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„Wenn ich jetzt an das Erlebte denke, dann kommt es mir vor als wenn ich mich einen Film erinnere. Ich frag mich manchmal ob das alles wirklich so passiert ist“.

Sicherlich hört ihr diese Worte nicht zum ersten Mal. Sie begegnen einem immer wieder, in Büchern mit erdachten Helden oder in Filmen, in welchen Fiktion und Fantasie alles möglich erscheinen lassen. Sind sie aber Abbild der Realität, bekommen sie, wenn man kurz innehält und darüber nachdenkt, eine bleiern schwere Bedeutung.

Heval Rubar ist als kleiner Junge mit seiner Mutter Ende der 80er Jahre aus Nordkurdistan nach Deutschland gekommen. Sein Vater hatte hier zuvor Arbeit gefunden. 25 Jahre später führt Rubars Weg zurück nach Kurdistan. Der IS ist auf dem Vormarsch. Den Kochlöffel tauscht er gegen die BKC. Serviert werden nun 7,62 mm.


LowerClassMagazine: Kobanê ist das Symbol des Widerstands gegen den IS schlechthin. Als die Offensive des IS gegen die kleine Stadt begann, die einer der Ausgangspunkte der Rojava Revolution 2012 war, berichtete auf einmal die ganze Welt über den Kampf der Kurdinnen und Kurden. Wie hast du die damalige Situation wahrgenommen?

Heval Rubar: Zu dieser Zeit habe ich in einem Restaurant in Deutschland gearbeitet. Die Gräueltaten des IS habe ich dann im Fernsehen gesehen. Ich habe gesehen, dass der IS immer mehr Städte eingenommen hat und nach Shengal gegangen ist. Tausende Menschen wurden dort getötet und Frauen die Köpfe abgeschnitten. Das habe ich im Internet gesehen und das hat mir weh getan. Daraufhin habe ich überlegt und mir gesagt, dass wir irgendwann alle sterben, für etwas Schönes zu sterben, das könne jedoch nicht jeder. Meine Entscheidung stand damit fest, nach Shengal gehen zu wollen und gegen diese Bedrohung für die ganze Menschheit zu kämpfen. Die Freunde, denen ich meinen Wunsch mitgeteilt habe, zu gehen und zu kämpfen, wollten mich eigentlich in die Berge schicken. Später sollte ich dann politische Arbeiten in Deutschland führen. Für mich stand aber fest, dass ich kämpfen wollte. Meinem damaligen Chef habe ich gesagt, dass ich mir Urlaub nehme. Die Tage, die mir bis zur Abreise geblieben sind, hab ich in dem Dorf verbracht, wo meine Eltern und ich lange gelebt haben. Dort habe ich noch einmal ihre Gräber auf dem Friedhof besucht. Vier Tage später war ich schon in der Stadt Urfa. Ein paar Tage musste ich in Nordkurdistan, in Urfa, warten, bis ein Weg nach Kobanê offen war. Wir waren zu siebt, zwei aus Deutschland, drei aus Frankreich. Von diesen sieben Freunden sind drei im Kampf gefallen und drei sind zurück nach Europa gegangen. Eigentlich sind wir nur zum Helfen gekommen und wollten danach wieder zurück.

Wie war das Gefühl als du in Kobanê angekommen bist? Wie können wir uns die damalige Situation dort vor Ort vorstellen?

Bevor wir an die Front gegangen sind, haben wir erst einmal 40 Tage lang militärische Ausbildung gesehen. Zu dem Zeitpunkt war kein Weg nach Shengal offen. Die Ausbildung war noch nicht ganz fertig, als der Angriff des IS auf Kobanê begonnen hat. Das erste, was ich mir dann in Kobane gedacht habe, war ‚Oh Gott sind wir arm‘. Die dort erlebte Freundschaft hat mich aber direkt von Herzen berührt.

Zunächst sind wir zur Front in das Dorf Şêxler gegangen. Hinter der Frontlinie haben wir immer direkt zwei Dörfer geräumt, damit sich das, was in Shengal passiert ist, nicht noch einmal wiederholt. Ich selbst war BKC-Schütze in einem ‚Haraketli Tabur‘, eine bewegliche Einheit. Wir wurden immer dorthin geschickt, wo es zu Gefechten gekommen ist. Şehîd Arîn Mîrkan war in derselben Einheit.

Mahmud Berxwedan (Binefs) war zu dieser Zeit der verantwortliche Kommandant in Kobanê. Nachdem wir uns zurückgezogen hatten, hat er zu uns gesagt, dass wir uns etwas ausruhen sollen. An der Front hatten wir ja keine Möglichkeit uns zu rasieren, keine Dusche und kein richtiges Essen. Wir haben unsere Kleidung gewaschen und uns circa eine Stunde ausgeruht. Unsere Kleider waren immer noch nass, als Mahmud Berxwedan wieder zu uns gekommen ist. Wir müssen sollten uns schnell bereit machen, da der IS nach dem Freitagsgebet einen Angriff plane. Wie befürchtet kam es am Freitag zu einem großen Angriff. Es waren wirklich ganz viele. Wie Ameisen haben sie ausgesehen. Sie sind auf uns zu gerannt und haben “Tekbir Allahu Ekber” geschrien. Wir waren zu dritt, ich, ein RPG Schütze und ein weiterer Freund. Wir hatten an der ersten Linie unser Mewzî, unsere Stellung. Zwischen mir und dem Mewzî, in dem der Freund mit dem Raketenwerfer lag, war ein Abstand von 50 Metern. Nachts wollte der IS vorstoßen. Mit mir war ein Junge, der augenscheinlich etwas Angst gehabt hat. Er meinte, er gehe mal kurz schauen, wo denn der Feind bleibe. Dann war er weg.

Gerade an diesem Tag hatte ich meine Kalaschnikow und meine Rext, die Weste mit Magazinen, nicht dabei gehabt. Die Freunde meinten nämlich, dass ich so beweglicher wäre und schneller rennen könne. Insgesamt waren wir nicht gut ausgestattet. Unsere Pistolen waren alt, wie hatten keine Kugeln und wir mussten von den getöteten Feinden die Waffen nehmen. An diesem Tag hatte ich nur noch eine Granate dabei.

