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Eine Gruppe an den Ideen des kurdischen Revolutionärs Abdullah Öcalan orientierter Aktivst:innen hat ein Akademie-Projekt begonnen. Wir haben mit ihnen über ihre Ziele gesprochen.

Vor kurzem habt ihr die Akademie der Demokratischen Moderne ins Leben gerufen. Was können wir uns darunter vorstellen? Wer seid ihr und was sind eure Ziele?

Wir sind eine Gruppe von AktivistInnen, die aus unterschiedlichen Kontexten und sozialen Kämpfen zusammengekommen sind. Wir sehen unsere Aufgabe im Aufbau der Demokratischen Moderne, in der Bildungsarbeit zur Schaffung eines neuen Verständnisses von demokratischer Politik, gesellschaftlicher Aufklärung und für ein neues politisch-moralisches Bewusstseins, welche die Grundlagen einer freien Gesellschaft bilden. Gleichzeitig betrachten wir das Schaffen von neuen Netzwerken und Verbindungen zwischen demokratischen Kräften als grundlegende Voraussetzung für den Aufbau der Demokratischen Moderne. Über die Schaffung von Foren und Plattformen wollen wir zur Stärkung des internationalen Erfahrungsaustausches beitragen und bestehende Kämpfe verbinden.

Wenn ihr von „Demokratischer Moderne“ sprecht, was meint ihr damit?

Die Demokratische Moderne, basierend auf einer demokratischen Gesellschaft, einer ökologischen Industrie und dem politischen Systems des Demokratischen Konföderalismus, begreifen wir als Gegensystem zur existierenden Weltordnung, der Kapitalistischen Moderne. Dabei stützen wir uns auf die Theorie und das politische Denken Abdullah Öcalans, welcher den meisten wohl eher als Repräsentant und Vordenker der kurdischen Freiheitsbewegung bekannt ist.

Abdullah Öcalan analysiert in seinen Schriften die Geschichte der Zivilisation, als Kampf zwischen zwei Linien welche immer parallel zueinander aber im ständigen Widerstreit miteinander existiert haben. Auf der einen Seite der Geschichte stehen dabei die Widerstände der Gesellschaft, der Ausgebeuteten und Unterdrückten, der Frauen und der Jugend sowie alle Versuche eines selbstbestimmten und freien Lebens. Diese Geschichte reicht von den antiken Sklavenaufständen bis zu den Klassenkämpfen, Revolutionen und nationalen Befreiungsbewegungen des 20. Jahrhunderts. Auf der anderen Seite finden wir die Geschichte der Herrschenden, der Staaten und Imperien, der Könige und Despoten.

Wir gehen davon aus, dass auch heute zwei „Modernen“ nebeneinander existierenden und der Kapitalismus gar nicht so fest im Sattel sitzt, wie das manchmal scheinen mag. Die Intensität der Krise der Kapitalistischen Moderne nimmt für die Menschen weltweit spürbar zu und die Ablehnung wächst. Die Frage nach Alternativen wird mittlerweile in breiten Kreisen gestellt und diskutiert. In den Massenprotesten und Aufständen der vergangenen Jahre, dem Neuerwachen einer globalen Frauenbewegung, der jungen Klimagerechtigkeitsbewegung, den Protestbewegungen gegen Rassismus und weiße Vorherrschaft, aber auch den Massenstreiks in Industrie und Landwirtschaft vor allem im globalen Süden, wird die Demokratische Moderne fassbar und nimmt Gestalt an.

Die alte und die neue Welt, also die Kapitalistische Moderne und die Demokratische Moderne existieren heute schon nebeneinander und ineinander verschränkt. Doch während die Kapitalistische Moderne ein hochorganisiertes und weltumspannendes System darstellt, ist die Alternative bis heute unorganisiert, zersplittert und ohne einen strategischen und vereinigenden Vorschlag der gemeinsamen Organisation. Unter der Demokratischen Moderne verstehen wir auch den Vorschlag, die voneinander isolierten Kämpfe unter einem gemeinsamen Dach zu vereinen.

Wir nehmen mal an es ist kein Zufall, dass ihr eure Seite am 18. März, dem Jahrestag der Ausrufung der Pariser Kommune 1871, vorstellt, oder?

Das ist richtig. Das ist natürlich kein Zufall. Wir finden es wichtig, an die Geschichte demokratischer und revolutionärer Bewegungen anzuknüpfen und von den Kämpfen, Erfolgen und auch Niederlagen der Vergangenheit zu lernen. Daher hat das Datum natürlich eine besondere Bedeutung für uns. Die Pariser Kommune hat in der Epoche der Kapitalistischen Moderne als einer der ersten und der konkretesten Versuche eine andere Welt aufzubauen, Symbolcharakter gewonnen. Die Kommune mit ihrer basisdemokratische Organisationsform, durch welche sich die Menschen selbst ermächtigen ihr Leben in die eignen Hände zu nehmen, ist für uns das konkrete Modell wie eine Gesellschaft sich selbst verwalten kann. Im Demokratische Konföderalismus, welchen wir als politisches System gesellschaftlicher Verwaltung und Alternative zum Nationalstaat liberaler oder autoritärer Prägung, vorschlagen, ist die Kommune die kleinste Zelle gesellschaftlicher Selbstorganisation. Ganz praktisch findet dieses Modell heute seine Anwendung in der autonomen Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens und anderen Teilen Kurdistans.

In eurem Selbstverständnis, sprecht ihr von einer Krise revolutionärer und demokratischer Bewegungen, aber auch von einer globalen Suche nach Alternativen. Wie seht ihr eure Rolle in der Suche nach neuen Ansätzen?

Wir konzentrieren uns vor allem auf Bildungsarbeit und wollen eine Plattform bieten, um Lösungsansätze für lokale Probleme als auch die grundlegenden Widersprüche des herrschenden Systems zu diskutieren. Wir sind davon überzeugt, dass eine grundlegende gesellschaftliche Veränderung nicht ohne den Aufbau der nötigen Organisation denkbar ist. Und dass eine Organisation nichts ist, ohne eine kohärente und solide theoretische Grundlage. Gleichzeitig betrachten wir es als unsere strategische Aufgabe, die bestehenden Kämpfe zu verbinden und globale Netzwerke des Austausches und der Solidarität zu schaffen.

Durch Erfahrungsaustausch und Dialog kann gegenseitiges Verständnis und kollektives Bewusstsein geschaffen werden. Dabei geht es uns darum, ideologische Gräben zu überwinden und unsere geteilten Werte und Interessen in den Vordergrund zu stellen. Wir wollen ein Bewusstsein für die historische und globale Verbundenheit aller Kämpfe gegen Ausbeutung und Unterdrückung schaffen, um so unseren Kämpfen weltweit zu neuer Stärke zu verhelfen. Die Lösung der dringendsten Menschheitsprobleme verlangt heute mehr denn je zuvor die Schaffung globaler Plattformen und Strukturen. Allein die ökologische Katastrophe macht deutlich, dass einzelne isolierte Lösungsansätze zum Scheitern verurteilt sind. Erst die Verbindung der lokalen Arbeit mit einer globalen Perspektive, kann einen Ausweg aus der Krise eröffnen.

Also geht es euch um mehr als Theorieproduktion …

Ja, unsere Ideen bringen schließlich nichts, solange sie nur schöne Worte bleiben. Zur Überwindung der Kapitalistischen Moderne braucht es auch konkreter lokaler und globaler Strukturen. In diesem Sinne betrachten wir unsere Arbeit als einen Beitrag zum Aufbau des Demokratischen Weltkonföderalismus. Mit der Verbreitung von Ideen, der Erarbeitung einer theoretischen Basis und der Mobilisierung und Vernetzung des bestehenden organisatorischen Potentials wollen wir den Weg dafür bereiten, die Demokratische Moderne aufzubauen. Wenn es gelingt, demokratische Politik im Alltag auszuweiten – durch Bündnisse, Räte, Kommunen, Kooperativen, Akademien –, wird sich die Kraft der Gesellschaft entfalten und für die Lösung gesellschaftlicher Probleme zum Einsatz kommen. Letztendlich geht es darum im Weltmaßstab die nötigen, Plattformen, Netzwerke und Organisationen zu schaffen, die es braucht, um im 21. Jahrhundert das kapitalistische System tatsächlich herauszufordern. Wir denken, dass wenn die Herrschenden über unzählige Gremien, Plattformen und Orte der Koordination verfügen, dann muss auch unsere Seite der Geschichte sich global organisieren und Orte der gemeinsamen Planung und Aktion schaffen. Auch wenn in den letzten Jahren viele vielversprechende Versuche unternommen worden sind, so spüren wir doch, ganz besonders in Zeiten in denen der imperialistische Krieg weite Teile der Welt heimsucht, die dringende Notwendigkeit internationale Strukturen und Organisationen revolutionär-demokratischer Kräfte zu schaffen.

Klingt ambitioniert. Aber was wollt ihr kurzfristig machen um dem Ganzen näher zu kommen?

Wir fangen im Kleinen an. Ein erster ist Schritt die Website mit der wir in Zukunft eine Plattform für den Diskurs über die Demokratische Moderne bieten wollen. Gleichzeitig wollen wir dort ideologische Schriften, Übersetzungen und eigene Perspektiven veröffentlichen. Es geht zuallererst auch darum, in bestehende Diskurse zu intervenieren und neue Horizonte aufzuzeigen. Über gesellschaftliche Bildungsarbeit, Konferenzen und Publikationen können Inhalte vermittelt und die theoretische Grundlage für eine erfolgreiche Praxis gelegt werden. Durch diese Arbeit erhoffen wir uns Möglichkeiten mit möglichst vielen revolutionär-demokratischen Kräften in Austausch zu kommen und gemeinsam die Diskussion über das was zu tun ist, vertiefen.

#Foto: ANF

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Häusliche, öffentliche, staatliche, körperliche, sexualisierte, verbale, psychische. Patriarchale Gewalt hat viele Gesichter und ist dabei immer eines: Politisch und systematisch. Sie dient der Aufrechterhaltung der patriarchalen Ordnung.

Durch Gewalt sollen unser Wille gebrochen und unsere individuellen sowie kollektiven Kämpfe für Selbstbestimmung angegriffen werden. Gewalt soll uns voneinander isolieren, schwächen, und uns machtlos und allein fühlen lassen. Sie tötet und treibt in den Suizid.

Nicht nur einzelne Individuen beteiligen sich an ihr. Es ist ein System: Staaten, die über unsere Körper bestimmen wollen; Kapitalismus und Rassismus, der unsere Körper ausbeutet und objektifiziert; Faschisten und Neonazis, die gezielt Frauen und queere Menschen bedrohen und angreifen; Prominente und Reiche, die über Jahre ihre Macht missbrauchen und damit davonkommen; oder aber auch die patriarchale Justiz, durch die Täter oft keine Konsequenzen befürchten müssen.

Der 25. November, der internationale Kampftag gegen patriarchale Gewalt, geht zurück auf die Ermordung der Schwestern Patria, Minerva und María Mirabal, die an diesem Tag im Jahr 1960 auf Befehl des dominikanischen Diktators Rafael Trujillo (der wohlgemerkt auch ein Missbraucher von Mädchen und Frauen war) ermordet wurden. Die Schwestern waren Teil der kommunistischen Agrupación política 14 de junio, einer revolutionären Gruppierung, die den Sturz des Diktators plante. Nach einem Gefängnisbesuch wurden sie überfallen und erdrosselt. 21 Jahre danach – also vor 40 Jahren – wurde der 25. November zum Gedenk- und Aktionstag gegen Gewalt an Frauen erklärt.

Patriarchale Gewalt ist heute nicht „noch immer“, sondern „erst recht“ aktuell in Zeiten von Pandemie, zunehmender Ausbeutung und Krieg. Einige Ebenen dieser Gewalt sind Femizid, sexualisierte, staatliche und psychische Gewalt, die in diesem Text beleuchtet werden sollen.

Jeden Tag werden weltweit Hunderte Femizide begangen, also Morde an Frauen, weil sie Frauen sind. Das hat Aktivist*innen auf der ganzen Welt dazu veranlasst, sich unter dem Slogan Ni Una Menos („Nicht eine weniger“) zu Massenbewegungen zusammenzuschließen und feministischen Widerstand und Selbstverteidigung zu organisieren. Denn Femizid ist eine der sichtbarsten Formen patriarchaler Gewalt. Bei jedem Fall wird uns bewusst: Das hätte eine Freundin, Schwester, Nachbarin oder auch ich sein können.

