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“Tötet sie!” rief einer der Anwohner eines bürgerlichen Viertels aus seinem Fenster, weitere Nachbar*innen klatschten Beifall und ermunterten die Polizei, die Gilets Jaunes (Gelbwesten) durch die Straßen zu jagen. Eine Szene, die zeigt, wie polarisiert die französische Gesellschaft fast zwei Jahre nach dem Beginn des Aufstands der Gilets Jaunes ist. Die Metropolregion Paris ist sowieso streng nach den Klassen geteilt: In der Peripherie — den Banlieues — leben die Arbeiter*innen und Armen der Gesellschaft. Innerhalb der Stadtgrenzen von Paris und besonders im 8. und 16. Arrondissement (franz. für Bezirk) leben die reichen Bourgeois innerhalb ihrer Luxuswohnungen. Die Gilets Jaunes suchen sich mit Absicht diese schicken Bezirke für ihre Demonstrationen aus, um ihren Protest hör- und sichtbar zu machen — und auch, um die Bourgeois zu erschrecken.

Und so verwundert es nicht, dass sie auch am 12. September auf dem Champs-Élysées demonstrieren wollten. Dort und drumherum fanden die berühmten Straßenschlachten auf dem Höhepunkt der Bewegung der Gilets Jaunes statt. Seit März 2019 allerdings werden alle Demonstration um die Prachtstraße und die Oberschichtsbezirke drum herum verboten und in eine Sperrzone mit enorm viel Polizeipräsenz verwandelt. Am 12. September selbst hatten sich sie Luxusboutiquen schon einen Tag zuvor aus Angst vor Zerstörungen verbarrikadiert. Sogar das Tragen einer gelben Weste scheint dort untersagt worden zu sein: Schon um 8 Uhr morgens wurde eine Person mit gelber Weste verhaftet. Die Gilets Jaunes, sie haben sich zweifellos in das Gedächtnis der Herrschenden eingebrannt.

Eine neue Episode

Frankreich im September 2020 ist ein Land, das seit 2016 von einer Intensivierung der Klassenkämpfe erschüttert wird und wohl inmitten einer zweiten Welle von tausenden Corona-Neuinfektionen steht. Im Frühjahr hatte die Covid19-Pandemie das Land völlig unvorbereitet und dementsprechend hart getroffen. Aktuell gelten weiterhin harte Regeln, die mit der Eindämmung des Virus gerechtfertigt werden: So muss im öffentlichen Raum immer eine Maske getragen werden, wer das nicht tut riskiert ein Bußgeld von 135 Euro. Während die respressiven Maßnahmen verschärft werden, wird an der Gesundheitsinfrstruktur, die im Frühjahr heillos überlastet war wenig geändert. Die Zahl der Intensivbetten etwa ist nach wie vor niedrig und wurde seit Beginn der Pandemie nicht erhöht.

Von der neuerlichen Explosion an Neueinfektionen ist besonders die Region um Marseille getroffen. Dort gibt es pro 100.000 Einwohnenden 312 Neuinfektionen. Zum Vergleich: In Deutschland liegt diese Zeit bundesweit bei 12,8 Neuinfektionen. Es ist also nicht auszuschließen, dass sich Frankreich am Anfang einer zweiten Welle befindet. Nichtsdestotrotz wird schon jetzt seitens der Regierung ein erneuerter Lockdown ausgeschlossen, da die Wirtschaft das nicht verkraften würde. Um sagenhafte 9,5 Prozent sank das BIP des Landes im Vergleich zum Vorjahr. Damit ist die Kontraktion mehr als doppelt so groß wie bei Deutschland oder selbst dem weltweiten Durchschnitt von 4,5 Prozent.

Diese äußerst delikate Krisenlage in einem Land mit 9 Millionen Menschen unter der Armutsgrenze führt dazu, dass die Lösung seitens der herrschenden Klasse in Massenentlassungen und Werkschließungen besteht. Dabei trifft es nicht nur die Produktion, wie beim Reifenhersteller Bridgestone, wo in Béthune ein Werk mit 863 Mitarbeitenden geschlossen wurde; selbst bei der Supermarktkette Auchan soll es zu 1.475 Entlassungen kommen. Während Bridgestone der Primus unter den Reifenherstellern ist und rund 27 Milliarden US-Dollar Umsatz macht, gehört Auchan der sechstreichsten Familie Frankreichs um Patron Gérard Mulliez mit einem Vermögen von 26 Milliarden Euro.

Diese zwei ausgesuchten Beispiele zeigen, dass die Arbeiter*innenklasse mit weiteren Angriffen auf ihre Arbeits- und Lebensbedingungen rechnen muss. Eine der bekanntesten Figuren der Gelbwesten, Jerome Rodrigues sagte dazu: “Es kommt eine neue Krise auf uns zu und es ist sicher, dass sie uns Elend bringen wird.” Die neue Mobilisierung der Gilets Jaunes, die bei weitem nicht nur in Paris, sondern auch in anderen Städten wie Nantes, Rennes, Marseille oder Lyon zusammenkamen, griff diese Themen auf und verband sie mit dem anhaltenden Thema der Polizeirepression und -gewalt: In Toulouse wurde jegliche Demo verboten; in Paris kam es immer wieder zu Einkesselungen, die teilweise stundenlang andauerten und auch Journalist*innen betrafen.

Die größte Gewerkschaft im Land, die CGT griff dabei in ihrer Mobilisierung am 17. September nur die sozioökonomischen Aspekte auf und rief zu Streiks und Demonstrationen auf. Diese „Aktionstage” folgen allerdings einer symbolischen Routine. Die Beteiligung an den Streiks fällt sehr gering aus und die Demonstrationen selbst können zwar durchaus groß sein, aber nicht militant und sind vollkommen von der Gewerkschaftsbürokratie kontrolliert. Es sind die immer gleichen Demorouten und Parolen, sodass jegliche Spontaneität schon im Voraus abgewürgt wird.

Sogar der Staatssekretär im Verkehrsministerium, Jean-Baptiste Djebbari, sprach abfällig von einem „Gewohnheitsstreik“ und versicherte, dass der Streik keine Auswirkungen haben würde. Dabei ist es klar, dass die „Wut unter den Arbeiter*innen zunimmt“, wie es der CGT-Sekretär Laurent Brun ausdrückte. Die Frage ist aber, was die Gewerkschaften machen, um diese Wut zu organisieren.

Die Winterstreiks 2019/20 gegen die geplante Rentenreform, die das Renteneintrittsalter faktisch auf 64 Jahre anhob, zeigten, dass langanhaltende Streiks möglich sind. Diese müssen aber unbedingt auf die gesamte Wirtschaft ausgedehnt werden, damit sie nicht isoliert bleiben und angesichts großer Lohneinbußen der Streikenden (in Frankreich gibt es kein Streikgeld) irgendwann abgebrochen werden müssen. Die Bereitschaft, diese Kämpfe zu führen ist unter den Arbeiter*innen auf jeden Fall da. Denn wie es ein kämpferischer Gewerkschafter und Arbeiter von Bridgestone ausdrückte, “sind wir bereit und in der Lage, Reifen herzustellen und den französischen und europäischen Markt zu beliefern — ohne die Chefs!”

#Titelbild: GrandCelinien – (G. A.) / CC-BY-SA-3.0

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Derzeit kommt es im Iran erneut zu breiten Protesten der Arbeiter*innenklasse. Wie schon 2018 ist zu erwarten, dass das Regime versucht, die Kämpfe des Proletariats durch Repression zu unterbinden. Wir veröffentlichen einen Aufruf zur Solidarität mit den iranischen Werktätigen in einer Übersetzung und eingeleitet von Nima Sabouri.

Seit Jahren gehören Proteste und Streiks von Arbeiter*innen in verschiedenen Formen und Größen im Iran zum täglichen Leben. Die Lebensbedingungen der Arbeiter*innenklasse sind prekär und immer unerträglicher. Lohnzahlungen bleiben oft über viele Monate aus, in denen die Familien sich meist durch steigende Verschuldung über Wasser zu halten versuchen – und das obwohl die Lohnhöhe so gering ist, dass sie sich nur auf ein Viertel bis ein Drittel der staatlich festgelegten Armutsgrenze beläuft. Auch sind die Arbeitsbedingungen vollkommen ungesichert, ein Großteil der Arbeiter*innen ist über Leiharbeitsfirmen beschäftigt und dort meist gezwungen, Blanko-Verträge zu unterschreiben, so dass sie jederzeit kündbar sind.

Die Proteste hängen mit den direkten Folgen der verschärften Wirtschaftskrise zusammen, welche sich als immer tiefer werdende Klassenspaltung, Armut und immer größer werdendes Elend zeigt. Die Ursachen sind vielfältig, doch die Kombination von neoliberaler Politik, Diktatur und Korruption spielt eine große Rolle. Die Sanktionen, die infolge des Atomprogrammes des iranischen Staates und seiner Konflikte mit den USA im Kontext der imperialistischen Machtpolitik im Nahen Osten verhängt wurden, haben die wirtschaftlichen Schwierigkeiten eskalieren lassen. Trotzdem sind das nicht die Ursachen dieser Krise, wie der Staat es behauptet.

Die Streiks fanden bisher nur vereinzelt und voneinander getrennt statt. Dadurch konnten ihre Forderungen von den Fabrikeigentümern ignoriert werden. Zusätzlich wurden die Streiks durch verschiedene Formen der Repression zerschlagen, sowohl politisch als auch juristisch. Es folgte eine Reihe von hohen Haftstrafen. Aufgrund dessen haben die Forderungen der Arbeiter*innen trotz der großen Zahl an Streiks und Protesten (durchschnittlich gab es 3 Streiks pro Tag während der letzten 4 Jahre) kaum Gewicht auf der politischen Ebene gewinnen können. Zudem sind jegliche staatsunabhängigen Organisationen von Arbeiter*innen verboten und werden mit harten Haftstrafen geahndet.

Nun gibt es eine neue Welle von Arbeitskämpfen, die immer größer wird. Sie wurde von den Arbeiter*innen von Haft-Tapeh aus der Provinz Khouzestan inspiriert, nachdem diese zusammen mit ihren Familien mehr als 50 Tage in den Straßen der Stadt Shoush protestierten. Die Arbeiter*innen von Haft-Tapeh waren diejenigen, die mit ihren langen militanten Streiks und Protesten vor zwei Jahren die Parole „Brot, Arbeit, Freiheit – Verwaltung durch Räte“ landesweit popularisiert hatten. Im Unterschied zu den bisherigen Streiks zeigen sich die aktuellen jetzt stärker vereint und aufeinander bezogen.

So wurde nun erstmals von den militanteren Bereichen der streikenden Arbeiter*innen und von einigen linken sozialen Medien ein Generalstreik ausgerufen. Darüber hinaus sind viele der Streikenden in der Ölindustrie (Öl-Rafinerie) tätig, welche für den Staat ein sehr wichtiger Sektor ist. Da es sich um eine Kernindustrie der iranischen Wirtschaft handelt, steigert dies die Macht der Arbeiter*innen. Zugleich sind deshalb die Streiks aus Sicht des Staates mit allen Mitteln zu verhindern. Trotz aller Hoffnung ist also davon auszugehen, dass es zu heftiger und massiver Repression kommen wird.

Deshalb sollten wir mehr denn je die Stimmen der streikenden Arbeiter*innen verstärken und eine aktive und effektive Solidarität mit ihrem Kampf zeigen. Die streikenden Arbeiter*innen von Haft-Tapeh riefen an ihrem 52. Streikstag auch dazu auf. Heute (8. August 2020) ist der 55. Tag des Streiks. Im Folgenden dokumentieren wir ihren Aufruf in deutscher Übersetzung

Aufruf zur Solidarität mit den Streikenden von Haft Tapeh!

Heute ist der 52. Tag des Streiks der Arbeiter*innen des Agrarunternehmens Haft Tapeh im Iran. Dieser historische Streik ist der Höhepunkt eines jahrelangen Kampfes dieser Arbeiter*innen, um die Privatisierung des Unternehmens zu stoppen und ihre Rechte durchzusetzen. Die Haft Tapeh Gewerkschaft wurde erstmals in den Jahren 1974-75 gegründet. Doch die arbeiterfeindliche Politik der in der Revolution von 1979 an die Macht gelangten anti-revolutionären Kräfte (Islamische Republik) führte schließlich zu ihrer Verfolgung und letztlich ihrem Verbot, wie dem Hunderter anderer Gewerkschaften.

In den Jahren von 2005 bis 2006 fanden erstmals wieder Proteste der Arbeiter*innen von Haft Tapeh statt, nachdem sie die Nachricht erhalten hatten, dass das öffentliche Unternehmen privatisiert werden solle. 2007 bauten sie die Gewerkschaft neu auf. Die Hauptorganisator*innen und führende Gewerkschaftsmitglieder wurden von der Geheimpolizei daraufhin verfolgt und festgenommen.

Trotz all dieser Unterdrückung haben die Arbeiter*innen von Haft Tapeh den Kampf gegen die Privatisierung und Zwangsenteignung öffentlichen Eigentums 2018 wieder aufgenommen und belebt. Als Reaktion darauf wurde der Gewerkschaftsführer Ismail Bakhsi verhaftet und unter Folter dazu gezwungen, im nationalen Fernsehen ein “Schuldeingeständnis“ abzugeben. Trotz der heuchlerischen Behauptung der Islamischen Republik, für Arbeiter*innen und Unterdrückte einzutreten, hat sich einmal mehr gezeigt, dass sie in der Realität auf der Seite der Bourgeoisie gegen die Arbeiter*innen steht. Die neoliberale Politik des Regimes, die Millionen von Arbeiter*innen in Armut getrieben und viele Proteste ausgelöst hat, wurde durch deren gewaltsame Unterdrückung fortgeführt. Diese Unterdrückung wird durch den medialen Boykott der pro-imperialistischen Oppositionsmedien ergänzt.