Mein Mewzî hatte ich aus umliegenden Steinen errichtet. Vorne war ein kleines Loch, um daraus mit der BKC schießen zu können. Der Platz war sehr gut. Dann kam der IS mit Allahu Ekber und ich hab angefangen mit der BKC zu schießen. Ich glaube, dass ich in dieser Nacht viele von ihnen getötet habe. Viel konnte ich aufgrund der Dunkelheit nicht sehen. Vielleicht habe ich auch niemanden getroffen (lacht). Als mir die Patronen ausgegangen sind habe ich mit meiner Pistole weitergekämpft. Irgendwann hat sich aber eine Patrone verkeilt. In dieser Dunkelheit konnte ich höchstens 6-7 Meter weit sehen. Als ich mich umgeschaut habe, musste ich feststellen, dass zwei IS Leute mit einem Raketenwerfer auf mich zulaufen. Ihre Schüsse haben mich zum Glück verfehlt. Das Feuer haben sie dann eingestellt, da sie mich lebend wollten, um meinen Kopf abzuschneiden. Daraufhin habe ich meine einzige Granate genommen, den Stift gezogen und sie an meinen Brustkorb gedrückt. Im Bruchteil einer Sekunde habe ich mich aber noch umentschieden und die Bombe in Richtung der Stimmen geworfen. Nach der Explosion war es leise. Ich muss ziemliches Gück gehabt haben. Über Funk wurde mir dann gesagt, dass ich mich zurückziehen soll. Die 500 Meter zu unserer neuen Linie bin ich dann teilweise gerannt, teilweise auf dem Boden gekrochen. Meine Arme und Beine waren danach blutig. An diesem Tag hatten sie es nicht mehr geschafft unsere Stellung zu nehmen.

Wie ging es danach weiter? Die Stadt Kobanê ist ja mehr und mehr in eine Umzingelung geraten.

Erst einmal ist um 9 Uhr am nächsten Morgen Essen gekommen. Außer Mandarinen und Brot gab es aber nichts. Nachdem ich eine Mandarine und etwas Brot gegessen habe, ist eine Freundin auf mich zu gekommen und meinte zu mir, dass ich zusammen mit Heval Silava in ein vorgelagerte Stellung gehen soll. Von der letzten Nacht war zwar meine ganze Kleidung blutig, aber alle Kugeln hatten mich verfehlt. Die Freunde meinten deshalb, dass ich wieder in die vorgelagerte Stellung gehen solle, weil die Kugeln mich eh nicht treffen würden. Insgesamt hatten wir in der Stadt drei Verteidigungslinien aufgebaut. Als der Angriff des IS losging, sind sie direkt mit drei Panzern, mit schweren Dotschka-Maschinengewehren und dahinter zu Fuß auf uns zugerannt. Heval Silava hat eine Rakete aus der RPG geschossen, der Schuss ging aber leider daneben.

Unsere Stellung am Mishtenur Hügel war nicht länger zu halten. Ich und Heval Silava wollten uns aus dem Gebäude zurückziehen. Weit sind wir nicht gekommen, nach wenigen Metern mussten wir uns fallen lassen. Nun wurde auch von hinten auf uns geschossen. Die Feinde waren in das Stadtviertel Kaniya Kurda, das in unserem Rücken lag, eingedrungen. Beim Sprung hinter eine Mauer, hat mich eine Kugel an der linken Hüfte getroffen und ist an der Schulter wieder ausgetreten. Heval Silava wurde auch getroffen. Wahrscheinlich waren das Scharfschützen. Die IS-Kämpfer waren daraufhin nur fünf Meter von uns entfernt. Sie hätten uns in dieser Situation mit Leichtigkeit töten können, aber sie wollten uns lebend gefangen nehmen, um uns dann zu enthaupten. Mit dieser Methode sollte unsere Moral und unsere Psyche zerstört werden.

Unserer Kommandantin Heval Medya gelang es, sich zu uns durchzuschlagen. Sie rief uns zu, dass wir aufstehen und rennen sollten. Ich war dazu außerstande und bin eingeschlafen. Vor meinem inneren Auge habe ich Weizenfelder gesehen über denen ich geflogen bin, was sehr sehr schön war (pfeift leise). Dann bin ich wieder aufgewacht, auf dem Rücken von einem Freund. Ich wurde zu einer Ambulanz gebracht. Dort wurden mir die ganze Zeit Backpfeifen gegeben, damit ich nicht einschlafe. Ich und ein weiterer Freund mussten aufgrund der Schwere unserer Verletzungen zur Behandlung nach Urfa gebracht werden. Auch dort konnten sie mich nicht versorgen, da sich mittlerweile zu viel Blut im Oberkörper gesammelt hatte. Es hieße, ich müsse nach Amed gebracht werden. Ich war nicht in der Lage zu sprechen. Die Worte vom Arzt konnte ich aber ganz klar hören: “Vielleicht wird er überleben”. Mehrere Stunden hat die Fahrt mit dem Rettungswagen nach Amed gedauert. Währenddessen bin ich weggetreten….

…. Erst vier Tage später hab ich meine Augen im Krankenhaus wieder aufgemacht, ich lag also im Koma. Nach 12 Tagen mussten mich die Freunde aus dem Krankenhaus holen, weil die türkische Polizei in den Krankenhäusern auf der Suche nach verletzten Freunden war. Illegal bin ich dann wieder über die Grenze nach Derik gebracht worden, wo ich einen Monat Kräfte sammeln konnte. Danach ging es wieder nach Kobanê.

In Kobanê war in der Geschichte der Freiheitsbewegung Kurdistans eine wesentliche Erfahrung. Wenige Organisationen der Region haben solch eine Praxis im Städtekrieg entwickeln können. Kannst du uns schildern wie die Kriegsführung in Kobane ausgesehen hat?

Wir mussten Tag und Nacht kämpfen. Ich erinnere mich noch genau an die Kälte. Fast alle Freunde waren verwundet. Ein Freund hatte beispielsweise Maden in seiner Wunde und auch meine Wunde war sehr schwer entzündet. Einmal am Tag hat sich ein Arzt unsere Verletzungen angeguckt. Wir haben trotzdem weiter gekämpft. Stück für Stück ist es uns gelungen, den IS aus der Stadt heraus zu treiben, wodurch sich die Kämpfe wieder auf die Dörfer verlagert haben. Zur Verteidigung der Stadt sind Menschen aus allen Teilen Kurdistans nach Rojava gekommen. In meinem Taxim waren auch türkische Internationalisten von sozialistischen und kommunistischen Organisationen. Vor Ort habe ich auch zwei kurdische Frauen kennengelernt, die aus Europa nach Kobanê gekommen sind und dort gefallen sind. Es ist dabei auch Realität, dass manche an die Front gekommen und dort direkt gefallen sind, ehe sie überhaupt ein Glas Wasser in der Stadt getrunken haben.

