

# Titelbild: ANF, Ein zerstörtes Haus in Shuhsi

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Ich bin mal wieder einige Tage zu spät, aber ich habe den Islamismus-Artikel von Kevin Kühnert im Spiegel gelesen und er ist dümmer als ich dachte. Ich dachte, ich wüsste was so ungefähr die Thesen sind: „Die Linke muss sich zu Islamismus verhalten und das Thema nicht den Rechten überlassen“. Der Artikel aber er ist noch ein bisschen flacher als das und im Wesentlichen ein Mix aus grobem Unsinn und leeren Phrasen.

Er beruft sich dabei auf einen abstrakten Humanismus, der es immer schlecht findet, wenn Menschen sterben. Das ist schön und gut, aber jetzt auch nicht sonderlich links. Dann meint er man solle mal „Hegel, Feuerbach, Marx lesen“, was mich die Frage stellen lässt, ob er auch nur die leistete Ahnung hat, wer diese Personen sind und was sie überhaupt geschrieben haben. Ich gehe davon aus, dass er auf eine Art Religionskritik anspielen will, wobei unklar bleibt, was das Argument sein soll, außer dem Allgemeinplatz, dass Religion Privatsache sein sollte. Die Ideologiekritik von Marx zu verstehen jedoch heißt vor allem, dass man den Islamismus nicht bekämpft, indem man sich “zu Wort meldet“, sondern indem man die politischen Interessen dahinter erkennt und die gesellschaftlichen Ursachen nachhaltig bekämpft.

Der Beitrag glänzt vor allem mit Abstraktion und ist erstaunlich unpolitisch. Es geht um Islamismus, der eine nicht näher bestimmte „Ideologie“ ist.
Wie sie inhaltlich aussieht und wie sie funktioniert, was sie von anderen unterscheidet oder mit anderen gemein hat, kommt nicht vor. Es geht um „die Täter“, aber es gibt keine politischen Akteure mit Interessen und keine gesellschaftlichen Institutionen, die das tragen. Er adressiert die „politische Linke“, aber wer das konkret sein soll und vor allem was diese abstrakte Gruppe – außer „sich zu Wort melden“ – tun soll, bleibt offen.

Dass es eine riesige linke Bewegung gibt, die in den letzten Jahren den IS besiegt und einen Völkermord verhindert hat, nämlich die kurdische Freiheitsbewegung, wurde bereits zuhauf angeführt. Umgekehrt ist es wahr, dass es in Deutschland einen bürgerlichen Antirassismus gibt, der ein Einfallstor für Islamismus bietet. Eine Art von Diversity-Politik, die islamischen Religionsunterricht und islamische Theologie in deutschen Bildungsinstitutionen von Verbänden, wie DITIB oder IGS organisieren lässt. Diese unterstehen jeweils dem türkischen bzw. dem Iranischen Regime. Antirassismusdemos, die mit eben solchen Verbänden gegen antimuslimischen Rassismus demonstrieren.
Eine Antidiskriminierungsstelle des Bundes, die Inklusionsprojekte mit führenden Figuren der Milli Görüs Bewegung finanziert. Im SPD-Vorstand soll der Zentralrat der Muslime ein- und ausgehen. Erdogan persönlich instrumentalisiert gerade einen antirassistischen Duktus, um seine türkischislamische Großmachtpolitik zu legitimieren. Kühnerts Kritik bleibt abstrakt, weil eine konkretere Auseinandersetzung mit den Akteuren dieser „linken“ Politik bedeuten würde, dass sie vor allem von den mitte-links Parteien getragen und forciert werden, vor allem weil sie sich dadurch eine große Wählerbasis erhoffen. Dass da ein „unangenehmes Schweigen“ herrscht aus Angst, man könnte Wähler verlieren ist klar.

Besorgniserregend naiv ist dagegen die Vorstellung, ihre Politik wäre geleitet von abstrakten Werten, auf die man sich wieder besinnen müsse und nicht knallharten Interessen, über die man sich bewusst ist. Deshalb muss man auch kein Wort verlieren, über Waffendeals mit Erdogan, die direkt an seine IS-Söldner gehen oder an Saudi-Arabien, die den Islamismus nicht erst seit gestern global und nicht zuletzt auf dem afrikanischen Kontinent finanzieren. Es wirkt an dieser Stelle fast redundant zu ergänzen, dass der politische Islam im letzten Jahrhundert vor allem von den Westmächten als Bollwerk gegen den Sozialismus hochgezogen wurde.

Die breite Zustimmung, auch die der Rechten, zu seinem Beitrag, ist nicht überraschend, denn genau auf diese Zielgruppe zielen solche Beiträge ab. Die verlogene Rhetorik einer Politik, die von menschenrechtlichen Prinzipen geleitet sein will, fällt dabei besonders ins Auge, weil sie seit jeher als Legitimation für Militäreinsätze herhalten musste.
So war es bei Jugoslawien, beim Irak und bei Libyen. Kühnert hat in der Vergangenheit schon deutlich gesagt, dass er militärische Interventionen im Ausland nicht ausschließt. Wir dürfen gespannt sein, wie er dafür auf diese Argumentation nochmal zurückkommen wird.
Nebenbei: Dass Kühnerts Beitrag viel Lob aus der linken Parteienlandschaft erhalten hat, ist auch nicht weiter überraschend. Die Linkspartei gibt sich schließlich regierungsfähig und staatstragend.

#Titelbild: Stefan Müller (climate stuff)/CC BY 2.0

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Es gibt ein Foto, auf dem ist ein türkischer Soldat einer Spezialeinheit zu sehen. Aus seinem Mund hängt lässig eine Zigarette, sein Kopf ist an den Seiten kahlgeschoren, das verbliebene Haupthaar ist akkurat frisiert. Sein Blick zeigt ungetrübten Stolz, er streckt den rechten Arm in die Kamera, der die Trophäe zur Schau stellt. Aus dem rechten Arm baumelt ein Menschenkopf, unsauber am Hals abgesägt. Der Menschenkopf sieht stoisch nach unten. Weil der Menschenkopf irgendwann einmal zu einem kurdischen Menschen gehört hat, ist für die Soldaten klar: Hier wurde ein Terrorist gefangen.