In etwa zwei von drei Fällen ist der Täter ein (Ex-)Partner oder Familienmitglied. Femizide und andere Formen patriarchaler Gewalt sind jedoch niemals Privatsache. Feminist*innen kritisieren schon lange das mediale Framing von Femiziden als „Beziehungstat“, „Familiendrama“ oder „Eifersuchtsdrama“ – denn durch solche Bezeichnungen entsteht der Eindruck, es handle sich um die Brutalität eines einzelnen Täters. Dabei zieht sich die Gewalt durch sämtliche Ebenen des Lebens und wird durch das kapitalistische patriarchale System begünstigt und gefördert.

Abkommen wie die Istanbul-Konvention verpflichten die Unterzeichnerstaaten zur Ergreifung bestimmter Maßnahmen, um Femizide und patriarchale Gewalt zu vermindern. Jedoch ist unklar, was solche Maßnahmen versprechen sollen, wenn gleichzeitig ebendiese Staaten beispielsweise feministische Aktivist*innen und Bewegungen kriminalisieren, Opfer von Gewalt im Stich lassen und verhindern, dass Betroffene sich verbünden und verteidigen. Mit der Türkei ist in diesem Jahr der erste Staat aus dem Abkommen zurückgetreten – unter anderem mit der Begründung, es gefährde die „familiären Werte“ des Landes und „normalisiere die Homosexualität“. Auch wenn der Austritt die Situation für Betroffene drastisch verschlimmern könnte, haben die letzten Jahre gezeigt, dass die Istanbul-Konvention nie ein Hindernis für die Türkei dargestellt hat, Täter zu schützen, feministische Demos mit brutaler Polizeigewalt anzugreifen oder durch Invasionen in Rojava die Errungenschaften der Frauenrevolution und der autonomen Frauenbewegung anzugreifen. Das Land betreibt – sowohl innen- als auch außenpolitisch – eine femizidale Politik. Das Beispiel Türkei führt uns besonders deutlich die Notwendigkeit von autonomer feministischer Organisierung jenseits des Staates vor Augen. Das trifft auch auf eine weitere Ebene patriarchaler Gewalt zu – sexualisierte Gewalt und rape culture.

Rape culture bezeichnet eine Mentalität und gesellschaftliche Struktur, die sexualisierte Gewalt normalisiert und fördert, die Schuld bei den Opfern sucht und Täter in Schutz nimmt. Rape culture erleichtert es Tätern die Schuld von sich zu weisen, während Betroffenen vorgeworfen wird, sie würden lügen, Aufmerksamkeit suchen oder hätten es nur darauf abgesehen, dem Täter „das Leben zu ruinieren“. Der Fall Luke Mockridge oder auch die wichtige Debatte, die in diesem Jahr dank #deutschrapmetoo und Nika Irani angestoßen wurde, haben noch einmal verdeutlicht, wie tief Frauenfeindlichkeit und Sexismus in der deutschen Gesellschaft sitzen. Betroffene und Aktivist*innen wurden massiv angefeindet und mit Vorwürfen wie den oben genannten bombardiert. In so einer Atmosphäre ist es kein Wunder, dass die meisten Betroffenen ihre Erlebnisse nicht öffentlich machen, nicht darüber sprechen und auch keine Anzeige erstatten – aus Angst, dass ihnen nicht geglaubt wird, dass sie selbst dafür beschuldigt und angefeindet werden, und dass Konsequenzen am Ende sowieso ausbleiben, weil „keine Beweise“. Es versteht sich fast von selbst, dass Staat und Polizei auch hier keine Helfer oder Verbündeten sind, sondern selbst Teil der patriarchalen Struktur.

Aber auch in der Linken geschieht sexualisierte Gewalt – wo sie oftmals totgeschwiegen wird, um „der Sache nicht zu schaden“. Besonders da wird deutlich: Selbst ein cis Mann, der sich für noch so links und revolutionär hält, profitiert von seiner Position im Patriarchat und ist potenziell bereit, diese Position zu missbrauchen. Nicht selten decken cis Männer einander und schweigen zum Verhalten ihrer „Genossen“. Auch hier wird besonders spürbar, dass es autonome feministische Strukturen braucht, um mit dem Patriarchat zu brechen und sich durch cis Männer nicht spalten zu lassen.

So macht es etwa die Frauenbewegung in Rojava bzw. Nord- und Ostsyrien vor, deren revolutionäre Errungenschaften nun unmittelbar durch türkische Besatzer bedroht werden. Hier offenbart sich uns eine weitere Ebene patriarchaler Gewalt offenbart: Nämlich jene die von Staat, Polizei und Militär ausgeht. Staatliche Gewalt selbst ist in ihrem Charakter zutiefst patriarchal und basiert traditionell auf der Verknüpfung von Männlichkeit, Militär und der Verteidigung des „Vaterlandes“, a.k.a die Verherrlichung von Krieg, Invasionen, Imperialismus und Nationalismus. Besatzung und Gewalt werden beschönigt und als Teil einer „ehrenhaften“ patriotischen Mission präsentiert, für die es angeblich in Ordnung ist, Opfer zu bringen und zu töten. In dem Glauben, die „Nation zu verteidigen“, werden ganze Bevölkerungsgruppen entmenschlicht und die Brutalität von Militarismus und Krieg trifft Frauen ganz besonders. Sie leiden unverhältnismäßig unter der durch Kriege ausgelösten Gewalt, Verfolgung, Flucht und Ausbeutung.In jedem Krieg und in jeder Besatzung sind Frauen, Queers und Minderheiten die primären Leidtragenden. Insbesondere sexualisierte Gewalt wird gezielt eingesetzt, um Gemeinschaften und ihren Widerstand zu brechen. 

Gleichzeitig bilden genau diese Gruppen aber auch die potenziell radikalste Kraft für gesellschaftlichen Umbruch und Frieden und sind deshalb den Angreifern ein Dorn im Auge. Frauenrechtler*innen und feministische Aktivist*innen werden nicht zufällig ermordet. Ob Frozan Safi in Afghanistan oder Hevrîn Xelef in Kurdistan, Marielle Franco in Brasilien oder die Schwestern Mirabal – ihre Ermordungen waren immer gleichzeitig auch politische Botschaften, gezielte Angriffe auf die Widerstände aller Frauen und Feminist*innen, und nicht zuletzt Einschüchterungsversuche. Dasselbe gilt für Repressionen und Kriminalisierung, von denen insbesondere nicht-weiße Frauen und queere Menschen betroffen sind.

Eine weitere Ebene patriarchaler Gewalt bilden Eingriffe in unsere körperliche und sexuelle Selbstbestimmung. So etwa die verschärften Abtreibungsgesetze bzw. -verbote wie jetzt in Texas oder in Polen, die sichere Schwangerschaftsabbrüche erschweren bzw. unmöglich machen. Solche Gesetze gefährden das Leben von Schwangeren und haben bereits erste Todesopfer gefordert, wie erst vor kurzem im Fall der 30-jährigen Izabela S. in Polen. Obwohl klar war, dass der Fötus in ihrem Bauch nicht überlebensfähig war, halfen ihr die Ärzt*innen nicht, woraufhin sie an einem septischen Schock verstarb. Restriktive Abtreibungsgesetze erhöhen auch die Zahl unsicherer Schwangerschaftsabbrüche, an deren Folgen jährlich Zehntausende ungewollt Schwangere sterben. Todesfälle, die mit dem Zugang zu legalen, sicheren Schwangerschaftsabbrüchen hätten verhindert werden können und die nicht nur Mängeln in der Gesundheitsversorgung, sondern einer konservativen Mentalität und einem patriarchalen System entspringen, das Abtreibungen kriminalisiert, stigmatisiert und erschwert.

Dass staatliche Angriffe gegen die körperliche Selbstbestimmung eine Form patriarchaler Gewalt sind, zeigt sich auch an der enormen Gewalt gegenüber trans Menschen in Form von Verfolgung, Kriminalisierung, Hassverbrechen, oder Schikane durch etwa staatliche Behörden. Die täglichen körperlichen und verbalen transfeindlichen Übergriffe enden mitunter tödlich. Besonders betroffen sind trans Frauen. Erst vor wenigen Monaten verbrannte sich Ella N., eine trans Frau, die zuvor wegen Verfolgung aus dem Iran geflohen war, mitten auf dem Berliner Alexanderplatz, nachdem sie jahrelanger Schikane seitens der deutschen Ämter ausgesetzt war, als sie versuchte, hier Asyl zu bekommen und ihre Transition zu vollziehen. Auch diese Fälle sind Formen patriarchaler Gewalt, ausgelöst durch Angriffe gegen die körperliche Selbstbestimmung und das gewaltsame Aufzwingen binärer Geschlechtervorstellungen im Sinne der patriarchalen Ordnung.

Nach wie vor versucht der Staat in unsere Körper und unsere Gedanken einzugreifen. Es ist eine Illusion zu glauben, kapitalistische Staaten würden uns nach und nach mehr Freiheiten und Rechte zusichern. Vielmehr verschleiert der Staat seine Kontrolle, indem er uns neoliberale Konzepte von Freiheit verkauft, während auf der anderen Seite Ausbeutung, Kriminalisierung und staatliche sowie patriarchale Gewalt überall stetig zunehmen. Dazu gehört auch psychologische Gewalt.

Die kurdische Frauenbewegung benutzt oft den Begriff „Spezialkrieg“, um die Methoden zu beschreiben, mit denen Staat und Kapitalismus Widerstand unterdrücken bzw. Menschen (und insbesondere Jugendliche) enger an das System binden wollen, damit sie gar nicht erst widerständig werden. Auch was feministischen Widerstand betrifft hält der Neoliberalismus seine „Alternativen“ bereit. Anstatt Feminismus zu verteufeln, werden feministische Ideen in oberflächlicher Form übernommen und kommerzialisiert. Slogans werden von der Straße genommen und auf Waren gedruckt, kämpferische Begriffe und Konzepte werden ihrem Sinn beraubt. So entsteht der Eindruck: „Hey, sogar H&M druckt jetzt feministische Sprüche auf T-Shirts, dann sind wir ja gar nicht mehr weit vom Ziel entfernt“ – dabei ist genau das Gegenteil der Fall. Denn auf allen Ebenen intensiviert sich die Gewalt und Ausbeutung. Das gilt auch für den Westen, wo das reale Ausmaß patriarchaler Unterdrückung oft im Verborgenen bleibt, weil hier gerne so getan wird, als hätten Frauen es vergleichweise noch ganz gut „im Gegensatz zu anderen Regionen“. So wird der Status Quo normalisiert und außerdem suggeriert, patriarchale Unterdrückung und Ausbeutung seien so gut wie beseitigt.

Diese und andere Formen psychologischer Gewalt sind im Alltag verankert und begegnen uns jeden Tag. Auch verbale Gewalt, Belästigung, Stalking, Erniedrigung, sowie wirtschaftliche Abhängigkeit, Ausbeutung und Verarmung gehören dazu. Kurz gesagt alles, was Betroffene psychisch schwächt, sie in Hoffnungslosigkeit und Ausweglosigkeit verfallen lässt und verhindert, dass sie sich gegen Gewalt zur Wehr setzen und organisieren. Im aktivistischen Zusammenhang ist es deshalb unumgänglich, sich auch mental und emotional gegen das Patriarchat zu verteidigen, indem man sich von den Einflüssen der sexistischen Gesellschaft befreit.

Viele Punkte wurden in diesem Text angerissen, und doch sind zahlreiche Aspekte noch unerwähnt geblieben. Häusliche Gewalt, Zwangsheirat, Zwangsabtreibung, Genitalverstümmelung (FGM), Zwangsprostitution und Menschenhandel sind nur einige weitere Beispiele von vielen. Das Ausmaß patriarchaler Gewalt ist zu enorm als dass es in so wenigen Zeilen abgebildet werden könnte und jede Art von patriarchaler Gewalt verdient eine eigene Analyse und Kampfstrategie. Was jedoch alle Beispiele verdeutlichen und worüber sich revolutionäre Feminist*innen einig sind, ist, dass sie tief im System verankert und niemals eine private Angelegenheit ist. Daher muss sie auch dementsprechend bekämpft werden – kollektiv, organisiert und radikal.