Die Bilder von Şehîd Arîn Mîrkan sind mir noch klar im Kopf. Sie hat sich in die Luft gesprengt hat, um den Vormarsch des IS zu stoppen. Neben ihr haben sich noch andere FreundInnen aufgeopfert. Ein anderer Freund, der später in Raqqa gefallen ist, hatte in einer Situation bereits den Stift aus seiner Handgranate gezogen und dann festgestellt, dass sich nicht Feinde, sondern FreundInnen nähern. Mit seiner Hand hat er die Granate dann so fest umschlossen, dass die anderen von uns keine Schrapnells abbekommen. Er aber hat seinen Unterarm durch die Explosion verloren. Ein anderer Freund, dessen ganze Schädeldecke durch eine Kugel aufgerissen worden war, hat nur mit einem Tuch verbunden weitergekämpft. Später ist er auch im Kampf gefallen. Insgesamt kann man sagen, dass wir alle sehr große Hoffnung hatten und in jedem Moment diese tiefe Freundschaft gespürt haben. Wir wussten für was wir sterben würden.

Den Islamischen Staat stellen sich viele Menschen auf der Welt als ‚das Böse‘ schlechthin dar. Wie hast du den IS ‚von Angesicht zu Angesicht‘ wahrgenommen.

Einen anderen Tag haben wir furchtbaren Lärm und „Tekbir – Allahu Ekber“ Schreie gehört. Wir dachten, dass das bestimmt tausende von denen sein müssen. Gesehen haben wir aber nur einen, den wir dann niedergeschossen haben. Erst dann haben wir festgestellt, dass er sich einen Lautsprecher auf den Rücken geschnallt hatte. Die IS Kämpfer waren nicht dumm und sie haben auch nicht schlecht gekämpft. Ich selbst hatte, bevor ich nach Kobane gekommen bin, keine Ahnung von Krieg. Das was ich wusste habe ich vorher durch das Anschauen von Kriegsfilmen gelernt. In der 40 tägigen Ausbildung haben wir gelernt wie man schießt. Das meiste habe ich im Krieg selbst gelernt. Wenn beispielsweise ein Freund oder eine Freundin neben mir waren, die bereits Erfahrung aus dem Guerillakrieg in den Bergen hatten, hab ich immer nachgefragt. Auch von IS Kämpfern habe ich mir abgeschaut, wie sie sich bewegen und wo sie in Deckung gehen. Wenn du überleben willst, dann musst du deinen Kopf benutzen und schnell lernen. Im Städtekrieg bewegt man sich von Haus zu Haus, indem man mit Vorschlaghämmern Löcher in die Wände schlägt. Das hat der IS natürlich zeitgleich auch gemacht. Wer es zuerst in einen Raum geschafft hat, der hat überlebt.

Der Sieg in Kobanê jährt sich nun zum 10. mal. Kobane ist zu so etwas wie einem modernen Mythos geworden. Welche Auswirkungen hat der Kampf für dich persönlich gehabt? Was hat sich nach dem Sieg von Kobanê für das Kurdische Volk geändert?

Ich bin ja eigentlich nicht für das kurdische Volk nach Kobanê gekommen, sondern für Shengal und die Menschheit. Wenn du die Freundschaft im Krieg erlebst und du siehst, wie sich jemand für einen anderen Freund und vor eine Kugel wirft, dann vergisst du das dein Leben lang nicht. Erklären kann ich das Gefühl nicht so gut, das muss man selbst erlebt haben. Mit dem Kriegseintritt der Internationalen Anti-IS Koalition hat sich die Lage natürlich verändert und wir hatten nicht mehr das Gefühl, komplett alleine dazustehen. Als die Flugzeuge angefangen haben, die Stellungen des IS zu bombardieren, hab ich zum Spaß gesagt, dass wir von jetzt an gut schlafen können. Natürlich war das nicht so. Im Krieg waren wir froh, wenn wir in der Nacht mal 1-2 Stunden die Augen zu bekommen haben.

Kobanê war von seiner Bedeutung wie Stalingrad. Du weißt, dass du für was kämpfst und das erfüllt dich mit Stolz. Unsere eigenen Gefallenen haben wir immer versucht zu bergen. Manchmal sind dafür vier oder fünf FreundInnen gefallen. Ich kann mich noch erinnern, dass unsere Einheit zwei FreundInnen bergen wollte. Ein Team ist losgegangen und sieben FreundInnen sind gefallen. Der IS hatte dort eine Mine platziert. Eine zweite Gruppe ist daraufhin losgegangen und 12 FreundInnen wurden verletzt. Erst als Flugzeuge der Koalition gekommen sind und lauter Staub nach der Bombardierung in der Luft war, konnten wir unsere Gefallenen bergen.

Beim IS war das etwas anderes. Wenn ein normaler Kämpfer getötet wurde, war das denen egal. Einmal haben wir aber einen Emir erschossen. Die IS Kämpfer sind wie Verrückte unter unserem Feuer zum Emir gerannt, um ihn vom Boden aufzuheben. Bestimmt 250-300 von denen sind dabei gestorben. Irgendwann sind uns die Kugeln ausgegangen und dann haben wir nicht weiter geschossen.

In zahlreichen Revolutionen in der Geschichte blieb das Kriegshandwerk Sache der Männer. Frauen wurde untersagt sich daran zu beteiligen. Im Gegendatz dazu wird die außerordentliche Rolle von Frauen in der Verteidigung Kobanes oft hervorgehoben. Wie hast du die Rolle von Frauen im Krieg wahrgenommen?

Diese Frage ist sehr wichtig. An unserer Seite haben sehr viele Frauen gekämpft. Die Wahrheit ist, dass die meisten Frauen besser als wir Männer gekämpft haben. Dadurch, dass sie an unserer Seite gekämpft haben, haben auch wir mehr Kraft bekommen. Wenn du neben einer Frau gekämpfst, dann empfindest du Stolz. Ich habe ja davon erzählt, dass als ich mit Heval Silava in der Stellung war. Damals hatte sie zuerst gesagt, dass sie den anrückenden Feind mit ihrer RPG beschießt. In der Situation konnte ich natürlich nicht sagen, dass ich Angst hatte. Stattdessen hab ich dann gesagt: „Ich schieße auch mit“.