Das Bild ist keine Fiktion. Es ist ein Screenshot aus einem Video, das irgendwann nach 2017 in Sirnak, einer Region im kurdischen Südosten der Türkei aufgenommen wurde. Und es ist das Bild, an das ich beim Lesen von Cemile Sahins neuem Roman „Alle Hunde sterben“ eigentlich auf jeder der 237 Druckseiten denken musste.

Sahins Buch ist aufgebaut wie eine Netflix-Serie, aber wie eine der guten, Black Mirror etwa. Es spielt in einem Hochhaus im Westen der Türkei, das 17 Stockwerke hat. Aber eigentlich spielt es in den Köpfen der neun Menschen, die in neun Episoden ihre Geschichten erzählen. Die neun Geschichten handeln aber alle von einer Geschichte und diese Geschichte ist ihrerseits keine Fiktion, sondern sie wird überall auf der Welt jeden Tag wieder und wieder aufgeführt: „Ich schleiche durch die Wohnung mit zwei Paar Socken, und ich verstehe: hinter der Tür kommt ein Zimmer, und hinter einem Zimmer kommt eine Wand. Und vor der Wand hängt eine Fahne, und wenn wir ihre Fahne sehen, wissen wir, in welchem Land wir sind. Wir sind in diesem Land. Und wenn uns ein Soldat hier sieht, dann packt er uns und stellt uns vor ihre Fahne.“

Wenn einer nicht vor der Fahne stehen will, weil die Fahne ihm und seinen Nachbarn, seinen Eltern, Tanten, Onkeln, Kindern, Großeltern und Freunden schon bis zum Ersticken in den Mund gestopft wurde, beginnt die Story. Es gibt dann Terroristen. Und weil diejenigen, die die Fahne aufgehangen haben, es nicht dulden können, dass es Terroristen gibt, gibt es Soldaten, Polizisten, Sondereinheiten, Spitzel. Deren Aufgabe ist es, alle zu fangen, die nicht Terroristen sind, sondern sein könnten. Also ziehen sie los und gehen ihrem Beruf als Helden der Nation nach. Für diesen Beruf haben sie Werkzeuge wie jeder Handwerker: Stricke, Fäuste, Gewehre, Pistolen, eine Ratte.

Mit den Werkzeugen bearbeiten sie die Gegenstände ihres Handwerkes, die Menschen, von denen sie wissen, sie sind Terroristen. Nur sind diese Gegenstände eben keine Gegenstände, sondern Menschen, also geht in ihnen etwas vor. Was aber in ihnen vorgeht, ist für die Außenstehenden oft egal: Für diejenigen, die die Fahne aufgehangen haben sowieso, es sind ja Terroristen; für die Soldaten, Polizisten, Sondereinheiten und Spitzel auch, es sind ja Terroristen; für die Handelspartner des Landes, in dem die Terroristen aufgehangen, zu Tode gequält, erschlagen und in den Wahnsinn getrieben werden auch, weil die Fahne verspricht lukrative Geschäfte; für die Urlauber, die in das Land fahren, in dem die Fahne hängt auch, denn sie machen ja nicht in dem 17-stöckigen Hochhaus Urlaub, sondern in einem hübschen Hotel, in dem es keine Terroristen gibt.

Cemile Sahin hat versucht, die Verheerungen einzufangen, die das Foltern, Bespitzeln, Erschießen und Erniedrigen in denjenigen auslöst, an denen es angewandt wird. Was macht es aus jemandem, wenn sein Großvater mit dünnen Seilen, mit denen man Schaden anrichten kann, an einen Baum gefesselt und abgeknallt wurde wie ein Hund? Was macht es mit Familien, die auseinandergerissen werden, und bei denen die einen nicht wissen, wo die anderen sind? Was macht es mit einem, die Gebeine der toten Mutter in einem Plastiksack herumzuschleppen? Und was kann noch aus jemandem werden, der gezwungen wurde, eine Ratte zu fressen?

„Alle Hunde sterben“ spielt in einem Land, das zu einem Knast geworden ist. Einem Land, in dem nicht nur der wirkliche Knast oder das 17-stöckige Hochhaus, in dem niemand aus freien Stücken lebt, ein Knast sind, sondern jeder Milimeter seines Territoriums. „Die Zukunft ist klein, und das Gefängnis ist groß“, sagt eine der Protagonist*innen.

Ein solches Land muss paranoid sein. „Denn jeder Anzug könnte zu einem Spitzel gehören, da jeder Anzug auf einem Spitzel sitzt. Und jeder Spitzel ist ein Mann im Anzug, der womöglich aus einem Auto gestiegen ist.“ Wo die Spitzel sind, sind die Soldaten nicht weit. Und die kommen dann nachts und treten Türen ein, aber man ist natürlich auch tagsüber nicht sicher, denn wer nachts kommt, kann auch tagsüber kommen. Die Soldaten in dem Roman sind wie eine Plage. Sie fallen ein und zerstören. Sie zerstören Häuser, Dörfer, Gräber, Menschen.

Das zu lesen, ist beklemmend. Es ist eine Qual und was anderes als eine Qual könnte es sein? Es ist eine Qual vor allem deshalb, weil man sich eben nicht daraus retten kann, indem man sich sagt: Es ist ja nur ein Roman. Weil es halt nicht nur ein Roman ist, sondern all das wirklich passiert. Der Nationalismus existiert wirklich, der Faschismus existiert wirklich, seine Soldaten existieren wirklich und die Menschen, die als Terroristen zu Freiwild erklärt werden, existieren auch wirklich.

Insofern ist Sahins Buch nicht einfach eine kunstvoll gemachte Erzählung. Es ist wirklich gute Literatur, aber nicht aus den Gründen, die im bürgerlichen Feuilleton angeführt werden, der immer so tut, als sei Literatur eine Art Rotwein, den man schwenkt, an ihm riecht, den Gaumen runterschüttet und danach sagt: Ah, das hat der Winzer aber vorzüglich gemacht, ich nehme drei Kisten. Die eigentliche Pointe des Buches liegt jenseits der Druckseiten in der Wirklichkeit. Denn das Buch stellt die unausgesprochene Frage: Was hast DU eigentlich getan, damit das aufhört?