Während sich die Arbeiter*innen von Haft Tapeh bereits seit 52 Tagen im Streik befinden, berichten die genannten Medien weder über die Proteste noch über die Forderungen und boykottieren so den Arbeitskampf. In den seltenen Fällen, in denen diese Arbeiter*innenbewegung überhaupt erwähnt wird, werden nur die Mahnwachen der Arbeiter*innen in Shush City gezeigt und das auf eine Art und Weise, die die öffentliche Meinung in die Irre führt. Der Grund ist klar: Tatsächlich stimmt die rechte Opposition der Islamischen Republik vollkommen mit dem Regime überein, wenn es um ihre Haltung zu Privatisierungen und der Umsetzung der Befehle von Weltbank und IWF geht. Der einzige Unterschied ist der Versuch der rechten Opposition eine irreführende Dichotomie zwischen „guten Privatisierungen und schlechten Privatisierungen“ herauf zu beschwören, um die verheerenden Auswirkungen dieser Politik zu verbergen.

Auf der anderen Seite bekommt auch die internationale Linke aufgrund des extrem schwachen Zustandes der iranischen Linken nichts von einem solch wichtigen Streik mit. Einem Streik, dessen Hauptforderungen die Aufhebung der Privatisierung, die Wiedereinstellung der entlassenen Arbeiter*innen, Beendigung der polizeilichen Unterdrückung gegenüber den Organisationen der Arbeiter*innen, Zahlung der überfälligen Löhne und sonstiger Leistungen und schließlich die Organisation der Produktion unter Kontrolle der Arbeiter*innen sind.

Diese fortschrittlichen Forderungen werden von den Massenmedien im Iran nicht wiedergegeben und die Proteste der Arbeiter*innenklasse auf staatsfeindliche Krawalle reduziert. Gleichzeitig ignorieren auch die kleinen pro-russischen, pro-chinesischen oder sogar pro-Islamische Republik Medien, die vermeintlich als Teil der alternativen Medien in Europa und Nordamerika angesehen werden, diesen Streik komplett, oder schlimmer noch, stellen ihn als ein Regime-Change Projekt der imperialistischen Kräfte dar.

Die Arbeiter*innenklasse widersetzt sich hartnäckig und unabhängig vor unseren Augen der täglichen Unterdrückung und steht dennoch vor einem völligen Boykott und Zensur von allen Seiten. Es ist, als ob sich all diese Strömungen in einem einzigen Punkt einig sind: die Stimmen der Arbeiter*innenklasse und ihrer Aktivist*innen zum Schweigen zu bringen.

Wir fragen unsere internationalen Genoss*innen: Lohnt es sich nicht, diesen mutigen Streik, der seit über 52 Tagen andauert und fortgesetzt wird, bis die Forderungen erfüllt werden, anzuerkennen und ernst zu nehmen? Lohnt es sich nicht, in Solidarität mit ihnen zu stehen? Die Arbeiter*innen von Haft Tapeh erhalten keinerlei finanzielle Unterstützung von Gewerkschaften oder Institutionen; sie setzen ihren Widerstand und Kampf mit leeren Taschen und leeren Mägen fort. Diese progressiven und bewussten Arbeiter*innen und ihren Kampf aktiv zu ignorieren, führt im Endeffekt dazu, reaktionäre und imperialistische Kräfte zu stärken. In diesem Fall stellt sich die Frage, ob die Parole „Arbeiter*innen aller Länder, vereinigt euch“ nur eine leere romantische Phrase in der Geschichte des Marxismus ist? Oder eine Antriebskraft des Klassenkampfes?

Genoss*innen, wir fordern euch auf, die Stimme der Arbeiter*innen von Haft Tapeh und der iranischen Arbeiter*innenklasse zu sein, auf der ganzen Welt und in allen Sprachen

# Das Original auf Farsi sowie türkische und englische Übersetzungen sind auf www.redmed.org zu finden – die Seite selbst wird nicht von den Streikenden betrieben.

Farsi: http://redmed.org/fa/article/hmbstgy-b-krgrn-hft-tph
Englisch: http://redmed.org/article/solidarity-workers-haft-tapeh
Türkisch: http://redmed.org/tr/article/haydi-yedi-tepe-iscileriyle-dayanismaya

# Bildquelle: redmed.org

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Während das islamische Regime am 11. Februar 2020 den 41. Jahrestag seiner Herrschaft im Iran mit Massenversammlungen feierte, bereitete sich das Coronavirus im ganzen Land rasch aus. Als am 21. Februar die Parlamentswahl stattfand, bemühte sich das Regime um eine möglichst hohe Beteiligung der Bevölkerung bei der Wahl, anstatt die notwendige Maßnahmen und Informationen für die Verhinderung der Ausbereitung von COVID-19 zu ergreifen. Infolgedessen verheimlichte die iranische Regierung über Wochen die Ausbreitung des Coronavirus und die tatsächlichen Zahlen der Opfer. Nicht das einzige Verbrechen des Regimes.

Profit und Religion über Menschenleben

Die Entstehung eines unbekannten Virus im 21. Jahrhundert ist eigentlich nichts Seltsames. Wir werden in naher Zukunft aufgrund des alarmierenden Klimawandels und der drastischen Veränderung des Ökosystems durch die kapitalistische Produktionsweise viele unbekannte Phänomene sehen. Die Inkompetenz und Vernachlässigung bei der Eindämmung der Coronaverbreitung ist im Iran, wie auch weltweit, eine rein politische und ökonomische Angelegenheit, die ein klares Spiegelbild der Auswirkungen eines Systems zeigt, welches nur auf Profit aus ist.

Wir haben nicht die Mutation und das Auftreten tödlicher Viren von SARS, MERS über Ebola, Zika, Schweinegrippe bis Corona und dergleichen in unserer Kontrolle, aber die Geschwindigkeit. Die weite Verbreitung dieser Viren zeigt jedoch ein Weltklassesystem, dessen Ressourcen einer parasitären Minderheit ausgeliefert sind. Wenn Corona heute wie ein Hurrikan Tausende Menschen tötet, dann weil vor einigen Jahren, nachdem die SARS-Epidemie abgeklungen war, Pharmaunternehmen die wissenschaftliche Forschung, um ein SARS-Impfstoff herzurstellen eingestellt haben. Anscheinend war es nicht rentabel genug. Wenn der SARS-Impfstoff in diesen Jahren hergestellt worden wäre – durch die 80% genetische Ähnlichkeit von SARS und Corona – könnte die Grundlage für einen Corona-Impfstoff bereits heute vorhanden sein. Aber die Mehrheit der Gesundheitssysteme weltweit, heruntergewirtschaftet und immer stärker privatisiert, sind auf Profite von Krankenhausbetreibern und Pharmaunternehmen ausgerichtet.

Während hochkritischen Phase der dann noch Coronaepidemie (und nicht -pandemie), hat die iranische Fluggesellschaft Mahan Air ihre Passagierflüge nach China nicht eingestellt. Im Gegenteil kam es zu einer Intensivierung der Flüge von und nach China. Im Grunde wurde nach chinesischem Modell vorgegangen, denn in China traten die ersten Fälle des neuartigen Virus bereits im Dezember in der Provinz Wuhan auf. Die chinesische Regierung verheimlichte dies jedoch. Selbst Wochen nach der Meldung des Virus wurden noch Touristenfestivals durchgeführt. Währenddessen verhaftete die chinesische Regierung Whistleblower (insbesondere Krankenhauspersonal) unter dem Vorwand der „Verbreitung von Gerüchten“ und der „Störung der öffentlichen Meinung,“ bis die Katastrophe ihr unkontrollierbares Niveau erreichte. Im Iran passierte genau das gleiche.

Der theokratische „Gottesstaat“des Irans und die ökonomische Wichtigkeit religiöser Beiträge und Spenden an Bonyads (gemeinnützige, also steuerbefreite Stiftungen der öffentlichen Wohlfahrt sowie zur Unterstützung von Wissenschaft, Kunst und Kultur), spielten dabei eine zentrale Rolle. Die heilige ideologische Schiitenstadt Ghom (eine Hochburg der schiitischen Kleriker, etwa 125 Kilometer südwestlich von Teheran), in der mehr als 600 theologische Studenten aus China an Seminaren in Hawsa (schiitische Universitäten) studieren, von denen mutmaßlich einer das Virus eingeführt hat, wurde zwar als Risikogebiet eingestuft, aber die iranische Regierung stellte nichts und niemanden unter Quarantäne. Die ersten beiden SARS-CoV-2-Fälle im Iran wurden in Ghom bekannt. Beide starben auch dort. Die Behörden hielten den dortigen Fatima-Massumeh-Schrein gleichwohl geöffnet, der rund um die Uhr und an jedem Tag der Woche von Menschenmengen besucht wird, die die Heiligtümer mit den Händen berühren und küssen.

„Der religiöse Beiname der Stadt – ‚das Heim des Propheten und seiner Familie‘ – sollte Gläubigen weltweit versichern, dass sie vor Epidemien und anderen Katastrophen geschützt“ sind, so Mehdi Khalaji, der in Ghom Theologie studiert hat und heute am Washington Institute for Near-East Policy tätig ist.

Da die Pilger*innen dort aus fast allen schiitischen Städten der Region kommen, ist das Virus so massenhaft verbreitet worden. Der Iran ist nach China und Italien am stärksten von Coronakrise betroffen. Aktuell sterben täglich 30 bis 40 Menschen daran. Etwa neun von zehn Infektionsfällen in Westasien sind aus dem Iran. Mehr als 18.000 Infektionen und über 1284 Todesfälle sind bis gestern offiziell gemeldet worden. Allerdings enthalten die Zahlen lediglich die durch Corona nachgewiesenen Todesfälle und nicht Todesfälle mit Lungenerkrankungen, bei denen die Patient*innen nicht auf das Virus getestet wurden. Es wird aber befürchtet, dass die tatsächliche Zahl der Infektionsfälle viel höher liegt und die Islamische Republik die tatsächliche Zahl der Infektionen und Todesopfer verheimlicht. Die Krankenhäuser sind überlastet und es mangelt an medizinischen Verbrauchs- und allgemeinen Virustest-Materialien. Bis jetzt sind dutzende Krankenpfleger*innen und Ärzt*innen am Coronavirus gestorben.

Das iranische Neujahr im Schatten eines Virus, imperialistische Sanktion und Massengrab

Am heutigen 20. März steht das kurdisch-iranische Neujahrsfest Newroz an. Normalerweise ist Newroz für Iraner*innen und die anderen Völker des Landes eine Hauptreise- und Besuchszeit. Dieses Jahr sieht aber alles anders aus. Ein ungewöhnlicher Jahresanfang im Schatten des Covid-19-Virus mit Reiseverboten, Quarantäne, Bestrafung und Militarisierung des Landes. Der Repressionsapparat des Staates wird bei Autofahrer*innen auf den Landstraßen Fiebermessungen vornehmen. Weder Hotels noch private Unterkünfte dürfen Zimmer an Reisende vermieten. Wer das dennoch tut, dem droht eine Bestrafung. Der Corona-Ausbruch trifft Irans Tourismusbranche knapp einen Monat vor dem Neujahrsfest „Newroz“ hart. Deren Umsätze sind nach dem Abschuss einer ukrainischen Passagiermaschine Anfang Januar mit 176 Toten eh schon um 70 Prozent eingebrochen. Weder die Schulen noch die Universitäten werden wie geplant Anfang April geöffnet. Betriebe, Fabriken und öffentlichen Dienstleistungen bleiben aber ohne jeglichen Schutzmechanismen weiter geöffnet. Die Reinigungskräfte auf den öffentlichen Straßen – meistens Immigrant*innen aus Afghanistan– verfügen nicht über Masken und oder Desinfektionsmitteln.

Nicht nur die Inkompetenz und Vernachlässigung des islamischen kapitalistischen Regimes bei der Coronakrise, sondern die imperialistische Sanktionen machen die Lage im Iran äußerst dramatisch. Eine Verschärfung der Rezession, ein Anstieg der Arbeitslosigkeit und die verstärkte Verarmung Tausender Menschen werden befürchtet. Die Menschen im Iran kaufen schon jetzt nur das Nötigste ein. Nicht alle werden den Virus und die Sanktionen der USA und der EU überleben. Wegen letzterer fehlt es an medizinischen Hilfsmitteln. Viele kranke Menschen sind in letzten Jahren aufgrund der Knappheit von lebenswichtigen Medikamenten zur Behandlung etwa von Krebs, Herzbeschwerden, Multipler Sklerose, Bluterkrankheit, Nierenleiden, Grippe und Immunschwäche gestorben. Selbst einfache Betäubungsmittel für Operationen sind rar geworden. Verstärkt wurden die Probleme noch durch den dramatischen Fall der iranischen Währung durch die imperialistische Unterwerfungspolitik und die Verschlechterung der Wirtschaftslage unter dem Kommando des Internationalen Währungsfonds (IWF), die den Import von Medikamenten und die zu ihrer Herstellung benötigen Rohstoffe verteuert. Die Lage ist so ernst, dass der Iran seit der Gründung der islamischen Regierung 1979 zum ersten Mal den IWF um einen Kredit in Höhe von 4,5 Miliiarden Euro gebeten hat.

Sind alle im Iran gleich von Corona betroffen?