In der Verteidigung von Kobanê haben die Frauen wirklich eine große Rolle gespielt. Auch der IS hat große Angst vor den Frauen gehabt, gerade bei ihrem „tilili“ Schlachtruf. Die Frauen waren stärker als Männer und sie waren immer an vorderster Linie. In meinem vorherigen Leben in Deutschland habe ich Frauen anders gesehen. Beispielsweise meine Mutter und meine Schwester, die sich immer um die Kinder kümmern und Essen machen sollten. Wenn du siehst, dass Frauen zweimal so stark wie Männer kämpfen, dann verändert das natürlich ein solches Weltbild. Ich könnte noch viel mehr davon erzählen, wenn man es aber nicht selber erlebt hat, dann kann man sich das nur schwer vorstellen.

Was willst du unserern Leserinnen und Lesern noch mit auf den Weg geben?

Der Widerstand von Kobanê war ein Stich ins Herz vom IS und genauso ins Herz der Türkei. Die berüchtigsten Kämpfer und Kommandanten vom IS sind in Kobanê getötet worden. Diese Kräfte wollen daher immer noch Kobanê einnehmen. Der IS hat seinen Fehler eingesehen, zuerst versucht zu haben Kobanê vor dem Rest Syriens einzunehmen. Mit solch einem Widerstand hatte niemand gerechnet. Gerade besteht aber die Gefahr, dass versucht wird, Kobanê zu umzingeln, indem von der Karakozak Brücke und Ain Issa angegriffen wird. Jedes Kind hier weiß aber, dass in Kobanê die Menschheit verteidigt wurde. Wenn Kobanê gefallen wäre, dann hätte den Vormarsch des IS keiner stoppen können.

Jedes eingenommene Dorf hat für den IS zehn neue Kämpfer bedeutet, jede Stadt hundert. Die Zahl der Kämpfer ist also stetig gewachsen. In den Dörfern, die wir befreit haben, habe ich einen IS Kämpfer gesehen, der nicht einmal eine Pistole hatte und auf Badelatschen gelaufen ist. Vier Kugeln von mir hatten ihn getroffen, er ist trotzdem „Allahu Ekbar“ schreiend auf uns zu gerannt. Erst nachdem ihn die fünften Kugel in den Kopf getroffen hatte, ist er in sich zusammengesackt. Bei der Durchsuchung haben wir eine Spritze und Drogen gefunden. Das war bei sehr vielen IS-Kämpfern so. In einem Gefecht an der Karakozak Brücke haben wir 17 Kämpfer aus den Spezialeinheiten von IS getötet. Unter ihnen waren Deutsche, Griechen, Chinesen und Afrikaner. Alle waren sehr hochgewachsen und trugen große Dolche bei sich. Bei dem Deutschen haben wir einen Koran auf Deutsch gefunden. Ebenso waren auch Tschetschenen, Kurden und Türken mit dabei. Hätten wir den IS damals nicht in Kobanê gestoppt, dann hätte ihn niemand mehr stoppen können. Ich glaube nicht, dass sie Kobane angreifen. Das liegt nicht nur an unserer Stärke, sondern daran, dass Kobane zu einem Symbol für die Welt geworden ist. In diesem Leben kann aber alles passieren.

Foto: YPGà Kobané4,VOA,C0 via wikimedia

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Seit knapp zwei Monaten greift der faschistische türkische Staat wieder großflächig Gebiete in Rojava an. Diese erneute militärische Operation mit dem Namen „Klauenschwert“ zeichnet sich dabei vor allem durch wahllose Angriffe auf zivile Infrastruktur aus, der revolutionäre Geist Rojavas soll mit allen Mitteln des Spezialkrieges gebrochen werden. Drohnen-Attentate, Flugzeugangriffe und Großflächenbombardements sind in Rojava unlängst wieder zum Alltag geworden. Überdies hat Erdoğan mehrmals mit einer Bodenoffensive bis tief in die Gebiete der Autonomen Selbstverwaltung gedroht. Wir haben mit Kämpferinnen von YPJ-International über ihre Einschätzung der Lage, ihre Gründe vor Ort zu sein und ihren Appell an uns Linke in Deutschland gesprochen. YPJ-International ist eine Einheit aus Frauen und umfasst internationalistische Freiwillige aus verschiedenen Ländern der Welt und ist strukturell an die vielfältigen Verteidigungseinheiten Rojavas angebunden. Das Interview entstand im Dezember 2022.

Warum habt ihr euch entschieden, Teil von YPJ-International zu werden? Werdet ihr auch in Zukunft dort bleiben?

Zunächst wollen wir euch erst einmal für euer Interesse und eure Fragen danken. Es ist wichtig, insbesondere in Zeiten des intensivierten Angriffs miteinander im Austausch zu bleiben und internationalistische Perspektiven aufzubauen.
Die Gründe, sich den Frauenverteidigungseinheiten YPJ anzuschließen, sind vielfältig und oft auch mit persönlichen Erfahrungen verknüpft. Dennoch lässt sich feststellen, dass viele von uns mit dem Leben innerhalb der durch Kapitalismus, Patriarchat und Staat zersetzten Gesellschaft nicht mehr einverstanden waren. In unserer Suche nach Alternativen schien uns die Revolution in Rojava Antworten zu bieten. Viele von uns haben bereits vorher die Analysen von Abdullah Öcalan gelesen und wollten an den Ort, wo nach seinen Ideen eine Revolution entsteht. Insbesondere als Frau liegt es oft nicht nahe sich einer bewaffneten Einheit anzuschließen. Zu groß die Zweifel am eigenen Können, zu fremd das Bild der kämpfenden Frau – auch wenn wir es mit Bewunderung auf Fotos wahrnehmen. Doch wir haben den Schritt gewagt und keine von uns hat ihn bisher bereut. Im Gegenteil, wir lernen uns selbst, die Revolution und den Befreiungskampf der Frauen täglich besser kennen und sind ein Teil davon geworden. Es ist wichtig zu verstehen, dass wir nicht in erster Linie hier sind, weil die Verteidigungseinheiten auf unsere Unterstützung angewiesen wären. Wir sind hier, weil wir ein Teil der Revolution, ein Teil der Antwort auf den faschistischen Angriff und ein Teil der Hoffnung auf eine freie Welt sein wollen. Einige von uns werden irgendwann in ihre Heimat zurückkehren und dort weiter für die Revolution kämpfen, doch aktuell sehen wir uns einer Offensive entgegen, die keine von uns ans Zurückkehren denken lässt. Wir haben dafür trainiert und uns vorbereitet, an der Seite der Freund*innen, Genoss*innen und der Menschen Nord- und Ostsyriens gegen den türkischen Faschismus Widerstand zu leisten.