#Titelbild: Zehra Dogan; Bildquelle: ANFenglish

Cemile Sahin / Alle Hunde Sterben / Aufbau Verlag / 239 Seiten / 20,00 €

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In der Türkei und Nordkurdistan kommt es täglich zu Femiziden, patriarchal motivierten Morden an Frauen. In mehr als der Hälfte der Fälle ist gesichert, dass den Morden eigenständige Entscheidungen der Opfer vorangingen. Eine banale Entscheidung über ihr eigenes Leben zu treffen, eine Scheidung oder die Weigerung, mit einem Mann eine Beziehung zu beginnen, ist der meist der angegebene „Grund“. Nach Angaben der Plattform „Wir werden Frauenmorde stoppen“ (Kadın Cinayetlerini Durduracağız Platformu, Abkürzung: KCD) handelt es sich in mehr als 90 Prozent der Fälle, bei den Tätern um Männer aus dem engsten Umfeld der getöteten Frauen: „Ehemänner“, Freunde, Expartner oder männliche Verwandte.

Unter dem Deckmantel der „Maßnahmen zur Eindämmung der Coronapandemie“ sind im Frühjahr einschlägig verurteilte Gewalttäter in den Genuss von Haftverschonungen gekommen. Politische Gefangene, darunter Mütter mit kleinen Kindern und Erkrankte, mussten dagegen weiter im Gefängnis bleiben. „Die Pandemie wurde ausgenutzt, um über das neue Vollzugsgesetz Gewalttäter freizulassen“, heißt es in der Erklärung der KCD.

Am Freitag den 28. August 2020 brach zudem ein Mann in der kurdischen Großstadt Amed (türkisch: Diyarbakır) aus dem Gefängnis aus und ermordete seine 29-jährige Ehefrau Remziye Yoldaş. Allein in diesem Jahr ist das der achte Femizid in Amed. Zwei der Femizide wurden von Männern begangen, die im Zuge der Corona-Amnestie freigelassen wurden.

Die 18-jährige Ipek Er wurde von dem türkischen Unteroffizier Musa Orhan 20 Tage lang festgehalten, vergewaltigt und in den Suizid getrieben. Der Mörder genießt nun die Straflosigkeit, die von der türkischen Regierung gewährt wird. In den sozialen Medien wurde unter dem Hashtag #MusaOrhanTutuklansin die erneute Verhaftung des Täters gefordert.

Die 17-jährige N.A. aus Wan (türk. Van) floh vor häuslicher Gewalt in ein Kinderheim. Bei ihrer Aussage kam heraus, dass sie im Alter von 16 Jahren sowohl vom türkischen Offizier T.A. als auch von einer Person namens A.P. sexuell missbraucht worden war. Gegen letzteren wurde ein Haftbefehl ausgestellt, der Militär bleibt straflos.

AKP-MHP-Regierung ermutigt Täter

Diese Politik schlägt sich in einer steigenden Zahl von Entführungen von Frauen, Vergewaltigungen und patriarchaler Gewalt in Kurdistan nieder.

Durch die außergewöhnlichen Umstände in der Corona-Pandemie sind die Femizide gestiegen. Die Covid19-Maßnahmen verursachten Schwierigkeiten für Frauen, die unter häuslicher Gewalt gelitten haben, weil sie mit ihren Partnern/Ehemännern durch die teilweise verhängten Ausgangssperren zuhause in Quarantäne bleiben mussten. Nach Angaben der KCD sind im Juli 36 Frauen ermordet worden, im August waren es 27 Morde an Frauen durch Ehemänner, Partner oder nahestehende männliche Verwandte registriert. In 23 weiteren Todesfällen von Frauen besteht der Verdacht einer Einwirkung durch Männer aus ihrem Umfeld. In den ersten sechs Monaten diesen Jahres waren es 216 und 2019 waren es insgesamt mindestens 474 Frauen. Die Türkei hat unter 34 OECD-Ländern die höchste Femizidrate. Die türkische Regierung trägt Mitschuld an dem Anstieg von Femiziden.

So kam auch die sogenannte Istanbul-Konvention wieder auf die Tagesordnung politischer Debatten in der Türkei. Frauenorganisationen in der Türkei und Nordkurdistan wie auch in Europa protestieren gegen den vom Erdogan-Regime angekündigten Rückzug aus der Istanbul-Konvention zum Schutz vor Gewalt gegen Frauen und fordern dagegen deren vollständige und wirksame Umsetzung. Ankara hingegen vertritt das patriarchale Fundament der Gesellschaft. Die Regierung diffamiert die Konvention als „familienfeindlich“, weil sie traditionelle Werte untergrabe und Männer zu „Sündenböcken“ mache.

Die Türkei hatte als erstes Land die 2014 in Kraft getretene Konvention des Europarats von 2011 unterzeichnet. In der Praxis werden die Rechtsnormen nicht angewandt. Die Hilfsangebote und Schutzmaßnahmen für Frauen werden nicht realisiert. In ihrer Politik bestärkt und ermutigt die AKP-Männerregierung die Täter durch Straflosigkeit. Gewalt, Mord und Vergewaltigung bleibt oft ungeahndet, endet in wenigen Fällen mit minimalen Freiheitsstrafen, diese wiederum werden mit „guter Führung“ begründet.

Frauenorganisationen im Visier

Angesichts der patriarchalen Machtverhältnisse in der Türkei stehen politische Aktivist*innen im Fokus der staatlichen Repression. Insbesondere Frauenorganisationen werden zum Ziel von Angriffen und Festnahmen. So soll vor allem die kurdische Frau und ihr Freiheitskampf vernichtet werden.

Zudem werden Frauen, die sich gegen die Annullierung der Ratifizierung der Istanbul-Konvention wenden und sich für die Emanzipation der Frauen einsetzen mit sexistischen Beleidigungen angegriffen, festgenommen und ihre Aktionen verboten. Das zeigt wiederum, wie beunruhigt die Regierung über die Befreiung und Organisierung von Frauen ist. Denn die Frauenbewegung weist drauf hin, dass Femizide ein Politikum sind. Damit soll gezeigt werden, dass man den Willen der Frauen vernichten will. Alle Vergewaltigungen und Morde werden mit Duldung des Staates begangen.