Irans Vize-Gesundheitsminister erklärte vor ein paar Wochen bei einer Pressekonferenz, dass „die iranische Regierung die Coronavirusausbreitung unter Kontrolle hat“. Ein Tag danach wurde mitgeteilt, dass er selbst erkrankt ist. Solange nur einige wenige Regierungsmitglieder vom Coronavirus betroffen waren, hat die Regierung die Situation komplett verharmlost. Unter Zehntausend Infizierten und mehr als tausend Toten vom Virus sind weniger als zehn Regierungsmitglieder von Corona betroffen. Das macht deutlich, dass alles im Kapitalismus ohne Ausnahme in Verbindung zur Klassenzugehörigkeit steht, auch die Betroffenheit vom Virus. Die Arbeiterklasse bezahlt für diese Krise, während die herrschende Klasse kaum vom Virus betroffen ist, da sie Zugang zu allen Medikamenten und adäquater medizinischen Versorgung, wie privaten Krankenhäusern hat. Sie sind außerdem nicht dazu gezwungen, unter prekären unhygienischen Arbeitsbedingungen ihre Arbeitskraft zu verkaufen, um zu überleben. Sie werden in der Quarantänezeit in ihren Palästen das Leben genießen, bis es alles vorbei ist. Arbeiter*innen und Bäuer*innen werden die Hauptopfer des Coronavirussein – und das nicht nur im Iran.

Im Iran leben viele verarmte Menschen in Peripherie von großen Metropolen wie der Hauptstadt Teheran. Teilweise sind sie von geschützten Wohnräumen ausgeschlossen. Viele, vor allem die geflüchteten Menschen aus Afghanistan sind Slum-Bewohner*innen, oft in die „Illegalität“ gezwungen, denn selbst nach Jahrzehnten im Iran, sogar in der zweiten und dritten Generation, haben sie keinen Aufenthaltstitel und keine demokratische Rechte. In den Regionen, wo unterdrückte Nationen wie Araber*innen, Balutsch*innen, Kurd*innen usw. leben, ist die Infrastruktur unzureichend. Vor allem Krankenhäuser werden von der iranischen Zentralregierung systematisch schlecht versorgt; wenn es diese dort überhaupt gibt.

Ein anderes Beispiel für das in den Augen der iranischen Regierung weniger lebenswerte Leben unterdrückter Nationen, ist die Lage der Menschen im besetzten Teil von Kurdistan (Rojhelat). Zwei Jahre sind seit dem Erdbeben in Sarpul-Zahab in Rojhelat vergangen, und die meisten Überlebenden des Erdbebens leben immer noch in Containern und in Zelten, in einer Region, wo bitterkalt wird und zwar ohne jegliche Schutzmechanismen gegen Corona. Die Zugehörigkeit zu den unterdrückten Völkern und die Klassenzugehörigkeit sind entscheidende Faktor im Iran, um die Möglichkeit zu haben das Coronavirus zu überleben.

Streiken, um zu überleben

Was jedoch Mut macht, ist, dass die Arbeiter*innen in zahlreichen Bereichen die Arbeit niedergelegt haben und gegen die Vernachlässigung der Regierung und der Bosse, die keine Schutzmaßnahmen zur Verhinderung des Coronavirus ergriffen haben, protestieren. Die Straßenkehrer*innen in mehreren Städten oder auch die Arbeiter*innen der Qazvin-Glasfabrik gehören zur Avantgarde der aktuellen Arbeiterbewegung im Land. Letztere schreiben folgendes:

Leider ist die Fabrik seit dem Ausbruch des Corona-Virus weiter aktiv, anstatt, dass die Besitzer sie vorübergehend schließen und andere Maßnahmen für unsere Gesundheit zu ergreifen. Die Arbeiterfahrten werden weiterhin mit dem Bus durchgeführt, eine Fahrt, die eine Stunde von Qazvin nach Farsjin dauert und umgekehrt genauso. Die Arbeiter sitzen dicht an dicht. Das ist eine ernsthafte Bedrohung für uns. Die einzige Maßnahme, die vom Unternehmen ergriffen wurde, war ein Fiebermessen im Bus und vor dem Betreten des Unternehmens, um Verdachtsfälle unter Quarantäne zu stellen. Ein paar von unseren Kolleg*innen stehen unter Verdacht, infiziert zu sein, da sie Fieber hatten. Trotzdem bleibt die Fabrik offen.

Am vergangenen Donnerstag riefen die Eisenbahner*innen zu einem Generalstreik der Eisenbahner*innen auf. Sie schreiben:

Das Leben der Arbeiter ist jetzt aufgrund der Ausbreitung des Corona-Virus und der mangelnden medizinischen Versorgung durch Vernachlässigung der Eisenbahnbeamten sowohl in Eisenbahn-Fabriken als auch in allen Bereichen der Eisenbahn gefährdet. Wir werden nicht bezahlt und können es uns nicht leisten, Masken und Desinfektionsmittel für uns und unsere Familien zu kaufen. Monate zuvor wurden 7.000 Eisenbahnarbeitern unbefristete Verträge versprochen, aber bisher wurden keine Maßnahmen ergriffen […]. Aus diesen Gründen treten wir ab Freitag in den Streik, um unsere Forderungen zu erreichen.

Die Hoffnung koordinierter Aktionen der Arbeiterselbstorganisierung bleibt.

Narges Nassimi ist kurdische Marxistin und lebt in München.

#Titelbild: Skyline von Teheran Von Amirpashaei – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, Collage: LCM

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Am 22. November traten Sarah (FFF Frankfurt/Main) und Carlos (FFF Berlin) in einen befristeten Hungerstreik, der am 29. November zu Ende ging. Im Rahmen ihrer Aktion stellten die beiden Aktivist*innen drei Hauptforderungen an die Bundesregierung: Die Rücknahme des Klimapakets und Umsetzung der Forderungen von Fridays For Future (inklusive der Forderungen an der Basis); ein politisches Streikrecht für alle; und die offene Verurteilung des Krieges der Türkei in Rojava und der Aufstandsbekämpfung in Chile, sowie eine umfassende Einstellung sämtlicher Rüstungsexporte in die Türkei.

Für Lower Class Magazine werten die beiden Young-Struggle- und FFF-Aktivist*innen nun ihre Aktion aus und formulieren Überlegungen, wie es mit der Bewegung weiter gehen kann.

Wie kamen wir dahin, wo wir sind?

Vergangenen Freitag, am 13.12., war das einjährige Jubiläum von Fridays For Future Deutschland. Seit einem Jahr nun wird in zahlreichen Städten Deutschlands ununterbrochen jede Woche von Jugendlichen für einen Wandel in der Klimapolitik gestreikt; am größten Streiktag in unserer Geschichte, dem 20. September, sind wir in Deutschland mit 1,4 Millionen Menschen gemeinsam auf der Straße gewesen. Innerhalb dieses einen Jahres hat sich eine Bewegung von einer Größe entwickelt, wie sie Deutschland seit Jahren nicht gesehen hat – und die international noch in einem viel riesigeren Zusammenhang steht; eine Bewegung von Jugendlichen, denen das Recht und die Fähigkeit, politisch zu sein und mitzubestimmen, immer abgesprochen wird – genau wir „unreifen“ Jugendlichen haben eine Kraft geschaffen, die die politische Elite sprachlos und verwirrt zurücklässt wie ein Kind, dessen Playmobil-Figuren plötzlich wirklich lebendig werden und nicht mehr schweigend da sitzen bleiben, wo es sie hingesetzt hat.

Ein Jahr Streik und nichts passiert

Obwohl Aktivist*innen von Fridays For Future mit etlichen Politiker*innen geredet und alle betont haben, wie toll sie es doch finden, dass wir Jugendlichen so politisch werden, sind faktisch keine politischen Veränderungen geliefert worden.

Es war ein Schlag ins Gesicht von uns allen, als am Tag des bisher größten Klimastreiks am 20. September die Ergebnisse des Klimapakets veröffentlicht wurden: Die beschlossenen Maßnahmen sind allenfalls Tropfen auf den heißen Stein und die Erkenntnis, dass die bürgerliche Politik sich unbeeindruckt zeigt nach einem Jahr des Protests, hat sich in den Reihen unserer Bewegung breit gemacht. Mit dieser Erkenntnis ging jedoch an vielen Orten auch eine Desillusionierung, eine Frustration einher. Immer mehr Diskussionen gingen in eine Richtung von Perspektivlosigkeit; das Gefühl, machtlos zu sein gegenüber einer Politik, die die Klimakrise weiterhin bereitwillig in Kauf nimmt.

Neben dieser Kopf-in-den-Sand-Stimmung nahm jedoch auch eine Diskussion um Strategien der Klimagerechtigkeitsbewegung an Fahrt auf. Und genauso wie sich am 13.12. der Geburtstag von Fridays For Future Deutschland jährte, war es auch der Tag, an dem Köln und Berlin die letzte wöchentliche Demo gemacht haben. Denn in praktisch allen Städten sehen wir, dass nach einem Jahr der ununterbrochenen Streiks die Teilnehmer*innenzahlen immer niedriger werden.

Der Hungerstreik als Aktionsform

Hungerstreiks haben immer, noch mehr als viele andere Aktionen, Ziele in zwei Richtungen: du zielst nicht nur auf deine*n Unterdrücker*in, sondern besonders auch auf die eigene Bewegung. Wenn wir zum Beispiel den Hungerstreik von Leyla Güven in Nordkurdistan betrachten, dann sehen wir, dass der wichtigste Erfolg der Hungerstreikphase nicht die Aufhebung der Isolation war, sondern das Aufbrechen der Angst und die neue Mobilisierung der Bewegung.

In dieser Phase aufkommender Frustration, aber auch strategischen Diskussionen in Fridays For Future hatten wir mit dem Hungerstreik das Ziel, die Frustration zu bekämpfen und die Diskussion voranzubringen. Wir wollten erreichen, dass die Aktivist*innen sich noch einmal neu hinterfragen: haben wir wirklich schon alles in unserer Macht Stehende getan, indem wir Freitags die Schule bestreikt haben? Sind Appelle an die bürgerliche Politik wirklich die richtige Herangehensweise an die Lösung der Klimakrise, welche bis jetzt von ebenjener Politik nicht nur geduldet, sondern mit Hilfe von Subventionen von fossilen Brennträgern und vielen anderen Mitteln weiterhin aktiv gefördert wird?

Mit dieser Perspektive haben wir die Aktion zeitlich befristet. Wir wollten die Frage, wohin wir wollen und was dafür nötig ist, noch einmal mit neuem Nachdruck in unsere Bewegung hineintragen und der Strategiedebatte eine neue Dringlichkeit und Ernsthaftigkeit geben. Wir sind der Überzeugung, dass bei dieser Debatte noch einmal klarer werden wird, dass ein ökologischer Kapitalismus unmöglich ist und dass wir die nötige Wende nicht durch wöchentliche Latschdemos erkämpfen werden. Wir sind der Überzeugung, dass wir in der Zeit nach dem 29. November einen Schritt weiter gehen werden, in der Theorie wie in der Praxis – denn davon hängen das Überleben und besonders der Erfolg unserer Bewegung ab. Wir wollten klarmachen: gerade haben wir, durch einen Hungerstreik, einen der letzten Schritte der Symbolpolitik erreicht. Ab jetzt werden wir gänzlich neue Schritte wagen müssen, wenn wir erkennen müssen, dass Symbole – egal, ob es Millionen Menschen auf den Straßen oder Jugendliche mit leerem Magen sind – ignoriert werden.

Kämpfe vereinen!

Eine der strategischen Aufgaben von Fridays For Future und auch von der gesamten Klimagerechtigkeitsbewegung ist die Verbindung von unterschiedlichen Kämpfen. Das Bewusstsein, dass unsere Feind*innen, aber auch unsere Ziele – ein solidarisches Leben ohne Unterdrückung als Teil eines funktionierenden Ökosystems – dieselben sind, verbreitet sich immer weiter. Unsere Bewegung hat in der letzten Zeit auch bedeutende Schritte hin zu einem gemeinsamen Kampf gemacht: dabei wären vor allem die Bündnisse im Vorfeld des 20. Septembers zu nennen, insbesondere mit den Gewerkschaften, genauso aber auch die internationalistischen Arbeiten, die sich in Fridays For Future am stärksten mit der Solidaritätserklärung für Rojava und dem #fridaysforpeace-Aktionstag gezeigt haben.

Bei der Vereinigung verschiedener Kämpfe und Bewegungen geht es bei weitem nicht nur darum, noch mehr Menschen für die gemeinsame Sache auf die Straße zu bringen. Die Beschäftigung mit Rojava, die vielen Jugendlichen bei FFF zum ersten Mal eine revolutionäre Perspektive eröffnet hat, ist ein Beispiel dafür, was wir alles von anderen Bewegungen lernen können und was für einen gigantischen politischen Wert das Zusammenkommen hat.

Der Schulterschluss mit Arbeiter*innen und Bewegungen von unterdrückten Gruppen wie Migrant*innen, FLINT, etc., ist eine entscheidende Herausforderung der Klimagerechtigkeitsbewegung, um eine revolutionäre, antikapitalistische Perspektive wirklich in Praxis zu verwandeln. Diese strategische Aufgabe haben wir in der zweiten und dritten Forderung des Hungerstreiks sowie in den Solidaritätsnachrichten nach Chile, Bolivien und Rojava konkretisiert.

Generalstreik und ziviler Ungehorsam

Seit einem Jahr führen wir, bewusst oder unbewusst, einen Kampf für das politische Streikrecht, indem wir es uns in den Schulen praktisch nehmen. Der 20. September hat den Generalstreik nach Jahren der Stille wieder auf die Tagesordnung gebracht. Mit der Klimagerechtigkeitsbewegung gemeinsam mit den organisierten Arbeiter*innen das politische Streikrecht zu erkämpfen, wäre ein unglaublicher Erfolg und eine weitere Eskalationsstufe, die nicht unterschätzt werden kann.