Wie bewältigt ihr euren Alltag, euer Leben in der Gemeinschaft in der aktuellen Situation? Hat sich etwas grundlegend verändert? Wie ist eure Stimmung?

Der türkische Staat greift insbesondere die Infrastruktur, also Gas-, Strom-, Wasser- und Kraftstoffanlagen an. Das wirkt sich auf alle, die hier in Nord- und Ostsyrien leben, aus. Als militärische Einheit sind wir auf eine mögliche Bodeninvasion vorbereitet. Es war seit langer Zeit davon auszugehen, dass wir uns eines Tages erneuten Invasionsbestrebungen gegenüber sehen werden und die Revolution verteidigen müssen. Wir müssen jedoch feststellen, dass Rojava auch vor dem 19. November im Kriegszustand war, wenn auch in einem Krieg niederer Intensität. Einige Freundinnen sind nun an die Front gegangen, andere konzentrieren sich auf medizinische Notversorgung oder Pressearbeiten. In einer Situation wie dieser steigt natürlich das Arbeitslevel nochmal an und es entsteht auch mal Stress. Aber durch unsere Prinzipien und eine gemeinsame Planung und Bewältigung des Alltags können wir uns immer gegenseitig unterstützen und aufeinander achten. Die Stimmung ist kämpferisch.


Was bereitet euch am meisten Sorge und was sind eure Ängste? Was gibt euch Hoffnung und Moral?

Niemand von uns will Krieg, denn Krieg bedeutet immer Leiden, insbesondere für die Bevölkerung. Doch im Falle eines Angriffes, wie diesem, sind wir bereit die Revolution und die befreiten Gebiete zu verteidigen – bis zum letzten Blutstropfen. Wir können auf unsere eigene Stärke und ebenso auf die Freundinnen neben uns vertrauen. Das gibt uns Mut. Hoffnung ist kein sich ohne dein Zutun einstellender Zustand. Hoffnung ist immer eine Entscheidung. Solange wir also hoffen, solange kämpfen wir und solange lassen wir nicht zu, dass das faschistische System Angst in unseren Herzen sät. Das System des Nationalstaats hat uns gelehrt, dass es keine Alternative gäbe und dass wir nichts an all dem Leid, der Gewalt und Unterdrückung ändern könnten. Also ist Hoffnung auch Widerstand gegen eine Lüge, die dir Fesseln anlegt und dich zum Stillstand bringt.

Wie schätzt ihr die aktuelle Lage vor Ort ein und die Androhung des türkisch-faschistischen Staates von einem erneuten Einsatz von Bodentruppen? Denkt ihr, dass es dieses Mal um den Fortbestand oder die Zerschlagung der Revolution geht?

Wir nehmen die Androhung einer erneuten Invasion durchaus ernst und bereiten uns darauf vor. Die Angriffe des türkischen Staates sind nicht als bloße Landbesetzungsversuche zu werten. Es geht um einen Genozid, um die Vernichtung des kurdischen Volkes sowie all der Menschen, die hier in Frieden und Freiheit nach dem Paradigma des demokratischen Konföderalismus leben wollen. Wir befinden uns in einer Phase des Kampfes um das Sein oder Nicht-Sein. Nachdem Erdoğan in den Bergen Kurdistans empfindliche Rückschläge erlitt, scheint er es nun erneut in Rojava probieren zu wollen. Es gibt für ihn nur die Möglichkeit des Krieges, eine andere Lösung käme ebenso seiner Vernichtung gleich wie eine militärische Niederlage. Der heldenhafte Widerstand der Freundinnen und Freunde in den Bergen Kurdistans hat ihn noch mehr in die Enge getrieben. Die vielfältigen grausamen und völkerrechtswidrigen Mittel, zu denen er vergeblich greift, um den Widerstand zu brechen, zeigen wozu er bereit ist. In Nord- und Ostsyrien greift der türkische Staat insbesondere auf islamistische Schläferzellen und Söldnertruppen zurück. Damit verfolgt er die Strategie, die Revolution an möglichst vielen Fronten anzugreifen und zu schwächen. Es wurden in den letzten Wochen sowohl gezielt Sicherheitskräfte, die für die Bewachung IS-Gefangener zuständig waren, bombardiert als auch sogenannte IS-Schläferzellen aktiviert.

Wie schätzt ihr die Drohnenangriffe auf Vertreter*innen der Internationalen Anti-IS Koalition und die ausbleibenden Reaktionen der internationalen Staatengemeinschaft ein?

Es ist nicht möglich für den türkischen Staat in den syrischen Luftraum einzudringen, ohne dass die Koalitionsmächte und Russland davon erfahren. Die Angriffe waren abgesprochen und zielten darauf, unsere Kräfte vor Ort zu treffen. Gerade hier zeigt sich das Gesicht unseres wahren Feindes – des Systems des kapitalistischen, imperialistischen Nationalstaats. Die Türkei ist ein wichtiger Teil dieses Systems, wohingegen die Revolution eine Bedrohung für dieses darstellt. Dementsprechend wollen wir nicht auf direkte Unterstützung der internationalen Staatengemeinschaft bauen. Doch sollte der Welt bewusst sein, dass mit den Angriffen des türkischen Staates auch der weltweit gefürchtete Islamische Staat, der durch unsere Verteidigungseinheiten besiegt wurde, wieder erstarkt. Immer noch sind zehntausende IS-Terroristen und Terroristinnen in unseren Händen, unter ihnen auch Tausende aus Europa und den USA. Eine unserer Missionen gegen Untergrundbewegungen des IS mussten wir bereits auf Grund der Angriffe stoppen. Sollte die Situation sich zuspitzen, wird es immer schwerer werden all die Gefangenen sicher zu verwahren.

Wie bewertet ihr die Aussage der deutschen Innenministerin Nancy Faeser (SPD), fest an der Seite der Türkei im „Kampf gegen Terrorismus“ zu stehen und die Rolle Deutschlands im Krieg gegen die Revolution von Rojava generell?