Im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens der Generalstaatsanwaltschaft Amed hat am 26. Juni eine Großrazzia stattgefunden. Dutzende Aktivist*innen wurden festgenommen, Räumlichkeiten wurden durchsucht. Die Aktivistin Rojbin Çetin wurde stundenlang in ihrer eigenen Wohnung von Polizisten misshandelt, gefoltert und sexuell beschimpft.

Die Philosophie des inhaftierten kurdischen Revolutionärs Abdullah Öcalan, die Befreiung des Lebens sei unmöglich „ohne eine radikale Frauenrevolution, welche die Mentalität und das Leben des Mannes verändern würde“, kann in dieser Situation als Grundlage einer Lösung gelten. Frauen können sich effektiv gegen patriarchale kapitalistische Gewalt verteidigen. Zuletzt hat der Europadachverband kurdischer Organisationen KCDK-E die zunehmenden Fälle von sexualisierter Gewalt und Femiziden in der Türkei und Nordkurdistan in den Kontext des Krieges gegen die kurdischen Freiheits- und Demokratiebestrebungen eingeordnet und die Verteidigung der Freiheit der Frau als ihre „Hauptaufgabe“ bezeichnet.

Nun sollte sich jede Frau die Emanzipation und die Bekämpfung des Patriarchalismus als ihre Aufgabe sehen. Hierzu ist die Solidarität unter Frauen* und Organisation ein wichtiger und richtiger Schritt.

Bildquelle: ANF Deutsch

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Am 28. Juli endete der Münchener Kommunistenprozess gegen 10 Linke aus der Türkei mit langjährigen Haftstrafen. Vorgeworfen wurde den Angeklagten dabei keine konkrete Straftat, sondern lediglich die Mitgliedschaft in der TKP/ML (Kommunistische Partei der Türkei/ML), die vom faschistischen Erdogan-Regime verfolgt wird. Wir trafen uns mit Süleyman Gürcan, Ko-Vorsitzuender der Konföderation der Arbeiter aus der Türkei in Europa (ATIK) und sprachen mit ihm über den Prozess.

In den vergangenen Jahren häuften sich Fälle staatlicher Verfolgung von türkischen Oppositionellen in Deutschland. Du hast den Prozess in München intensiv verfolgt, wie geht es den verurteilten Genoss*innen und wie bewertest Du den Ausgang des Prozesses?

Den Genoss*innen geht es sehr gut. So wie Müslüm Elma es am Anfang seiner letzten Rede vor Gericht gesagt hat: “Wir kommen aus einer Tradition des Widerstands”. Deswegen haben wir auch immer gesagt, wir kommen aus der Türkei und Kurdistan und dort gehören Tötungen, Massaker und Gefängnis zu unserer Geschichte. Ob es nun hier oder in der Türkei ist, Gefängnis macht uns nichts aus und wir leisten unseren Widerstand. Deutschland ist ein imperialistischer Staat. Die Türkei ist ein faschistischer. Ihre antikommunistische, konterrevolutionäre und gegen die Linke gerichtete Politik eint sie. Als Revolutionär rechnet man eben damit, in den Kerkern der Imperialisten und Faschisten zu landen, das gehört zu diesem Kampf dazu.

Deswegen haben unsere Genoss*innen auch vor Gericht von Anfang an zusammengehalten und gekämpft. Anfangs hatten wir etwas Sorge um Haydar B. Er ist etwas älter, im Gefängnis ist er 72 geworden. Auch der Hauptangeklagte Elma Müslüm war zuvor bereits 22 Jahre lang in der Türkei im Gefängnis, unter anderem im Gefängnis von Diyarbakir, in dem auf grauenvollste Art gefoltert wurde. Seine Gesundheit ist in Folge der Folter angeschlagen, umso mehr bereitete uns seine gesundheitliche Situation gerade im Kontext der aktuellen Pandemie und der verweigerten Haftentlassung Sorge. Zum Glück ist aber nichts passiert und es geht allen gesundheitlich gut.

Dieses Verfahren war ein Mammutprozess gegen die TKP/ML (Kommunitische Partei der Türkei/ Marxist-Leninist), weil sie seit Jahren zusammen mit der kurdischen Bewegung und anderen revolutionären Organisationen gegen den Faschismus in der Türkei kämpfen. Der Prozess wurde auch von Anfang an auf zwei Weisen begründet: Einmal, dass die TKP/ML eine kommunistische Partei ist, die eine Diktatur des Proletariats verteidigt. Und zum anderen wegen ihrer Zusammenarbeit mit der kurdischen Freiheitsbewegung. Deswegen ist dieser Prozess nicht nur gegen die TKP/ML, sondern gegen alle Kommunist*innen und insbesondere alle revolutionären Kräfte gerichtet, die in der Türkei den Kampf der kurdischen Bewegung unterstützen.

Der Prozess hat auch das Ziel, die Grundlage zu bieten, um vielleicht in Zukunft die TKP/ML zu verbieten oder die Unterstützung der TKP/ML durch Genoss*innen zu verhindern. Aber wir glauben nicht, dass sie das so einfach schaffen werden. Auch die letzten 5,5 Jahre also seit den Festnahmen im April 2015, haben gezeigt, dass es eine große Solidaritätskampagne gab. Auf internationaler Ebene wurde der Widerstand unterstützt, bis hin zu Aktionen in Brasilien oder auch in Mexiko, also weit über Europa hinaus. Aber auch hier waren viele aktiv auf der Straße, um den Widerstand der angeklagten Genoss*innen zu unterstützen.

Wenn ich mich nicht täusche ist die TKP/ML auf keiner Terrorliste, sie ist in Deutschland nicht verboten und den Angeklagten wurde auch keine einzige konkrete Straftat vorgeworfen. Ist der Prozess ein politisches Geschenk der BRD an die Türkei?

Ja, Du hast recht. Die TKP/ML ist außerhalb der Türkei nirgendwo verboten, sie steht auf keiner Terrorliste. Es gab auch keine konkreten Vorwürfe, die sich auf eine Veranstaltung oder Aktion bezogen hätten. Der einzige Vorwurf war, dass die Angeklagten zum Auslandskomitee der TKP/ML gehören würden. Ihre Aktivitäten umfassten aber nur Veranstaltungen zu Ibrahim Kaypakaya, Seminare, die in den Vereinen organisiert wurden und Demonstrationen. Wegen dem Terrorparagraphen 129 a/b aber können Personen, die angeblich Mitglied einer Organisation sind, die in einem anderen Land, Aktionen macht, allein wegen der angeblichen Mitgliedschaft verurteilt werden.

