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Am 22. November traten Sarah (FFF Frankfurt/Main) und Carlos (FFF Berlin) in einen befristeten Hungerstreik, der am 29. November zu Ende ging. Im Rahmen ihrer Aktion stellten die beiden Aktivist*innen drei Hauptforderungen an die Bundesregierung: Die Rücknahme des Klimapakets und Umsetzung der Forderungen von Fridays For Future (inklusive der Forderungen an der Basis); ein politisches Streikrecht für alle; und die offene Verurteilung des Krieges der Türkei in Rojava und der Aufstandsbekämpfung in Chile, sowie eine umfassende Einstellung sämtlicher Rüstungsexporte in die Türkei.

Für Lower Class Magazine werten die beiden Young-Struggle- und FFF-Aktivist*innen nun ihre Aktion aus und formulieren Überlegungen, wie es mit der Bewegung weiter gehen kann.

Wie kamen wir dahin, wo wir sind?

Vergangenen Freitag, am 13.12., war das einjährige Jubiläum von Fridays For Future Deutschland. Seit einem Jahr nun wird in zahlreichen Städten Deutschlands ununterbrochen jede Woche von Jugendlichen für einen Wandel in der Klimapolitik gestreikt; am größten Streiktag in unserer Geschichte, dem 20. September, sind wir in Deutschland mit 1,4 Millionen Menschen gemeinsam auf der Straße gewesen. Innerhalb dieses einen Jahres hat sich eine Bewegung von einer Größe entwickelt, wie sie Deutschland seit Jahren nicht gesehen hat – und die international noch in einem viel riesigeren Zusammenhang steht; eine Bewegung von Jugendlichen, denen das Recht und die Fähigkeit, politisch zu sein und mitzubestimmen, immer abgesprochen wird – genau wir „unreifen“ Jugendlichen haben eine Kraft geschaffen, die die politische Elite sprachlos und verwirrt zurücklässt wie ein Kind, dessen Playmobil-Figuren plötzlich wirklich lebendig werden und nicht mehr schweigend da sitzen bleiben, wo es sie hingesetzt hat.

Ein Jahr Streik und nichts passiert

Obwohl Aktivist*innen von Fridays For Future mit etlichen Politiker*innen geredet und alle betont haben, wie toll sie es doch finden, dass wir Jugendlichen so politisch werden, sind faktisch keine politischen Veränderungen geliefert worden.

Es war ein Schlag ins Gesicht von uns allen, als am Tag des bisher größten Klimastreiks am 20. September die Ergebnisse des Klimapakets veröffentlicht wurden: Die beschlossenen Maßnahmen sind allenfalls Tropfen auf den heißen Stein und die Erkenntnis, dass die bürgerliche Politik sich unbeeindruckt zeigt nach einem Jahr des Protests, hat sich in den Reihen unserer Bewegung breit gemacht. Mit dieser Erkenntnis ging jedoch an vielen Orten auch eine Desillusionierung, eine Frustration einher. Immer mehr Diskussionen gingen in eine Richtung von Perspektivlosigkeit; das Gefühl, machtlos zu sein gegenüber einer Politik, die die Klimakrise weiterhin bereitwillig in Kauf nimmt.

Neben dieser Kopf-in-den-Sand-Stimmung nahm jedoch auch eine Diskussion um Strategien der Klimagerechtigkeitsbewegung an Fahrt auf. Und genauso wie sich am 13.12. der Geburtstag von Fridays For Future Deutschland jährte, war es auch der Tag, an dem Köln und Berlin die letzte wöchentliche Demo gemacht haben. Denn in praktisch allen Städten sehen wir, dass nach einem Jahr der ununterbrochenen Streiks die Teilnehmer*innenzahlen immer niedriger werden.

Der Hungerstreik als Aktionsform

Hungerstreiks haben immer, noch mehr als viele andere Aktionen, Ziele in zwei Richtungen: du zielst nicht nur auf deine*n Unterdrücker*in, sondern besonders auch auf die eigene Bewegung. Wenn wir zum Beispiel den Hungerstreik von Leyla Güven in Nordkurdistan betrachten, dann sehen wir, dass der wichtigste Erfolg der Hungerstreikphase nicht die Aufhebung der Isolation war, sondern das Aufbrechen der Angst und die neue Mobilisierung der Bewegung.

In dieser Phase aufkommender Frustration, aber auch strategischen Diskussionen in Fridays For Future hatten wir mit dem Hungerstreik das Ziel, die Frustration zu bekämpfen und die Diskussion voranzubringen. Wir wollten erreichen, dass die Aktivist*innen sich noch einmal neu hinterfragen: haben wir wirklich schon alles in unserer Macht Stehende getan, indem wir Freitags die Schule bestreikt haben? Sind Appelle an die bürgerliche Politik wirklich die richtige Herangehensweise an die Lösung der Klimakrise, welche bis jetzt von ebenjener Politik nicht nur geduldet, sondern mit Hilfe von Subventionen von fossilen Brennträgern und vielen anderen Mitteln weiterhin aktiv gefördert wird?

Mit dieser Perspektive haben wir die Aktion zeitlich befristet. Wir wollten die Frage, wohin wir wollen und was dafür nötig ist, noch einmal mit neuem Nachdruck in unsere Bewegung hineintragen und der Strategiedebatte eine neue Dringlichkeit und Ernsthaftigkeit geben. Wir sind der Überzeugung, dass bei dieser Debatte noch einmal klarer werden wird, dass ein ökologischer Kapitalismus unmöglich ist und dass wir die nötige Wende nicht durch wöchentliche Latschdemos erkämpfen werden. Wir sind der Überzeugung, dass wir in der Zeit nach dem 29. November einen Schritt weiter gehen werden, in der Theorie wie in der Praxis – denn davon hängen das Überleben und besonders der Erfolg unserer Bewegung ab. Wir wollten klarmachen: gerade haben wir, durch einen Hungerstreik, einen der letzten Schritte der Symbolpolitik erreicht. Ab jetzt werden wir gänzlich neue Schritte wagen müssen, wenn wir erkennen müssen, dass Symbole – egal, ob es Millionen Menschen auf den Straßen oder Jugendliche mit leerem Magen sind – ignoriert werden.

Kämpfe vereinen!

Eine der strategischen Aufgaben von Fridays For Future und auch von der gesamten Klimagerechtigkeitsbewegung ist die Verbindung von unterschiedlichen Kämpfen. Das Bewusstsein, dass unsere Feind*innen, aber auch unsere Ziele – ein solidarisches Leben ohne Unterdrückung als Teil eines funktionierenden Ökosystems – dieselben sind, verbreitet sich immer weiter. Unsere Bewegung hat in der letzten Zeit auch bedeutende Schritte hin zu einem gemeinsamen Kampf gemacht: dabei wären vor allem die Bündnisse im Vorfeld des 20. Septembers zu nennen, insbesondere mit den Gewerkschaften, genauso aber auch die internationalistischen Arbeiten, die sich in Fridays For Future am stärksten mit der Solidaritätserklärung für Rojava und dem #fridaysforpeace-Aktionstag gezeigt haben.

Bei der Vereinigung verschiedener Kämpfe und Bewegungen geht es bei weitem nicht nur darum, noch mehr Menschen für die gemeinsame Sache auf die Straße zu bringen. Die Beschäftigung mit Rojava, die vielen Jugendlichen bei FFF zum ersten Mal eine revolutionäre Perspektive eröffnet hat, ist ein Beispiel dafür, was wir alles von anderen Bewegungen lernen können und was für einen gigantischen politischen Wert das Zusammenkommen hat.

Der Schulterschluss mit Arbeiter*innen und Bewegungen von unterdrückten Gruppen wie Migrant*innen, FLINT, etc., ist eine entscheidende Herausforderung der Klimagerechtigkeitsbewegung, um eine revolutionäre, antikapitalistische Perspektive wirklich in Praxis zu verwandeln. Diese strategische Aufgabe haben wir in der zweiten und dritten Forderung des Hungerstreiks sowie in den Solidaritätsnachrichten nach Chile, Bolivien und Rojava konkretisiert.

Generalstreik und ziviler Ungehorsam

Seit einem Jahr führen wir, bewusst oder unbewusst, einen Kampf für das politische Streikrecht, indem wir es uns in den Schulen praktisch nehmen. Der 20. September hat den Generalstreik nach Jahren der Stille wieder auf die Tagesordnung gebracht. Mit der Klimagerechtigkeitsbewegung gemeinsam mit den organisierten Arbeiter*innen das politische Streikrecht zu erkämpfen, wäre ein unglaublicher Erfolg und eine weitere Eskalationsstufe, die nicht unterschätzt werden kann.