Der deutsche Staat und der türkische Staat sind historisch eng miteinander verbunden. Die beiden Staaten verfügten immer über weitgehende diplomatische, wirtschaftliche, militärische aber auch ideelle Verbindungen. Das türkische Militär wurde maßgeblich durch deutsche Soldaten ausgebildet und die Waffenindustrie mit deutscher Unterstützung aufgebaut. Mustafa Kemal Atatürk galt Hitler als großes Vorbild. Der Aufstand von Dersim 1937 wurde durch deutsches Giftgas niedergeschlagen. Heute wird Cyanwasserstoff (Blausäure, Anmerk. d. R.) gegen die Guerilla eingesetzt. In Deutschland ist diese Chemikalie besser bekannt unter dem Namen Zyklon B. Auch in dem Kampf gegen das kurdische Volk und die Befreiungsphilosophie Öcalans stand die BRD immer an der Seite des türkischen Staates. Als Innenministerin erhält die Sozialdemokratin Nancy Faeser eine Politik der Verfolgung und Kriminalisierung kurdischer und internationalistischer Kämpfe aufrecht. Die Arbeiterpartei PKK und ihr Vorsitzender Abdullah Öcalan werden als terroristisch eingestuft. Die Solidaritätsbewegung Rojavas als auch Gruppen, die das System des demokratischen Konföderalismus als ihre Grundlage betrachten, werden Repressalien ausgesetzt. Der erste Bericht der Tagesschau zu den türkischen Angriffen war mit Aufnahmen aus dem türkischen Verteidigungsministerium gespickt. Dabei wurde gezeigt, wie Drohnen 12 Zivilist*innen ermordeten. Kurzum: Machen wir uns nichts vor, der türkische und der deutsche Staat bilden eine Einheit und sind Feinde unserer Befreiungskämpfe. Doch umso mehr müssen wir uns bewusst werden, dass auch die revolutionären und widerständigen Kämpfe der kurdischen und türkischen Menschen mit denen in Deutschland verbunden sind. Nur wenn wir unsere Bewegung als eine gemeinsame internationalistische Revolution begreifen, können wir uns erfolgreich wehren.

Wie beurteilt ihr die aktuelle Kriegssituation hinsichtlich der Angriffe und des Widerstands in Rojhlat (Ostkurdistan) und dem Iran?

Der Widerstand in Rojhilat und dem Iran zeigt uns, dass die Revolution der Frauen im 21. Jahrhundert nicht mehr aufzuhalten ist. Dass der Slogan „Jin, Jiyan, Azadî“ dabei weltweit an Stärke gewann und Frauen dazu ermutigte gegen ihre Fesseln anzukämpfen, zeigt erneut, dass die Revolution in Kurdistan nicht nur für das kurdische Volk oder den Mittleren Osten eine entscheidende Rolle einnimmt. Diese Revolution ist eine Internationalistische, was bedeutet, dass ihre Philosophie auf der gesamten Welt Perspektiven auf eine Befreiung von Unterdrückung ermöglicht.

Nehmt ihr einen Unterschied in der Motivation/ Kraft/ Moral der Bewegung wahr im Vergleich zu 20152018 oder 2019?

Nach dem Besatzungsangriff gegen Serêkaniyê und Gire Spî intensivierte der türkische Staat Drohnenangriffe, die gezielt führende Personen der Revolution töteten. Allein in diesem Jahr sind mindestens acht YPJ-Kämpferinnen, darunter erfahrende Kommandantinnen, im Kampf gegen den IS durch Drohnenangriffe getötet worden. Außerdem wurden wichtige Vertrauenspersonen, Politiker*innen und Menschen mit gesellschaftlichen Aufgaben aus den zivilen Gebieten gezielt exekutiert. Erdoğan will der Gesellschaft dadurch gezielt ihre Vorreiter*innen nehmen. Die Ausweitung der angewandten Kriegsmethoden macht sich bemerkbar. Im Vergleich zu den vorangegangenen Jahren mussten wir uns auf die neue Art der Angriffe einstellen und dementsprechend andere Vorkehrungen treffen. Was dem türkischen Staat jedoch bis heute nicht gelungen ist, ist mit diesen Methoden die Bevölkerung von der Revolution zu entfernen. Im Gegenteil, als die Angriffe seit dem 19. November intensiviert wurden, sind viele ehemalige YPG- und YPJ-Kämpferinnen, die aus unterschiedlichen Gründen die militärischen Einheiten verlassen hatten, wieder zurückgekommen. Das politische Verständnis innerhalb der Bevölkerung über das Ziel dieser Methoden, ist sehr hoch und noch höher ist die Entschlossenheit, sie ins Leere laufen zu lassen. Der Fortschritt in der Organisierung der Zivilgesellschaft, im Vergleich zu den Jahren zuvor, ist spürbar. Kommunen, Räte, Initiativen und Vereine geben täglich Erklärungen ab, die ihre Verbundenheit mit den YPJ/YPG und SDF (Syrian Democratic Forces, Anmerk. d. R.) ausdrücken. 
Gerade dadurch, dass die Angriffe so stark gegen die Bevölkerung gerichtet werden, entwickelt sich dort ein ungemeiner Kampfgeist und Wille. Über die Jahre haben wir an Erfahrung gewonnen, die wir teils schmerzlich bezahlen mussten, etwa mit dem Verlust Efrîns und Serêkaniyês. Insbesondere im Kampf innerhalb der Städte gegen eine gut ausgestattete NATO-Armee mit dschihadistischer Unterstützung am Boden haben wir uns weiterentwickelt. Es wurde aus Fehlern und Kritiken gelernt, so dass sich nun besser auf die aktuelle Lage angepasst werden kann.

Nehmt ihr die Proteste in Deutschland gegen die Angriffe auf Kurdistan wahr?

Auf jeden Fall. Die weltweiten Proteste werden in den Abendnachrichten im kurdischen Fernsehen gezeigt. Es gibt uns sehr viel Hoffnung und Stärke unsere Freund*innen und Genoss*innen Zuhause zu sehen. Manchmal erschreckt es uns aber auch, wenn z.B. in Berlin nur etwa 20 Personen an einer Kundgebung teilnehmen. Dennoch, jede Aktion ist ein Ausdruck der Solidarität und ebenso ein Teil des Kampfes, wie unsere Arbeiten hier vor Ort.

Was wollt ihr den linken, feministischen Kräften in Deutschland sagen? Was kann aus eurer Sicht hier in den Zentren der Rüstung gegen den Krieg getan werden?