Das heißt, es gab keine direkten Vorwürfe an die Genoss*innen, sondern es wurde ihnen vorgeworfen, die Aktionen der TKP/ML und ihre Guerillaorganisation TIKKO in der Türkei zu unterstützen. Aber wie du gesagt hast, TKP/ML ist nirgendwo verboten. Und auch das Gericht hat Gutachter beauftragt, die selbst zu dem Schluss kamen, dass Vorwürfe, die Partei sei eine Terrororganisation, unhaltbar sind und dass es sich um eine Kommunistische Partei handelt. Die Zusammenarbeit des deutschen und türkischen Staates spielen in diesem Prozess eine große Rolle.

Die enge Kollaboration der Sicherheitskräfte und Nachrichtendienste der Türkei und Deutschlands hat ja eine lange Tradition. Wie bewertest Du die Rolle dieser historischen Beziehungen im Kontext der aktuellen Repression?

Schon Gesetze wie die Terrorparagraphen 129 a/b sind nichts Neues in Deutschland – die Tradition geht weit zurück bis zu den Sozialistengesetzen 1878 im Kaiserreich oder die Kommunistenprozesse 1852 in Köln. Ein Jahrhundert später dann das Verbot der KPD und die Berufsverbote. Das alles gehört zusammen, es ist eben ein weiterer, vor allem antikommunistischer Paragraph der Gesinnungsjustiz. Und die deutsche Staatsdoktrin ist seit Jahren antikommunistisch und antilinks, deswegen gab es auch immer solche Verfahren und Festnahmen. Aber mit der Kriminalisierung ausländischer Organisationen als „Terrororganisationen“, also der Erweiterung von 129a zu 129a/b, hat das eine neue Qualität bekommen.

Es hat zuerst 1993 mit einem großen Verfahren in Düsseldorf gegen die Arbeiterpartei Kurdistans PKK angefangen. Ähnlich wie heute bei der TKP/ML wurden auch damals zuerst Genoss*innen der PKK verurteilt und danach kam das PKK-Verbot. Ende der 90er gab es dann die Verfahren gegen DHKP-C und das anschließende Verbot. Zum Verfahren 1993 muss ich hinzufügen, dass damals Leute vom türkischen Geheimdienst MIT nach Deutschland eingeladen wurden, um Informationen zu teilen. Auch im Verfahren gegen die TKP/ML gab es solche Zusammenarbeit. Zudem ist klar, dass 129a/b politische Paragraphen sind, denn das Verfahren wurde erst durch eine Verfolgungsermächtigung aus dem Justizministerium möglich. Solche Entscheidungen von Ministerien sind politischer Natur, denn beiden Staaten haben eine enge Beziehung zueinander. Müslüm Elma sagte dazu passend in seiner letzten Ansprache vor Gericht: “Zeig mir deine Freunde und ich sage dir, wer du bist!”

Der deutsche und der türkische Staat sind seit Jahrzehnten eng verbündet. Deutschland stand im Hintergrund von fast jedem Massaker, das in der Türkei stattgefunden hat. Angefangen vom Genozid an den Armeniern, der unter deutscher Mittäterschaft stattfand. Beim Massaker an den Kurden 1938 in Dersim war das eingesetzte Giftgas aus Deutschland geliefert worden. Jenseits davon, dass die Türkei in beiden Weltkriegen Deutschland unterstützt hat, ist sie über Jahrzehnte hinweg, bis heute einer ihren größten Waffenkäufer. 2016 hab ich eine Recherche durchgeführt, dass mehr als 6000 deutsche Unternehmen in der Türkei aktiv sind. Das ist eine große Menge an Kapital, das nach Deutschland fließt, denn in der Türkei lässt sich mit billiger Arbeit viel Gewinn machen. Millionen Menschen arbeiten dort für deutsche Firmen, also gibt es neben den politischen Beziehungen auch eine tiefe wirtschaftliche Verbindung. Deshalb stören sich auch beide Länder daran, wenn es hier Proteste und Veröffentlichungen gibt. Und deshalb gibt es auch regelmäßigen Austausch zwischen den Sicherheitsbehörden. Jedes Quartal gibt es Sitzungen, in denen Informationen zu revolutionären Organisationen ausgetauscht werden.

Nach einer Kleinen Anfrage wurde Auskunft gegeben, dass es Mitte Mai 2014 in Deutschland ein Treffen von MIT und BKA im Rahmen dieser Quartalssitzungen gab, um über die TKP/ML zu sprechen. Dort wurden auch die späteren Festnahmen vorbereitet. Die Türkei hat tausende Seiten sogenanntes “Beweismaterial” an deutsche Behörden geliefert. Auch durch den MIT illegal in Deutschland gesammelte Informationen wurden dabei verwendet. Dieser gesamte Prozess war eine gemeinsam vorbereitete Aktion.

Wie geht es jetzt für die Genoss*innen weiter?

Juristisch wird gegen das Urteil Revision eingelegt werden. Perspektivisch wird aber die Repression wahrscheinlich weitergehen und auch das, was sie “Nebenorganisationen” der TKP/ML nennen, so wie ATIK und andere demokratische Massenorganisationen treffen. Wir hoffen es nicht, aber wir erwarten eine solche Entwicklung. Trotzdem werden wir unsere Arbeit weiterführen auch gegen diese Repressionen Öffentlichkeit zu schaffen. Während des Prozesses haben wir es geschafft, gute Öffentlichkeitsarbeit zu der Repression zu machen. Wie Müslüm Elma sagte, Widerstand ist ein Recht und dieses Recht in Anspruch zu nehmen ist kein Verbrechen! Deshalb werden wir auch weiterkämpfen.

Welche Folgen wird diese Repression haben und welche Handlungsmöglichkeiten gibt es für internationalistische und revolutionäre Kräfte, Solidarität zu zeigen? Die Repression ging ja früher gegen PKK und DHKP-C und jetzt TKP/ML.