Wenn wir das jedoch wirklich schaffen wollen, müssen wir noch viele Engstirnigkeiten und rückschrittliche Tendenzen in unserer Bewegung überwinden: Wir müssen wegkommen von einem antisozialen Begriff von Klimaschutz, der eine neoliberale CO2-Steuer als Lösung für alles sieht, während die Arbeiter*innen in Frankreich mit der Gelbwestenbewegung im Kampf gegen genau solche Maßnahmen – mit jeder Berechtigung – das ganze Land auseinander nehmen. An Stelle der Gewerkschaftschef*innen müssen wir viel mehr in mühseliger Basisarbeit mit den Gewerkschaftsmitgliedern und Arbeiter*innen ins Gespräch kommen. Wichtig ist aber auch, uns über die Gegenseite klar zu werden: Wir müssen alles daran geben, um uns durchzusetzen gegen Integrationsversuche von Gruppen wie „Entrepreneurs For Future“, die vor dem 20. September Rechtsgutachten machen und betonen, dass es doch viel sinnvoller wäre, auf Unternehmen, die ihren Angestellten freistellen als auf einen wirklichen Streik zu setzen.

Wir dürfen jedoch nicht auf den Irrweg tappen, Generalstreik und Revolution zu verwechseln. Ein Streik, an dessen Ende alle mit ruhigem Gewissen nach Hause und am nächsten Tag wieder auf die Arbeit und in die Schule gehen, hält sich in engen Grenzen. Nach einem Jahr des Streiks setzt sich an immer mehr Orten die Erkenntnis durch, dass das Aktionsrepertoire auf irgendeine Weise, die die Widersprüche stärker zuspitzt, ausgebaut werden muss.

„Ende Gelände“ führt unsere Bewegung langsam zu einem militanteren Bewusstsein und zu der Erkenntnis, dass das Fortlaufen des zerstörerischen Systems in unseren Händen liegt. Wir dürfen dabei jedoch niemals vergessen, dass ziviler Ungehorsam zwar an vielen Stellen seine Berechtigung haben mag, aber auf lange Sicht keinen ausreichenden Aktionsrahmen für eine Bewegung, die sich revolutionär nennen möchte, bietet. Wir als Klimagerechtigkeitsbewegung, als unterdrückte Jugend, wie alle anderen Unterdrückten und Ausgebeuteten, können uns einer breiten Palette an militanten Aktionsformen bedienen, die auch heute in Deutschland schon praktisch machbar und politisch legitim sind. Es liegt an uns, alle verschiedenen Mittel, die unserer Bewegung zur Verfügung stehen, auf eine revolutionäre Weise zusammenzubringen.

Es stehen viele Aufgaben vor uns. Viele Herausforderungen und viele Möglichkeiten. Ein Jahr Fridays For Future hat unsere Gesellschaft nachhaltig verändert – ob wir sie auch wirklich revolutionieren werden, wird sich in Zukunft zeigen.

#Titelbild, Quelle: https://www.fridaysforfutureffm.de/

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Im Norden und Osten Syriens hat sich in den vergangenen Jahren ein basisdemokratisches, sozialistisches Rätesystem etabliert. Die kurdische, arabische, christliche und assyrische Bevölkerung erkämpfte sich ein Zusammenleben auf demokratischen Prinzipien, Gleichberechtigung der Frauen und kooperativer Wirtschaft. Doch die Türkei, zusammen mit islamistischen Terrorgruppen bedroht dieses Zusammenleben. Felix Anton hat den Prozess im Norden Syriens lange begleitet. Derzeit lebt und arbeitet er in Til Temer. Wir haben mit ihm gesprochen und ihm Leser* innenfragen gestellt.

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Am 1. November 2019, rund drei Wochen nach dem Beginn der türkischen Invasion in Nordsyrien, war der kurdische Politiker Gharib Hassou in Dresden zu Gast. Hassou ist Co-Vorsitzender von TEV-DEM (Tevgera Civaka Demokratîk, Bewegung für eine demokratische Gesellschaft in Nordsyrien) und ehemaliger PYD-Außenvertreter im Autonomiegebiet der Kurdischen Regional Regierung im Nordirak. Das folgende Interview führten Sven Wegner, Wissam Abu Fakher und Ricaletto nach einer Diskussionsveranstaltung in der Evangelischen Hochschule.

Die Türkei greift zusammen mit dschihadistischen Milizen den Norden Syriens an. Welche realistischen Persepktiven hat Rojava bzw. die Demokratische Föderation Nord- und Ostsyrien in dieser Situation?

Vor dem jetzigen Einmarsch gab es Stabilität und alle Teile der Gesellschaft haben zusammengelebt auf der Grundlage der Völkerverständigung. Rojava war im Vergleich zu den Gebieten Assads und denen der syrischen Oppositionellen, die der Türkei nahestehen, viel besser. Sowohl von den Bedingungen dort als auch von dem was die Menschen für ihr tägliches Leben haben und alles Mögliche mehr. Das Ziel der Operation gegen Rojava und genauer gegen Serê Kaniyê (Raʾs al-ʿAin) und Girê Spî‎ (Tall Abyad) ist es, diese Stabilität zu zerstören.

Der Wille der Menschen vor Ort soll gebrochen werden. Nach dem Einmarsches erlebten wir einen wirklichen Kriegszustand und wir sehen, dass auf uns ein Vernichtungskrieg zukommt. Die Türkei verübt zahlreiche Kriegsverbrechen. Zuletzt benutzten sie sogar Phosphorbomben und die sind eigentlich verboten.

Die Kämpferinnen und Kämpfer der YPG, YPJ und der SDF leisten einen großartigen Widerstand in den Gebieten, aber der türkische Staat macht keinen Unterschied und bombardiert einfach alles. Die internationale Gemeinschaft beobachtet das, aber handelt nicht. Außerdem sind alle internationalen Kräfte, also Russland, die USA, der Iran, die sich in den Syrienkrieg eingemischt haben, auch in diesem Gebiet.

Meine Frage war aber eine andere. Es ging mir um die Perspektiven, die Rojava jetzt noch hat. Da komme ich auf Fragen wie: Wie ist Ihre Sichtweise auf eine mögliche Zusammenarbeit mit dem syrischen Regime, also mit Bashar al-Assad oder Russland? Ist man nicht gezwungen mit diesen Kräften zusammenzuarbeiten? Welche Positionen haben sie dazu?

Wir sehen den Demokratischen Konföderalismus als einzige Lösung für alle aktuellen Probleme in Syrien. Wir sehen die Zukunft Syriens nur in einer demokratischen Föderation, wenn es denn überhaupt eine Zukunft für Syrien gibt. Wir werden ganz einfach kämpfen, um das System und diese Idee und Philosophie zu beschützen und den Terror zu bekämpfen. Wenn unser Modell vernichtet wird, dann wird auch der Wille der kurdischen Bevölkerung vernichtet, denn Erdogan will die Gebiete auch ethnisch verändern. Das gleiche hat er auch mit dem Nordirak vor.

Also steht eine Zusammenarbeit mit Bashar al-Assad gar nicht auf dem Programm?

Wir haben es ja seit langem versucht, diplomatische Kanäle mit Damaskus zu öffnen, um Gespräche zu vereinbaren und Meinungen auszutauschen. Aber sie haben unsere Anfragen immer abgelehnt und sich dem Dialog verweigert. Es gab Konferenzen in Bozanê (Ain Issa), in Kobanê (Ain al-Arab) und in verschiedenen Gebieten, aber das Regime Assads akzeptiert keinen Dialog. Zuletzt gab es eine Vereinbarung zwischen den SDF und dem Regime darüber, dass Truppen an die Grenze entsendet werden und nicht um Gebiete der SDF zu übernehmen. Diese Vereinbarung wurde durch Russland vermittelt und auch wir wollten dem Regime die Aufgabe geben, die Grenze zu schützen, damit wir nicht allein diese Aufgabe übernehmen müssen. Aber genau hier sieht man auch, dass das Regime gar keine Kraft mehr hat und nichts mehr übernehmen kann. Es gibt keine Hoffnung, dass das Regime die Grenze sichert. Die Soldaten wurden mit Tiertransportern transportiert. Wir wissen natürlich auch, dass es bereits eine Vereinbarung zwischen dem Regime und Erdogan gibt. Und das gegen den Willen der syrischen Bevölkerung. Wir wollten dem Regime die Aufgabe des Grenzschutzes übergeben, doch es hat sich der Verantwortung entzogen.

Es besteht die Gefahr, dass ihr nun zwischen zwei Fronten zerquetscht werdet. Auf der einen Seite das Regime und Russland – gut das Regime hat kaum noch Kapazitäten, aber Russland hat eine Luftstreitmacht – und auf der anderen Seite die Türkei und ihre dschihadistischen Milizen. Es besteht also durchaus die Gefahr, dass ihr aufgerieben werdet und die Zivilbevölkerung darunter leidet, wenn man sagt: „Kämpfen, kämpfen, kämpfen!“

Wenn das Regime seine Verantwortung übernehmen würde, dann würde es eine Flugverbotszone errichten. Russland hätte auch diese Aufgabe erfüllen können. Beide haben dies aber nicht gemacht, mit der Absicht das unsere Stützpunkte und Gebiete von der Türkei bombardiert werden. Also werden wir nun kämpfen, denn es ist unser Traum und unser Land. Dieser Krieg ist bereits ein großer Krieg. Wem sollen wir die Gebiete und das Land überlassen? Erdogan und den Dschihadisten aus al-Raqqa, al-Baghuz, Tabqa und Minbic (Manbidsch), die die auch Efrîn (Afrin) und Idlib geraubt haben und die jetzt unser Land rauben wollen? Wir werden das Land nicht dem Besatzerstaat Türkei und nicht den Dschihadisten überlassen. Wir werden es nicht zulassen, dass die Türkei uns besetzt und ausraubt.