Anm. d. Red:
Demonstration zum Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen*
am 25.11.2021 um 18 Uhr vor dem Eastgate-Center (S-Bahnhof Marzahn)

#Foto: Wikimedia Commons

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In der Schweiz beginnt ein großer politischer Prozess. Andrea, Kommunistin, Mitglied des Revolutionären Aufbaus Schweiz und Sekretärin der Roten Hilfe International, soll sich ab dem 18. November vor Gericht u.a. für Angriffe auf Institutionen des türkischen Staates verantworten. Ein Prozess, der nicht nur von den Schweizer Sicherheitsbehörden forciert wird.
Ein Interview mit der Angeklagten.

Erst einmal viel Kraft für den nun beginnenden Prozess gegen dich. Was wird dort eigentlich verhandelt?

Es geht hauptsächlich um zwei Sachen: Ein Angriff mit Pyrotechnik gegen das türkische Generalkonsulat in Zürich im Winter 2017 und verschiedene Delikte während Mobilisierungen in Zürich während des Covid-Lockdowns im Frühling 2020. Der Prozess findet vor dem Bundesstrafgericht in Bellinzona statt, weil beim Angriff gegen das Konsulat sog. „Unkonventionelle Brand- und Sprengvorrichtungen“ zum Einsatz kamen, bei denen jeweils der Bund die Ermittlungen und Strafverfolgung übernimmt.

In welchem Kontext fanden die Angriffe auf türk. Institutionen statt?

Der Angriff auf das türkische Generalkonsulat fand zeitgleich mit dem „World Economic Forum“ in Davos statt, dem jährlichen internationalen Stelldichein der Herrschenden. Damals waren hochrangige Minister der AKP in den Bündner Bergen zu Besuch, um ihre wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zu pflegen und sich grünes Licht für ihre Angriffskriege bei den anwesenden imperialistischen Kräften zu holen – wie ein Jahr später gegen Afrin.

Welche Rolle spielt der türkische Staat bei diesem Prozess?

Der türkische Staat ist die treibende Kraft in diesem Verfahren. Er hielt über seine diplomatischen Vertreter_innen in der Schweiz den Druck im Verfahren stets aufrecht: Angesichts der kümmerlichen Beweislage bezüglich dem Angriff gegen das türkische Generalkonsulat versuchte die Bundesanwaltschaft mehrfach diesen Teil des Verfahrens einzustellen. Stets intervenierte die türkische Diplomatie, um eine solche Einstellung zu verhindern.

Derlei Interventionen sind kein Alleinstellungsmerkmal des Prozesses gegen mich oder andere Genossen und Genossinnen. Vielmehr ist allgemein zu beobachten, dass Versuche der Kriminalisierung der praktischen internationalen Solidarität in Westeuropa eine Front des türkischen Staats in ihrem Krieg niedriger Intensität gegen die kurdisch-türkische Linke ist. Wir verweisen dazu auf die Erklärung der Roten Hilfe International, welche diese Zusammenhänge ausführlich beleuchtet – der Prozess zielt auf Andi, bedeutet aber einen Angriff auf Rojava.

Was bedeutet dieser Prozess der Klassenjustiz für die revolutionären Kräfte in der Schweiz?

Hier könnte man zwei Sachen ansprechen. Erstens: Getroffene Hunde bellen – die Angriffe gegen die Institutionen des türkischen Staats treffen ins Schwarze, provozieren große Reaktionen. Wieso? Weil es ihren Nimbus der Macht durchbricht, weil es ihre Propaganda als hohl entlarvt, weil es aufzeigt, dass die Front jene, die gegen ihre Politik stehen, breit ist.

Zweitens: Die Dinge sind volatiler als man denkt – entsprechend die Reaktion des bürgerlichen Staats in der Covid-Pandemie. Die Widersprüche spitzen sich weltweit zu einer historischen politischen Krise zu, das ist nicht nur in der Schweiz so. Darin ist der Ausbau von Instrumenten zur präventiven Aufstandbekämpfung – wie Staatsschutz, Polizei, Militär – nur ein Ausdruck. Diese «Brüche» sollten wir als Linke genau verfolgen, antizipieren und unsere Strategien entsprechend ausrichten.

Wie ist eure Prozessstrategie?

Es ist klar, dass dieser Prozess ein politischer Prozess ist – die Konfrontation vor den Schranken der Klassenjustiz beschränkt sich nicht auf eine juristische Ebene, sondern ist hochpolitisch. Mit der Kampagne zum Prozess wollen wir diesem Charakter Rechnung tragen – wir kehren den Spieß um und richten den Angriff auf den Kapitalismus, den schweizer und den türkischen Staat! Dazu gehört zum Beispiel die Vertiefung der internationalen Solidarität mit Rojava – nicht nur angesichts der aktuellen akuten Bedrohung eines neuen Angriffskriegs in Nordostsyrien durch das türkische Militär oder der Giftgaseinsätze in den nordirakischen Bergen, wo die freien Berge der PKK-Guerilla liegen, sondern auch angesichts der Bedeutung des revolutionären Prozesses in Rojava, welcher seit bald zehn Jahren weltweit ausstrahlt und die revolutionäre Linke inspiriert.

Dazu gehört auch die konsequente Kritik des bürgerlichen Staats als Herrschafts- und Gewaltinstrument der bürgerlichen Klasse, dessen Charakter im Umgang mit der Covid-Pandemie für viele fassbar wird – ihrem Schutz der Interessen des Kapitals stellen wir den selbstorganisierten Schutz der Menschen gegenüber, also ein System, in dem der Schutz des schwächsten Gliedes der Gesellschaft im Zentrum, steht oder wo die schwächeren Länder und Kontinente durch die reicheren in den Zentren solidarisch getragen werden. Eine Gesellschaftsformation, in der wir die Dinge in die eigenen Hände nehmen. Dazu haben wir jeweils inhaltliche Veranstaltungen organisiert, zudem treffen laufend Solidaritätsaktionen ein, die auf unserer Homepage gesammelt werden.

Was sind eurer Meinung nach die Aufgaben der revolutionären Kräfte in Europa im Bezug auf die internationalen Kämpfe, beispielsweise in Kurdistan? Wie ist das jeweilige Verhältnis und welche Aufgaben resultieren daraus für euch?

Wenn wir den großen geostrategischen Kontext mit all seinen Widersprüchen und kriegerischen Auseinandersetzung betrachten und darin wiederum die Rolle der sich entwickelnden reaktionären, faschistischen Strömungen, anschauen, dann erkennen wir ohne Zweifel, dass in der historischen Phase von «Sozialismus oder Barbarei» alle revolutionären Kräfte sich zwingend einheitlicher und geschlossener positionierend aufstellen müssen. Es geht darum, die Einheit ins Zentrum zu setzen und den objektiven Bedingungen wie auch subjektiven Ungleichzeitigkeiten Rechnung tragend, einen internationalen strategischen Strang zu entwickeln. In diesem Strang lässt sich der revolutionäre Prozess im eigenen Land mit solchen wie in Kurdistan dialektisch aufeinander beziehen und sich auch hier konkret niederschlagen. Bestimmt ist davon ein Teil auch der sich ausbreitende türkische Faschismus. Kampagnen wie #riseup4rojava oder #fight4rojava sind Ansätze dazu.

Die letzten Worte gehören dir.

Lasst uns uns gemeinsam gegenüber den konterrevolutionären Angriffen auf alles, was sich in diesem und anderen Kontexten entwickelt, aufstellen, vereint den Spieß umdrehen und unsere internationalen Prozesse verstärken.

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Am Sonntag den 24. Oktober erreichte die türkische Lira ein Rekordtief und mit Bange beobachtete die Bevölkerung des Landes wie ihre wirtschaftliche Situation sich wieder ein Stück weiter verschlimmerte. Aber nicht allen geht es so – für viele andere ist der politisch-mediale Apparat des faschistischen türkischen Staates nämlich wieder so effektiv, dass kaum eine Minute bleibt, um an Inflation und eine horrende Suizidrate aufgrund von Armut im Land zu denken, denn die weitere rechtsnationalistische Sau muss durch das Land gejagt werden. So wurden kürzlich beispielsweise Verfahren und sogar sofortige Abschiebebefehle gegen mehrere syrische Flüchtende ausgesprochen, die „provokativ“ Bananen auf social media aßen, nachdem sich ein türkischer Bürger auf Social Media darüber beschwerte, dass die durchschnittliche türkische Person sich diese im Gegensatz zu den Geflüchteten nicht leisten könne. In Denizli beging wieder einmal ein Mann einen Femizid an seiner Ex-Freundin und wieder einmal wird in den Kommentarspalten darüber diskutiert, was die Frau alles gemacht haben muss, um den Mann so provoziert zu haben. Und schließlich beschloss das türkische Parlament öffentlichkeitswirksam, dass sowohl die militärischen Einsätze in Syrien als auch im Irak um zwei Jahre verlängert werden sollen – gemeint ist natürlich der vermeintliche Krieg gegen die PKK. Wieso man sich Bananen nicht leisten können sollte, wieso FLINTA* Personen täglich sterben müssen, wieso das kurdische Volk bei jeder noch so kleinen Gelegenheit vernichtet werden muss, das fragen sich die wenigsten in einem Land, wo vor allem eins intersektional ist: Das Elend und die Krisen.

Es gibt viele Gründe anzunehmen, dass in Konsequenz dieser parlamentarischen Entscheidung eine größere neue Militäroffensive in Rojava von Seiten der Türkei ansteht. Genau wie bei den Operationen Euphrates Shield 2016/2017, Olive Branch 2018 (bekannter als der Krieg um Afrin) und Peace Spring (eine böswillige Untertreibung der ethnischen Säuberungskampagne zwischen Girespi und Serekaniye im Herbst 2019) werden sowohl türkische Luftkräfte, türkische Spezialkräfte am Boden und eine Horde an islamistischen Schergen der SNA (Syrian National Army, ehemals bekannt unter FSA/TFSA) mobilisiert. Dabei ist man sich nach wie vor nicht zu schade vormalige IS oder al-Kaida Kräfte mit einzubinden, wie der Sprecher des SDF Medienzentrums, Farhad Shami, feststellt.

Diesmal sieht es so aus, als würde die Türkei weiter ihrem Projekt nachkommen, die Verbindung zwischen den größeren Gebieten Rojavas zu kappen, wie auch schon zuvor geschehen. Afrin konnte die Türkei erfolgreich durch die Operation Euphrates Shield isolieren, um sich so auf die Einnahme des Gebiets vorzubereiten. Und auch der Vorstoß in Girespi und Serekaniye im Jahr 2019 lief vor allem darauf hinaus, das Gebiet bis zum M4 Highway (der Schnellstraße, die alle wichtigen Städte entlang der syrisch-türkischen Grenze verbindet) einzunehmen. Damals musste die türkische Armee den Highway nach einigen Wochen wieder freigeben, weil auch alle anderen Kräfte, unter anderem die russischen und US-amerikanischen, über diesen verkehrten. Doch ein strategisches Auge hat der NATO-Partner weiterhin darauf geworfen – besonders auf die am Highway gelegene Stadt Ain Issa, die südwestlich vom durch die Türkei besetzten Girespi (arabisch: Tel Abiyad) liegt.

In Ain Issa sammeln sich mitunter einige der wichtigsten Strukturen der Syrisch Demokratischen Kräfte (SDF) und wer etwa vom Nordosten also von Qamishlo oder Heseke nach Kobani will, muss durch diese Stadt hindurch. Man kann also davon ausgehen, dass die nächste größere türkische Operation genau dieses tendenziell abgehängte Glied Rojavas einnehmen und vor allem Kobani isolieren will – ein militärischer und vor allem symbolischer Vorstoß, der ohne Gleichen wäre. 