Sie fangen mit den ausländischen revolutionären Kräften an, aber dann wird es auch vermehrt Repressionen gegen hiesige Organisationen geben, wie wir es bei G20 sehen konnten. Die ganze Bandbreite der Repression kam da zum Vorschein. Solange der Kampf weitergeht, wird es auch die Repressionen von staatlicher Seite geben. Was wir aber in diesem Prozess geschafft haben, ist, dass in mehreren Ländern sich viele Organisationen gegen die Repression zusammengetan haben. Das ist wichtig. Die internationale Solidarität ist in diesem Prozess praktisch geworden. Als am 15. April 2015 diese Festnahmen stattfanden gab es direkt Protestkundgebungen in mehreren Städten Europas, am darauffolgenden Samstag gab es eine Demonstration von 2500 Menschen in Frankfurt. Auch in Basel und Wien gab es Proteste. Später ein Jahr lang, jeden Monat, Kundgebungen vor den 10 verschiedenen Gefängnissen, in denen die Genossen inhaftiert waren! Wie schon gesagt, fanden weltweit Solidaritätsaktionen statt: in Brasilien, Mexiko, Nepal und Griechenland. Es gab ein Zusammenkommen von Marxisten-Leninisten bis Antifas, Soldaritätskommites, internationale Bündnisse und vieles mehr, die sich solidarisch erklärt haben. Perspektivisch sehen wir es so, dass diese gemeinsame Arbeit weiter gehen soll. Nicht nur zu diesem Prozess, sondern allgemein gegen Repression.

Als ATIK hat uns diese Solidarität die Aufgabe gegeben, diese Zusammenarbeit weiterzuführen. Müslüm Elma hat in seiner Rede, als er rauskam, mehrmals betont, dass wir alle zusammen gekämpft haben: “Ihr draußen und wir drinnen” – und das ist unser gemeinsamer Sieg, denn alle inhaftierten Genossen haben gesagt, dass – obwohl sie keinen direkten Kontakt hatten – sie über die Anwälte von den Solidaritätsaktionen erfuhren und sich somit nie allein gefühlt haben.

Deshalb bedanken wir und bei allen Organisationen und Personen die uns unterstützt haben und führen unseren gemeinsamen Kampf weiter!

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Seit Wochen versucht die türkische Armee, begleitet von massiven Luftangriffen und Drohnenschlägen, in Bergregionen an der Grenze zwischen dem Irak und der Türkei einzudringen. Ihr Ziel: Die Schwächung der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und die Besatzung der kurdischen Gebiete im Nordirak, die man sich in Ankara im Rahmen einer neoosmanischen Vision des Mittleren Ostens einverleiben will. Doch die Besatzungspläne scheitern an dem Widerstand der Volksverteigungskräfte HPG und der Fraueneinheiten YJA-Star und hat hohe Verluste zu beklagen. Unser Gastautor Baz Bahoz über die militärische Lage in der Region und die neue Strategie der kurdischen Guerilla.

Erfolgsmeldungen über die aktuellen Angriffe auf kurdische Gebiete rund um die Gebirgsregion Heftanîn muss man in türkischen Medien mit der Lupe suchen. Das faschistische Regime in Ankara kann nicht einmal die gewöhnlich der eigenen Anhänger*innenschaft aufgetischten Lügen fabrizieren, denn der Angriff läuft aus Sicht der Aggressoren miserabel.

Aber warum eigentlich? Wieso kann eine über modernste Waffentechniken und mittlerweile eine eigene Drohnenflotte verfügende Nation keinen kleinen Landstrich ohne Luftabwehr einnehmen? Die Antwort liegt zum Teil in der Anpassungsfähigkeit der Guerilla, die das Gebiet verteidigt.

Bereits seit Jahren spricht der Oberkommandierende der Guerillakräfte HPG Murat Karayilan, Kampfname Heval Cemal, sowie die gesamte Kommandantur der kurdischen Volksguerilla von der Entwicklung einer „neuen Guerilla“. Oft kam die Frage auf, was genau das denn bedeuten würde. Die Art des Krieges, ihn als Kleinkrieg bzw. als Guerilla-Krieg, zu führen ist im Prinzip seit Jahrhunderten bekannt und findet Anwendung in zahlreichen Befreiungsbewegungen. So stand oft die Frage im Raum, was Heval Cemal mit seiner Theorie der „neuen Guerilla“ genau meinte.

Seitdem in der Nacht vom 16. auf den 17. Juni die türkische Armee die Operation „Tigerklaue“ startete, mit dem Ziel das Gebiet Heftanîn einzunehmen, können wir in der Praxis sehen, was genau damit gemeint ist. Der Angriff, der Teil des außenpolitischen Planes der türkischen Republik ist, sich auf die ehemaligen osmanischen Grenzen auszubreiten und Teil des innenpolitischen Kalküls des AKP-MHP Regimes ist, von den Krisen im Inneren des Nationalstaates abzulenken, ging nach hinten los. Schnell stellte der türkische Staat seine Propaganda-Maschinerie wieder ein, da es statt großen Geschichten der erfolgreichen Kolonialisierung nur von Toten in ihren Reihen und dem Widerstand der Guerilla zu berichten gab. Die Guerilla 2.0 hat begonnen ihre Bedeutung darzustellen.

Heftanîn ist ein Gebiet, das seit Jahrzehnten umkämpft ist und es wegen seiner strategischen Bedeutung wohl auch bleiben wird. Es ist ein Gebirge, dass das Grenzgebiet zwischen Nord-Ost-Syrien (Rojava), Nordkurdistan (Türkei) und Südkurdistan (Irak) markiert. Die Türkei, die seit Jahren an einer Invasion in Südkurdistan arbeitet, müsste zunächst Heftanîn, welches das Tor dorthin darstellt, besetzen, um sich dort bewegen zu können. Die beiden Berge Xantûr und Qesrok, die beiden höchsten Gipfel des Gebietes, stehen somit im Zentrum der Kampfhandlungen, es finden aber auch genauso intensive Angriffe auf die Gipfel Bektorya, Koordine, Şehîd Adar, Şehîd Bêrîwan, Dûpişk und Şeşdare statt.