Wenn wir das jedoch wirklich schaffen wollen, müssen wir noch viele Engstirnigkeiten und rückschrittliche Tendenzen in unserer Bewegung überwinden: Wir müssen wegkommen von einem antisozialen Begriff von Klimaschutz, der eine neoliberale CO2-Steuer als Lösung für alles sieht, während die Arbeiter*innen in Frankreich mit der Gelbwestenbewegung im Kampf gegen genau solche Maßnahmen – mit jeder Berechtigung – das ganze Land auseinander nehmen. An Stelle der Gewerkschaftschef*innen müssen wir viel mehr in mühseliger Basisarbeit mit den Gewerkschaftsmitgliedern und Arbeiter*innen ins Gespräch kommen. Wichtig ist aber auch, uns über die Gegenseite klar zu werden: Wir müssen alles daran geben, um uns durchzusetzen gegen Integrationsversuche von Gruppen wie „Entrepreneurs For Future“, die vor dem 20. September Rechtsgutachten machen und betonen, dass es doch viel sinnvoller wäre, auf Unternehmen, die ihren Angestellten freistellen als auf einen wirklichen Streik zu setzen.

Wir dürfen jedoch nicht auf den Irrweg tappen, Generalstreik und Revolution zu verwechseln. Ein Streik, an dessen Ende alle mit ruhigem Gewissen nach Hause und am nächsten Tag wieder auf die Arbeit und in die Schule gehen, hält sich in engen Grenzen. Nach einem Jahr des Streiks setzt sich an immer mehr Orten die Erkenntnis durch, dass das Aktionsrepertoire auf irgendeine Weise, die die Widersprüche stärker zuspitzt, ausgebaut werden muss.

„Ende Gelände“ führt unsere Bewegung langsam zu einem militanteren Bewusstsein und zu der Erkenntnis, dass das Fortlaufen des zerstörerischen Systems in unseren Händen liegt. Wir dürfen dabei jedoch niemals vergessen, dass ziviler Ungehorsam zwar an vielen Stellen seine Berechtigung haben mag, aber auf lange Sicht keinen ausreichenden Aktionsrahmen für eine Bewegung, die sich revolutionär nennen möchte, bietet. Wir als Klimagerechtigkeitsbewegung, als unterdrückte Jugend, wie alle anderen Unterdrückten und Ausgebeuteten, können uns einer breiten Palette an militanten Aktionsformen bedienen, die auch heute in Deutschland schon praktisch machbar und politisch legitim sind. Es liegt an uns, alle verschiedenen Mittel, die unserer Bewegung zur Verfügung stehen, auf eine revolutionäre Weise zusammenzubringen.

Es stehen viele Aufgaben vor uns. Viele Herausforderungen und viele Möglichkeiten. Ein Jahr Fridays For Future hat unsere Gesellschaft nachhaltig verändert – ob wir sie auch wirklich revolutionieren werden, wird sich in Zukunft zeigen.

#Titelbild, Quelle: https://www.fridaysforfutureffm.de/

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Einige Beobachtungen von Ramsis Kilani, Narges Nassimi, Eleonora Roldán Mendívil und Aida Vafajoo

Vom 12. bis zum 15. September 2019 fand das „Feminist Futures Festival“ auf dem Gelände des ehemaligen Steinkohlebergwerks Zeche Zollverein in Essen statt. Im Herzen des Ruhrgebiets ereignete sich bei spätsommerlichen Temperaturen mit rund 1500 Feminist*innen die bislang größte feministische Zusammenkunft in Deutschland. Organisiert wurde das Festival von der Rosa Luxemburg-Stiftung, dem „Konzeptwerk Neue Ökonomie“ und dem Netzwerk „Care Revolution“. Neben diesen drei Hauptorganisator*innen waren an der Durchführung des Festivals aber auch zahlreiche weitere Initiativen beteiligt.

Leider waren die meisten Workshops überfüllt, so dass man oft nicht teilnehmen konnte und die organisierten Podiumsdiskussionen ließen wenig Raum für Diskussionen. Wir hätten uns hier mehr Möglichkeiten für die Interaktion mit und aus dem Publikum gewünscht. Trotzdem ergaben sich spannende Gespräche am Rande.

Zeche Zollverein und die Kämpfe der Migration

Da Veranstaltungen, die sich feministischen oder frauenpolitischen Anliegen widmen, häufig in Berlin oder Hamburg stattfinden, war es besonders sinnvoll, dass durch das Festival auch für NRW-ansässige Feminist*innen die Möglichkeit für politische Diskussionen, auch mit internationalen Aktivist*innen, geschaffen wurde. In Gesprächen wurde jedoch deutlich, dass kaum jemandem bewusst war, wie bedeutsam das Gelände, auf dem das Festival stattfand, für die Region, die Arbeiterbewegung und die Geschichte der Einwanderung in Deutschland tatsächlich ist.

Gerade, dass darüber nicht gesprochen wurde, war für uns befremdlich. Denn wenn vom Ruhrpott mit seinen Zechen als historische Hochburg deutscher Industrie die Rede ist, dann sind nicht nur weiße, deutsche Arbeiter*innen Teil dieser Geschichte, sondern auch jene migrantischen Arbeiter*innen, die mit ihrer Arbeitskraft ab den 1960er Jahren maßgeblich zum Wiederaufbau der deutschen Wirtschaft beigetragen und auch eigene, bedeutende Arbeitskämpfe geführt haben.

Als berühmtestes Beispiel gilt der von migrantischen Arbeiter*innen getragene „Wilde Streik“ 1973 bei Ford in Köln, bei dem die Arbeiter*innen für gleichen Lohn und gleichen Umgang wie ihre deutschen Kolleg*innen kämpften. Er wurde, unterstützt von der Gewerkschaftsbürokratie gewaltsam von der Polizei angegriffen und aufgelöst[1]. Im gleichen Jahr legten migrantische Arbeiterinnen beim Automobilzulieferer Pierburg in Neuss ihre Arbeit nieder, um die Kategorie der „Leichtlohngruppe“, welche Frauen weniger verdienen ließ als Männer, anzufechten[2]. Diese Streiks waren Ausdruck davon, dass sich migrantische Arbeiter*innen nicht mehr wie Menschen zweiter Klasse behandelt lassen wollten. Auch Arbeiter in der Zeche Zollverein organisierten sich und brachten ihre Forderungen für eine gleichberechtigte Behandlung und ein Ende der Polarisierung der Arbeitsbedingungen und Löhne zwischen „deutschen“ und „ausländischen“ Arbeitern hervor. Dies ist in der Dauerausstellung im Museum Zollverein nachzulesen. Schade, dass dieser Teil der deutschen – auch feministischen – Geschichte, gerade angesichts der Aktualität der Migrationsfrage sowie Arbeitsniederlegungen mit einem hohen Anteil migrantischer Streikender[3] (außer einer kurzen Nennung in einem Workshop, in dem es um das Ruhrgebiet und die Probleme der Menschen vor Ort ging) beim Festival ausgelassen wurde.

Liberaler Feminismus

Was wollten die Feminist*innen, die sich im Rahmen des Feminist Futures Festivals zusammengeschlossen haben, erreichen? Eine solch große Veranstaltung mit der Teilnahme von unterschiedlichen politischen Spektren in Deutschland zu organisieren, ist ein wichtiger Versuch. Unser Eindruck ist jedoch, dass das Festival in seiner thematisch-inhaltlichen Ausrichtung, sowie personellen Besetzung eingeschränkt war. Der Grund dafür war, dass es insgesamt von weißen Akademiker*innen mit wenig oder gar keinem Bezug zu Fragen von Klasse, Armut und Rassismus dominiert wurde. Diese Ansicht teilten verschiedene, vor allem migrantische, nicht-weiße und ausländische Aktivist*innen[4]. An der geringen Partizipation und Repräsentation von Arbeiter*innen als Referent*innen war erkennbar, dass zwar über uns, unsere Mütter, Cousinen und Tanten gesprochen wird, aber selten mit uns.

Die tendenzielle Trennung der Frauenkämpfe von Klassenfragen und Rassismus wurde auch in der Praxis deutlich. Wenn beispielsweise Arbeiter*innen als Arbeiter*innen referiert haben (was nur in einem Panel zu migrantischer Hausarbeit vorkam), waren diese nicht aus Deutschland. Sie kannten sich dementsprechend nicht mit den Tücken der DGB-Gewerkschaften und ihrer Führungen aus und konnten keine Kritik an ihnen oder ihrer Bürokratie formulieren. Dabei gibt es hier konkrete Ansprechpartner*innen: Die Kämpfe der migrantischen Arbeiter*innen gegen die neoliberale Prekarisierung an der Alice-Salomon-Hochschule oder am Wombat’s Hostel in Berlin sind emblematische Beispiele[4]. Auch migrantischen Aktivist*innen, vor allem aus dem globalen Süden, lagen viele Steine im Weg, die ihnen eine gleichberechtigte Teilhabe an Diskussionen erschwerten. Es wurde für asylsuchende und migrantische Frauen in Deutschland keine Dolmetschung in für sie wichtigen Sprachen wie Arabisch, Türkisch, Farsi, Dari, Kurdisch oder Französisch organisiert. Der Aufruf, dies solidarisch selbst zu organisieren, mündete häufig darin, dass migrantische Teilnehmende selbst unter deutschen Feminist*innen so häufig gesprochene Sprachkombinationen wie Deutsch-Englisch-Spanisch dolmetschen mussten und somit selbst eingeschränkt waren, an einer politischen Diskussion teilzunehmen. Weiße deutsche Freiwillige zum Dolmetschen meldeten sich selten.

Die Frage, wer die Frauen und Queers eigentlich sind, über die konkret gesprochen wurde, war ein Randthema des Festivals. Gehören Ausbeutende – CEO’s, Kapitalist*innen – und ihre Handlanger*innen – Frauen und Queers bei Polizei und Armee – dazu? Diese Nicht-Benennung etabliert eine Romantisierungeiner „Schwesternschaft“. Das und die Homogenisierung von Frauen und Queers führen dazu, dass Unterdrückungsmechanismen und die unterschiedlichen Formen von notwendigen Trennungen entlang von Klassenlinien unsichtbar gemacht werden.

Rassismus im Feminismus

Unserer Erfahrung nach, schrecken linke und/oder feministische Organisationen in Deutschland meist davor zurück, offen über Rassismus, und besonders antimuslimischen Rassismus, zu sprechen. Zwar wird gerne behauptet, man sei antirassistisch, doch werden in jenen linken, feministischen Räumen so oft Rassismen reproduziert oder kleingeredet, dass nicht-weiße Personen eben dort, wo sie sich sicher fühlen sollten, kaum Gehör finden. Ein solcher eurozentrischer Feminismus mündet somit immer in einer rassistischen Praxis. Themen, die sich (neo-)kolonialen Strukturen und deren realen Konsequenzen im heutigen Kontext widmen, wie beispielsweise die Besatzungspolitik Israels, oder den verstärkten feministischen Rufen nach Hijab-Verboten (Terre des Femmes und andere) werden in linken feministischen Räumen als „kontrovers“ abgestempelt und gemieden. Wir haben diese Scheinargumente nun seit vielen Jahren gehört und wir sind es Leid, Themen die unser Leben als Migrant*innen in Deutschland zentral betreffen, wie einen Nebenwiderspruch behandelt zu sehen. Ein Feminismus, der den Anspruch hat, gesellschaftliche Strukturen zu hinterfragen, kann Rassismus und breitere Systemkritik nicht weiter ignorieren. Aus genau diesem Grund haben wir in unterschiedlichen Konstellationen unter anderem Workshops zu migrantisch-feministischer Organisierung und zu Rassismus in feministischen Strukturen in Deutschland eingereicht, um gemeinsam Wege des Zusammenarbeitens zu erörtern und feministische Räume in Deutschland zumindest für diese ersten selbstkritischen Schritte zu öffnen. Unser Ziel war es, endlich miteinander ins Gespräch zu kommen und auch andere nicht-weiße Personen zu motivieren, feministische Räume als ihre eigenen Räume zu erkennen und zu nutzen.

Die oben genannten Workshops wurden nicht angenommen. In zwei Workshops wurden jedoch ähnlich klingende Themen angeschnitten. Bei dem Workshop „Frauen*, Asyl und Solidarität“ versuchten die Teamenden von Women in Exile and Friends eine Diskussion darüber auszulösen, was wir brauchen, um feministische Räume, vor allem für Frauen und Queers mit Fluchterfahrung, weniger barrierevoll zu gestalten. Dadurch, dass der Fokus nicht explizit auf Rassismus gelegt wurde, was im Rahmen der Frage von der Teilnahme und des Protagonismus von Frauen und Queers mit Fluchterfahrung innerhalb feministischer Kämpfe eines der zentralen Hindernisse ist, kam es zu einer Aneinanderreihung und teilweise Gleichsetzung verschiedenster Unterdrückungslinien sowie Diskriminierungserfahrungen. Rassismus wurde hier nur abstrakt und nicht konkret als ein feministisches Problem, was die Teilnehmenden des Workshops betrifft, behandelt.