Mit dem Blick auf die Flugverbotszone: Welche Rolle kann die EU spielen? Welche Rolle muss die NATO spielen? Was wären konkrete, realistische Schritte, um diesen Krieg einzudämmen? Wie ist die Meinung von TEV-DEM dazu?

Wir haben überall Ausschüsse in Washington, Moskau, der EU und in arabischen Ländern zu dem Thema und wir haben darüber bereits die notwendigen Schritte an die entsprechenden Länder übermittelt. Der erste Schritt wäre eine Flugverbotszone in Nord- und Ostsyrien, damit die türkischen Luftangriffe aufhören. Zweitens sollten UN-Truppen in die Grenzregion gebracht werden und die können die Aufgabe übernehmen, den Krieg auf dem Boden einzudämmen. Die Entscheidungen der UN sind wichtig und wir heißen UN-Truppen willkommen, aber es gibt bisher keine Fortschritte oder Entscheidungen in diese Richtung. Auch die USA haben gesagt, dass sie wirtschaftliche Sanktionen gegen die Türkei durchsetzen würde, wenn sie gewisse Linien überschreitet. Doch wo liegen diese Linien überhaupt? Bislang ist alles Theorie, aber wir hoffen, dass es in die Praxis umgesetzt wird. Die Europäer haben Angst wegen der DAESH-Gefangenen in unseren Gefängnissen und Camps, besonders wenn die Türkei diese befreit. Dann wird es eine große Katastrophe geben.

Gibt es noch diplomatische Beziehungen oder Kanäle zur Türkei?

Wir haben der Türkei mehrmals angeboten, dass wir in einen Dialog treten und darüber verhandeln, wie wir die Grenze sichern können und welchen Mechanismus wir dafür finden könnten. Die Türkei hat das bislang verweigert. Wenn sie dazu bereit wären, heißen wir das sehr willkommen und es könnte als Plattform für weitere Verhandlungen in der Zukunft dienen. Es wäre ein Vorteil für uns mit ihnen zu verhandeln, denn die gesamte nördliche Grenze ist eine Grenze mit der Türkei.

Was passiert momentan mit den DAESH-Gefangenen? Wie ist Ihre politische Haltung zu diesem Thema?

Die SDF sagen, sie haben keine Kapazitäten mehr, die Gefangenen zu kontrollieren, weil sie die Grenze schützen müssen. Ein paar DAESH-Gefangene sind bereits geflohen und kämpfen jetzt auf der Seite der Dschihadisten mit der Türkei zusammen.

Merkt ihr in Rojava, dass hier in Europa tausende Menschen auf die Straße gehen, demonstrieren, blockieren, besetzen und viele Aktionen in Solidarität mit Rojava machen?

Ja, wir haben es gesehen und mitbekommen, dass die Kurden im Exil und deren Freunde Aktionen machen. Und das freut uns natürlich.

Wir haben bereits darüber gesprochen, was Sie von der EU und von Staatsregierungen erwarten. Wie verhält es sich mit der Zivilgesellschaft in Europa? Was erwarten Sie von ihr?

Man kann Regierungen nicht vertrauen und wir vertrauen nur der Gesellschaft. Wenn wir von Gesellschaft reden, dann meinen wir die Gewerkschaften, Vereine und andere zivilgesellschaftliche Organisationen.

“Man kann Regierungen nicht vertrauen” – Gharib Hassou im Interview mit lcm; Zeichnung: Ricaletto

Der größte Beitrag, den die Zivilgesellschaft zum Widerstand in Rojava leisten kann, ist, Druck auf die Regierungen aufzubauen. Es gibt so viele Videos und Beweise wie die dschihadistischen Kämpfer Leichname schänden, „Allah u Akhbar“ rufen, als hätten sie gegen das Regime gewonnen oder die „Ungläubigen“ komplett zerstört. Da kann die Zivilgesellschaft helfen, diese Beweise und Videos zu sammeln und zu verbreiten, damit die Welt besser Bescheid weiß, gegen wen wir kämpfen.

Sie haben gesagt, dass man das Modell Rojava bekannter machen soll und wir hatten ja schon 2017 im Irak über den Aufbau von Räten gesprochen und auch darüber, ob Parteien überhaupt notwendig sind und ob sie sich nicht einfach auflösen sollten. Aber nun ist in Rojava ja Krieg und man scheint zu merken, dass die Entscheidungen nicht durch Räte getroffen werden. Räte brauchen lange, sie müssen diskutieren. Müssen die SDF nicht eigenständige Entscheidungen treffen, weil sie unter militärischem Zugzwang stehen? Ist Krieg nicht das komplette Gegenteil von Rätedemokratie bzw. Gift für diese?

Die Türkei versucht den Aufbau unserer Demokratie zu zerstören. Wir haben sieben demokratische Verwaltungen und 35 arabische, aramäische, assyrische und kurdische Parteien und diese tauschen sich aus und diskutieren untereinander und sie liefern ihre Meinungen und Perspektiven an den Regierungsrat in Nord- und Ostsyrien. Dieser Regierungsrat entscheidet dann für die SDF. Auch jetzt, in Kriegszeiten, ist es zwar schwierig, aber die Entscheidungen trifft immer noch der Regierungsrat und dieser Rat bekommt die Entscheidungen von der lokalen demokratischen Verwaltung.

Also auch durch die Räte?

Jede demokratische Verwaltung untersteht den Räten und so kommen die Entscheidungen von unten nach oben zu Stande.

Kritiker sagen aber es gibt diese Räte gar nicht wirklich. Das seien alles Illusionen und es steht die Frage im Raum, ob es wirklich sein kann, dass Räte unter Kriegsbedingungen im 21. Jahrhundert existieren?

Als die Türkei mit ihrem Angriff begonnen hat, hat sich die SDF-Führung mit dem Assad-Regime auf Hmeimim, einem russischen Militärflugplatz, getroffen, weil die Verwaltung, die Räte und die Parteien sich getroffen haben und alle dafür gestimmt haben, mit Assad zu kooperieren. Das war eine Entscheidung der Basis und deswegen musste die SDF-Führung sich dort mit dem Regime treffen. Ich will nicht, dass wir missverstanden werden. Wir wollten nicht mit Assad kooperieren. Seit drei Jahren haben wir versucht, einen Dialog mit ihm einzugehen. Nach dem türkischen Angriff waren wir gezwungen, zu Assad zu gehen und er hat es akzeptiert, aber wir sehen nun, dass er nicht in der Lage ist die Grenze zu schützen.

Wie bei der Besetzung von Efrîn?

Genau.

Es gibt immer wieder Berichte über Zwangsrekrutierungen und die Kritik an der Einführung der Wehrpflicht in Rojava. Es gibt Berichte von jungen Männern, die sich in Qamişlo (Qamischli) oder Kobanê verstecken müssen, um nicht von den Asayîş (Sicherheitskräfte der kurdischen Selbstverwaltung) verhaftet und zwangsrekrutiert zu werden. Wenn ich Bilder aus Rojava sehe, dann sehe ich ältere Frauen und ältere Männer, vielleicht noch ein paar junge Frauen, aber ich sehe kaum junge Männer, da diese fast alle zum Militärdienst müssen. Welche Positionen vertreten Sie zu Zwangsrekrutierung, Wehrpflicht und Militarisierung der Gesellschaft?

Wir wurden missverstanden. Wir sind seit sieben Jahren im Kriegszustand und seit sieben Jahren bekämpfen wir die Terroristen des Islamischen Staates. In der Zeit hat uns niemand für Rekrutierung und Militarisierung kritisiert. Nachdem wir jetzt aber mit Daesh militärisch fertig sind, wird die Aufmerksamkeit auf dieses Thema gelenkt. Al-Nusra erzieht zum Beispiel Kinder zu zukünftigen Terroristen. Bei uns geht es um das Recht auf Selbstverteidigung und wir haben das Recht zu wissen, wie wir uns selber verteidigen können und genau das wollen wir auch erreichen. Wir haben unsere demokratischen Institutionen aufgebaut und diese brauchen nun auch Schutz. Zum Beispiel tragen die Leute nachts in unseren Viertel Waffen, um das Viertel zu verteidigen. Die Menschen müssen einfach wissen, wie man damit umgeht. Ich glaube, dass diese Kritik dazu benutzt wird, den türkischen Angriff zu legitimieren.

# Interview: Sven Wegner Übersetzung: Wissam Abu Fakher Zeichnung: Ricaletto

#Bildquelle: ANF

# Sven Wegner und Ricaletto veröffentlichen Anfang 2020 ihr Buch „Başur“ (Verlag Ichi Ichi) über ihre Reise durch Süd-Kurdistan 2017. Das Buch vereint Interviews und Sachtexte mit Comic- und Portraizeichnungen.