Wie bereits oben erwähnt, freuen wir uns über jegliche Form von solidarischen Aktionen. Doch Internationalismus bedeutet nicht fremde Kämpfe zu unterstützen, sondern vielmehr sich als Teil des Kampfes, als Teil eines revolutionären Prozesses zu begreifen, unabhängig davon, wo man sich gerade befindet. Deswegen ist es wichtig, sich mit der Idee, der Philosophie dieser Revolution auseinander zu setzen, eine eigene militante Persönlichkeit aufzubauen und sich, insbesondere als Frauen gemeinsam zu organisieren. Statt uns zu spalten, Hoffnungslosigkeit zu verbreiten und im Individualismus zu versinken, müssen wir insbesondere in Deutschland wieder eine kämpferische Bewegung werden, die um ihre Geschichte weiß und Antworten auf die Probleme der Gesellschaft geben kann. Wie Şehîd Bager Nûjiyan sagte: „Den härtesten Kampf führst du immer gegen dich selbst.“

Auch wollen wir dazu aufrufen, nach Rojava zu kommen und sich uns hier anzuschließen, um zu lernen und gemeinsam zu wachsen. Neben den Verteidigungseinheiten könnt ihr euch auch an Arbeiten in der Jugend, Gesellschaft, Jineolojî sowie an Frauen-, Kultur-, Presse- und Gesundheitsarbeiten beteiligen. Gerade wegen der engen Verbundenheit zwischen dem deutschen und den türkischen Staat ist es notwendig, dass die Komplizenschaft mit dem faschistischen AKP-MHP Regime der Türkei aufgedeckt wird. Wir glauben, dass es viele verschiedene Formen gibt dies zu tun und appellieren an euch, jetzt den Druck von unten und auf der Straße zu verstärken. Wir wissen, dass der türkische Staat den Zeitpunkt für die aktuelle Operation gegen Rojava nicht zufällig gewählt hat. Fussball-WM und der Krieg in der Ukraine sind für Erdoğan gute Ablenkungsmöglichkeiten. Auch haben wir beobachtet, dass den Angriffen hier nicht die nötige Aufmerksamkeit in der BRD zukommt. Wir glauben, dass es die dringende Aufgabe einer sich als internationalistisch verstehenden Linken in Deutschland sein muss, der Bevölkerung ins Gedächtnis zu rufen, was hier gerade passiert und entsprechende Personen in Wirtschaft und Politik dafür zur Verantwortung zu ziehen. Genauso wie die Verteidigungseinheiten der YPJ/YPG alles geben, um das historisch einmalige revolutionäre Projekt staatenloser Radikaldemokratie als Wert der ganzen Menschheit zu verteidigen, müssen Linke in Deutschland ihrer Verantwortung nachkommen, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um den Krieg zu stoppen. Wir glauben, dass die Möglichkeiten hierfür noch lange nicht ausgeschöpft sind. Zudem kommt es aktuell wieder zu einer verstärkten Reorganisierung des Islamischen Staats. Leider beobachten wir, dass in Europa islamistische Gruppen nach wie vor kaum als Gegner im antifaschistischen Kampf verstanden werden und es immense Schwachstellen in Bezug auf Recherche, Aufklärung und Aktionen gibt. Es muss uns bewusst sein, dass der IS in Europa sowohl massenhaft Ressourcen sammelt, als auch Kämpfer rekrutiert. Die Menschen hier vor Ort sind bereit, ihr Leben für die Verteidigung der Frauenrevolution aufs Spiel zu setzen. Wir erwarten daher, dass unsere Genoss*innen in der BRD die Wichtigkeit von Rojava verstehen und ihr Handeln als eine historische Verantwortung begreifen, vor allem all denjenigen gegenüber, die ihr Leben für den Traum einer freien Gesellschaft gegeben haben.

Şehîd namirin

#Gastbeitrag AK36

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Gastbeitrag von WJAS

Seit dem 19.11.2022 greift die türkische Regierung erneut die selbstverwalteten Gebiete in Nord- und Ostsyrien mit Artillerie, Drohnen und Luftschlägen an. Es ist das erste Mal, dass die militärischen Angriffe der Türkei das gesamte selbstverwaltete Gebiet auf einmal betreffen und dass flächendeckend zivile Ziele und kritische Infrastruktur attackiert werden. Präsident Erdogan droht zudem offen mit einer Bodenoffensive. 

Wir – das Europa Komitee der Stiftung der Freien Frau in Syrien (Weqfa Jina Azad a Sûrî, kurz: WJAS) – sind mit unseren Partnerinnen der Stiftung WJAS in Nord- und Ostsyrien durch Videocalls und Messenger-Nachrichten in Kontakt und verfolgen wütend, entsetzt aber auch beeindruckt von der Stärke der Frauen und der kurdischen Bewegung, das Geschehen vor Ort und den Widerstand der Menschen. 

Berichte aus erster Hand 

Wir sprechen mit S., die die Stiftungsarbeiten von Qamişlo aus koordiniert. „Die Arbeiten gehen trotz massiver militärischer Anschläge weiter, wo immer es möglich ist“, berichtet sie.

„Weil zunehmend zivile Strukturen wie Schulen, Krankenhäuser, Elektrizitätswerke etc. angegriffen werden, ist die Lage besonders gefährlich und die Gebäude der Stiftung werden nur noch wenig genutzt, da sie potentielle Angriffsziele darstellen. Stattdessen wird die Arbeit nach draußen verlagert und dezentralisiert.“ 

Sie erzählt, dass einige Projekte in den Gegenden liegen, die direkt unter Beschuss stehen. Im Al Hol und im Roj-Camp beispielsweise, mussten die Arbeiten temporär ausgesetzt werden, aktuell laufen sie bereits weiter (Stand: 11 Dez. 2022). In Kobanê mussten aus dem Waisenhaus, das dort von der Stiftung betrieben wird, 30 Kinder evakuiert werden. Die mobile Klinik, ein gemeinschaftliches Projekt der Stiftung und der Städtepartnerschaft Friedrichshain-Kreuzberg – Dêrik e.V., die in den Dörfern um Derik herum eine medizinische Basisversorgung für Frauen und Kinder anbietet, musste ebenfalls vorübergehend ihre Arbeit einstellen.

Direkte Arbeit mit der Zivilbevölkerung und das Nothilfeprojekt

S. berichtet konzentriert über das Nothilfeprojekt, das vor einigen Monaten ins Leben gerufen wurde. Es wurde bereits im Vorfeld begonnen, Ersthelfer*innen in medizinischen Sofortmaßnahmen zu schulen, damit sie im Angriffsfall verletzten Menschen Erste Hilfe leisten können, denn es gibt überall zu wenig medizinisches Personal. Zu den Lerninhalten gehören Kenntnisse über Brandwunden, Giftgasinhalation und diverse andere Verletzungen. In einigen Orten des Landes wurden Keller vorbereitet und mit Schlafplätzen, Lebensmitteln, Heizmaterialien und medizinischem Material ausgestattet, um so Schutzräume für die Bevölkerung und die Arbeiten der Stiftung zu schaffen.