In der Region Kurdistan (KRI) im Irak, wo der türkische Drohnenkrieg gegen die kurdische Bevölkerung allerhöchstens zum Eklat von Gare führte, konnte hingegen noch kein symbolischer Sieg errungen werden, der ausreichend von den eigenen Krisen ablenken könnte. Während die Türkei mit allen Mitteln die gesamte Grenzregion zwischen dem Irak bzw. der KRI und der Türkei mit Drohnen und Giftgas bombardiert und ganze Waldflächen rodet, fliegt sie mittlerweile bis in das östlich von Kirkuk gelegene Chamchamal Drohnenangriffe gegen vermeintliche PKK-Stellungen. Besonders zugute kommt der Türkei eine schwache PUK – Jene Partei, welche im Osten der KRI das Sagen hat und durch interne Machtkonflikte enorm an Kraft verlor. Der bis dato mächtigste Mann der PUK, Lahur Sheikh Jangi, der als im weitesten Sinne als PKK-freundlich gilt, wurde infolge dieser Auseinandersetzungen seines Amtes enthoben. Zwischenzeitlich war sogar die Rede davon, ihn des Landes zu verweisen. Kurz nach diesen schicksalshaften Tagen hagelte es in der sonst sicheren und eher links eingestellten Stadt Sulaimaniya Kugeln. Mehrere PKK-Kader wurden getötet, darunter Yasin Bulut. Die türkischen NATO-Truppen bombardieren in Südkurdistan also weiterhin so gut wie alle Gebiete und dank dem erneuten Parlamentsmandat ist kein Ende dieser Kampfhandlungen in Sicht. Besonders makaber in diesem Kontext: Nur wenige Tage nach der Entscheidung des türkischen Parlaments postet die Twitter-Seite der NATO einen Ehrentweet an den NATO-Alliierten Türkei um mit ihnen den Nationalfeiertag zu zelebrieren. 

Wie gegen Ende des Jahres die Sicherheitslage der Kurd*innen im Irak aussehen wird, ist absolut unklar. Denn bis auf Weiteres sollen alle US-Truppen das Land verlassen, wie Präsident Biden schon im Juli nach Absprache mit Ministerpräsident Mustafa al-Kadhimi ankündigte. Das irakische politische Establishment hat wiederholt keinerlei Einspruch gegen das kilometerweite Eindringen der Türkei geäußert und mit einem Ende der US-Präsenz und somit einem Vorteil für den Iran und iranische Milizen gibt es keinen Grund anzunehmen, dass die Region Kurdistan von freundlichen Kräften umzingelt und besetzt sein wird. Ein Szenario, in dem die KRI weiter von türkischen NATO-Drohnen bombardiert und gleichzeitig von iranischen Raketen angegriffen wird, ist nicht besonders unwahrscheinlich. Es zeichnet sich ab, dass 2022 das Jahr des Überlebenskampfes der Region Kurdistan wird. Dafür sprechen nicht zuletzt die Rekordzahlen an flüchtenden Kurd*innen aus der KRI, die vor allem gerade an der polnisch-belarussischen Grenze feststecken. Denn zwischen der Korruption von KDP und PUK sowie dem fortwährenden Vernichtungskrieg der Türkei bleibt für die Zivilbevölkerung kaum eine Alternative. Und so nehmen viele eher den Tod auf der Fluchtroute in Kauf, als weiter dort im Elend zu leben.

An der vermutlich künftigen Koalition der Bundesregierung ist allerdings nur ihre Farbkombination pro-kurdisch, denn zum Thema Türkeipolitik hüllt man sich in Ampelkreisen in Schweigen. Nachdem Erdogan fast ohne Konsequenzen die Ausweisung verschiedener Botschafter*innen, unter anderem des Deutschen, verlangte und auch dies in Deutschland höchstens Mahnungen zur Besonnenheit hervorgerufen hat, gab es keinerlei weitere Statements zum Kameraden vom Bosporus. Gerade in bei SPD und Grünen begnügt man sich damit, politisch akzeptierte Oppositionelle wie Can Dündar oder Osman Kavala mit Phrasen  – oder mit einem netten Abendessen, wenn sie denn nun frei sind – zu beehren, anstatt sich wirklich zur Vernichtungspolitik der Türkei gegen Kurd*innen oder Armenier*innen zu positionieren. Man feiert 60 Jahre Gastarbeiter*innenabkommen, aber schweigt zur allgegenwärtigen Kriminalisierung kurdisch-linker und türkisch-linker Organisationen in Deutschland.

Vielleicht eint das Deutschland und die Türkei also am meisten: Während ökonomische Krisen, fundamentale Verteilungsfragen, tägliche Femizide und vieles mehr die Systemfrage hervorrufen sollten, vergnügt man sich lieber mit besonders emotionalisierten und symbolischen Debatten. So kann man leider davon ausgehen, dass die sich anbahnende neue Militäroffensive nicht die geringsten Reaktionen in den Kreisen des deutschen politischen Establishments auslösen wird. So wenig man mit diesen rechnen kann, so wenig sollten sie ein Standard politischen Handelns sein. Die nächsten Monate müssen vor allem dafür genutzt werden auf allen Ebenen Widerstand gegen den Vernichtungskrieg der NATO in Kurdistan – an allen Fronten – zu leisten. Sowohl in Südkurdistan als auch in Rojava geht es um nichts weniger, als um den Überlebenskampf der einzigen existierenden kurdischen Autonomieregionen – ihnen und vor allem ihrer Bevölkerung sollte nichts als grenzenlose Solidarität gelten.

#Bildquelle: ANF

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Die Türkei führt – weitgehend unbeachtet von der Weltöffentlichkeit – ihren Krieg gegen die kurdische Befreiungsbewegung nicht nur an der irakisch-türkischen Grenze weiter. Sie setzt dabei neben der Luftwaffe und Bodentruppen mittlerweile auch immer häufiger international geächtete Waffen wie Giftgas ein. Doch die Guerilla und die Bevölkerung leisten weiterhin Widerstand – mit Erfolg. Wir haben mit Şoreş Ronahî, Mitglied der Revolutionären Jugendbewegung Syriens und der Internationalistischen Kommune in Rojava (Teil der Kampagne Riseup4Rojava) über die aktuelle Lage gesprochen.

Du bist ja derzeit in Rojava, im Norden Syriens, und dort politisch aktiv. Wie ist die Situation im Moment vor Ort nach deiner Einschätzung? Wir hören vermehrt von der konkreten Gefahr einer neuen Großoffensive der türkischen Armee gegen kurdische Gebiete in Syrien. Wie ist die Stimmung bei euch und wie bewertet ihr die aktuellen Entwicklungen in der Region?

Was auch immer passiert, das Leben geht hier natürlich weiter. Die Menschen hier haben sich daran gewöhnt unter Kriegsbedingungen und mit dem andauernden Embargo zu leben. Auch die Drohung mit neuen Angriffen gegen das befreite Rojava ist nichts neues, sondern immer wiederkehrende Realität. Das soll nicht heißen, dass wir das nicht ernst nehmen, doch Krieg und Widerstand sind hier nicht an einen “Tag X” gebunden. Der türkische Staat handelt in Zeiten, in denen er nicht mit einer großangelegten Offensive versucht Gebiete zu besetzen, nach einer Strategie des Krieges niedriger Intensität.

Sie töten unsere Genossi:nnen und auch Zivilist:innen täglich durch Luftschläge mit ihren Drohnen. Sie schneiden die Wasserversorgung Rojavas ab, versuchen für Probleme und Chaos zu sorgen, indem sie Agenten in die Region einschleusen, versuchen Kurd:innen und Araber:innen gegeneinander aufzuhetzen und verbreiten Lügen und Anti-Propaganda. Gleichzeitig hat der physische Krieg an den essentiellen Frontlinien nie aufgehört. Tagtäglich werden die Gebiete rund um Til Temir, Eyn Îsa, Minbic und Şehba bombardiert und natürlich leisten die Leute hier dagegen Widerstand und verteidigen sich aktiv.

Es geht auch nicht nur um Rojava, sondern wir müssen verstehen, dass die Kriege in den Bergen, in Rojava, in Nordkurdistan, usw. miteinander verbunden sind. Der türkische Staat ist ein faschistischer Staat, seine Regierung ist faschistisch. Sie haben ihre eigene Existenz auf Krieg und Völkermord aufgebaut und setzen diese ihre Existenzgrundlage heute auf gleiche Weise fort. Der Widerstand dagegen ist immer legitim und dieser Widerstand ist heute grenzübergreifend und im Interesse aller Völker der Region.

Die letzten Jahre waren geprägt von Krieg und Widerstand, sowohl hier in Rojava als auch überall anders in der Region. Seit Februar diesen Jahres versucht die türkische Armee verzweifelt in weitere Gebiete der von der Guerilla im Süden Kurdistans (Nordirak, d. Red.) kontrollierten Medya-Verteidigungsgebiete vorzudringen. So startete sie eine aufwändige Blitzoperation gegen die Gare-Region am 10. Februar mit Unterstützung der KDP (vom Barzani-Clan geführte, von der Türkei, Deutschland und den USA abhängige Kompradorenpartei in der Kurdischen Autonomieregion im Nordirak, d.Red.), musste sich jedoch nach 4 Tagen schwerer Gefechte geschlagen geben und unverrichteter Dinge abziehen.

Kurz darauf begann die nächste Großoffensive am 24.04. gegen die Regionen Metina, Zap und Avaşîn. Diese Operation unter dem Namen “Claw Lightning and Claw Thunderbolt” hält bis heute an. Erst vor ein paar Tagen veröffentlichten die Volksverteidigungskräfte HPG eine Bilanz der letzten sechs Monate. Daraus geht hervor, dass die türkische Armee trotz allen Aufwands, modernster Technik, unablässiger Luftüberwachung, flächendeckender Bombardements, dem Einsatz tausender Soldaten und der hinterhältigen Unterstützung durch die KDP und Roj-Peşmergas (Von der Türkei ausgebildete KDP-nahe Milizen, d.Red.) schwere Rückschläge einzustecken hatte und keine großen Gebietsgewinne für sich verzeichnen kann.

Besonders in den Gebieten Zendura, Mamreşo, Girê Sor und Werxelê leistete die Guerilla einen historischen und kompromisslosen Widerstand, der weiterhin anhält. Die einzige Lösung, welche der türkische Staat für sich dabei zu sehen scheint ist der massive Einsatz von chemischen Waffen. Laut der sechsmonatigen Bilanz der Volksverteidigungskräfte HPG setzte die türkische Armee innerhalb dieses Zeitraumes 323 mal verschiedene Arten von Chemiewaffen und Giftgas ein.

Wir wissen alle, dass das ein international anerkanntes Verbrechen ist, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, doch wirklich zu kümmern scheint das niemand. Nun sieht es so aus, dass die türkische Armee in den Bergen an ihre Grenzen gestoßen ist. Gleichzeitig geht es der Erdoğan-Regierung alles andere als gut. Laut Umfragen würde ihr Regierungsbündnis nicht einmal annähernd in die Nähe einer Mehrheit kommen bei kommenden Wahlen. Die Wirtschaft steckt in der Krise, den Menschen in der Türkei geht es nicht gut und sie sind unzufrieden. Der Staat versucht jetzt, wie immer, die Probleme einfach unsichtbar zu machen, indem die Kriegspolitik weiter angeheizt wird. Für das AKP-MHP-Regime sind die Menschen im eigenen Land nichts wert, sie haben alles und jeden dem Ziel untergestellt den Widerstand des kurdischen Volkes zu brechen und die Freiheitsbewegung militärisch zu vernichten. Die gesamte Innen- und Außenpolitik des türkischen Staates ist darauf ausgerichtet und auch die Wirtschaftskrise selbst rührt eben genau daher. Als diesen Sommer Wälder in der Türkei brannten, da bemühten sie sich sehr darum die kurdische Freiheitsbewegung dafür verantwortlich zu erklären, doch auch mit diesen dreckigen Spielchen konnten sie nicht davon ablenken, dass die Unfähigkeit zur Bekämpfung der Brände vor allem daher rührte, dass Investitionen zum Großteil ins Militär, Kriegstechnologie und Waffen gesteckt werden, während es dann z.B. an notwendig ausgerüsteter Feuerwehr mangelt.

Interessant ist auch, dass die türkische faschistische Regierung seit Jahren alles tut, um die HDP zu isolieren, ihre Verankerung in der Bevölkerung zu brechen und sie somit in die Bedeutungslosigkeit zu schicken. Doch Massenverhaftungen, drakonische Strafen für quasi nichts und wieder nichts, Folter, Mord und Verfolgung haben nichts dergleichen erreichen können und die Unterstützung der Bevölkerung für die HDP ist ungebrochen. Das Erdoğan-Regime erhofft sich nun durch eine Fortsetzung ihrer vorherigen Invasionen in Nordsyrien/Rojava ein Deckel auf die eigenen Problem packen zu können und einen lang ersehnten Erfolg für sich verbuchen zu können, welchen sie weder in den Bergen militärisch noch gesellschaftlich und politisch im eigenen Land erreichen konnten.