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Am 02.11.2019, dem -World Resistance Day- kamen tagsüber mehr als 10.000 Menschen zusammen, um in Berlin gegen den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der Türkei auf Nordost-Syrien Widerstand zu leisten. Bei einer weiteren Demonstration am Abend, setzten rund 2.000 Menschen ein Zeichen gegen die Stadt der Reichen und den Erhalt von alternativen Wohn- und Kulturprojekten. Beide Demonstrationen bezogen sich klar auf Rojava und riefen zum Widerstand gegen Krieg und Faschismus.

#Titelbild: Po Ming Cheung

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Der 2. November ist World Resistance Day, der weltweite Tag des Widerstandes. In mehr als 16 Ländern werden insgesamt mehrere Hunderttausend Menschen in Solidarität mit der kurdischen Befreiungsbewegung und der Revolution in Rojava auf die Straße gehen. Das ist großartig. So wie der Widerstand gegen Unterdrückung und Ausbeutung großartig und schön ist. Und weil es um Widerstand und Rojava geht, will ich die Gelegenheit nutzen, um von ein paar zufällig ausgewählten Menschen zu erzählen, die ich in meiner Zeit dort kennenlernen durfte. Es sind keine berühmten Menschen. Ihre Namen und Gesichter kennt man nicht aus den Hochglanzmagazinen, den Zeitungen oder aus den Talkshows.

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Es sind Menschen wie Mussa Doschka, den ich Anfang 2017 im südkurdischen Suleymaniya traf. Ich war mit einer internationalistischen Gruppe auf dem Weg nach Rojava. Mussa wollte so gerne, aber konnte noch nicht rüber. Er hatte Arbeit zu tun, durfte nicht weg. Mussa sprach nur Kurdisch. Ich sprach noch kein Wort Kurdisch. Also mussten wir mit uns mit Händen und Gestiken verständigen.

Mussa mochte uns komische Ausländer sichtlich. Er kam immer an, drückte uns ganz fest. Dann zeigte er auf seinen Bauch und sagte: Doschka. Er zeigte auf mich und sagte: Tu jî Doschka. Doschkas, das sind die russischen DschK- Maschinengewehre, sehr schwer und mit viel Rückstoß, grauenhaft laut. Ich verstand: Mussa wollte sagen, wir zwei, er und ich, eignen uns wegen der Statur sehr gut zum Doschka-Schützen. Ein paar Tage blieben wir zusammen. Dann ging es für mich los, Mussa blieb. Und mit ihm sein Traum, hinter einer Doschka zu stehen, der er auch seinen Nachnamen verdankte. Zum Abschied schenkte er mir ein großes scharfes Klappmesser mit einer Gravur. Als bîranîn, Erinnerungsstück.

Als ich dann sieben Monate später, irgendwann am Ende des Sommers 2017 in Qamislo eine Freundin ins örtliche Krankenhaus fahren musste, hatte ich Mussa Doschka längst vergessen. Zu viele Dinge waren geschehen, zu viele Menschen hatten meinen Weg gekreuzt. Am Eingang zum Krankenhaus stand ein kräftiger junger Mann, starrte mich an und sein Mund verzog sich breit nach oben. Er lachte, so dass man alle Zähne sah. Ich begann schon reflexartig zu lachen und auf ihn zuzulaufen, bevor ich noch ganz begriffen hatte, wer das eigentlich ist. Es war Mussa. Er war Doschka-Schütze geworden, ganz wie er es sich gewünscht hatte. Und er hatte ein paar Schrapnells im Bauch, von Gefechten gegen den Islamischen Staat. Ich fragte ihn, wie es ihm gehe. Er sagte nur: tişt nabe, kein Ding, und lachte. Er wollte so schnell wie möglich wieder an die Front.

Ich konnte nur kurz mit Mussa reden, jetzt wo wir eine gemeinsame Sprache hatten. Er erzählte mir von seiner Verletzung und wie gut sie schon verheilt war. Ich erzählte ihm, was ich in der Zwischenzeit so getrieben hatte. Zehn Minuten, mehr hatten wir nicht. Aber obwohl wir vielleicht alles in allem drei, vier Tage miteinander zu tun hatten, war da eine große Verbundenheit. In der Revolution ist das eine der wunderbarsten Sachen: die Freundschaft entsteht oft ohne viele Worte. Ohne lange Debatten. Sie speist sich daraus, auf der selben Seite zu stehen. Man muss sich nicht viel erklären.

Das Messer von Mussa Doschka trat wie die meisten Erinnerungsstücke eine lange Reise an. Ich behielt es über meine gesamte Zeit in Rojava. Als ich nachhause fuhr, gab ich es meinem Genossen Paramaz, der es mit nach Afrin nahm. Und als er zurückkam, gab er es an einen anderen Genossen weiter. Und so hat es bis heute seinen Platz in der Revolution und manchmal überlege ich, wie witzig es wäre, wenn es irgendwann wieder bei Mussa Doschka landet.

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Im Sommer 2017 habe ich meine militärische Ausbildung im Jesdiengebiet Sengal bei einer Servanen Nû, einer Kriegsschule der Jesidischen Verteidigungseinheiten YBS gemacht. Zu irgendeiner Art Special-Forces-Soldat bin ich dabei nicht geworden, aber es war eine gute ideologische Schule und vor allem eine in der Kunst des Zusammenlebens in einer Revolution. Die Mischung unseres Lehrgangs war bunt. Zwei Deutsche – so sehr wir uns bemühten übermäßig privilegiert, weil in einem Land ohne Krieg und mit Schulen, mehr oder minder intakten Familien und der Sicherheit, nicht einfach auf der Straße erschossen zu werden, aufgewachsen. Und eine Handvoll jesidisch-kurdischer junger Männer aus feudalen Haushalten. Unser Kommandant, Sehid Mahir Sengali, hielt den Laden zusammen und brachte uns wirklich viel bei. In jeder Hinsicht war er wie ein großer Bruder für uns.

Einer der jesidischen Jugendlichen dort war Heval Renas. Gerade 18 Jahre alt, nie lesen oder schreiben gelernt, zuhause geprügelt worden, ohne eigentlichen Rückhalt in der Familie, bitter arm. Renas hatte völlig verlernt, sich selbst oder andere ernst zu nehmen, hatte keinerlei Ziele in diesem Leben. Er machte nur Blödsinn, sehr zum Ärgernis aller anderen. Er fuchtelte mit der Waffe, zeigte mit dem Lauf auf andere, redete andauernd wirres Zeug. Aber Mahir mochte ihn. Und wir anderen mochten ihn auch. Wenn er es uns auch schwer machte, weil er uns mehrmals beinahe aus Versehen umbrachte. Einmal, als er aus Unvorsichtigkeit unseren Wassertank mit dem dreckigen, öl- und metall- und gottweißwassonstverseuchten Wasser, das nur zum Waschen der Autos oder des Bodens taugte, angefüllt hatte und wir alle erst nach mehreren Gläsern bemerkten, dass doch nicht das normale Chlor so komisch schmeckt, wurde Renas zum Gegenstand einer Selbstkritik- und Kritiksitzung samt Strafe. Es war die schwerste Strafe, die in unserer Ausbildung vorkam: Zigarettenentzug, drei Tage. Renas war am Boden zerstört, er rauchte sehr gerne.

Aber er begann, sich Gedanken zu machen. Und Mahir gab ihn nie auf. Ich habe mich oft gefragt, wie unsere deutsche Linke wohl in der Lage wäre, Menschen wie Renas eine Perspektive zu geben. Die kurdische Bewegung jedenfalls konnte das. Renas wurde aufmerksamer, hörte gelegentlich auch mal bei den achtstündigen in 50 Grad Hitze abgehaltenen Schulungen zur Geschichte der Befreiungsbewegung zu.

Es ging bergauf mit ihm. Dennoch, als wir die Ausbildung abschlossen, hätte jeder gewettet, dass Renas den Weg vieler armer Jugendlicher geht: Schnell noch das Gewehr mitnehmen, um es zu verscherbeln und weg. Monate später, kurz vor unserer Rückreise nach Deutschland kamen wir zwei Deutschen wieder in den Sengal. Wir trafen natürlich unseren Kommandanten Mahir zu einem Anstandbesuch bei Tee und Sonnenblumenkernen. Und was war passiert: Zwei andere aus unserem Jahrgang waren abgehauen. Aber Renas stand auf seinem Posten und war jetzt zu einem der Verteidiger des Sengal geworden.

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Nach der militärischen Ausbildung ging ich zurück in zivile Arbeiten. Ich blieb zwei Monate in der Kommune in Rojava, bevor ich weiterzog nach Raqqa. Davor hatte ich eigentlich eine Heidenangst. Aber ich hatte viele Menschen getroffen, die mit so viel Mut und Entschlossenheit bei der Sache waren, dass ich mir selbst nicht mehr sagen konnte, es sei okay, nicht zu gehen. Sehr beeindruckt hatte mich zum Beispiel eine Internationalistinnen, die sich bei uns im Zentrum von ihren Verletzungen erholte.