Ein zweiter Workshop mit dem Namen „Muslima in Deutschland“ beschäftigte sich mit der besonderen Unterdrückung, die muslimische Frauen in Deutschland erfahren. In Kleingruppen wurden zuerst Grundlagen wie die Verhandlung von Identität und Othering diskutiert. Mit der Öffnung der Diskussion wurden konkretere Probleme deutlicher. Die einzige Hijab-tragende Frau im Raum, berichtete von ihrem brutalen rassistischen Alltag; der Alltag einer Mehrheit von muslimischen Frauen in Deutschland: An der Universität für eine Putzfrau gehalten zu werden; bei Jobgesprächen gesagt zu bekommen, man habe sich für eine andere Bewerberin entschieden, nur um die selbe Stellenausschreibung dann weiterhin in der Zeitung und im Internet zu finden; im vollen Zug zu sitzen und trotzdem neben sich einen freien Platz zu sehen, den niemand nutzen will; sich als Jugendliche selbstbestimmt dazu zu entscheiden, Hijab zu tragen, aber danach in linken Strukturen, konkret der Linksjugend Solid, von weißen Deutschen gemieden und isoliert zu werden. Diese Erfahrungen wurden auch auf dem Feminist Futures Festival gemacht: Auch hier hätte sie sich meist alleine wiedergefunden. Die Reaktion der Anwesenden war bezeichnend: Zwar wurde nach den Ausführungen geklatscht und gesagt, dass weiße Deutsche in solchen Situationen migrantischen Frauen in erster Linie zuhören sollten, gleich darauf nahm die Rededominanz weißer Aktivist*innen, selbst in diesem Workshop, aber wieder zu. Als von einer Migrantin mit ägyptischem Hintergrund angemerkt wurde, dass sie den Begriff „bio-deutsch“, den eine weiße Teilnehmende statt weiß verwendete, problematisch findet, entgegnete diese ihr mit einem scharfen „Ich kenne aber keinen anderen Begriff und benutze ihn!“ und redete weiter. Es gab anscheinend kein Interesse daran, zu erfahren, warum „bio“ von „biologisch“ kommt und somit einer Rassenlogik entspricht, anstelle von weiß als gesellschaftlicher Kategorie zu sprechen, was eine soziale Realität in einer rassistischen Gesellschaft beschreibt. Über eine Aneinanderreihung von rassistischen Problemen kam also auch dieser Workshop nicht hinaus. Ein Raum, in dem muslimische Aktivist*innen offen und direkt kritisieren und auch Antworten verlangen konnten, entstand nicht.

Wir fragen uns: Warum fällt es der Mehrheit von weißen Feminist*innen häufig so enorm schwer, offen über Rassismus zu sprechen? Es ist leichter, sich einfach abstrakt „antirassistisch“ zu nennen, mal auf eine Demo zu gehen und somit auf der richtigen Seite zu sein, ohne dafür konkret irgendetwas getan zu haben. Vorschläge, noch mehr Workshops zu Kritischem Weißsein in mehrheitlich weißen Strukturen durchzuführen, wie wir immer wieder hörten, setzen aus unserer Sicht an der falschen Stelle an. Denn diese Konzepte gehen zwar von strukturellen Problemen aus, aber begegnen ihnen mit im Grunde individualistischen Lösungen à la „Verändere dein Bewusstsein!“ und führen kaum zu einer Veränderung der Praxis dieser Gruppen, noch zu einem Verständnis der Funktion von Rassismus im Kapitalismus und damit zu einem antikapitalistischem Antirassismus mit Migrant*innen als zentralen Protagonist*innen. Wir denken, dass es bei einem gelebten Antirassismus um eine klare politische auch feministische Praxis gehen muss. Und diese setzt an in der Analyse, was Rassismus in Deutschland 2019 überhaupt ist.

Für einen internationalistischen, antiimperialistischen Feminismus – auch in Deutschland

Lichtblicke des Festivals waren Teilnehmende, die ähnliche Kritiken formulierten. Bei dem Workshop „Frauen*Streik international“ am Samstag Abend konnte ein Raum geschaffen werden, um zu diskutieren, was Internationalismus bedeutet und in dem die Anwesenden gängige Probleme aufzeigen konnten. Zwei der zentralen Themen war die Frage von Rassismus in feministischen Räumen sowie die Schwierigkeiten, den meisten deutschen Feminist*innen ein Bekenntnis zu Antikolonialismus und Antiimperialismus abzuringen. Viele der über 100 Teilnehmenden des Workshops bekräftigten die Notwendigkeit, genau diese Diskussion weiterzuführen. Nachdem wir in Erfahrung gebracht hatten, dass Internationalismus und die Wege dorthin als Diskussion nicht bei der Abschlussveranstaltung Platz finden würden, beschlossen circa 50 Teilnehmende zeitgleich zur Abschlussveranstaltung ein Alternativtreffen zu organisieren und alle dazu einzuladen. Hieraus entstanden wiederum neue internationalistische Initiativen, die unter anderem in konkreten Netzwerktreffen in Berlin im Oktober im Rahmen des Antikolonialen Monats[5] an einer weiteren Zusammenarbeit feilen werden, sowie eine Solidaritätsaktion mit den zu bis zu 18 Jahren verurteilten Arbeiter*innen und Aktivist*innen der Haft-Tapeh Zuckerfabrik im Iran[6].

Den Organisierenden des Festivals ging es mit einer wohlwollenden Auslegung um einen antineoliberalen Intersektionalismus. Diese Analyse lässt sich an einigen Beispielen verdeutlichen. Unter dem Titel „Für eine feministische Klassenpolitik!“ stand zum Beispiel im Programm: „Ein Klassenpolitischer Feminismus will eine Antwort auf die neoliberale Politik sein, er will Antworten auf Konkurrenz, soziale Spaltung und die Angriffe auf die sozialen Infrastrukturen finden.“ Es ist sehr wichtig, sich gegen den Neoliberalismus zu stellen, vor allem für Feminist*innen. Denn die neoliberale Ordnung ist mit massiven Privatisierungen und einem Abbau der Sozialleistungen weltweit verbunden, die zuallererst und am härtesten arme Frauen und Queers treffen. Er führt ferner zu mehr und schlechter bezahlten, unsicheren Lohnarbeitsverhältnissen sowie zu mehr unbezahlter Reproduktionsarbeit für Arbeiter*innen. Sicher muss sich ein Feminismus der Unterdrückten gegen den Neoliberalismus wenden. Die entscheidende Frage ist jedoch unserer Ansicht nach strategischer Natur: Wohin wollen wir statt zum Neoliberalismus? Zurück zum Wohlfahrtsstaat, unter dem extreme Armut zwar tendenziell minimiert, aber nicht grundsätzlich abgeschafft werden kann? Wir verteidigen die Errungenschaften des Wohlfahrtsstaates und kämpfen für mehr Zugänge für die besonders verarmten Teile unserer Klasse. Wir teilen jedoch die sozialdemokratische Illusion des „Kapitalismus mit einem humanitärem Gesicht“ nicht.

Die inhaltiche Ausrichtung des Festivals deutet aber genau in diese Richtung. Es war geprägt von Themen wie Sorgearbeit, also Arbeit in der Pflege, Erziehung, Fürsorge, etc. Diese Arbeit ist zu Hause und im Job überproportional weiblich und besonders prekär. Die Unterdrückung und Ausbeutung von Frauen und queeren Menschen geht aber über diese Frage hinaus. Wir werden den patriarchalen, rassistischen Kapitalismus nicht allein mit einer „Care-Revolution“ besiegen, sondern mit einer sozialen Revolution, deren Subjekt die in ihrer Universalität und Zentralität erkannte gesamte Arbeiterklasse in Produktion und Reproduktion sein muss. Das heißt, es ist ein Programm notwendig, das nicht beim Organizing und der Kritik an geschlechtlich aufgeteilter reproduktiver Arbeit stehen bleibt. Wir müssen in der Lage sein, tatsächlich mit der gesamten Arbeiterklasse Kämpfe zu Ende zu führen und zu gewinnen. Dies schließt auch das Stellen der Machtfrage mit ein. Darin spielen Frauen und diejenigen, die in Sorge- und Pflegeberufen arbeiten, eine zentrale Rolle: Sie sind oft, wie im Pflege- oder Reinigungssektor, die Avantgarde der gesamten Arbeiterklasse, die Risiken eingehen, um andere Sektoren mitzunehmen[7]. Politische Kämpfe, wie der internationale Frauen*streik, sind eng verbunden mit der Arbeiterklasse als Subjekt. Und dies wollen wir wieder ins Zentrum unserer Politik rücken. Wir kämpfen für eine Welt ohne Ausbeutung und Unterdrückung. Wir wollen der Aneignung des Produkts der Mehrarbeit der Arbeiterklasse durch die Kapitalistenklasse und der Diskriminierung und der Angst um das eigene Leben –- als Ausländer*in, Trans*, etc. – ein Ende setzen.

#Titelbild: Solifoto für die Arbeiter*innen und Aktivist*innen von Haft Tapeh

Über die Autor*innen:

Ramsis Kilani ist palästinensischer Sozialist und Mitglied beim SDS. Sein politischer Fokus liegt auf Antirassismus und antikolonialen Befreiungskämpfen.

Narges Nassimi ist kurdische Feministin aus Rojilat und Mitbegründerin der internationalen, sozialistischen Frauenorganisation Brot und Rosen in Deutschland.

Eleonora Roldán Mendívil ist Marxistin und arbeitet als Journalistin und Freie Bildungstrainerin zu Rassismus, Geschlecht und Kapitalismuskritik. Sie ist im Frauen*Streik Komitee Berlin aktiv.

Aida Vafajoo ist Sozialistin und Feministin mit iranischen Wurzeln und studiert Soziologie/Politikwissenschaft.

[1] https://www.klassegegenklasse.org/interview-die-gastarbeiterinnen-bei-angela-merkel/

[2] https://revoltmag.org/articles/empowerment-und-klassenkampf-gegen-den-rassismus-des-kapitals/; https://de.labournet.tv/video/6489/pierburg-ihr-kampf-ist-unser-kampf

[3] Zum Beispiel: https://www.jungewelt.de/artikel/362525.agrarproduktion-streik-im-gew%C3%A4chshaus.html

[4] https://www.klassegegenklasse.org/interview-maya-john-den-intersektionalen-feminismus-hinterfragen/

[5] https://www.facebook.com/pages/category/Cause/Anticolonial-Berlin-111417073575130/

[6] https://www.klassegegenklasse.org/free_iran_workers-internationale-solidaritaet-vom-feminist-futures-festival-deutsch-english-farsi/

[7] https://www.klassegegenklasse.org/alle-sind-teil-der-universitaet/

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Ruth ist Mitte 30 und arbeitet seit 7 Jahren im Wombat‘s City Hostel. Zuerst ein Jahr in Wien und anschließend in Berlin an der Rezeption. Vor viereinhalb Jahren hat sie den Betriebsrat mitgegründet. Seitdem ist sie auch Betriebsrätin.

Das Wombat‘s City Hostel schließt zum 31.8. Warum?

Zumindest vorerst schließt das Haus. Wir gehen davon aus, dass es – genau wie zum Beispiel damals der „Wintergarten“ in Schöneberg – irgendwann wieder eröffnet wird. Nur eben ohne uns Gewerkschaftsmitglieder.

Wie kam es zu der Schließung?

Wir haben 2015 als erstes Hostel in Deutschland einen Betriebsrat gegründet und anschließend sind die meisten von uns Beschäftigten Gewerkschaftsmitglieder geworden und haben für einen Tariflohn gestreikt. Als Betriebsrat sind wir von der Geschäftsleitung in Wien und auch dem Management vor Ort in Berlin von Beginn an bekämpft worden. Das erste Wombat‘s Hostel wurde 1999 in Wien eröffnet und von da bis zur Betriebsratsgründung konnten die Besitzer Alexander Dimitriewicz und Marcus Praschinger alle, die ihnen nicht passten einfach so feuern. Meine Vermutung ist, dass es ihnen deutlich gegen den Strich gegangen ist, dass sie plötzlich die Beschäftigten in Berlin nicht mehr so einfach kündigen konnten, obwohl wir Einiges aufgedeckt haben, was nicht so gut lief und viele gute Dinge für die Belegschaft durchgesetzt haben, die sie eigentlich nicht tun wollten. Unsere Chefs haben viel Geld für juristische Beratung ausgegeben und sind uns trotz konstanter Zermürbungsversuche nicht los geworden. In dem offiziellen Aushang an die Belegschaft steht eindeutig, dass es dem Wombat‘s Berlin wirtschaftlich hervorragend geht, aber dass unsre Chefs „so“ nicht weitermachen wollen. Daraus geht für mich eindeutig hervor, dass das Haus geschlossen wird, weil sie keine Lust auf Mitbestimmung der Belegschaft und Einhaltung der Rechte von Arbeiter*innen haben.

Welche Methoden hat die Geschätsleitung konkret gegen euch angewendet?

Ich hab mal ein Buch über Union Busting-Methoden gelesen und wir haben eigentlich so gut wie alles durch – nur einen Privatdetektiv haben sie meines Wissens nicht auf uns angesetzt. Konkret bedeutet das: Das Management hat von Anfang an versucht, uns als Belegschaft zu spalten. Es wurden/werden immer noch Lügen über uns Gewerkschaftsmitglieder erzählt um uns zu diffamieren. Von einem Tag auf den anderen wurde den Gewerkschaftsmitgliedern gesagt, dass sie ihre Arbeit schlecht machen; wir haben haufenweise Abmahnungen mit Kündigungsandrohung aus an den Haaren herbeigezogenen Gründen bekommen; vom Management wird man entweder ignoriert, angeschrien oder sie spielen Lieder mit beleidigendem Inhalt, wenn man in ihr Büro kommt – also so Psycho-Spielchen, dass man sich super unwohl fühlt und dann von selbst geht. Die Reinigung wurde ausgegliedert und die Geschäftsleitung hat zugegeben, dass ihnen die Ausgliederung teurer kommt als interne Reinigung. Und der letzte Schritt, bevor sie bekannt gegeben haben, dass sie das Hostel schließen, war einfach ohne Grund Lohnbestandteile von besonders aktiven Gewerkschaftsmitgliedern einbehalten. Als wir trotzdem geblieben sind, begonnen haben, den fehlenden Lohn einzuklagen, so was dauert leider ca. 1 Jahr, weil die Gerichte so langsam sind, und begonnen haben, einen Soli-Darlehen zu organisieren, damit wir nicht deshalb einknicken müssen, haben sie wohl gemerkt, dass wir uns nicht zermürben lassen und uns weiterhin für eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen einsetzen werden. Bitter ist allerdings, dass neben Outsourcing auch sachgrundlose Befristungen zur Spaltung von Belegschaften benutzt werden und, dass das legal ist. Anfang des Jahres hat unser Chef begonnen, die Verträge von befristeten Gewerkschaftsmitgliedern nicht mehr zu verlängern. Ich würde das auch als Union Busting-Methode werten, allerdings handelt es sich bei Outsourcing und Befristungen nicht um Gesetzesverstöße, obwohl es meiner Meinung nach nur dazu dient, Belegschaften klein zu halten und zu spalten.