Seit dem Beginn der Operation gelang es der türkischen Armee, auf einen Großteil dieser Berge immer wieder Soldaten abzusetzen, die sich jedoch auf fast keinem einzigen halten konnten. Vor dem Beginn der Invasion wurden an den Zugängen zur Region Heftanîn irakische Grenztruppen und mit der türkischen Armee kollaborierende KDP-Peschmerga stationiert.

Die irakische Regierung behauptet, diese Grenzwächter seien dort stationiert worden, um den türkischen Vormarsch zu stoppen. Es ist jedoch mehr als verdächtig, dass diese Truppen begannen, Straßen auszubauen, die eigenen Stellungen zu befestigen und die Wege nach Heftanîn zu kontrollieren, ohne etwas gegen die türkische Armee zu unternehmen. Vielmehr fanden gleichzeitig sehr intensive Gespräche mit dem türkischen Staat statt. Zum Beispiel kam der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu im Vorfeld des Angriffes auf Heftanîn nach Erbil und führte Gespräche mit der irakischen Regierung, der kurdischen KDP-Regionalregierung und turkmenischen Organisationen im Irak, um sich deren Unterstützung zuzusichern. Auch der Chef des türkischen Geheimdienstes MIT, Hakan Fidan, kam zu geheimen Treffen mit der südkurdischen Regionalregierung nach Erbil, wo es zu letzten Absprachen vor den Angriffen auf zunächst Şengal, Qendîl und Mexmûr und dann auf Heftanîn kam.

Die ganze Weltöffentlichkeit kann aktuell sehr offen sehen, welche Interessen das türkische Regime mit seiner Kriegspolitik verfolgt. Die Türkei führt Krieg in Libyen, in dem sie zum „game-changer“ wurde, sie provoziert auf dem Mittelmeer insbesondere gegen Griechenland und Frankreich, sie greift in Syrien und im Irak an und mischt sich in den Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan ein – um nur einige wenige Beispiele zu nennen.

Erdogan hat mehrfach vor Landkarten posiert, auf denen griechische Inseln oder Gebiete anderer Staaten als Teile der Türkei eingezeichnet waren. Sowohl daran, als auch an der Praxis des Regimes – etwa an der seit Anfang 2018 anhaltenden Besatzung nordsyrischer Gebiete in Afrin – wird verständlich, welche Pläne der türkische Faschismus verfolgt. Erdogan selbst formulierte das Ziel, die Grenzen von vor dem Vertrag von Lausanne von 1923 wiederzuerlangen.

Der aktuelle Angriff auf Heftanîn ist dabei de facto ein Luftkrieg, denn es wird versucht, das Gebiet mit Luftschlägen unbegehbar zu machen und dann Soldaten aus der Luft abzusetzen. Zum Beispiel wurde der Xantûr-Gipfel zu Beginn der Operation in einer einzigen Nacht 50 Mal bombardiert, mit dem Ziel, dass nichts Lebendiges mehr auf dem Berg existieren würde.

Doch war bereits dies der erste Rückschlag den die zweite größte NATO-Armee wegstecken musste, da die Guerilla bei all diesen Angriffen keine Verluste zu erleiden hatte. Oder auch der Versuch, den Şehîd-Adar-Gipfel einzunehmen wurde viermal gestartet und scheiterte jedes Mal. Zunächst war der Gipfel mehrfach bombardiert worden, dann wurden Truppen abgesetzt, die jedoch immer bereits nach kurzer Zeit unter dem Schutz von „Cobra“-Kampfhubschraubern evakuiert werden mussten.

Tonnenweise Sprengstoff werden über der Region abgeworfen, zehntausende Soldaten, Dorfschützer und Milizionäre beteiligen sich an der versuchten Invasion, „Cobra“ Hubschrauber und Bodenartillerie befinden sich im Dauereinsatz. Es ist kein Angriff, der allein auf die Vernichtung der kurdischen Befreiungsbewegung abzielt, sondern die Ausplünderung der dortigen Natur und Vernichtung jeglichen Lebens in der Region, die sich der türkische Staat auf die Fahne geschrieben hat. Nahezu jeden Tag wird von Zivilist*innen berichtet, die durch die türkische Armee ermordet wurden. Parallel dazu wird von Seiten des türkischen Staates und den Kräften der südkurdischen Autonomieverwaltung noch ein psychologischer Spezialkrieg geführt. Dieser Spezialkrieg richtet sich vor allem gegen die dort lebende Bevölkerung. Sie soll eingeschüchtert werden, aus der Region fliehen und bestenfalls der Guerilla in den Rücken fallen.

Um jedoch wirklich verstehen zu können, was gerade in der Region Heftanîn geschieht, muss man den dortigen Widerstand genauer betrachten. Dieser war bereits vorbereitet gewesen und startete unter dem Motto „Cenga Heftanîn“.

Die Guerillaeinheiten befinden sich überall in der Region verstreut und greifen kontinuierlich in Kleinstgruppen, teilweise mit nur zwei Personen, die eindringenden Soldaten an. Die neu entwickelte Art des Guerillakampfes zeigt seine Wirkungskraft, da die Kleinstgruppen, die sich nur mit sehr leichtem Gepäck bewegen, einen Weg gefunden haben, die Technik der NATO-Armee zu überlisten. Bereits Ende Juli veröffentlichte die HPG-Kommandantur eine Zwischenbilanz der bisherigen Gefechte. Demzufolge seien zwischen dem 17. Juni und dem 17. Juli 236 türkische Soldaten getötet worden, 24 Kämpfer*innen der Guerilla waren gefallen. Begleitet wird die Verteidigung Heftanîns von einer Reihe von Guerilla-Aktionen sowohl auf nordkurdischem Gebiet, also auf dem Territorium der Türkei sowie durch Stadtguerillaaktionen der „Initiative der Kinder des Feuers“ in türkischen Metropolen.

Ohne die Technik steht die türkische Armee, die aus Soldaten bestehen, die für nichts in einem fremden Land kämpfen, in dem Wissen, dass sie der eigenen Regierung nichts bedeuten, einer Volksarmee gegenüber, die entschlossen Seite an Seite mit der dort lebenden Bevölkerung kämpft und jeden Schuss als Rache für all das spürt, was ihnen der Staat in seiner jahrtausenden alten Geschichte angetan hat.