Heval Dilan kam aus Kanada nach Rojava. Und sie arbeitete in der YPJ als Frontsanitäterin. Ein knochenharter Job. Ich kann mich noch an ein Gespräch mit einer anderen Genossin erinnern, die auch Frontsanitäterin war, bevor wir im Spätsommer nach Raqqa aufgebrochen sind. Sie wies uns notdürftig in erste lebenserhaltende Maßnahmen bei Schußwunden ein: „Wenn du Blut siehst, wenn einer einen Treffer hat, müsst ihr ihn von oben bis unten abtasten. Gebt euch nicht damit zufrieden, wenn ihr ein, zwei Löcher findet. Oft sind es mehrere. Und tastet wirklich alles ab, wir hatten oft große Löcher im Oberschenkel innen.“ Drei Stunden hörten wir uns die Fallbeispiele an: Menschen, denen der Kiefer fehlte, denen ein Stück Kieferknochen in der Luftröhre steckte; Bauchschüsse, bei denen Gedärme austreten; zur U-Form verkrüppelte Beine mit herausstehenden Knochen. Für die Frontsanitäterinnen war das Alltag.

Heval Dilan hatte genau diese Arbeit verrichtet. Und dann hatte sie einen schweren Autounfall. Als sie bei uns ankam, wirkte sie manchmal kaum ansprechbar. Dilan hatte eine schwere Gehirnerschütterung. Sie konnte kaum gehen, wenn sie aß, erbrach sie. Morgens sah sie aus wie aus einer Folge von walking dead. Ich dachte oft: Würde es mir so gehen, ich würde versuchen, so schnell wie möglich nachhause zu kommen. Doch Dilan dachte gar nicht daran. Sie wollten nach Raqqa, dann nach Deir ez-Zor. Am besten sofort. Und weil es so viele Menschen wie Dilan gab, wurde es auch für die ängstlicheren wie mich schwieriger, den eigenen Befindlichkeiten nachzugeben.

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Die drei – Mussa, Renas und Dilan – sind völlig zufällige Beispiele für den alltäglichen Heroismus der Revolution in Rojava. Geschichten wie die ihren sind Alltag in Rojava. Es ist eine Revolution, die nur deshalb solange bestehen konnte, weil tausende Menschen den Fortgang dieses Projekts über ihr eigenes Wohlergehen, über ihr persönliches Geschick stellten. Das aber ist letztlich die Bedeutung von Widerstand. Er hört nicht da auf, wo es unbequem zu werden droht. Er fängt dort erst an. Denn er speist sich aus der empfundenen Einsicht, dass ein Leben auf Knien kein Leben sein kann.

Die Revolution in Rojava und die kurdische Befreiungsbewegung haben vielen Menschen diese Einsicht wieder ins Gedächtnis gerufen. Und sie hat ihnen eine Heimat gegeben, die auf keinem Territorium, sondern in den eigenen Köpfen liegt. Wenn wir zum 2. November auf die Straßen gehen, um den World Resistance Day zu begehen, protestieren wir nicht nur gegen die Kriegsverbrechen und das vom Feind begangene Unrecht. Wir feiern auch die Schönheit dieses Widerstandes.

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Seit neun Tagen halten einige hundert sozialistische Freiwillige aus den kurdischen Selbst- und Frauenverteidigungseinheiten YPG/YPJ sowie Kämpfer*innen der Syrisch-Demokratischen Kräfte eine NATO-Armee davon ab, eine Kleinstadt einzunehmen. Serekaniye, arabisch Ras al-Ain, liegt auf syrischer Seite der türkischen Stadt Ceylanpinar gegenüber und ist schon neun Tage nach der Invasion türkischer Truppen und deren dschihadistischen Sammeltruppen SNA nur noch Geröll und Schutt.

Seit neun Tagen bombardieren Kampfjets aus der Luft, Artillerie aus der Ferne und Panzer aus dem Belagerungsring jedes einzelne Haus in der Stadt – Krankenhaus und Schulen eingeschlossen. Ein ziviler Konvoi, der zur Unterstützung der Kämpfer*innen in die Stadt gekommen war, wurde am 13. Oktober direkt angegriffen. Wie viele Menschen insgesamt in Serekaniye bislang von Erdogans Truppen ermordet wurden, ist schwer zu sagen. In das Hauptkrankenhaus in al-Hasakah werden aus Serekaniye Kinder mit schwersten Verbrennungen eingeliefert, verstümmelte Zivilist*innen, verletzte Kämpfer*innen in ihren letzten Zügen.

Serekeniye ist eine Hölle aus Feuer und Asche. Ein Ort, der traurig und wütend macht. Wie ist so etwas möglich? Wieso werden den schäbigen Interessen imperialistischer, mörderischer Kriegstreiber so viele Menschenleben geopfert? Wer auf Ras al-Ain nur aus diesem Blickwinkel sieht, muss verzweifeln.

Doch Serekaniye ist heute mehr als das. Es ist ein Symbol der Hoffnung – so abwegig das auf den ersten Blick auch erscheinen mag. Serekaniye ist, wie 2014 Kobane, ein klares Zeichen einer Bewegung, die keine Unterwerfung – wie widrig die Umstände auch sein mögen. Jede Nacht kommen die Bomber. Und jeden Morgen meldet sich Ersin Caksu für die kurdische Nachrichtenagentur ANF aus den Trümmerhaufen der Stadt, spricht mit den Verteidiger*innen. Sie wirken nicht traurig. Sie wirken nicht verzweifelt. Sie wirken wie Menschen, die wissen, wofür sie gerade kämpfen. Und denen es wichtiger ist, ein möglicherweise kurzes Leben in Würde als ein langes in Siechtum und Knechtschaft zu führen.

„Es geht nicht darum, zu leben oder nicht zu leben, sondern richtig zu leben. Selbst wenn uns das richtige Leben nicht gelingen sollte, das Wichtigste ist, sich niemals von dieser Suche abbringen zu lassen und Reisender auf diesem Weg zu sein“, schreibt Abdullah Öcalan, der inhaftierte Vordenker der kurdischen Befreiungsbewegung. Und er meint damit nicht die individuelle Suche nach einem immer neuen Modelifestyle, wie sie ein an Langeweile zugrunde gehendes liberales Kleinbürgertum betreibt. Er meint das kollektive Leben in einer Gesellschaft der Gleichen, die Rehevaltî, die Weggefährtenschaft im Kampf genauso wie das solidarische, demokratische Zusammenleben im Frieden.

Das, woran sich die NATO-Armee in Serekaniye seit neun Tagen die Zähne ausbeißt, ist diese Kollektivität. Es ist nicht der einzelne Soldat, gedrillt wie ein US-Marine. Es ist auch nicht die Technik, davon haben die Verteidiger*innen ja nicht allzu viel. Es ist die Freundschaft und Genossenschaft untereinander, die einen immer wieder durchhalten lässt, immer wieder weitermachen lässt. Klar, die Spezialkräfte von YPG und YPJ sind ausgezeichnete Kämpfer*innen. Aber was sie bestehen lässt, ist das Wissen um ein aus einer gemeinsamen Idee von Leben gespeisten Netz, das bei ihnen anfängt, sich über die Mütter, die ihr Brot backen, die Dorfbewohner*innen, die ihnen ihre Tür öffnen, die Reporter*innen, die bei ihnen bleiben, wenn die bomben einschlagen, die Ärzt*innen, die ihre Verwundeten zusammenflicken, bis zu den Genoss*innen in den irakischen Bergen, den türkischen Metropolen oder ins europäische und US-amerikanische Hinterland zieht.

Die kurdische Bewegung hat eine Geschichte geschrieben, die ihre eigenen Landmarken hat. Vom Gefängniswiderstand im Folterknast Diyarbakir in den 1980er-Jahren über die Verteidigung Kobanes gegen den Islamischen Staat zieht sich diese Erzählung bis in die winzig kleine Grenzstadt Serekaniye. Jeder Schuss, den die Verteidiger*innen Rojavas dort abgeben, ist ein Buchstabe in dem Buch, das diese Bewegung schreibt.

Und unabhängig davon, ob diese Stadt fallen wird oder sich hält, diese Buchstaben bleiben geschrieben. Die Frage ist, ob sie jemand lesen wird. Ob auch wir hier in Deutschland die Sprache verstehen lernen werden, in der sie verfasst sind.

Bild: YPJ – presse

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Am 9. Oktober begann, zunächst mit Luftschlägen und Artilleriebeschuss, der Angriff der türkischen Armee auf Rojava, Nordsyrien. Eine von mehreren zehntausend islamistischen Terroristen verschiedener Fraktionen begleitete, hochgerüstete NATO-Armee versucht seitdem, in die Städte an der türkisch-syrischen Grenze einzurücken. Die unter dem Label „Freie Syrische Armee“ vermarktete Dschihadisten-Streitmacht schließt nicht nur Kämpfer von Ahrar al-Sham oder dem früheren al-Qaida-Ableger Nusra-Front ein, sondern nachweislich auch Kombattanten des Islamischen Staates.