Natürlich spielen noch viele andere Faktoren eine Rolle. Die weitere Besatzung eines Gebietes in Rojava, nach der Besatzung von Efrîn und Serêkaniyê, wäre ein schwerer Schlag gegen die Revolution, von dem sich Rojava nur noch schwer erholen würde. Dessen ist sich der türkische Staat bewusst und auch die internationalen, imperialistischen Kräfte, die in der Region aktiv sind, sprich USA und Russland, wissen das und versuchen dementsprechend für ihre eigenen Interessen Druck aufzubauen. Die Türkei selber versucht für sich die notwendige politisch-diplomatische Grundlage zu schaffen, um grünes Licht für eine neue Invasion zu bekommen. Ob sie dieses grüne Licht bereits bekommen hat von einer der genannten Großmächte und ob sie vielleicht schon morgen mit der nächsten Offensive anfangen wird, das wissen wir nicht. Doch hier sind sich alle dessen bewusst, dass eine solche Situation nicht unwahrscheinlich ist und wir uns deshalb alle auf den Widerstand vorbereiten müssen. Die Stimmung ist aber nicht negativ, ganz im Gegenteil. Das ist die Realität hier: Ohne Krieg und Widerstand hätte sich die Revolution bis heute nicht halten können und da Gewalt die einzige Sprache ist, die der Faschismus versteht, müssen wir ihm mit aller uns zur Verfügung stehenden Gewalt gegenübertreten. Wir sind zuversichtlich, dass wir erfolgreich Widerstand leisten werden. Natürlich gibt es auch viel Wut, Frust und Hass der Türkei und der internationalen Staatengemeinschaft gegenüber. Wenn es anders gehen würde und allein mit Worten ein würdevolles Leben erkämpft werden könnte, dann würde hier niemand zur Waffe greifen. Da die Realität jedoch anders aussieht, sind die Menschen hier dazu bereit die Waffe in die Hand zu nehmen um die eigene Würde zu verteidigen.

In den kurdischen Nachrichten wird insbesondere von Til Refat und Kobane als möglicher Zielorte einer neuen Invasion gesprochen. Wie schätzt ihr vor Ort ein, wo und wann es eskalieren wird?

Das ist schwer zu sagen und es wäre falsch anzunehmen eine hundertprozentige Vorhersage treffen zu können. Nichtsdestotrotz zeichnen sich einige mögliche Szenarien ab und türkische staatsnahe Medien sprechen selber von diesen Szenarien. Wie du selber gerade gesagt hast, stehen die Regionen Til Refat, also Şehba im Norden Allepos und Südosten Efrîns, Kobanê und Minbic zur Zeit im Vordergrund. Alle diese drei Regionen sind der Türkei seit Jahren ein Dorn im Auge. Ein weiteres mögliches Szenario wäre eine Operation in der Region Dêrik im nordöstlichen Länderdreieck Rojavas. Dies ist ein weiteres strategisches Ziel für den türkischen Staat, da dort die Verbindung Rojavas nach Südkurdistan besteht, desweiteren könnte eine für den türkischen Staat erfolgreiche Besatzung der Region Dêrik den direkten Landweg für den türkischen Staat nach Şengal öffnen.

Eine andere Möglichkeit ist auch die Fortsetzung einer Offensive an den bestehenden Frontlinien in Eyn Îsa, Til Temir und Zirgan. Es kann auch sein, dass mehrere dieser Szenarien zur selben Zeit versucht werden. Wie auch immer, die Rhetorik des türkischen Staates ähnelt sehr der Rhetorik im Vorlauf zum Krieg in Efrîn und später in Serêkaniyê. Truppenbewegungen an den Grenzen finden vermehrt statt, die islamistischen Banden der SNA werden mobilisiert und offensichtlich versucht die Türkei, die notwendige internationale Unterstützung für sich zu sichern. Ob es morgen anfängt oder in einem Monat ist weniger wichtig, wichtig ist, dass wir alle darauf vorbereitet sind, sowohl hier vor Ort als auch international, um Widerstand zu leisten und den türkischen Faschismus zu zerschlagen.

Als Kampagne RiseUp4Rojava, was ist eure Antwort auf die aktuellen Entwicklungen und wie wird eure Antwort aussehen, sollte es zu einer neuen Bodenoffensive gegen die Autonome Selbstverwaltung in Nordost-Syrien (AANES) kommen?

Als Kampagne RiseUp4Rojava existieren wir ja bereits seit Frühjahr 2019 und insbesondere zur Zeit des Krieges in Serêkaniyê und Girê Spî waren wir dazu in der Lage, gemeinsam mit anderen Initiativen weltweit hunderttausende Menschen auf die Straße zu bringen und ernsthaften Druck von unten aufzubauen. Seither versuchen wir eine Kontinuität in unserer Arbeit gegen den türkischen Faschismus zu gewährleisten und auf dieser Grundlage fanden über die letzten 2 Jahre zahlreiche Aktionstage zur Unterstützung der Revolution in Rojava und dem Widerstand gegen die türkische Aggression, als auch gegen die internationalen Profiteure vom Krieg und Kollaborateure mit dem Faschismus statt. Wir versuchen durch unsere Website als auch soziale Medien über die Situation vor Ort zu informieren, die internationalen Helfer der Türkei aufzudecken, unsere Position zu verbreiten und gegen den türkischen Faschismus zu mobilisieren.

Kampagnenintern haben wir diskutiert, dass wir bei einer erneuten Offensive der Türkei nicht direkt von einem “Tag X” sprechen können, denn der Krieg ist jeden Tag, auch wenn er in den Mainstreammedien meistens nicht sichtbar ist. Gleichzeitig können auch wir uns nicht komplett der Dynamik eines solchen “Tag X” entziehen. Im Falle einer neuen Offensive rufen wir alle auf unserem Aufruf zu folgen und den Protest direkt vor die Türen der internationalen Vertretungen des türkischen Staates zu tragen. Gleichzeitig geht es uns nicht um eine einzige Aktion oder einen Tag. Wir werden kontinuierlich weiter mobilisieren und mit unseren Initiativen versuchen den türkischen Staat und alle Institutionen, die ihn unterstützen zu blockieren, zu stören und zu besetzen.

Unabhängig davon bereiten wir auch im Moment neue internationale Aktionstage für das Wochende vom 26. bis 28. November vor. Der Slogan lautet “Smash Turkish Fascism – Stand with the Guerrilla!”. Unter unserem Motto “Block! Disturb! Occupy!” rufen wir auch hierzu alle auf aktiv zu werden und auf die Straße zu gehen.

Die Aktionstage vom 26.-28. November, von denen du sprichst, wie werden die konkret aussehen und wie können sich Gruppen und Menschen außerhalb eurer Kampagne daran beteiligen?

Der Aufruf zu den Aktionstagen wird in den kommenden Tagen veröffentlicht werden. Unsere zentralen Ziele sind erstens, den Vertrieb von Olivenöl aus dem besetzten Efrin anzugreifen, an dem sich einige eine goldene Nase auf Kosten des Leidens der Bevölkerung von Efrin verdienen. Zweitens, die Waffenindustrie, welche weiterhin für die türkische Kriegsmaschinerie produziert. Drittens, die Kollaborateure in Politik und Diplomatie, welche weiterhin mit Erdogan liebäugeln und dem türkischen Faschismus Grund und Boden für seine Vernichtungspolitik liefern. Gleichzeitig wollen wir den Widerstand der Guerrilla unterstützen und den Gebrauch von Chemiewaffen durch den türkischen Staat verurteilen. Der 27.11. stellt auch den 43. Jahrestag der Gründung der PKK dar. Wir erklären uns solidarisch mit dem Kampf der PKK, gratulieren ihr zum Geburtstag und sagen klar und deutlich, dass die Kriminellen hier nicht die Kämpfer:innen der PKK sind, sondern diejenigen, die Kurdistan besetzt halten und ausbeuten.

An den Aktionstagen können alle teilnehmen, die wollen. Es wird in einigen Städten sicherlich auch zentrale Veranstaltungen geben, aber darüber hinaus wollen wir, dass alle dezentral selbst aktiv und kreativ werden.

#Bildquelle: ANF

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Interview mit Welat Direj, 28, Internationalist und Mitglied der militärischen Verteidigungsstrukturen Rojavas zu den aktuellen Angriffen des türkischen Staates in Kurdistan und dem revolutionären Widerstand.

Bei euch in Nordsyrien sind es bereits über 30 Grad und der Sommer ist da. Seit vielen Monaten erreichen uns Nachrichten, dass die Türkei den Wasserzufluss nach Rojava unterbindet. Was ist Erdogans Kalkül hinter dieser Blockade?

Das ist Teil der Kriegsführung des faschistischen, türkischen Staates. Sie versuchen, mit allen Mitteln das Projekt der Selbstverwaltung im wahrsten Sinne des Wortes auszutrocknen. Ihnen ist vollkommen bewusst, dass sich Nord Ost Syrien, zu einem Großteil wirtschaftlich auf die Landwirtschaft stützt, für welche kontinuierliche Bewässerung ein essentieller Bestandteil ist, genauso wie natürlich einfach nur Trinkwasser. Zudem läuft durch die in der Vergangenheit starke Zentralisierung – ein Relikt aus Zeiten des Baath-Regimes – die Stromerzeugung zu einem sehr großen Anteil über den Staudamm in Tabqa und Tischrin. Ihr Ziel ist also, wenn sie auf militärischer Ebene keine Erfolge erzielen können bzw. es dafür gerade keinen Raum gibt, mit Hilfe von Wasserverknappung, Spezialkrieg, Embargo etc. das Volk zur Flucht und damit in die Verteidigungslosigkeit zu zwingen.

Wie reagiert die Selbstverwaltung Nord-Ost-Syriens auf diese Angriffe?

Es gibt natürlich nicht erst seit heute verschiedene Planungen und Projekte dem zuvorzukommen bzw. diesen Angriff abzuschwächen, aber diese reichen bei weitem nicht aus. Das reicht von Wasserumleitungsprojekten über Brunnenbohrungen zu neuen Bewässerungsmethoden in der Landwirtschaft. Außerdem ist auch ein wichtiger, nicht zu unterschätzender Aspekt die Aufklärung und Bildung, welche Ziele der faschistische, türkische Staat mit diesen Angriffen verfolgt, um sie damit ins Leere laufen zu lassen. Wir müssen begreifen, dass dieser kurdenfeindliche Staat eine Agenda des kulturellen Genozids verfolgt, er also vielleicht nicht 40 Millionen Kurdinnen und Kurden physisch auslöschen kann, aber diese in alle Himmelsrichtungen zerstreuen, sie vertreiben, schwächen und assimilieren will.

Mit der Besatzung Afrins durch den türkischen Staat und seine dschihadistischen Banden im März 2018 begann eine neue Phase von Guerillawiderstand, angeführt von den Befreiungskräften Afrins (HRE). Wie läuft es aktuell an dieser Front?

Ich würde das so formulieren: Afrin ist noch immer besetzt durch den Feind und daher ist der Widerstand nicht ausreichend, da Afrin bisher nicht befreit wurde. Aber wir sehen eindeutig eine positive Entwicklung in die richtige Richtung. In den letzten Jahren wurde in Rojava im Kampf gegen den Islamischen Staat eine bestimmte Art und Weise des Kampfes erlernt. Die türkische Invasion und Besatzung Afrins 2018 mit Drohnen, Kampfhubschrauber und Kampfflugzeugen war für die militärischen Kräfte in Rojava an vielen Stellen eine neue Herausforderung, die eine vollkommen neue Art und Weise der Kriegsführung erforderte. Sich dahingehend zu adaptieren, braucht etwas Zeit, aber wir können in jedem Fall eine deutliche Entwicklung sehen.

Seit April führt der türkische Staat eine neue Großoffensive gegen die Guerillaeinheiten der PKK in Südkurdistan/Nordirak. Nach der Niederlage gegen die siegreiche Guerilla in Haftanin 2020/21 folgt nun eine weitere Großoffensive. Wie bewertest du diese Angriffe?

Das wird schwer darauf kurz zu antworten, aber ich versuche es mal. Wir können ganz klar sehen, dass der Diktator Erdogan seit Jahren innenpolitisch nicht nur immer mehr an Popularität einbüßt, sondern zugleich eine schwere Wirtschaftskrise das Land erschüttert, die sich noch intensivieren wird. Erdogan steht mit dem Rücken zur Wand, was auch die erneuten Bemühungen seitens der Türkei zeigen, die Guerilla zu einem Waffenstillstand zu überreden. Eine alte Taktik der AKP um sich wieder in Position zu bringen.