Jeder einzelne Schlag der Guerilla ist einer gegen die Unterdrückung im Bewusstsein der Menschen. Dieser Krieg wird von hochprofessionalisierten Guerilla-Kämpfer*innen geführt, die ihr Paradigma einer demokratischen, ökologischen und geschlechterbefreiten Gesellschaft verteidigen. Erdogan sagt, er sei gekommen um zu bleiben und die Bevölkerung Heftanîns antwortete ihm durch ihre Aktionen und sagte: ihr seid gekommen und für euch gibt es kein Entkommen. Es ist nicht die Bevölkerung die flieht, sondern es sind die türkischen Soldaten.

Denn wenn die Soldaten sich von den Gipfel wegen den Angriffen der Guerilla zurückziehen müssen und versuchen in die Täler zu kommen, werden sie dort von Aufständen begrüßt, die sie wissen lassen wo sie sind. Sie sind in Heftanîn, dem Ort an dem die Guerilla mit der Bevölkerung verschmolzen ist. Wenn wir von Heftanîn reden, dann sprechen wir nicht über die Bevölkerung als Opfer zwischen zwei Fronten, sondern reden von einer Bevölkerung, die uns beeindruckt, da sie eine Gesellschaft ist, die sich politisches Bewusstsein geschaffen hat und mit aller Härte gegen die eigene Unterdrückung und Ausbeutung ansteht.

#Bildquelle: ANF

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Heute vor 105 Jahren, am 24. April 1905, begann der Genozid an den Armenier*innen. Von der türkischen Regierung geleugnet, ist er einer der wichtigsten Bausteine der türkischen Nationenbildung und eine der Grundlagen der türkischen Gesellschaft. Die Auswirkungen des Genozids leben nämlich heute noch auf beiden Seiten weiter – sowohl bei den Nachfahren der Opfer als auch bei denen der Täter*innen.

Ich gehöre zu den Nachfahren der Täter*innen. Meine Heimatstadt, Antep, in der ich groß geworden bin, wurde großteils von Armenier*innen aufgebaut, die dann vertrieben oder getötet wurden. In Amed (Diyarbakır), wo ich studiert habe, sind ebenfalls überall Spuren zu sehen, die Armenier*innen hinterlassen haben. In beiden Städten, sowohl von Türk*innen als auch von Kurd*innen, habe ich mehrfach das Wort “Armenier” als ein Schimpfwort gehört. In politischen Auseinandersetzungen “beschuldigtt” sich man immer noch gegenseitig, “ein Kryptoarmenier” zu sein – ein heimlicher Armenier, ein potenzieller Verräter. In den Schulen, Vereinen, Cafés, Familientreffen erzählt man einander, wie teuflisch die Armenier*innen waren/sind. Die Erzählungen, die damals den Genozid legitimierten, sind noch heute lebendig und prägen uns alle.

Die Geschichte des Völkermords an den Armeniern ist vielschichtig, ich möchte hier nur die eines Gebäudes erzählen, die mich sehr beeindruckt hat. Auf Straße, in der es steht hatten wir einen Tante-Emma-Laden und dieses Gebäude habe ich eine Weile nahezu jeden Tag gesehen. Ich war Teenager und wusste nichts, weder über seine Geschichte, noch seine Verbindung zur armenischen Bevölkerung von Antep.

Das Gebäude wurde 1873-1893 gebaut und hieß “Surp-Asdwadsadsin-Kathedrale”, eine Kirche der Armenier*innen in der Stadt Diese Kathedrale ist ein wunderschönes Beispiel für armenische Architektur und Steinmetzerei. Bei jedem Detail der Kathedrale spürt man die Sorgfalt, die darin steckt. Damals waren von insgesamt 80.000 Einwohner*innen der Stadt mehr als 30.000 Armenier*innen. Diese Zahl ist seit 1915 null. Ja, null. Sie sind nicht plötzlich verschwunden. Sie sind nicht ausgewandert. Freiwillig wollten sie die Stadt nicht verlassen. Sie wurden von unseren Vorfahren vertrieben und getötet. Ihr Eigentum wurde gestohlen.

Aus der Surp-Asdwadsadsin-Kathedrale wurde zuerst ein Gefängnis. Nach dem Militärputsch am 12. September 1980 war das Gebäude eines der berühmtesten Folterzentren. Ende 1981 wurde das Gefängnis geleert,1984 dann renoviert. 1988 dann, wurde es wieder zum Beten freigegeben, aber mit einem neuen Namen: “Befreiungsmoschee”. Jeden Monat beten Tausende von Muslim*innen in dieser Moschee für ihren Gott. Unter einem gestohlenen Dach, das von christlichen Armenier*innen gebaut wurde. Ein paar Gebäude weiter, in einem anderen Haus von armenischen Familien ist der Verein “Türkische Gemeinschaft” ansässig, in dem man sich über “die Bosheit der Armenier*innen” unterhält. Ein paar Schritte weiter sind schöne Cafés in Häusern, – man nennt sie “historische Antep-Häuser”. Sie sind ein Teil des touristischen Profils meiner Heimatstadt, gebaut wurden sie von armenischen Familien. Es gibt nicht mal ein kleines Schild darüber, wer diese Häuser gebaut hat, wer in ihnen mal gewohnt hat. Sie sind touristische Antep-Häuser, und waren immer so, Punkt! Sagst du etwas anderes, bist du ein Volksverräter und gehörst bestraft. Es ist sogar gesetzlich verboten, nur den Genozid als Genozid zu nennen.

Die Geschichte der Armenier*innen in der Türkei wurde ausgelöscht, in der offiziellen Erzählung gibt es sie nicht. Eine Aufarbeitung jeglicher Art findet nicht statt, der türkische Kolonialismus okkupiert diese Räume.

Opfer zu gedenken, hieße für uns die Nachkommen der Täter, diese Geschichte sowohl individuell als auch gesellschaftlich aufzuarbeiten und uns und unsere Entwicklung als Gesellschaft und Individuum in Frage zu stellen. Das beinhaltet auch der Kampf gegen den diktatorischen türkischen Staat, der die politische Verantwortung für den Genozid immer noch trägt.

#Titelbild: Haluk Comertel, wikimedia commons, CC BY 3.0

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