Am 8. März habt ihr auf der zentralen Frauen*streik-Aktion vor der Charité einen Redebeitrag gehalten. Hier habt ihr auch die sexistischen Ausmaße der Einschüchterung beschrieben. Was ist da genau passiert?

Wo soll ich da nur anfangen. Es gab ganz verschiedenes. Jahrelang ist der Leiter der Reinigung zu Schichtbeginn und Schichtende ohne zu klopfen in die Damenumkleide gekommen um „sich eine Bürste auszuleihen“. Die Umkleide der Frauen konnte man von innen nicht verschließen, d.h. es ist oft zu sehr unangenehmen Situationen gekommen. Die Kolleginnen aus der Reinigung haben ihm dann mal zu Weihnachten eine Bürste geschenkt, aber er ist weiterhin in ihre Umkleide gekommen. Als sich eine Kollegin nach Jahren dem Betriebsrat anvertraut hat, hat die Geschäftsleitung das Ganze heruntergespielt. Auch wenn das Ganze zeitlich sogar mit #meetoo zusammenfiel, hat er nur eine mündliche Verwarnung bekommen. Als wir ziemlich genau vor einem Jahr einen neuen Manager bekommen haben, hat er eine Kollegin aus der Reinigung auf Etage gemeinsam mit ihrem Abteilungsleiter, der Typ, der nicht klopfen kann, angeschrien und so unter Druck gesetzt, dass sie einen Nervenzusammenbruch bekommen hat. Außerdem hat er sein Büro mit Peniszeichnungen und einem Dildo dekoriert und Anfang März wurde er dabei beobachtet, wie er gemeinsam mit zwei Managern „Cunt“, „Cock Sucker“ und „Dick-Tation“ mit Sprühkreide vor das Hostel gesprüht hat.

Habt ihr von andern Belegschaften Solidarität erhalten?

Ja, es war wirklich sehr ermutigend, dass immer mehr Belegschaften nicht nur zu unseren Protesten gekommen sind, sondern wir uns auch zwischendurch gegenseitig ermutigt haben. Durch den Austausch haben wir gemerkt, dass eigentlich immer Outsourcing und Befristungen eine Rolle spielen. Deshalb haben wir mit Beschäftigten des Charité Facility Managements (CFM), des CPPZ, des Botanischen Garten, der BVG und verschiedenen Tochterfirmen der BVG, der Vivantes Service Gesellschaft und von verschiedenen Unis eine Initiative gegen Outsourcing und Befristungen gestartet. Solidarität haben wir aber auch noch von vielen Anderen erfahren wie z.B. Beschäftigten des Anne-Frank-Zentrums, der Berliner Bäderbetriebe, von Integral e.V. und sogar international von Las Kellys, Reinigungskräften aus Spanien, die auch gegen ihre prekären Arbeitsbedingungen aufstehen, und verschiedenen Zivilgesellschaftlichen Organisationen. Wir waren und sind echt immer wieder überwältigt!

Was kann man tun um sich mit euch zu solidarisieren?

Man zu unsrer Protest-Demo am 31.08.2019, dem Tag, an dem das Wombat‘s Berlin schließt kommen. Wir starten um 16.30 Uhr am Charitéplatz um uns mit den Beschäftigten des CFM zu solidarisieren, die seit 13 Jahren für Insourcing kämpfen und Richtung Wombat’s Hostel um für rechtliche Konsequenzen von sozialschädlichen Unternehmen und ein Vorkaufsrecht für Belegschaften bei Unternehmensschließungen zu protestieren.

#Titelbild: aktion.arbeitsunrecht
Nach einer Party im Hotel sollen Teile des Managements in der Nacht vom 2. auf den 3. März 2019 obzöne Bilder und Sprüche auf den Gehweg und die Alte Schönhauser Straße vor dem Hostel Wombat’s gesprüht haben.

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Carla Ramírez Gálvez (33) aus Antofagasta ist Erzieherin, Delegierte der Patricio-Cariola-Schule, Mitglied einer Gruppierung von Bildungsarbeiter*innen namens Nuestra Clase (Unsere Klasse) sowie Mitglied der Revolutionären Arbeiterpartei PTR. Das Lower Class Mag sprach mit ihr über den unbefristeten Streik der Erziher*innen und Lehrer*innen seit dem 3. Juni.

Du bist Erzieherin in einem Kindergarten in Antofagasta, im Norden Chiles. Gib uns doch zuerst einen gesellschaftspolitischen Überblick über die Region: Was sind die lokalen Probleme? Wie sieht es vor Ort aus?

In der Stadt Antofagasta lebt eine Vielfalt von Menschen, unter anderen viele Migrant*innen aus Kolumbien, Peru, Bolivien, Ecuador, Venezuela, China. Die zentralen Ressourcen sind Bergbau und Fischerei, in denen ein kleiner Sektor arbeitet. Die Mehrheit der Bevölkerung arbeitet in Geschäften, reinigt, verkauft Kleidung. Auch der Migrant*innensektor arbeitet hauptsächlich in Geschäften und auf der Straße, als Müllsammler*innen, Maurer*innen, verkauft Fruchtsäfte, Salate und Kleidung auf Märkten oder Straßen. Es ist auch erwähnenswert, dass es in der Stadt eine Arbeitslosenquote von etwa 10% gibt. Das ist eines der größten Probleme, ebenso wie die Wasser- und Umweltverschmutzung. Die Region hat die höchsten Krebsraten im Land, was die häufigste Todesursache ist. Auf der anderen Seite steht das große Problem des Wohnungsmangels, der die Menschen dazu zwingt, in überfüllten Wohnungen zu leben oder Landbesetzungen vorzunehmen, wo sie ihre Häuser mit leichtem Material bauen müssen.

Vor Wochen mobilisierten sich im ganzen Land Lehrer*innen aus verschiedenen Sektoren in großer Zahl für einen unbefristeten nationalen Streik. Bis jetzt hat die Regierung kein annehmbares Angebot vorgelegt. Was sind die Gründe hinter dem Streik und was sind die zentralen Forderungen des Lehrpersonals?

Am Montag, den 3. Juni, begannen wir einen unbefristeten Lehrer*innenstreik, denn seit 2018 ignoriert die Regierung von Sebastián Piñera unsere Petition. Wir begannen mit verschiedenen Arbeitsniederlegungen von 24 bis 48 Stunden. Da wir weiterhin keine Antworten auf unsere Petition erhielten, begannen wir unseren unbefristeten Streik.

Die zentralsten Forderungen sind die Zahlung der historischen Schulden, die in den 80er Jahren, mitten in der Militärdiktatur von Augusto Pinochet, entstanden sind. In dieser Zeit sind die Schulen von der staatlichen Finanzierung zur Verwaltung durch die Gemeinden der verschiedenen Städte übergegangen. Damals begann die Entwicklung dadurch, dass aus der Bildung Profit geschlagen wurde und alle nachfolgenden Regierungen haben die Marktbildung nur intensiviert. Bis heute sind bereits Tausende Lehrer*innen gestorben, die auf die Zahlung dieser Schuld warten.

Eine weitere Forderung ist die Zahlung des Unterhaltes der Kindergarten- und Differentialpädag*innen, die ein Lohndefizit von ca. 80.000 chilenischen Pesos pro Monat haben. Das ist diskriminierend gegenüber den anderen Lehrer*innen. Das Problem liegt in der Lehrtätigkeit, denn unser Gehalt basiert auf Boni, die nicht stabil sind und uns von einem Jahr auf das andere entzogen werden können.

Wir fordern auch feste Stunden, denn als Lehrkräfte haben wir einen Vertrag von 30 Stunden, die restlichen sind verlängerte Stunden, welche der*die Schulleiter*in von einem Jahr zum anderen vergeben kann. Das geschieht in der Regel bei Lehrer*innen, die ihre Meinung äußern oder mit der Leitung des Managementteams nicht übereinstimmen.

Die zuletzt hinzugefügte Forderung, ist die der Wiedereinführung der Fächer Geschichte, Sport und Kunst als Pflichtfächer in den letzten beiden Schuljahren. Hier hat die Regierung eine autoritäre Änderung des Lehrplans des dritten und vierten Jahre [der letzten beiden Jahre der Sekundarschule, An.d.A.] vorgenommen, so dass diese Fächer nicht mehr obligatorisch sind. Dies führte zu einer allgemeinen Ablehnung, nicht nur seitens der Lehrkräfte, sondern auch seitens der gesamten Gesellschaft.

Unsere Forderungen beziehen sich auf 12 Punkte, aber die oben genannten sind mitunter die wichtigsten.

Es gibt aktuell auch starke Mobilisierungen von den Studierenden und den Bergleuten von Chuquicamata, eine der größten Kupfertagebauten der Welt, die ebenfalls seit dem 14. Juni im Streik sind. Wie verbinden sich diese Kräfte?

Als Mitglieder von Nuestra Clase betonen wir in den Versammlungen der Lehrkräfte die Bedeutung, sich anderen Sektoren anzuschließen, die von dieser Regierung durch ihre Reformen und Projekte angegriffen werden. Deshalb haben sich unseren Protesten auch Arbeiter der Fließbandproduktionfirmen angeschlossen, die seit mehr als drei Wochen im Streik sind. Auch Student*innen der Pädagogik der Universität Antofagasta sowie die Bergleute von Chuquicamata haben sich angeschlossen. Mit einer Gruppe von Lehrkräften, Studierenden und Arbeiter*innen sind wir hoch nach Calama zur Versammlung der Bergleute gegangen und haben ihnen die Notwendigkeit aufgezeigt, die Kämpfe aller Arbeiter*innen, Studierenden und Lehrkräften zu vereinen. So haben wir am Montag, den 24. Juni, Straßensperren in drei Teilen von Antofagasta und Calama koordiniert, eine Aktion, die es bisher zwischen verschiedenen Sektoren nicht gegeben hat.

Wir sind uns bewusst, wie wichtig es ist, unsere Kämpfe zu vereinen und ein einziges Bündel von Forderungen zu stellen, um dieser rechten Regierung begegnen zu können, die mit allen Bereichen des Kampfes sehr unnachgiebig und repressiv umgeht.

# Interview und Übersetzung aus dem Spanischem: Eleonora Roldán Mendívil

# Titelbild: Lehrer*innen, Studierende und Arbeiter einer Fließbandproduktionsfirma besuchen die Versammlung streikender Bergleute von Chuquicamata am Mittwoch, den 19.6., Eleonora Roldán Mendívil

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Interview mit Fridolin vom antikapitalistischen Block bei der zentralen „Fridays-For-Future“-Demo am 21. Juni in Aachen

Die Schüler*innenbewegung „Fridays For Future“ hat in den vergangenen Monaten weltweit Bekanntheit erlangt. Alles begann mit der damals 15-jährigen Greta Thunberg, die beschloss, jeden Freitag die Schule zu bestreiken, um ihren Widerstand gegen die Zerstörung unserer Umwelt auszudrücken. Schneller als man ahnen konnte, wurde aus diesem Streik eine Bewegung; „Fridays For Future“ war geboren. Hunderttausende Schülerinnen und Schüler auf der ganzen Welt begannen, auf die Straße zu gehen – für ihre und unsere Zukunft und gegen die Zurichtung dieser Welt.

Immer wieder wird versucht, solche Proteste zu befrieden und zu entradikalisieren. Eine der Besonderheiten an der Initiatorin Greta Thunberg ist, dass sie sich beharrlich gegen diese Befriedungs- und Vereinnahmungsversuche wehrt, indem sie zum Beispiel mit einer bewundernswerten Geduld die meist dümmlichen und diffamierenden Fragen von Journalist_innen immer wieder auf ihre zentralen Forderungen umlenkt: Wir brauchen eine radikale Veränderung; wir brauchen sie jetzt und so schnell und umfassend wie möglich. Und wenn sie nicht innerhalb des Bestehenden umsetzbar ist, dann schaffen wir das Bestehende eben ab und machen es neu.

Wichtig ist jedoch: „Fridays For Future“ hat zwar mit Greta Thunberg angefangen, aber sie ist weder ‘Führerin’ noch alleinige Repräsentantin all der jungen Menschen, die sich Woche für Woche lautstark für ihre Zukunft einsetzen. Genauso wenig sind es allerdings die meist selbsternannten Sprecher_innen der Bewegung; diese Bewegung ist genauso divers wie die Menschen, die sie tragen.

So kommt es immer wieder zu Auseinandersetzungen, wenn es um die Protestformen und die Radikalität der Forderungen geht. Ein solcher Kampf wird auch in Aachen ausgetragen; hier sind Teile der örtlichen „Fridays-For-Future“-Gruppe mit linksradikalen Strukturen gut vernetzt und formulieren eine antikapitalistische Perspektive.