Die AKP-MHP Regierung versucht alles, um mit Hilfe von billigem Nationalismus ihre Misserfolge zu überdecken. Außerdem existieren natürlich noch geopolitische Interessen der NATO, das muss man ganz klar festhalten: Die Guerilla kämpft nicht nur gegen den türkischen Staat, sondern gegen die gesamte NATO. Der Luftraum des Nord-Iraks ist immer noch unter der Kontrolle der USA, die für diese Operationen grünes Licht gaben. Wenn verschiedene imperialistische Konstellationen gerade keine Angriffe in Rojava zulassen, dann werden die Angriffe gegen die Guerilla, das Herz der kurdischen Freiheitsbewegung, intensiviert.

Wie sieht der Widerstand der Guerilla aus? Murat Karayilan, Oberkommandierender der HPG, spricht seit einer gewissen Zeit von der „Guerilla des 21. Jahrhunderts“. Wie sehen diese neuen Taktiken konkret aus?

Der Widerstand einer Guerilla mit kleinem Waffenarsenal gegen die gesamte NATO ist bis jetzt mehr als beeindruckend. In Gare wurden die extra trainierten Spezialkräfte der Türkei in vier Tagen in die Flucht geschlagen und zu allem noch der verantwortliche Kommandant für die Operation getötet.

Obwohl die Türkei ununterbrochen Dutzende Drohnen und Kampfflugzeuge in der Luft hat, kann sie die Guerilla nicht finden, die im Sinne der angesprochenen Reorganisierung bzw. Entwicklung hin zu einer Guerilla des 21. Jahrhunderts mit effektiver Tarnung, über spezielle Regenschirme gegen Wärmebildkameras zu den neu gegründeten Sehid-Delal-Flugabwehrkräften viele neue Methoden anwenden. Die Guerilla dezentralisiert ihre Kräfte noch mehr als zuvor, und wird den türkischen Staat so weit in die Enge treiben, dass er um einen Waffenstillstand betteln wird.

In der BRD ist der Krieg gegen die Guerilla in den Bergen Nord- und Südkurdistans wenig präsent. Rojava und die restlichen Teile Kurdistans werden auch innerhalb der Solidaritätsstrukturen oft getrennt voneinander betrachtet. Was können wir tun um diese Trennung zu überwinden?

Mit dieser Trennung spielen wir nur dem Feind in die Hände, der ja genau das erreichen will. Das ist die alte, leider sehr erfolgreiche Taktik von Teile und Herrsche: „Die in Rojava sind ok, aber die PKK ist radikal“. Wenn linke, demokratische Menschen dieses Denken anwenden, ist das umso problematischer, denn nur der gemeinsame Kampf gegen Kolonialismus und für Freiheit aller kann erfolgreich sein.

Das gilt genauso für Südkurdistan, wo gerade wieder die KDP zusammen mit der Türkei einen Krieg gegen die Guerilla beginnt. Barzani und Co wollen scheinbar nicht sehen, dass sobald die Guerilla besiegt wäre, sie die nächsten auf der Liste des türkischen Staates sein würden.Wir müssen begreifen, dass es ohne den Kampf der PKK die anderen Kämpfe – zum Beispiel die in Rojava – nicht mehr geben wird, dass die Guerilla in den Bergen Kurdistans ein Garant für die Freiheit Kurdistans ist.

# Bildquelle: ANF

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Mitte Februar startete der türkische Staat eine erneute Militäroperation in Gare, einem Gebiet in Südkurdistan/Nordirak. Das Ziel: Die Vernichtung der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Bereits wenige Tage danach erklärte Ankara allerdings die Operation für beendet. Hintergrund: Die türkische Armee konnte gegen die Guerilla der PKK nicht ankommen. Nun versucht sie, den Krieg medial weiterzuführen. Ein Gespräch mit Women Defend Rojava Deutschland.

Die Meldungen über die geplante Invasion in Südkurdistan überschlugen sich vorvergangene Woche. Könnt ihr nochmal erläutern, was genau eigentlich in Gare passiert ist?

In der Nacht vom 9. auf den 10. Februar startete der türkische Staat eine erneute Operation mit dem Namen “Adlerklaue 2” auf die befreiten Gebiete Südkurdistans, konkret die Region Gare. Diese Angriffe waren lange vorher und mit großen Worten in der Türkei angekündigt worden. Das Ziel des AKP/MHP-Regimes war es, Gare zu besetzen, die Operation von dort aus auf Qendîl und weitere Regionen auszuweiten und dadurch die kurdische Freiheitsbewegung zu vernichten. All diese Ziele wurden offen vom türkischen Regime kommuniziert.

Aber nicht erfüllt?

Nein, ganz im Gegenteil. Die türkische Armee war der Guerilla in Gare nicht gewachsen. Diese Operation hat sich im Endeffekt als enorme Niederlage für den türkischen Staat herausgestellt. Trotz massiver tagelanger Bombardierungen durch zahlreiche Flugzeuge und Helikopter, war die türkische Armee nicht, beziehungsweise kaum in der Lage ihre Soldaten am Boden abzusetzen. Videos der Volksverteidigungseinheiten HPG zeigen, wie türkische Hubschrauber wegen massiver Gegenwehr der Guerilla umdrehen und abziehen mussten.

Für den türkischen Staat ist das Ergebnis dieser Angriffe absolut peinlich. Ihre Ankündigungen, die PKK zu vernichten, erwiesen sich erneut als nichts weiter als heiße Luft. Diese Niederlage reiht sich ein in viele weitere. Vergangenes Jahr versuchte die türkische Armee erfolglos die befreiten Gebiete in Heftanîn zu besetzen. Darüber hinaus gleicht die Operation in Gare den Angriffen auf die Zap-Region 2008, die ebenfalls am 10. Februar begann. Auch damals hatte der türkische Staat mit großen Tönen die Vernichtung der Guerilla angekündigt und musste im Endeffekt eine enorme Niederlage einstecken, weil sie den Widerstand der Volksverteidigungseinheiten unterschätzt hatten und ihnen unterlegen waren.

Bedeutet das, der befürchtete Großangriff ist damit abgewendet?

Nein. Die Invasion in Gare konnte zwar durch die mutige Gegenwehr der Guerilla verhindert werden, dennoch ist es nicht ausgeschlossen, dass es in den kommenden Tagen und Wochen zu erneuten Angriffen kommt. Erdoğan kündigt bereits seit einiger Zeit öffentlich eine Invasion in der Jesidenregion Şengal an. Auch Dêrik, eine Stadt in Rojava, die strategisch wichtig sowohl an der türkischen als auch irakischen Staatsgrenze liegt, könnte ein mögliches Ziel für eine Operation der türkischen Armee sein. Wann und wo neue Angriffe starten werden, wissen wir nicht. Aber es ist wichtig, aus der enormen Niederlage des türkischen Staats in Gare nicht zu schlussfolgern, dass Erdoğan seinen Völkermord an den Kurd_innen stoppen wird. Es ist schließlich auch ein ideologischer Kampf.

Das bedeutet auch für uns, die hier in Deutschland solidarisch mit der kurdischen Freiheitsbewegung sind, dass wir weiter aktiv auf die Straße gehen müssen, um eine Öffentlichkeit für die Kriegssituation zu schaffen und Widerstand zu leisten – egal wo wir sind.

Eine Sache, die – vergleichsweise – viel Aufmerksamkeit in den Medien bekommen hat, ist die Tötung von 13 türkischen Kriegsgefangenen, die in Gare festgehalten wurden. Könnt ihr dazu was sagen?

Es ist gut, dass du von “vergleichsweise viel Aufmerksamkeit in den Medien” sprichst. Es ist wirklich jedes Mal wieder erschreckend, wie wenig Öffentlichkeit die größeren deutschen Medien für die völkerrechtswidrigen Angriffe des türkischen Staats schaffen. Auch dieses Mal gab es viel zu wenig Berichterstattung – und wenn es sie gab, war sie sehr einseitig.

Die 13 ermordeten Kriegsgefangenen, auf die du anspielst, sind Opfer ihres eigenen Staates geworden. Sie sind bei einem Luftangriff der türkischen Armee ums Leben gekommen. Nachdem die Besatzungskräfte zunächst von der Guerilla zurückgedrängt werden konnten, bombardierte die türkische Luftwaffe das Camp, in dem sich neben den Guerillakämpfer_innen auch die Kriegsgefangenen aufhielten, intensiv. Es muss den Verantwortlichen vollkommen klar gewesen sein, dass bei einem solchen Angriff niemand, auch nicht die Gefangenen überleben konnten. Der türkische Staat hat damit den Tod seiner eigenen ehemaligen Sicherheitskräfte und Mitglieder des Geheimdienstes MIT mutwillig in Kauf genommen. Es ist auch nicht auszuschließen, dass die umfassenden Aussagen von einigen Kriegsgefangenen zum Beispiel zu den Hintergründen der Morde an Sakine Cansiz, Fidan Dogan und Leyla Seylemez, dazu führen, dass der türkische Staat keinerlei Interesse daran hat, das weitere Aussagen überhaupt gemacht werden könnten. Diese Umstände zeigen die menschenverachtende Haltung des türkischen Regimes sehr deutlich.

Wie kann es überhaupt dazu kommen, dass die Türkei Angriffe auf die Autonomieregion Kurdistan fliegt? Es ist ja in einer Form irakisches Staatsgebiet und gleichzeitig auch in der Autonomieregion Kurdistan. Stellen sich z.B. die anderen kurdischen Parteien in Südkurdistan gar nicht dagegen?

Einerseits ist es kein neues Phänomen, dass die kurdischen Parteien in Başûr inhaltlich klare Differenzen mit den basisdemokratischen Vorschlägen der kurdischen Befreiungsbewegung haben. Es ist eine nationalistisch und auch kapitalistisch ausgerichtete Regierung der PDK, die sich seit jeher eher an der Türkei orientiert als an einer gemeinsamen kurdischen und freiheitlichen Perspektive. Andererseits ist es durchaus eine neue Qualität, dass die Regionalregierung zulässt, dass die Angriffe von Militärbasen in Südkurdistan selbst geflogen werden. Was das an Haltung, bzw. mangelnder menschlicher Haltung, zeigt, erklärt sich von selbst.

Nach den Angriffen auf Gare, fanden in verschiedensten Städten Deutschlands Kundgebungen und Demonstrationen statt, die von Women Defend Rojava organisiert wurden. Dabei liegt Gare gar nicht in Rojava (Westkurdistan) sondern Başûr (Südkurdistan) …

Ja das stimmt. Gare ist geographisch kein Teil Rojavas. Dennoch ist der Widerstand der Guerilla in Gare, genauso wie in ganz Süd-, Nord-, und Ostkurdistan, untrennbar mit der Revolution in Rojava verbunden. Die Guerilla ist das ideologische Herz der kurdischen Freiheitsbewegung. Ein Angriff auf sie, egal ob in Gare, Şengal, Wan oder Rojava, stellt einen Angriff auf alle Errungenschaften der kurdischen Freiheitsbewegung dar. Das Ko-Vorsitzendenprinzip, die Frauenbefreiung, Basisdemokratie oder Ökologie sind Errungenschaften, die nicht unabhängig von der Guerilla gesehen werden können. Und auch geographisch ist es falsch, sich an den Staatsgrenzen zu orientieren. Alle vier Teile Kurdistans, egal ob auf türkischem, syrischen, irakischen oder iranischen Staatsgebiet, hängen untrennbar zusammen. Solidarität mit Rojava bedeutet damit immer auch Solidarität mit der Guerilla in Südkurdistan – und die haben wir vergangene Woche gemeinsam auf die Straße getragen.

Ihr macht ja auch noch andere Aktionen, z.B. hattet ihr am sogenannten Valentinstag auch einen Aktionstag gegen Feminizide ausgerufen. Habt ihr schon Pläne, wie es nach den vergangenen Protesten weitergehen soll?

Ja, der Aktionstag fand unter anderem auf Grund der „100-Gründe“-Kampagne der Kurdischen Frauenbewegung in Europa statt. Bis zum 8. März rufen wir dazu auf, die Kampagne zu unterstützen und Unterschriften zu sammeln, um den türkischen Staat für seine feminizidale Politik zu verurteilen. Die Kampagne lohnt sich für eine Arbeit an der Basis, da sie eine gute Bewusstseinsarbeit über Feminizide und die systematische Gewalt ermöglicht.