Trotz der technischen Überlegenheit der Invasionsarmee ist es den Syrisch-Demokratischen Kräften (SDF) zusammen mit lokalen Militärräten der kurdischen, arabischen und assyrischen Bevölkerung bisher gelungen, den Einmarsch an vielen Stellen zurückzudrängen. Ein schnelles Vorrücken ist der türkischen Armee unmöglich. Insbesondere die „Freie Syrische Armee“, aber auch reguläre türkische Truppen haben Verluste zu verzeichnen.

Die türkische Armee greift dabei immer stärker auf Mittel der Kriegsführung zurück, die international geächtet, teilweise verboten sind. Schon jetzt sind zahlreiche Kriegsverbrechen gut dohttps://twitter.com/glennbeck/status/1182093500218773504kumentiert und nachweisbar.

Beschuss von Wohngegenden

In mehreren Städten – insbesondere in Qamislo, Dörfern in der Umgebung von Derik sowie in Kobane – beschießt die türkische Armee gezielt zivile Wohngegenden, um die Bevölkerung zur Flucht zu zwingen. Die Angriffe in Qamislo führten zum Tod mehrerer Kinder sowie einer ganzen christlichen Familie. Auch die libanesische Journalistin Jenan Moussa, eine der wenigen ausländischen Reporter*innen vor Ort, dokumentiert die Auswirkungen der Angriffe.

Wie hoch die Zahl der getöteten Zivilist*innen ist, ist derzeit schwer festzustellen. Ein Arzt des Kurdischen Roten Halbmondes sprach am Freitag von 27 Toten und 30-35 verletzten Kindern – allerdings dürfte das nur einen Teil der Opfer widerspiegeln.

Die Muster der Angriffe zeigen ein klares Ziel: Vertreibung der Bevölkerung, um deren Unterstützung für die Verteidigungseinheiten zu brechen. Konservativen Schätzungen der Vereinten Nationen zufolge befanden sich am Freitag bereits 100 000 Menschen auf der Flucht.

Zerstörung ziviler Infrastruktur

Die türkische Armee zerstört zudem gezielt zivile Infrastruktur. Schulen wurden bombardiert, mehrfach wurde die Wasserversorgung zum Ziel der türkischen Armee. So berichten Augenzeugen aus Til Temir von der Unterbrechung ihrer Wasserversorgung. Am Freitag meldete SDF-Pressesprecher Mustafa Bali die weitgehende Zerstörung des Alouk-Staudammes, der die Wasserversorgung für 1,5 Millionen Menschen gewährleistet.

Misshandlung von Gefangenen

Mehrere Videos zeigen zudem die Misshandlung von Gefangenen durch die türkische Armee. Aus 2017 und 2018 geleakten Videos ist der Umgang mit Gefangenen durch die türkische Armee gut dokumentiert. Eines zeigt die Exekution gefangener Guerilla-Kämpferinnen, ein anderes, wie türkische Soldaten die Köpfe von (angeblichen) PKK-Kämpfern abschneiden und in die Kameras halten. Da die Türkei keinen Unterschied zwischen kurdischen Zivilist*innen und Guerilla macht, und zugleich offen islamistische Prediger sowie Politiker in der Türkei ihre Truppen zu maximaler Rücksichtslosigkeit aufrufen, sind massenhafte Folter sowie extralegale Erschießungen eine erwartbare Folge der Besetzung nordsyrischen Gebiets.

Kooperation mit dem Islamischen Staat

Die Zusammenarbeit mit den Terroristen des Islamischen Staates ist während des Vormarsches der Türkei immer deutlicher zutage getreten. Sie besteht nicht allein in dem Umstand, dass die Milizen, mit denen die Türkei kooperiert, sich ideologisch nicht vom IS unterscheiden – sondern weist Anzeichen einer direkten militärischen Kooperation mit IS-Schläferzellen in Syrien auf. Während die Armee Erdogans vom Norden angreift, fanden zahlreiche Attentate statt: Vor einem Gefängnis in Hassakeh explodierte eine Autobombe, in Qamislo ebenso. Die Türkei beschießt direkt Gefängnisse, in denen IS-Kämpfer festgehalten werden. Bei einer dieser Attacken gelang mehreren Terroristen die Flucht. Im berühmt-berüchtigten al-Hol-Camp, in dem 70 000 Dschihadisten und ihre Angehörigen festgehalten werden, kommt es zu Aufständen. Zufall sind diese Aktionen der Fünften Kolonne Erdogans nicht. Bereits in der Vergangenheit wurden Kontakte des türkischen Geheimdienstes MIT zum Islamischen Staat unzweifelhaft dokumentiert.

#Bildquelle: ANF (anfkurdi.com)

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Die ersten Demonstrationen gegen türkischen Einmarsch in Rojava, Nordsyrien, brachten bundesweit zehntausende Menschen auf die Straßen. In über 40 Städten wurde protestiert, die Veranstaltungen waren politisch breit aufgestellt – migrantische Gruppen, Kommunist*innen, Anarchist*innen, kurdische Verbände über Parteigrenzen hinweg -, und gemessen an deutschen Verhältnissen kann man die Stimmung als kämpferisch beschreiben.

Ein Erfolg also? Das kommt darauf an, wie es weitergeht. Wenn wir die Dynamik nutzen, um mehr und anderes als Demonstrationen zustande zu bekommen, ja. Wenn wir in eingespielte Muster zurückfallen, routiniert das Demo-Einmaleins abspulen, das wir kennen und können, dann nein.

Denn die gelernte und tausend Mal wiederholte Demo-Performance mag zwar ein wichtiger Teil des Gesamtkonzepts sein. Aber sie alleine reicht zu nichts. Sie übt keinen Druck aus. Und im schlimmsten Fall dient sie als eingehegte, kontrollierte Entladung von Wut: Man sieht das Unrecht, man will etwas tun, man geht auf die Demo – und hat danach das Gefühl, seinen Beitrag geleistet zu haben.

Aber das wird dem Anlass nicht gerecht. Während Jugendliche mit selbst zusammengeschraubten Motorrädern, auf denen Doschkas montiert sind, versuchen gegen Leopard-II-Panzer, Artillerie und eine NATO-Luftwaffe syrische Grenzstädte zu verteidigen; während über 70 Jahre alte Frauen, mit nichts als einer Kalaschnikow und einem Funkgerät in der Hand sich zehntausenden anrückenden Dschihadisten in den Weg stellen; und während Freiwillige in improvisierten Krankenhäusern um das Leben von Kindern, die ohne Beine, mit inneren Blutungen und Kopfverletzungen eingeliefert werden, kämpfen – während all das passiert, können wir uns nicht mit unserem Standard-Solidaritätsprogramm zufrieden geben, uns auf die Schultern klopfen, zurück in den Hörsaal, an den Arbeitsplatz oder in die Kneipe laufen und behaupten, wir waren ja auch dabei, beim großen Widerstand.

Wir müssen Druck aufbauen. Aber wie? In erster Linie müssen wir kreativer werden. In Bristol blockierten gestern vier aneinandergekettete Aktivist*innen mehrere Stunden lang den Waffenproduzenten BAE Bristol, auf dem Flughafen in Barcelona fand eine kleine Blockade gegen Turkish Airlines statt. Während des Afrin-Widerstandes haben sich Störungen von Bundespressekonferenzen als probates Mittel erwiesen, mit wenigen Genoss*innen und überschaubarem Repressionsdruck bundesweite und bis in die Türkei reichende Medienöffentlichkeit herzustellen.

Auch aus anderen Kontexten kennen wir wirksame Mittel, mehr Druck zu erzeugen, als mit dem Standard-Demoprogramm. Massendemonstrationen in Flughäfen, Ankett- oder Abseilaktionen an neuralgischen Punkten, Go-Ins bei Rüstungsfirmen oder in Parteibüros, Outings von Kriegsprofiteuren in ihrem privaten Umfeld – und vieles mehr.

Sicher, manche dieser Aktionen mögen den Repressionsbehörden missfallen. Wir werden es aushalten. Im Unterschied zu den Jugendlichen, Frauen und Männern Rojavas wird uns selbst bei der entschlossensten Blockadeaktion niemand eine Gliedmaße abtrennen, niemand wird uns durch die Brust schießen und niemand wird unsere Kinder verschleppen und auf Sklavenmärkten verkaufen. Wir verpassen eine Vorlesung, haben etwas Freizeit weniger und im schlimmsten Fall müssen wir Prozesse vor Gericht führen – so what?

Die Revolution in Rojava kämpft ums Überleben. Und selbst diejenigen, die mit dem politischen Aufbruch im Norden Syriens nichts anfangen können, sollten verstehen, dass es sich um einen imperialistischen Krieg handelt, in dem NATO-Staaten tausende Leben auslöschen werden.

Protest reicht hier nicht aus. Eine Aussicht auf diplomatische Vermeidung des mörderischen Feldzugs gibt es nicht mehr. Wir haben nicht viel an Organisation, Struktur und Logistik in diesem Land. Aber das, was wir haben, sollten wir jetzt in die Waagschale werfen. Ein Später gibt es nicht.