Am 21.06.2019 findet eine internationale Großdemonstration von Fridays For Future genau dort statt, Zehntausende Teilnehmer_innen werden erwartet. Wir haben uns mit Fridolin, einem Genossen unterhalten, der an der Vorbereitung des antikapitalistischen Blocks beteiligt ist.

Bevor wir zu der Demo kommen, lass uns einen allgemeinen Blick auf „Fridays For Future“ und Ökologie aus linksradikaler Perspektive werfen. Wie schätzt du die Bewegung ein?

Als ich die Proteste das erste Mal mitbekommen habe, war ich begeistert. So etwas habe ich in der rasanten Entwicklung noch nicht gesehen; dass vor allem junge Menschen sich so sehr für das Leben in dieser Gesellschaft interessieren und Probleme erkennen und benennen – und nicht ausschließlich konsumieren, was ja den Jugendlichen oft vorgeworfen wird. Das, was die Generationen davor jahrzehntelang verkackt haben, kommt jetzt von 16-jährigen auf den Tisch, und das find‘ ich super.

Findest du, dass linskradikale Kräfte sich dabei genug und richtig einbringen?

Teils, teils. Ich glaube, dass schon viele Leute in linksradikalen Kreisen die Proteste befürworten – aber auch, dass viele da zu hochnäsig rangehen, in der typisch deutsch-linken Art meinen, dass man selbst alles viel besser macht. Die Toleranzschwelle für Widersprüche und Dinge, die nicht hundertprozentig in die eigene Agenda passen, ist da sehr gering. Statt sich den Debatten zu stellen, wird lieber ganz geschwiegen. Auf der anderen Seite gibt es aber auch viele Leute, die das unterstützen und auch zu den Demos gehen, und das hat auch schon sehr viel gefruchtet. Ich habe selten bei vermeintlich bürgerlichen Protesten so viele Aufnäher mit irgendwelchen Antifa-Emblemen oder ähnlichem gesehen wie bei „Fridays For Future“ in Aachen. So oder so sollte aber in der linksradikalen Bewegung das Ganze noch ernster genommen werden.

Was hat denn Antikapitalismus überhaupt mit Ökologie zu tun?

Sehr viel. Wenn man sich die Wirtschaft anguckt, also was und wofür produziert wird, wird man feststellen, dass viele dieser Produkte eigentlich völlig überflüssig sind und nur produziert werden, um vermeintlichen Luxus zu schaffen und Profite zu maximieren. Die Wirtschaft ist nicht bedürfnisorientiert. Es gibt viel zu viele Autos, viel zu viele Handys, viel zu viel Essen, das schlecht verteilt wird.

Und man kann sich ja anschauen, wie rasant die CO2-Emissionen steigen, was eben mit Überproduktion, mit schlechter Landwirtschaft und einem vermeintlichen Luxusangebot für Menschen insbesondere in Nordeuropa zu tun hat. Derartiges Wachstum funktioniert aber eben nicht auf einem Planeten mit begrenzten Ressourcen. Klimawandel und Ungleichverteilung sind zwingend mit Kapitalismus verbunden. Und die Abschaffung des Kapitalismus ist die einzige Möglichkeit, den Klimawandel zwar nicht mehr zu stoppen – weil das wahrscheinlich gar nicht mehr geht -, aber wenigstens einzudämmen.

Wie schätzt du das linksradikale und antikapitalistische Potential der Bewegung? Wie ist die Stimmung auf den Demos?

Ich treffe viele Leute, die sich über „Fridays For Future“ politisieren. Die eben nicht dabei stehenbleiben, zu sagen, Klimawandel sei böse und andere Probleme dann ausklammern – sondern Aspekte wie Ausbeutung, Diskriminierung und dergleichen mitdenken. Die Schlussfolgerung, dass der Kapitalismus das Problem ist, ist vielleicht noch nicht bei allen angekommen. Aber in Anbetracht der kurzen Zeit, in der es die Bewegung gibt, wird sich das mit Sicherheit noch verbreitern. Das Spannende an dem Thema ist ja: Es geht alle etwas an, und wir brauchen einen radikalen Wandel, um diesen Planeten nicht innerhalb kürzester Zeit unbewohnbar zu machen. Das sagen nicht nur wir, sondern sehr viele Expert*innen.

Gleichzeitig gibt’s aber natürlich diese typischen ‚Grünen‘; die immer noch meinen, dass mit der richtigen Stimmabgabe der Kapitalismus schöner gemacht werden könnte. Die sind aber meiner Wahrnehmung nach in der Unterzahl.

Trotzdem sind ja gerade die reformistischen Stimmen relativ laut, vor allem in der bürgerlichen Presse – die, die sich distanzieren von radikaleren Protestformen und antikapitalistischer Positionierung. Was sagst du zu diesen Distanzierungen?

Ich glaube, eines der Probleme von „Fridays For Future“ sind diese vermeintlichen Führungspersonen, die sich in die Öffentlichkeit drängen. Das hat man natürlich weniger von Leuten, die antihierarchisch geprägt sind, als von eher bürgerlichen Leuten, die ihre Meinung überall herausposaunen wollen. Distanzierungen gibt’s ja bei vielen Protestbewegungen nach einer Weile. Aber es ist so, dass FFF auch teilweise dazu aufruft, sich beispielsweise bei „Ende Gelände“ zu beteiligen, um verschiedene Aktionsformen zu vereinen.

In Aachen gibt es jetzt auch Versuche von Staat und Polizei, „Ende Gelände“ zu kriminalisieren. Es wurden Flyer an Schulen geschickt mit der Info, dass man sich doch bloß nicht an deren Aktionen beteiligen dürfe, weil die – Zitat – „gewaltbereit“ seien. Ich denke aber, dass diese Kriminalisierungsversuche nicht sonderlich weit führen werden, und ich kann mir gut vorstellen, dass es klappen wird, verschiedene Protestformen zu vereinen. Hoffe ich zumindest.

Wie würdest du die gesamtgesellschaftliche Perspektive von „Fridays For Future“ einschätzen?

Ich denke, dass FFF das Potential hat, wirklich in die Gesellschaft hineinzuwirken. Was es ja auch schon tut; Klimawandel ist Top-Thema überall im Moment. Ich vergleiche das manchmal mit dem Rechtsruck, den wir die letzten Jahre hatten; die Klimabewegung als progressive Antwort von jungen Menschen, die nicht damit einverstanden sind, wie seit Jahrzehnten regiert wird. Und ich denke, dass das durchaus die Perspektive bietet, für solidarische Werte und eine solidarische Gesellschaft zu werben. Und auch ältere Generationen zu überzeugen, dass es im Moment einfach scheiße läuft und der Kapitalismus ein rasendes Monster ist, das sich von selbst natürlich nicht abschaffen wird oder abbremsen lässt.

Die Stadt Aachen fällt ja immer mal wieder auf durch Umwelt- und Ökologiethemen; Überall hängen Tihange-Plakate, und der Hambacher Forst befindet sich auch in unmittelbarer Nähe. Eine gute Ausgangslage für die Großdemonstration?

Ich glaube, dass in Aachen ein besonderes Bewusstsein entstanden ist durch die kaputten AKW in Belgien, Tihange und Doel, die bei einer Explosion die Stadt auch direkt betreffen werden – und natürlich auch durch den Hambacher Forst. Jede*r in Aachen weiß, was der Hambacher Forst ist. Und „Fridays For Future“ ist hier auch ein großes Thema; Aachen hat die größten FFF-Demos in ganz NRW – gehabt, zumindest, bis Köln uns dann überholt hat.

Dann kommen wir mal zu dem antikapitalistischen Block. Wer hat das angestoßen? Warum gibt es diesen Block?

Bei den Freitagsdemos haben wir in den letzten zwei Monaten mehrfach einen eigenen kleinen Block gemacht, also dazu aufgerufen, mit eigenen Transpis, Schildern, Fahnen was auch immer, dahin zu kommen und das Thema gesamtgesellschaftlich-kritisch zu betrachten. Als wir dann gehört haben, dass es diese internationale Demo geben wird, war klar, dass wir da eine antikapitalistische Position beziehen sollten. Wir haben auch sehr schnell sehr viel Zuspruch bekommen. Die Aachener „Fridays For Future“ Gruppe selber trägt ja auch im Vergleich zu vielen anderen Städten deutlich progressivere Inhalte mit, hat zum Beispiel ein eigenes Transpi mit klaren antikapitalistischen Positionen.

Wir finden „Fridays For Future“ an sich schon super, aber oft fehlt eben einfach noch ein bisschen; nämlich die Systemanalyse, wo die wirklichen Ursachen liegen, warum die Leute überhaupt auf die Straße müssen.

Auch wenn bei euch lokal diese Vernetzung funktioniert, wird es ja bei der Gesamtstruktur „Fridays For Future“ um diesen Block doch Diskussionen geben …

Natürlich gibt es innere und auch öffentliche Debatten. Ich denke, dass es nicht wenig Leute gibt, die sich eine etwas radikalere Form der Proteste und der Forderungen wünschen, und sich in den Ortsgruppen selber einbringen und dafür werben, gegen den Kapitalismus vorzugehen. Zu den Auseinandersetzungen bezüglich dieses Blocks: Was ich sagen kann ist, dass es durchaus Kritik daran gibt und teilweise offene Ablehnung. Das ist aber auf jeden Fall nicht die Mehrheit. Die radikaleren Kräfte wachsen stetig, und ich denke, dass die Leute, die zum Beispiel Mitglied bei den Grünen sind, nach und nach verstehen werden, dass auch die Grünen das Problem nicht lösen werden, weil sie sich eben an die Profitlogik des Marktes halten.

#Informationen zum antikapitalistischen Block: https://antikap2106.noblogs.org/

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Santiago de Chile. Seit Wochen gibt es Proteste an den Universitäten in Chile. Eines der Hauptanliegen der Streikenden ist die kritische Lage der mentalen Gesundheit der Student*innen.

Es ist Streikzeit an den Unis in Chile. Wie oft in den letzten Jahren rief die chilenische Student*innenkonförderation (Confech) am 25. April zum ersten nationalen Streik für die Universitäten in diesem Semester auf. „Wir mobiliseren uns für uns, unsere Familien und ganz Chile, gegen die Verschuldung und für eine Bildung ohne Sexismus, für Finanzierung, Demokratie, Wissensorientierung, Wissenszugang, dem Allgemeinwohl der Student*innen und für Integration!“

Was mit einem Streik begann, entwickelte sich in den letzten Wochen zu einer größeren Protestbewegung auf nationaler Ebene. Vom Norden Chiles, La Serena über Santiago de Chile, Valdivia bis nach Puerto Montt, organisieren sich Universitäten in ganz Chile. Bei allen Bemühungen der Organisator*innen fehlt es an Struktur, Planung und einheitlichen Forderungen. Der Streik scheint nicht in Bewegung zu kommen.

Teure Bildung

Die Streikenden fordern unter anderem mehr Geld zur Förderung von Student*innen. Studieren in Chile ist teuer. An öffentlichen Unis kostet ein Semester bis zu 8.000€ – und das bei einem Mindestloh von umgerechnet 385,90€ pro Monat. In der Konsequenz bedeutet das, dass es sich nur die Oberschicht leisten kann ihre Kinder ohne staatliche Förderprogramme auf die Universität zu schicken. Die Ursprünge dieses neoliberalen Bildungssystems liegen in der 17 Jahre andauernden Militärdiktatur Augusto Pinochets von 1973 bis 1990. In dieser Zeit wurden in Chile Universitäten privatisiert und Studieren zu einem Business gemacht. Über die Jahre hinweg konnte jede Person mit genügend Geld eine Universität ins Leben rufen. Eine der Folgen ist, dass Studiengänge unverhältnismäßig lang dauern. Ein Bachelor dauert im Normalfall zehn Semester, die alle bares Geld für die Betreiber*innen der Universitäten sind.

Die Confech rief den Hashtag #miDeudavale (meine Schulden zählen) ins Leben unter dem Student*innen ein Foto von sich und einem Schild posten, auf dem die Zahl ihrer Schulden steht. Durch diese Aktion soll in Sozialen Netzwerken gezeigt werden, wie sehr Student*innen auf staatliche Hilfe angewiesen sind, die sich bisher in Zuschüssen für Studiengebühren, Miete, Essen und Transport äußerte. Nun sollen diese Gelder für diejenigen gestrichen werden, die die Regelstudienzeit überschreiten. Mehr als 27.000 Student*innen sind davon betroffen. Ihre einzige Möglichkeit das Studium zu beenden, ist es Kredite aufzunehmen, mit denen sie sich hoch verschulden. Die konservative Regierung von Präsident Sebastián Piñera, der gleichzeitig einer der reichsten Chilenen ist, hatte sein Amt Anfang 2018 mit dem Versprechen angetreten, den „kostenlosen Zugang“ zu Bildung auszuweiten. Von diesem Versprechen ist allerdings wenig übrig geblieben.

Mentale Gesundheit an chilenischen Universitäten

Doch die Probleme für die Studierenden gehen über Finanzprobleme hinaus. Mitte April wies als eine der Ersten die Fakultät für Architektur der staatlichen Universidad de Chile auf ein weiteres nationales Problem hin: Die mentale Gesundheit der Student*innen. Laut veröffentlichten Studien über die psychische Gesundheit in Chile befinden sich 44 Prozent der Student*innen in psychologischer Behandlung. 46 Prozent gaben an, depressive Symptome und Angstzustände zu haben. Darüber hinaus leiden 54 Prozent unter Stress, 67 Prozent unter Schlaflosigkeit und 5,1 Prozent haben über Selbstmord nachgedacht. Der lange Weg zum Abschluss eines Studienganges,Überforderung und Leistungsdruck während des Semesters werden als Gründe für den psychologischen Stress angegeben.