Allgemein glauben wir, dass wir der Bevölkerung in Deutschland vermitteln müssen, dass die vier Teile Kurdistans, der Widerstand in den Bergen und die Frauenrevolution in Rojava zusammenhängen und dass das eine ohne das andere nicht existieren kann. Gleichzeitig auch, dass die Realität dort nicht unabhängig ist von Dingen, die hier in Deutschland passieren. Woher kommen zum Beispiel all die Waffen? Was sind hier die Masken des Patriarchats? Um diese Themen deutlich zu machen, planen wir vor allem Veranstaltungen und Interviews.

Ansonsten ist es für uns wichtig, langfristig zu denken, denn neben Aktionen und guter Öffentlichkeitsarbeit ist es vor allem wichtig, dass wir uns organisieren und dem mit einer Verbindlichkeit und Verantwortlichkeit nachgehen. Unter dem Dach von Women Defend Rojava Deutschland organisieren sich zum Teil seit Ende des Jahres 2019 Komitees in verschiedenen Formen in unterschiedlichen Städten, wir rufen dazu auf, gemeinsam weitere Komitees aufzubauen und unsere Organisierung zu vergrößern. Letztlich sagen wir: “Schaffen wir an den Orten, wo wir leben, konföderale Strukturen, Werte und Prinzipien nach denen wir uns organisieren und verteidigen wir gemeinsam die Errungenschaften der Frauenrevolution.”

Bildquelle: ANF

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Jedes Jahr seit nunmehr über zwei Jahrzehnten kommen in Deutschland kurdische und internationalistische Aktivist:innen im Februar zu einem „Langen Marsch“ zusammen. Gewidmet ist die Aktion dem PKK-Mitgründer Abdullah Öcalan. Das Datum erinnert an die Festnahme des prominenten Vordenkers des Demokratischen Konföderalismus, denn im Februar 1999 wurde dieser auf die türkische Gefängnisinsel Imrali verbracht, wo er bis heute in nur selten unterbrochener völliger Isolation gefangen gehalten wird.

Vorangegangen war dieser Verschleppung eine lange Odyssee Öcalans, der durch türkischen Druck aus seinem Exil in Syrien vertrieben worden war. Öcalan begab sich auf die Suche nach einem Ort, an dem er politisches Asyl bekommen und die Kurdenfrage auf die Tagesordnung der internationalen Politik setzen konnte. Russland, Griechenland, Italien wurden Stationen dieser Reise, doch wo immer sich eine Verschnaufpause abzeichnete, intervenierte die US-Regierung, die ihrem türkischen Partner den gesuchten Staatsfeind in die Arme treiben wollte. Öcalan endete schlussendlich in der griechischen Botschaft in Nairobi, nachdem deutsch-italienische Initiativen für einen Prozess vor einem internationalen Gericht abgewürgt worden waren.

Dort landete am 14. Februar 1999 ein Flugzeug mit malaysischem Hoheitszeichen, in dem sich ein Kommando des türkischen Geheimdienstes MIT befand. Öcalan wurde in die Maschine verschleppt und via Tel Aviv nach Istanbul geflogen. Die kurdische Bewegung geht von einer Mittäterschaft von CIA und Mossad aus und spricht deshalb bis heute von einem „internationalen Komplott“, das nicht nur gegen Öcalan gerichtet gewesen sei, sondern gegen die gesamte Unabhängigkeitsbewegung.

In der Tat erhoffte man sich nicht nur in der Türkei, sondern auch in den USA und Deutschland, das bei der Kriminalisierung der PKK stets eine Vorreiterrolle eingenommen hatte, einen raschen Zerfall der Arbeiterpartei Kurdistans. Doch es kam anders.

Neues internationales Komplott

Abdullah Öcalan nahm Debatten der 1990er-Jahre innerhalb der PKK wieder auf und nutzte die Zeit in Gefangenschaft zur Überarbeitung von Strategie und Taktik der Organisation. Es kam zu einem Paradigmenwechsel und die Orientierung auf die in erster Linie militärische Befreiung eines sodann zu einem sozialistischen Nationalstaat umzubauenden kurdischen Territoriums trat hinter den Aufbauprozess eines grenzüberschreitenden Geflechts politischer, zivilgesellschaftlicher, kultureller und wirtschaftlicher Institutionen zurück. Die Guerilla wurde zur Verteidigungskraft dieses Aufbaus.

Das global bekannteste, keineswegs aber einzige Resultat dieser Neuorientierung trägt den Namen Rojava, Westkurdistan, oder eigentlich korrekter: Demokratische Föderation Nord- und Ostsyrien, und ist seit langem keine rein kurdische Angelegenheit mehr. Vielmehr gelang es, in einem Teil des durch den imperialistischen Krieg und die islamistische Reaktion verwüsteten Syriens ein Gebiet des demokratischen Aufbaus zu errichten, in dem sich unterschiedliche Gemeinschaften auf Basis von Räten selbst organisieren.

Doch der unversöhnliche Hass der Türkei und der imperialistischen Hauptmächte blieb. Die Strategien zur Zerschlagung mögen sich unterscheiden, doch USA, Russland, Deutschland und die Erdogan-Diktatur teilen ein Ziel: Das Experiment in Rojava muss beendet, die PKK zerstört werden. Die Türkei verfolgt dieses Ziel durch rein repressive Mittel: Massenverhaftungen, Invasion und Besatzung, Ermordung und Vertreibung von Kämpfer:innen und Zivilist:innen, Förderung des Dschihadismus von IS bis „Freie Syrische Armee“. Russland lässt Erdogan gewähren und erhofft sich die Zuspitzung von Widersprüchen zwischen Ankara und Washington, die USA wiederum versuchen sich in der Spaltung und Entpolitisierung der kurdischen Bewegung. Deutschland liefert Waffen, nickt militärische Angriffe der Türkei ab und kriminalisiert die große exilkurdische Community hierzulande.

Hungerstreik für Freiheit Öcalans

Für die kurdische Bewegung nimmt die andauernde Inhaftierung Abdullah Öcalans eine zentrale Rolle in diesem Kampf ein. Denn Öcalan gilt Millionen Kurd:innen als legitimer politischer Repräsentant und ohne seine Freiheit bleibt auch nur der Gedanke an irgendeine Verhandlungslösung perspektivlos. Die Türkei hält Öcalan indes wie eine Geisel – und ihre deutschen Verbündeten verbieten sein Konterfei und stampfen seine Schriften ein.

Die kurdische Bewegung begann nun, um die Situation des gefangenen Revolutionärs erneut zum Mittelpunkt politischer Auseinandersetzung zu machen, die Kampagne „Die Zeit ist reif – Freiheit für Abdullah Öcalan“, die von hunderten Organisationen und Einzelpersonen getragen wird. Zeitgleich befinden sich politische Gefangene in der Türkei in einem Hungerstreik, der ebenfalls die Forderung nach Freiheit Öcalans aufgreift.

International gibt es eine Reihe von Beteiligungsmöglichkeiten: Eine Briefkampagne an die Vereinten Nationen, Dauerkundgebungen in Solidarität mit dem Hungerstreik und eben auch die Teilnahme am Langen Marsch, der am 4. Februar in Frankfurt beginnt und am 13. Februar mit einer Großdemonstration in Straßburg endet. In ihrem Aufruf betonen die Organisator:innen die Chance, die diese Aktion darstellt. Aktivist:innen unterschiedlicher Nationen kommen zusammen, um den von Rojava ausgehenden internationalistischen Zusammenschluss zu verbreitern. „Die Philosophie des Demokratischen Konföderalismus, die vom kurdischen Vordenker Abdullah Öcalan entwickelt wurde, lässt sich mittlerweile nicht mehr nur in Rojava oder den Bergen Kurdistans wiederfinden, sondern ist mittlerweile überall dort präsent, wo Menschen sich damit auseinandersetzen“, heißt es im Aufruf zum Langen Marsch.

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Von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet, begann am 24. April der Prozess gegen den Dschihadisten Taha Al J., angeklagt wegen des Völkermordes an den Eziden, vor dem Oberlandesgericht in Frankfurt am Main. Taha Al J. war Teil des sogenannten „Islamischen Staat“ (IS). Die Bundesanwaltschaft (BAW) wirft dem 27-Jährigen Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen gegen Personen, Menschenhandel zum Zweck der Ausbeutung der Arbeitskraft, den Mord an einem fünfjährigen ezidischen Mädchen sowie die Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung nach Paragraph 129b vor. Die BAW ließ Taha Al J. am 16.05.2019 in Griechenland festnehmen und nach Deutschland ausliefern, wo er sich seit dem 10. Oktober 2019 in Untersuchungshaft befindet.

Die „Karriere“ von Taha Al J. und seiner Ehefrau Jennifer W. im System „Islamischer Staat“

Bereits im Jahr 2013 schloss sich Taha Al J. im Irak dem IS an. Spätestens ab 2015 fungierte er als Leiter des Büros für „schariagemäße Geisteraustreibung“ in der späteren Hauptstadt des IS Raqqa. Er war als Verantwortlicher für die Unterbringung von Frauen in einer Unterkunft im türkischen Samsun zuständig, wo er seit September 2015 problemlos ein- und ausreisen konnte. Al J.s Ehefrau, die deutsche Dschihadistin Jennifer W., war 2014 über die Türkei in den Irak eingereist und hatte sich dem IS angeschlossen. Sie übernahm die Funktion einer bewaffneten „Sittenwächterin“ zur Einhaltung des stregen Regelwerks des Kalifats. 2015 kaufte der IS-Funktionär gemeinsam mit seiner Ehefrau Jennifer W. die Ezidin Nora T. und ihre fünfjährige Tochter Rania als Sklavinnen auf einem IS-Stützpunkt in Syrien. Beide wurden beim Völkermord an den Eziden im Shengal verschleppt und bereits mehrfach als Sklavinnen weiterverkauft.

Auf seinem Anwesen im irakischen Falludscha hielten Taha Al J. und seine Ehefrau Jennifer W., Mutter und Tochter als Sklavinnen gefangen, misshandelten beide schwer und ließen sie Hunger leiden. Als sich die 5-jährige Rania auf Grund einer Erkrankung einnässte, kettete Taha Al J. sie zur Strafe ohne Trinken und Essen bei circa 45 Grad im Hinterhof an. Die Hitze war so stark, dass das Mädchen vor den Augen der Mutter qualvoll verdurstete. Der Mord an dem 5-jährigen Mädchen geschah, während Jennifer W. Tatenlos dabei zusah.

Die Staatsanwaltschaft in Frankfurt gibt dazu an: „Taha Al J. habe beabsichtigt, mit dem Ankauf der beiden Jesidinnen und deren Versklavung ‒ neben erstrebten Annehmlichkeiten in seinem Haushalt ‒ die religiöse Minderheit der Jesiden im Einklang mit den Zielen des „IS“ zu vernichten.“ Die Staatsanwaltschaft wertet damit den Mord und den Kauf der beiden Frauen als Sklavinnen als Beteiligung am Völkermord.

Die Angaben zum Tod der 5-jährigen Rania stammen im wesentlichen von Jennifer W. selbst. Sie hatte sich einem verdeckten Ermittler in einem verwanzten Auto offenbart, als sie im Juni 2018 dabei war, erneut in den Irak und zurück zum IS zu reisen. Seither sitzt sie in Untersuchungshaft und steht seit 2019 wegen Mitgliedschaft im „Islamischen Staat“, Verstoß gegen das Kriegswaffengesetz und wegen der Beteiligung am Mord an Rania vor dem Münchener Oberlandesgericht. Ranias Mutter nimmt als Nebenklägerin am Prozess gegen Jennifer W. teil und sagte bereits gegen sie aus. Auf die Aussagen von Ranias Mutter stützt die BAW auch das Verfahren gegen Taha Al J. Er war noch im Jahr 2018 bereit in seinem Haus in der Türkei IS-Mitglieder im Umgang mit Sprengstoff zu unterweisen. Der Prozess in München gilt als erster Prozess gegen eine Rückkehrerin des „Islamischen Staates“.

Der Prozess in Frankfurt und der Kampf um Anerkennung

Der Prozess in Frankfurt ist der erste gegen einen anwesenden Täter des Völkermordes weltweit. In Frankreich wurde bereits im vergangenen Jahr ein Verfahren gegen ein IS-Mitglied wegen der Beteiligung am Völkermord 2014 eröffnet, welches jedoch in Abwesenheit des Täters geführt wird, da dieser als tot gilt. Betroffene und Hinterbliebene des IS-Terrors forderten bereits mehrfach einen Internationalen Gerichtshof, der in Syrien stattfinden. Genauso wird gefordert, dass die in der Föderation Nord-Ostsyrien (Rojava) inhaftierten Dschihadisten zurücknimmt und in den jeweiligen Ländern vor Gericht stellt. Bisher mit ausbleibendem Erfolg.