# Bildquelle: : @momozumkreis

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Das Weiße Haus hat dem NATO-Partner in Ankara grünes Licht für einen Einmarsch im Norden Syriens gegeben. Die Fraktionskämpfe innerhalb der US-Administration sind kompliziert, auch die Interessen Russlands und des Irans noch nicht klar. Wer jede für die Öffentlichkeit bestimmte Meldung für bare Münze nimmt, wird in einem Chaos der Desinformation hin und her geschleudert, weiß am Ende nicht mehr, wo oben und wo unten ist.

Doch eigentlich ist die Story nicht schwer zu verstehen: Wir haben ein faschistisches Regime in Ankara, das bei allen Friktionen mit den USA und Deutschland verbündet ist; dazu eine ungelöste „Kurdenfrage“ in der gesamten Region und den absoluten Willen der türkischen Regierung, jeden Ansatz von Selbstverwaltung der kurdischen Bevölkerung auszulöschen. Und auf der anderen Seite haben wir ein demokratisch-sozialistisches Projekt im Norden Syriens, das darum kämpft, sich gesellschaftlich weiter zu entwickeln und sich dabei militärisch wie diplomatisch verteidigen muss – durch unangenehme Bündnisse genauso wie mit zehntausenden bewaffneten Revolutionär*innen. Und zwar nicht erst jetzt, sondern seit es existiert. Und nicht nur gegen die Türkei, sondern gegen alle Global und Regional Player in Syrien sowie diverse dschihadistische Milizen.

Es prallen zwei Weltanschauungen aufeinander: die diversen kapitalistischen Nationen, die mit Gewalt den Mittleren Osten nach ihrem jeweiligen Interesse gestalten wollen; und die kurdische Bewegung, die auf dem Trümmerhaufen, den der Imperialismus in der Region hinterlassen hat, eine auf basisdemokratischer Selbstbestimmung aufbauendes Zusammenleben aller Völker und Religionsgemeinschaften erschaffen will, das ökologischen, geschlechtergerechten und sozialistischen Grundsätzen genügt.

Militärisch wird dieser Krieg nicht erst seit vorgestern ausgetragen. In Afrin hat er als andauernder Guerilla-Krieg gegen die Besatzer seit Januar 2018 nie geendet; im irakisch-türkischen Grenzgebiet sowie in den kurdischen Gebieten auf dem Territorium der Türkei läuft er seit Jahren auf hoher Intensität – und ohne jede Beachtung durch die internationale Öffentlichkeit.

Der nun – aller Wahrscheinlichkeit bevorstehende – Einmarsch der Türkei in die Gebiete der Demokratischen Konföderation Nord- und Ostsyriens hat dennoch eine neue Qualität. Er zielt auf die vollständige Zerschlagung der kurdischen Bewegung und ihrer Verbündeten in Syrien. Und er visiert ethnische Säuberungen in einem an die 1990er erinnernden Ausmaß an. Zudem ist er Teil des Projekts der Türkei, sich eine aus dschihadistischen Milizionären bestehende Proxy-Armee zu schaffen, die nach Bedarf in Nachbarstaaten einsetzbar ist.

Die Verteidigungsstrategie der zivilen wie militärischen Vertreter*innen der Demokratischen Konföderation ist divers. Bis zur völligen Unvermeidbarkeit des Krieges besteht sie in diplomatischen Schachspielen. So laufen derzeit Gespräche mit Damaskus, gleichzeitig wird darauf gesetzt, Widersprüche innerhalb der US-Regierung zu nutzen, nachdem sich zahlreiche Republikaner wie Demokraten – zumindest öffentlich – scharf gegen Trumps Deal mit Erdogan wandten.

Doch auch in Nordsyrien weiß man: Der Angriff der Türkei wird früher oder später, auf die ein oder andere Weise kommen, sollte nichts völlig Unvorhersagbares eintreten. Was aber dann? Leicht bewaffnete Menschen aus dem Volk gegen eine von den USA, Israel und Deutschland hochgerüsteten NATO-Staat? Ist das nicht von vornherein eine verlorene Schlacht? Und sollte man dann lieber nicht gleich die Waffen strecken?

Das zu glauben, die eigene Ohnmacht und Chancenlosigkeit zu zelebrieren, ist eine der herausragendsten Bemühungen jener Spezialkriegsführung, kurdisch: şerê taybet, die mit jeder Militäroperation einhergeht. Das Vertrauen der Unterdrückten in sich selbst, ein Subjekt von Geschichte zu sein, soll zerschlagen werden, bevor der erste Schuss gefallen ist. Regelmäßig werden hochrangige Kader*innen der kurdischen Bewegung für tot erklärt, nur um eine Woche später lächelnd auf Sterk TV aufzutauchen. Dr. Bahoz Erdal wurde türkischen Angaben zufolge bereits 11 Mal “liquidiert”, erfreut sich allerdings immer noch bester Gesundheit. Der angreifende Staat will sagen: Ihr könnt euch nicht wehren. Ihr seid klein. Gebt auf. Die kurdische Bewegung demonstriert seit 40 Jahren: Du bist selber klein. Ein tönerner Riese vielleicht, aber du kannst eine kämpfende Bevölkerung weder verstehen, noch schlagen.

Die Kraft aber, einen so verlustreichen Kampf zu führen, kommt aus der Überzeugung von einem politischen Ziel. Aus einer Ideologie, einer jener totgesagten Großen Erzählungen. Und der Krieg ist dementsprechend auch ein Krieg um die Köpfe. Und dieser şerê taybet kann viele Formen annehmen. Die offensichtlichen sind nicht schwer zu identifizieren: Abertausende nationalistischer Social-Media-Accounts schütten unter dem Hashtag #barispinarharekati – so der Operationsname des geplanten Einmarsches – Kurdenhass, Morddrohungen und Fake-News ins Internet. Im Wochentakt wird seit 40 Jahren wiederholt, man stehe Tage davor, die kurdische Bewegung endgültig und final zu besiegen.

Die nett gemeinte Variante dieses Spezialkriegs sind all jene fürsorglichen liberalen Beobachter*innen, die sich jetzt darin ergehen, „die Kurden“ als schwache, hilfsbedürftige Kinder zu inszenieren, denen unsere tollen Regierungen, sobald sie nur endlich ihre moralische Pflicht begreifen, rettend wie Superman zur Seite springen sollen.

Gerade für die liberalen Formen des şerê taybet sind auch wir Linke und Internationalist*innen sehr anfällig. Formen, die ob unserer Sozialisierung durch Liberalismus, Individualismus und Staatsgläubigkeit in unserer aller Köpfen vorkommen. Die wir reproduzieren, wenn wir schreiben. Und die wir uns abgewöhnen müssen, wenn wir als Revolutionär*innen und Internationalist*innen eine Rolle im Kampf um die Herzen und Gehirne spielen wollen.

Eine dieser Tendenzen ist, eine kämpfende, selbstbewusste, kräftige Bewegung zum bloßen Objekt zu degradieren. Zu armen Opfern, die wie Schafe von einem Global Player zum anderen durchgereicht werden. Hilf- und willenlose Gestalten, bedauernswert und traurig mitanzusehen. „We used the kurds and now we abandon them“, so eine trendige Formulierung dieses liberalen Mitleids aus den Vereinigten Staaten. Wir „verwendeten die Kurden“ – gemeint ist der Kampf gegen den Islamischen Staat -, jetzt geben wir sie auf. Die liberalen Meldungen, die die Revolution positiv wertend als nette „ground forces“ des US-Imperialismus inszenieren, sind da nur die Kehrseite der Russland-, Erdogan- und Assad-Fans, die sie als ebensolche „Proxies“ diffamieren. Dass da eine eigenständige Kraft ist, das können beide nicht begreifen.

Das Komplement dieser verbalen Herabsetzung einer revolutionären Bewegung zu einem vollständig von äußeren Mächten abhängigen Gegenstand ist das ständige appellieren an Staaten. Man bittet wahlweise die Bundesregierung, US-Senatoren, Außenminister, Regierungsparteien oder Regionalmächte jetzt doch endlich etwas moralisch richtiges zu tun – ganz als ob die nicht aus eigenen Interessen, sondern in ständiger Abwägung des sittlich Gebotenen handeln würden. Und man erfreut sich an jedem türkeikritischen Tweet – und komme er vom letzten reaktionären Schwein – als sei nun die Krise abgewendet.

Die Reaktion ist verständlich. Und sie ist erklärbar. Sie kommt aus einem Gefühl der Ohnmacht. Man sieht das Geschehen. Man will etwas tun. Aber es ist gar nicht so leicht herauszufinden, was man denn eigentlich Wirksames machen könnte. Gerade wir in Deutschland, organisiert in zutiefst zerrütteten Kleinstgruppen, haben es schwer, uns selbst etwas zuzutrauen. Wir leben in ständiger Angst. Und weil uns schon die kleinste Kleinigkeit das Schaudern lehrt, hoffen wir, jemand anders könnte jene Angelegenheiten regeln, die schmerzhaft und bedrückend sind.