Vielleicht ist auch das einer der Gründe, warum sich bisher nicht viele Student*innen am Streik beteiligten. Zu groß könnte die Angst sein, das Semester in wenigen Wochen aufholen zu müssen. Die Universitäten schließen sich nicht zu einem gemeinsamen Streik, es bleibt an einigen Fakultäten hängen, die nicht die Kapazitäten besitzen alleine strukturell etwas zu ändern. Stress und Überforderung sind vorprogrammiert. So wurde aufgrund mehrerer Aufforderungen von Student*innen verschiedener Fakultäten der Streik für beendet geklärt, damit das Semester nicht verlängert wird. Am 8. Mai rief die Confech erneut zu einer nationalen Demonstration für die psychische Gesundheit auf. Akademische Überlastung solle nicht mehr normalisiert werden.

Die Forderung der Studierenden reichen allerdings weiter als reine Bildungsthemen. Die Demo am 8. Mai richtete sich auch gegen die Transpazifische Partnerschaft – kurz TPP-11. Das transnationale, geplante Freihandelsabkommen zwischen elf Ländern im pazifischen Raum, einschließlich Chile, sieht vor, Zölle abzuschaffen und freien Wettbewerb in den Ländern zu ermöglichen. Auf Kritik stößt TPP, da es die Demokratie gefährde und die Rechte indigener Völker, Umweltschutzmaßnahmen und die Freiheit des Internets negativ beeinflusse. Das geplante Freihandelsabkommen schaffe neuen Kolonialismus, privatisiere natürliche Ressourcen und wirke sich negativ auf Arbeits- und Menschenrechte in Chile aus.

Fehlende Mobilisierung und uneindeutige Ziele

Doch wie sinnvoll ist ein Streik, wenn die Mehrzahl der Student*innen aus Angst vor folgender Überforderung und aufzuholender Arbeit gar nicht teilnehmen möchte?

Einige Student*innen kritisieren, der Streik sei zu unorganisiert. „Im gleichen Dokument mit den Forderungen, die bei der Demonstrationsanmeldung der Regierung vorgelegt werden, stehen die Stärkung der Rechte der Indigenen direkt unter der Bekämpfung mentaler Gesundheitsprobleme“, erzählt eine Studentin der humanwissenschaftlichen Fakultät. „Es gibt keine Organisierung. So werden wir nie etwas erreichen. Viel eher sollten einige wenige Punkte intensiver ausgearbeitet werden.“

Tatsächlich scheint jede Woche ein neues Thema zu dem Streik hinzuzukommen. Ursprüngliche Streikforderungen werden ausgeklammert oder nicht mehr beachtet. Um wirklich einige der Forderungen umzusetzen, müssten die Student*innen sich solidarisieren und an wenigen Punkten dafür intensiver arbeiten. Essentielle Forderungen werden sonst unter vielen untergehen. Was bisher fehlte waren auch direkte Vorschläge, wie die Situation verbessert werden soll. Mit konkreten Vorstellungen könnte sich ein Gespräch mit der Regierung etablieren.

Ende Mai entschlossen sich neue Fakultäten zum Streik, so zum Beispiel auch die Fakultät für Philosophie, Geschichte und Sozialwissenschaften der Universidad de Chile. Ein neuer Beweggrund auf der Liste: die Regierung will das Schulfach Geschichte in der Oberstufe nur noch als Wahlfach anbieten und nicht mehr obligatorisch im Lehrplan haben, genauso wie die Fächer Kunst und Sport. Insbesondere der Versuch das Fach Geschichte aus dem festen Lehrplan zu streichen kann als Versuch gewertet werden, die Erinnerung an die blutige Militärdiktatur verblassen zu lassen. In der Vergangenheit gab es bereits Versuche in Schulbüchern die Vokabel „Militärdiktatur“ durch „Militärregierung“ zu ersetzen. Auch so ist die Schaffung eines neuen Geschichtsbild teilweise erfolgreich. Das zeigte zuletzt eine Studie, der zufolge 57% der Achtklässler*innen es befürworten würden, erneut in einer Diktatur zu leben.

Und so geht der Streik recht unentschlossen vor sich hin. Einige Fakultäten steigen in den Streik ein, andere beenden ihn nach mehreren Wochen. Doch richtig aktiv werden die Student*innen nicht. Zu wenig Menschen setzen sich innerhalb der Universitäten für die Forderungen der Confech ein, zu wenig stimmen überhaupt einem Streik zu. Nur eine Minderheit geht entschlossen zur Wahlurne, um für oder gegen einen Streik zu wählen. Es werden kaum Demonstrationen organisiert und auch zu den politischen Versammlungen erscheinen wenige. „Was wirklich fehlt, ist eine größere Effektivtität in den Versammlungen. Nie kamen wir zu einem Ergebnis und deshalb fingen die Menschen an, Interesse zu verlieren“, so Brian Arredondo, Journalismus-Student des 5. Semester.

Mehr Druck auf die Regierung“

Nach wochenlangen Versuchen einen nationalen Streik zu etablieren und Bewegung in die konservativ gedachten Universitäten zu bringen, bleiben nur enttäuschte, erschöpfte Student*innen. Diejenigen, die sich am Streik beteiligten, werden den verlorenen Unterrichtsstoff in den verbleibenden sechs Wochen des Semesters aufholen müssen. Mentale Gesundheit ist gefährdeter denn je. Die Suizidrate an Universitäten in Chile ist gestiegen.

Dabei können groß angelegte Unistreiks durchaus funktionieren. Bei den durch Feminist*innen organisierten Protesten im letzten Jahr beispielsweise besetzten Streikende die Universitäten, landesweit organisierten sie Demonstrationen an denen mehrere Tausend Menschen regelmäßig teilnahmen und öffentlich wurden mehrere Vergewaltiger angeklagt. Durch diverse, organisierte Aktionen im öffentlichen Raum wurde die Einrichtung von Gleichstellungsbüros in den Universitäten erreicht. In den sechs Wochen setzten sich Streikende für eine Bildung ohne Sexismus ein. Eine Aktivistin, die an den Protesten des letzten Jahres teilnahm, meint, um die Aufmerksamkeit der Regierung zu erhalten, brauche der diesjährige Streik mehr Zusammenhalt, politische Effizienz und öffentliche Protestaktionen. Wichtige Probleme gehen durch eine fehlende Organisation und Teilnahmelosigkeit von Seiten der Universitäten unter. Zwar gab es bisher keine Reaktion der Regierung auf die Proteste aber der Öffentlichkeit wird immer klarer, dass es ein Problem an den Universitäten Gibt. Die mentale Gesundheit der Student*innen muss auf nationaler Ebene von den Behörden ernstgenommen werden. „Es sollte mehr Druck auf die Regierung ausgeübt werden, damit sie wirklich etwas ändern“, meint Arredondo. „Ich denke nicht, dass von der Regierung noch von der Universitätsgemeinschaft die Problematiken ausreichend verstanden wurden. Wir sind Menschen und möchten auch so behandelt werden!“

# Jule Pauline Damaske ist in Berlin geboren und studiert Europäische Medienwissenschaften an der Universität Potsdam. Nach einem Semester an der Universidad Nacional de Colombia in Bogotá, studiert sie jetzt Journalismus an der Universidad de Chile in Santiago de Chile.

# Titelbild: Frente Fotográfico Auch Schüler*innen demonstrieren. „Wenn es keine Bildung für mein Volk gibt, wird es keinen Frieden für die Regierung geben“

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Wenn Elfjährige auf öffentlichen Plätzen selbst gebastelte Pappschilder mit der Aufschrift „System change, not climate change!“ hoch halten, schrillen bei den Mächtigen die Alarmglocken. Der plötzliche Aufstieg der Schülerbewegung Fridays for Future (FFF) hat die Bourgeoisie offenbar aufgeschreckt. Hektisch wird an Strategien gebastelt, die Bewegung so zu kanalisieren, dass die jungen Leuten nicht anfangen, nach den tieferen Ursachen der Klimakrise zu forschen. Mit dabei der Verfassungsschutz.

Dass FFF ausgebremst werden soll, lässt sich nicht übersehen. Zu erfolgreich ist die Bewegung. Und auch wenn sie in weiten Teilen noch eher grün dominiert und damit systemkonform erscheint, so trägt sie doch ein für die Herrschenden nicht ungefährliches Potential in sich. Hunderttausende Jugendliche, die frühzeitig anpolitisiert werden und sich vielleicht irgendwann fragen, ob es der Kapitalismus ist, der das Klima zerstört – das kann das System nicht gebrauchen.

So wird das erprobte Arsenal bürgerlicher Manipulationstechniken aufgeboten. Das reicht von vergiftetem Lob zum Zwecke der Eingemeindung über altväterliches Genörgel an den „Schulschwänzern“ bis zu Spaltungsversuchen. Wie man Spaltung in die Bewegung trägt, führte das Hamburger Landesamt für Verfassungsschutz Mitte April vor. Mit einem länglichen Text auf seiner Homepage, der Einblicke in das kranke Denken der Schlappenhüte erlaubt.

Schon die Überschrift ist an Dämlichkeit schwer zu übertreffen: „Gewaltorientierte Linksextremisten setzen strategisch auf populäre Themen – Wie die Interventionistische Linke demokratische Initiativen instrumentalisieren will“. Der in pseudowissenschaftlichem Tonfall vorgetragene Text behauptet, die IL Hamburg versuche „im Rahmen ihrer Entgrenzungsstrategie“, Protestbewegungen zu „vereinnahmen und zu steuern“.

Mit dem Wort „Entgrenzung“ glaubt der Geheimdienst offenbar so etwas wie den Stein der Weisen gefunden zu haben. Mit diesem Begriff, so belehren uns die Hüter der Verfassung, sei die „gezielte strategische und taktische Besetzung gesellschaftlich breit diskutierter oder akzeptierter Themen“ gemeint. Dies diene dazu, „verfassungsfeindliche Positionen“ in den gesellschaftlichen Diskurs einzubringen und Anhänger zu gewinnen.

Und genau mit dieser Strategie, deliriert das LfV, versuche die IL Hamburg die Klimaproteste der Schüler zu instrumentalisieren. Als ein Beleg wird ein Vorfall vom 15. März erwähnt. Da hätten „von der IL beeinflusste Organisationen“ versucht, sich mit einer Zubringerdemo an die Schülerproteste „anzuhängen“ und hätten sich „eine eindeutige Absage“ eingehandelt. Tatsächlich hatte es damals im Anschluss an die FFF-Demo eine zweite Demo (Motto: „Klima-Revolution ins Rollen bringen“) gegeben, von der sich FFF Hamburg bedauerlicherweise auf Facebook distanzierte. Schwamm drüber.

Das mit der „Entgrenzung“ ist ganz offenbar eine fixe Idee von Torsten Voß, dem Chef des Hamburg Verfassungsschutzes. Jedenfalls legt das ein langes Porträt im Hamburger Abendblatt nahe, eine peinliche Lobhudelei, die interessanterweise kurz nach dem Vorstoß der Schlapphüte auf ihrer eigenen Homepage erschien. Voß wird in dem Beitrag als „bundesweit anerkannt, sehr gut vernetzt, loyal seinem Dienstherrn gegenüber“ bejubelt. Der gelernte Polizist sei „Geheimfavorit“ für das Amt des Chefs des Bundesamtes nach dem Rücktritt von Hans-Georg Maaßen gewesen.

Nach unerträglichem Geschwafel über die Karriere des Herrn Voß und den schweren Dienst seiner rund 200 Angestellten im LfV, kommt der Text am Ende zum Kern der Botschaft. „Die aktuell größte Bedrohung für die freiheitliche Demokratie ist die ,Entgrenzung‘“, wird Voß da zitiert. Der Begriff sei „eines seiner Lieblingswörter“. Er spreche davon, „wenn sich die Grenzen zwischen berechtigtem politischen Protest und Gewalt vermengen, wenn Extremisten mehrheitsfähige Themen besetzen und missbrauchen“. Natürlich wird auch das Beispiel der Hamburger IL noch mal herangezogen, die versuche sich bei FFF „anzudocken“.

Dieses Gerede von der „Entgrenzung“ und der Gefährlichkeit „linksextremistischer“ Gruppen ist schon deshalb grotesk, weil es von einem hochrangiger Funktionär ausgerechnet der Organisation kommt, die so freiheitlich-demokratische Nachbarschaftsvereine wie den NSU gesponsert hat. Der Vorstoß des Herrn Voß belegt vor allem eines: Die Herrschenden haben Fracksausen, dass immer mehr junge Leute auf die Idee kommen, dass Ökologie und Kapitalismus ungefähr so gut zusammen gehen wie Verfassungsschutz und Demokratie. Dass der Kapitalismus die historisch einzige Wirtschaftsform ist, die es tatsächlich geschafft hat, unseren Planeten an den Rande einer Klimakatastrophe zu führen.

Linke Organisationen „vereinnahmen“ also nicht etwa die Klimaproteste, da das Thema ja ein originär linkes ist. Wenn die Klimaproteste eine antikapitalistische Richtung einschlagen, ist das nur folgerichtig und konsequent. Und schließlich hier noch ein Denkanstoß für CDU-Mitglied Voß und Konsorten: Was ist Politik bitteschön denn anderes, als immer wieder zu versuchen, Themen zu besetzen und Menschen für die eigene Überzeugung zu gewinnen?

Titelbild: RubyImages/B. Niehaus

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