Die Europäischen Staaten halten zum Großteil daran fest, diejenigen die federführend den „Islamischen Staat“ militärisch zerschlagen haben, mit dem Umgang europäischer Dschihadisten, die sich immer noch in Syrien befinden, alleine zu lassen. Selbiges gilt auch für die Bergung der vom „IS“ angelegten Massengräbern, sowie für die Räumungen ganzer Städte von den Minen und Sprengfallen. Nicht zuletzt sind es auch die Menschen vor Ort und internationale Freiwillige, die sich um die Ver- und Aufarbeitung der zahllosen Traumatas bemühen, die der IS mit seinen Gräueltaten und schweren Kriegsverbrechen ausgelöst hat. Das alles passiert in einem Zustand des permanenten Krieges, schwerer Angriffe durch die Türkei und deren dschihadistischen Milizen und dem Ausbleiben internationaler staatlicher Hilfe.

Sollte die Demokratische Föderation Nord-Ostsyrien, auf politischer-internationaler Ebene, weiterhin nicht als solche anerkannt werden, wird sich an den aktuellen Zuständen wenig bis gar nichts ändern.

Wider dem vergessen!

Dem Völkermord des „Islamischen Staates“ sind 2014 mehr als 10.000 Menschen zum Opfer gefallen. Weitere 400.000 wurden aus ihrer Heimat vertrieben. 7.000 Kinder und Frauen wurden entführt und anschließend versklavt. Bis heute gelten mehrere tausend Menschen als vermisst. Die Bilder die wir vor mehr als sechs Jahren gesehen haben, werden mit dem Prozess in Frankfurt wieder präsenter und klarer. Die Bilder fliehender Menschen und unsäglichen Leides. Die Bilder der Kämpfer*innen der YPG/YPJ & HPG welche den eingeschlossenen und vom IS umzingelten Ezid*innen in Shengal zur Hilfe eilten und so den sicheren Tod tausender Menschen verhinderten.

Nun steht mit dem Prozess in Frankfurt einer der Täter und „Handwerker“ des selbsternannten „Islamischen Staates“ vor Gericht. Bei aller Kritik die wir an Gerichten und der Institution Gericht als solches haben, verdient insbesondere dieser Prozess Aufmerksamkeit und (kritische) Beobachtung. Der Prozess bietet die Chance weitere Einblicke in die Strukturen des „Islamischen Staates“ zu gewinnen. Aber auch die Rolle der Türkei als Dreh- und Angelpunkt weltweiter Dschihadisten zeigt sich schon in den bisherigen Erkenntnissen. Zudem sollte es insbesondere darum gehen, den Forderungen der Betroffenen und Hinterbliebenen Nachdruck zu verleihen. Vor allem die Forderung nach Anerkennung des Völkermordes 2014 als solchem, hat nicht an Aktualität verloren und ist verbunden mit dem Wunsch nach „Wiedergutmachung“ und Aufklärung.

Der Prozess in Frankfurt kann zudem weichenstellend für die kommenden 129b Prozesse werden. Denn was ist, wenn dieser Paragraph zukünftig auch gegen diejenigen Internationalist*innen angewandt wird, die gegen die Schlächter des IS gekämpft haben, Sso wie es in anderen europäischen Ländern bereits gängige Praxis ist? Der Prozess in Frankfurt verdient unter all diesen und vielen weiteren Gesichtspunkten mehr Beobachtung und Öffentlichkeit. Insbesondere aus Sicht einer radikalen Linken.

# Text: Antifaschistische Koordination 36

# Titelbild: Willi Effenberger, Mai 2017, Tabqa, Syrien. Kämpfer aus SDF und HAT präsentieren eine aus einer eroberten Stellung des IS

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Traditionell wird auch in Rojava der 1. Mai mit Demonstrationen und Kundgebungen begangen. Das Thema der Arbeiter*innenrechte ist seit Beginn der kurdischen Befreiungsbewegung ein Kernthema. Dieses Jahr ist jedoch vieles anders. Nachdem im März schon Newroz – das kurdische Neujahrs- und Frühlingsfest – wegen der Corona-Pandemie abgesagt wurde, sind nun auch die Feierlichkeiten zum 1. Mai verboten. Es herrscht Quarantäne, es wird Mundschutz getragen, die Straßen sind leer, die meisten Geschäfte haben geschlossen, ebenso die Universitäten und Schulen; Fahrzeuge werden überprüft ob die Insassen eine Genehmigung haben.

Doch die Kämpfe für Freiheit und Gerechtigkeit gehen weiter – die Revolution kennt keine Quarantäne. Die Pandemie ist nur eins der allgegenwärtigen Themen: die ökonomische Krise, die Folgen der türkischen Invasion, die anhaltenden militärischen Angriffe und last but not least: der Ramadan bilden den Kontext des täglichen Lebens.

Corona-Krise im Kontext des andauernden Krieges

Bisher ist der große COVID-19-Ausbruch ausgeblieben, in dieser Woche allerdings gab es die ersten beiden bestätigten Fälle und die Stimmung ist angespannt. Ein Ausbruch kann hier katastrophale Folgen für die gesamte Gesellschaft haben: das Gesundheitssystem ist nach neun Jahren Krieg erschüttert und nicht tragfähig. Der Aufbau neuer Gesundheitsstrukturen läuft, wird aber immer wieder durch militärische Angriffe der Türkei aufgehalten. Es mangelt an Geld für Equipment und Medikamente, vor allem aber an qualifiziertem ärztlichen Personal und solider medizinischer Ausbildung.

Dazu kommt, dass an Orten wie Al Hol, einem Flüchtlingscamp mit knap 70.000 Bewohner*innen – viele von ihnen IS-Anhängerinnen –, die Menschen dicht beieinander leben, es keine Möglichkeiten für Isolierung und nur wenige medizinsiche Einrichtungen gibt. Käme es hier zu einem Ausbruch, wäre eine Versorgung der Kranken nicht möglich sein. Aber nicht nur die Situation in den Flüchtlingscamps ist besorgniserregend. Auch die durch Krieg vertriebenen Menschen, die nicht in einem der Camps leben, sind stark von der Krise betroht. Momentan befinden sich ca. 80 000 Menschen im Nordosten Syriens auf der Flucht, sie alle haben kaum Zugang zu Gesundheitsversorgung und leben dicht gedrängt und ohne Isolierungsmöglichkeiten.

Aber bereits vor dem drohenden Ausbruch ist die Bevölkerung durch die Corona-Krise unmittelbar betroffen: die Quarantäne-Maßnahmen führen dazu, dass Menschen nicht arbeiten können und kein Einkomen mehr haben, dazu kommen Preissteigerung von Lebensmitteln und durch die Schließung der Grenzen kommt es zu Lieferengpässe für Lebensmittel, Hygieneartikel, Medikamente, medizinische Materialien.

Offiziell gilt eine Waffenruhe, doch die Türkei und ihre verbündeten Milizen führen weiterhin Angriffe in Afrin, Kobane und Sehba durch und besetzen zentrale Landesstraßen, sodass Lieferungen nicht mehr in den Westen des Landes gebracht werden können. Internationale Aufrufe verurteilen die Türkei und verbündete Milizen für die Unterbrechung der Waffenruhe. Diese Aufrufe bleiben aber ohne spürbare Konsequenzen.

Die Revolution der Frauen

Soweit die aktuelle Lage hier. Nun ein Blick auf die Situation der Frauen. Wir können auf 40 Jahre kurdische Frauenbewegung, acht Jahre Selbstverwaltung in Rojava und beeindruckende Schritte von der ambitionierten Theorie in Richtung Praxis zurückblicken. Die kurdische Frauenbewegung hat viele Erfolge in ihrem Kampf gegen die Ungerechtigkeit und Unterdrückung zu feiern: Frauen sind mittlerweile in allen Bereichen der Gesellschaft und des Berufslebens präsent: sie sind Juristinnen, Journalistinnen, Ärztinnen, Studentinnen, und sie stellen einen wichtiger Teil der Selbstverdeitigungskräfte Rojavas, mit ihrer eigenen Armee YPJ (Yekîneyên Parastina Jin, Frauenverteidigungseinheiten). Durch die Frauengesetze von 2014 wurden Gesetze zur Gleichberechtigung und Abschaffung von Unrecht erlassen. Die wichtigsten darunter sind die Abschaffung der Kinderehe und der Polygamie, ein Verbot von Sexismus und Gewalt gegen Frauen sowie das Recht auf gleiche Chancen und gleichen Lohn in der Lohnarbeit. Die Einführung des Co-Vorsitzeslegt fest, dass in allen wichtigen Ämtern eine Frau und ein Mann gemeinsam entscheiden, sowohl in militärischen wie in zivilen Strukturen. Doch alle diese Änderungen brauchen Zeit, um sich in der Gesellschaft durchzusetzen und ihren Weg von der Theorie in die Praxis zu finden. Vor allem in der arabischen Bevölkerung führen viele Frauen noch immer ein Leben in Unterdrückung und Ungerechtigkeit.

In Zeiten der Corona-Pandemie macht sich dies zum Beispiel in den Zahlen für häusliche Gewalt bemerkbar. Frauen, die ihr Haus nicht verlassen können und deren frustrierter, gestresster Ehemann nun rund um die Uhr zu Hause ist, werden noch mehr als sonst geschlagen und misshandelt – psychisch und physisch. Für den Monat März wurde ein deutlicher Anstieg häuslicher Gewalt gegenüber dem Vorjahr erfasst – ganz zu schweigen von der Dunkelziffer. Und das gilt nicht nur für Nordostsyrien. Weitere Pobleme, mit denen Frauen konfrontiert sind, sind die Versorgung der Kinder, die den ganzen Tag zu Hause sind, und die durch die Krise entstandenen finanziellen Einbußen.

Widersprüche überwinden, eine andere Gesellschaft aufbauen

Angesichts dieser schwierigen Gesamtsituation und des Lebens in Widersprüchen beeindruckt und inspiriert die Entschlossenheit der kurdischen Revolutionsbewegung, sich nicht von der Realität, vom temporären Scheitern oder von Angriffen von außen aufhalten zu lassen, sondern weiterzumachen. An vielen Fronten gleichzeitig für Freiheit und Gerechtigkeit zu kämpfen: der realen militärischen Front, aber auch in den Familien, Schulen, Frauenhäusern, Rehablitationshäusern der Kriegsverletzten, den Gerichten und vielen anderen Orten. Ich wünsche mir, dass wir davon etwas lernen können. Nämlich das Ganze zu sehen, nicht aufzugeben, sich der Realität anzupassen aber nicht von ihr erdrücken zu lassen, kreativ zu sein und vor allem: sich zusammenzutun und gemeinsam zu kämpfen!

Wenn wir nicht anfangen, Gemeinsamkeiten statt Unterschiede zu finden, unsere Kämpfe als verschiedene Ausdrücke des gleichen Problems zu sehen und unsere persönlichen Differenzen zu überbrücken, dann werden wir nicht zu einer Bewegung, die stark genug ist, die Gesellschaft und irgendwann auch „das System“ zu verändern. Und wenn nicht jetzt, in diesen Zeiten der Krise und des Ausnahmezustands, wann dann?

Und wer, wenn nicht wir als Frauen, wir als arbeitende Frauen – und dazu zählt jede Mutter, jede Frau, die eine Familie versorgt, ebenso wie jede Frau, die einem Beruf nachgeht – kann hierbei vorangehen und Vorbild sein? Frauen, Arbeiterinnen dieser Welt: bildet Banden, steht auf für eine bessere Welt und lasst euch nicht aufhalten!

JIN JIYAN AZADI

# Text: Evin Azad, Aktivistin und Ärztin aus Berlin. Seit Anfang des Jahres zum zweiten Mal als Internationalistin in Rojava . Schwerpunkte: medizinischer Support, Aufbau des Gesundheitssystems und medizinischer Bildung, Frauenrevolution, Frauenrechte, Feminismus, Jineoloji, Widerstand, Berichterstattung.

# Titelbild: Corona-Ausgangssperre: Leerer Markt von Souk, Evin Azad

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