Die Wahrheit jenseits aller diplomatischen Höflichkeitsbekundungen ist aber: In Kurdistan geht es längst um viel mehr als um das physische Überleben. Diejenigen, die die Revolution vorantreiben, wollen mehr als nur atmen, sich ernähren und gelegentlich tanzen. Es geht nicht um irgendein Existieren, sondern um ein Leben in Würde.

Die Mütter in Waffen, die schwören, ihr Leben bei der Verteidigung ihres Landes und ihrer Kinder zu geben, sind keine skurrile Propagandaklatsche. Die revolutionäre Kultur, nicht auf Knien leben zu wollen, ist wichtig für das, was Rojava ist. Sie ist es, die dafür sorgt, dass dieses Gebiet etwas anderes ist, als ein x-beliebiger von einer x-beliebigen Miliz besetzter öder Streifen Land. Es ist ein Aufbruch. Die Schönheit dieses Aufbruchs, bei all seinen Schwierigkeiten, liegt in der Unbeugsamkeit der Menschen in Nordsyrien. Als die Türkei im Januar 2018 in Afrin einfiel, fuhren zehntausende Zivilist*innen direkt in das Kriegsgebiet. Sie hatten wirklich das Bewusstsein, dass es ihr eigenes Land ist. Nicht das irgendeiner Bürokratie, irgendeiner Regierung. Ihres.

Wenn wir über die Revolution aufklären – und das wird in den kommenden Tagen unser aller Pflicht sein -, müssen wir genau das der bürgerlichen Berichterstattung – selbst jener, die oberflächlich betrachtet „freundlich“ ist – entgegenhalten. Denn: „Was der Feind will, ist unsere Entmenschlichung, die Niederlage“, schreibt Abdullah Öcalan in seinem Buch nasil yasamali, „Wie leben?“. Die Entmenschlichung aber hat viele Gesichter. Die verzerrten blutrünstigen Fratzen eines Erdogans oder Trumps sind nur die hässlichsten; aber die stets lächelnden, aalglatten Visagen aus diversen Think-Tanks und liberalen wie konservativen Kreisen gehören genauso dazu.

„Wir wissen, dass unsere Verbündeten keine Regierungen, Staaten und deren Armeen sind, sondern alle Frauen, die sich in allen Teilen der Welt erheben, um das Patriarchat zu stürzen. Unsere Verbündeten sind die Kräfte, die Tag für Tag eine andere Welt aufbauen und sich für ihre Verteidigung einsetzen“, schreibt die kurdische Frauenbewegung in Europa TJK-E in ihrem Aufruf zur aktuellen Mobilisierung.

Gemeint damit sind wir alle. Wir können uns davor nicht drücken. Und wir können es nicht delegieren. Und angesichts dessen, wie die Linke in diesem Land aufgestellt ist, sollten wir zumindest versuchen, über uns hinauszuwachsen, wenn der finale Angriff auf jenen Landstrich beginnt, den viele von uns in den vergangenen Jahren als Quelle der Hoffnung in düsteren Zeiten lieben gelernt haben. „Wenn Ihr keine großen Gefühle, großen Gedanken, großen Handlungen entwickelt, so werdet Ihr Gefangene des Feindes und zu seinen Instrumenten werden“, schreibt Öcalan. Wir sollten zumindest versuchen, diese Art der Gefangenschaft zu vermeiden. Auch wenn das nicht leicht oder bequem wird.

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Der lange angekündigte Krieg der Türkei gegen die selbstverwalteten Gebiete im Norden Syriens beginnt. Am Abend des 6. Oktober veröffentlichte die US-Administration eine Stellungnahme, in der sie den Rückzug ihrer militärischen Kräfte von der türkisch-syrischen Grenze bekannt gibt und den bevorstehenden Einmarsch ihres NATO-Partners ankündigt.

Seit Beginn des demokratischen Experimentes der Selbstverwaltung in der Gegend zwischen Afrin und Derik nach 2011 droht Recep Tayyip Erdogan mit dessen blutiger Zerschlagung. In zwei völkerrechtswidrigen Einmärschen – einmal im Herbst 2016 zwischen Jarablus und al-Bab; einmal in Afrin im Januar 2018 – annektierte die Türkei bereits syrisches Territorium, das sie bis heute besetzt hält. Doch um ihr erklärtes Ziel, die Zerschlagung aller kurdischen Milizen in der Region sowie die Vertreibung der kurdischen Zivilbevölkerung, zu erreichen, muss Ankara sich auch die verbleibenden Gebiete aneignen.

Geplante “Sicherheitszone” nach türkischem Angriff

Die für den Angriffskrieg nötigen Streitkräfte sind bereits seit geraumer Zeit an der Grenze zusammengezogen. Er könne noch „heute oder morgen“ vorrücken, verkündete Erdogan am vergangenen Samstag.

Das Militärbündnis SDF (Syrisch-Demokratische Kräfte) sowie die zivilen Institutionen der Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyrien versuchten in den vergangenen Monaten durch Zugeständnisse an die US-geführte Anti-IS-Koalition das Unvermeidliche noch hinauszuzögern. Die Überlegung war: Die USA werden die Errungenschaften im Kampf gegen den Islamischen Staat nicht den regionalen Annexionsbestrebungen Erdogans, des offenen Unterstützers aller dschihadistischen Gruppen in Syrien, opfern. Zudem kalkulierte man, dass die Widersprüche zwischen Ankara und Washington in der Region wie im internationalen Konflikt zwischen den USA und Russland groß genug seien, um mit ihnen zu spielen und durch kluge Diplomatie den Bestrebungen Erdogans einen Riegel vorzuschieben.

Die Rechnung ging einige Jahre lang auf. Aber die Strategie war immer ein Spiel auf Zeit. Es war immer zu erwarten, dass Trump an einem bestimmten Punkt nach dem Sieg über den IS die früheren kurdischen, arabischen, christlichen und assyrischen Partner dem Auslöschungswillen der Türkei übergeben würde. Das ist nun eingetreten.

Was wird jetzt passieren? Die Türkei wird einmarschieren. Wenn nicht heute, dann morgen, in einer Woche, in einem Monat. Sie wird mit deutschen Panzern einrücken, wie schon in Afrin. Es wird zu ethnischen Säuberungen kommen, Menschenrechtsverletzungen, zahllosen Toten. Die zehntausenden IS-Gefangenen, die sich in kurdischem Gewahrsam befinden, werden versuchen, sich zu reorganisieren. Die Region wird erneut destabilisiert.

Ob die regulären Truppen der SDF in der Lage sein werden, einen Vormarsch lange aufzuhalten, ist fraglich. Das Territorium ist gegen eine mit Luftwaffe ausgestattete Armee noch schwerer zu verteidigen als Afrin. Dennoch wird auch nach einer türkischen Besatzung keine Ruhe einkehren. Der Guerillakrieg gegen die Besatzer in Afrin dauert seit Monaten auf hohem Niveau an. Zudem führt die kurdische Guerilla HPG derzeit Aktionen im gesamten irakisch-türkischen Grenzgebiet sowie in der Türkei selbst durch. Mit dem Einmarsch wird der Krieg, den die Türkei gegen alle Kurden – auf eigenem, irakischem oder syrischem Gebiet – führt, ein neues Niveau erreichen.

Wie dieser Krieg ausgeht, ist völlig offen. Und die kurdischen sozialistischen Kräfte sowie ihre arabischen, türkischen und assyrischen Verbündeten stehen in ihm alleine. Die Türkei hat alle möglichen Deals durchgedrückt. Mit der NATO auf der einen, mit Russland und dem Iran auf der anderen Seite. Der diplomatische Spielraum scheint zumindest im Moment ausgeschöpft, der alte kurdische Spruch „Keine Freunde außer die Berge“ erweist sich ein weiteres Mal als angemessene Beschreibung der Wirklichkeit.

Mit einer Ausnahme: All jene internationalistischen Unterstützer*innen dieser Revolution müssen jetzt die Karten auf den Tisch legen. Wie viel sind wir in der Lage mit den geringen Kräften, die wir haben, dazu beizutragen, dass dieses Verbrechen nicht still und heimlich über die Bühne geht? Wie viel Druck können wir auf die deutsche Regierung ausüben, die Erdogan mit Waffen unterstützt und deren Gesandter, Innenminister Horst Seehofer, wohl bei einem Treffen mit seinem türkischen Amtskollegen vor zwei Tagen grünes Licht aus Berlin für Erdogans Ansiedlungsplan von hunderttausenden Geflüchteten im Norden Syriens gegeben hat – samt Milliardenhilfen aus der EU.

Es ist jedenfalls nicht an der Zeit, die Köpfe zu senken und zu verzweifeln. Liberale Hilferufe an die USA sind dafür genauso schädlich wie der resignierte Rückzug. Unsere Freund*innen vor Ort werden kämpfen. Viele von ihnen werden fallen. Wir als Internationalist*innen müssen lernen, das als Verpflichtung zu sehen. Wenn es eine Maxime der kurdischen Revolution gibt, die auch wir zu lernen haben, dann ist es, auf die eigenen Kräfte zu vertrauen – mögen sie auch noch so klein erscheinen.

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