Die direkte Arbeit mit der Zivilbevölkerung, die ohne Pause und auch unter Kriegsbedingungen weitergeht, beinhaltet zwei Aspekte, erläutert S.: 

  1. Den ideologischen Aspekt: durch Gespräche und Ermutigung aber auch durch das Vorleben vom „weiter machen und nicht aufgeben“ den Menschen beizustehen, die bleiben und ihr Land beschützen wollen oder nicht fliehen können. Dass die Menschen in ihren Städten und in ihren Häusern bleiben, ist ein Akt des Widerstandes, denn eins der Ziele der türkischen Angriffe ist, dass die Menschen ihre Häuser verlassen und so Platz für die türkischen Besatzer und ihre dschihadistischen Milizen zu schaffen.
  1. Den praktischen Aspekt: durch die Ausbildung von Ersthelfer*innen wird den Menschen die Möglichkeit gegeben, in der bedrohlichen Kriegssituation aktiv zu werden und selbst etwas tun zu können, anstatt nur ohnmächtig zuschauen zu müssen. Durch die Bereitstellung und Ausstattung der Keller wird ein Schutzraum zur Verfügung gestellt.

Kritische Infrastruktur und zivile Ziele werden bewusst zerstört

Während unsere Partnerin über ihre Arbeiten mit der Stiftung berichtet, wird es bei ihr im Hintergrund plötzlich dunkel – Stromausfall. Die türkische Regierung bombardiert gezielt Elektrizitätswerke und Stromleitungen, um die zivile Bevölkerung vom Leben abzuschneiden und zum Verlassen ihrer Häuser zu zwingen. Weitere kritische Infrastruktur wird gezielt vernichtet, um den Menschen die Hoffnung zu rauben und den Widerstand zu brechen: Kliniken, Schulen, Getreidesilos, Ölfelder, Kraftwerke, Wasserleitungen. „Doch das ist nicht alles“, erzählt uns S., „Es werden gezielt Camps und Gefängnisse bombardiert, in denen IS-Kämpfer inhaftiert sind. Diesen wird so zur Flucht verholfen. Wir werden also nicht nur durch die Angriffe der türkischen Regierung, sondern auch durch befreite IS-Kämpfer bedroht!“. 

Die Arbeit in den Gesundheitsstrukturen ist gefährlich geworden

Ein weiteres Gespräch führen wir mit M., einer Mitarbeiterin der Stiftung, die in den Gesundheitsstrukturen aktiv ist. Sie arbeitet seit 30 Jahren als Hebamme, koordiniert zudem die Gesundheitsarbeiten der Stiftung, führt Ausbildungen durch und hält Vorträge zu medizinischen Themen. Die aktuellen Kriegshandlungen, insbesondere die Luftschläge belasten sie und ihre Arbeit im Gesundheitssektor sehr. „Das schlimmste ist“, berichtet M, „dass es zum Alltag und zur Selbstverständlichkeit geworden ist, täglich die Zielscheibe von tödlichen Angriffen des türkischen Regimes zu sein.“ Sie vergleicht die andauernden Angriffe mit einem Regen von Bomben der nicht aufhört und der, anders als ein normaler Regen, mit Tod und Trauer von Zivilisten endet. Ihr Alltag und ihre Arbeitsbedingungen sind schwierig geworden. „Die Wege zu den verschiedenen Einrichtungen sind gefährlich, die Straßen sind zum Teil gesperrt, es wurden Autos in die Luft gesprengt, die Sicherheit auf den Straßen ist nicht gewährleistet.“, berichtet M. Trotzdem arbeitet sie an 7 Tagen der Woche – denn Geburten und Notfälle nehmen auf Ausnahmesituationen keine Rücksicht und sie wird gebraucht – jetzt mehr denn je. 

Wir sind beeindruckt von ihrer Ausdauer. „Guckt mal“, sagt sie, „seit 2011 leben wir hier in andauernden Kriegsbedingungen. Und trotzdem haben wir die Hoffnung nicht verloren. Wir wollen hier in unseren Häusern bleiben und weiter in unseren Projekten arbeiten!“. Daher haben sie sich vorbereitet, Medikamente und Materialien gekauft, Keller angemietet. So können Projekte weiterlaufen und Einrichtungen, wie z.B. die von der Stiftung betriebenen Polikliniken weiterhin Patient*innen behandeln. Aber die Vorräte werden nicht ewig reichen. Es ist in der aktuellen Situation schwierig Medikamente zu bekommen und diese sind teuer geworden. Deshalb ist es wichtig die Vorräte jetzt so aufzustocken, dass sie bis Ende des Jahres reichen.

Wir müssen den politischen Druck auf die internationale Gemeinschaft erhöhen 

„Was können wir tun?“, fragen wir unsere Partnerinnen von der Stiftung. S. lächelt. Ihr ist es wichtig, dass die Menschen in der Welt erfahren, was in Nord-Ost-Syrien passiert und welchen Kampf insbesondere die Frauenorganisationen dort führen. Die Proteste in Europa stellen für sie und für die gesamte Bevölkerung eine wichtige moralische Unterstützung dar. Sie wünschen sich zudem politischen Druck auf die europäischen Regierungen, damit diese sich entschieden gegen den türkischen Überfall wenden. Dieser Krieg muss sofort beendet werden, damit die Menschen in Nord- und Ostsyrien wieder in Frieden leben können!

Außerdem benötigt die Stiftung dringend finanzielle Unterstützung, um die verschiedenen Projekte, insbesondere das Nothilfeprojekt, weiter durchführen zu können. Neben medizinischen Materialien, Medikamenten und Nahrungsmitteln sind besonders warme Kleidung, Decken und Heizmaterial für die Öfen unbedingt notwendig, denn es ist Winter und die Menschen sind zum Teil von lebenswichtiger Versorgung abgeschnitten. 

Wir bleiben mit den Frauen der Stiftung in Kontakt und werden weiterhin berichten und protestieren! Wenn ihr unsere Arbeit und die Frauen in Nord- und Ostsyrien konkret unterstützen wollt, könnt ihr spenden, Flyer verteilen, Veranstaltungen organisieren und eigene Ideen umsetzen!

Kurdistan Hilfe e.V.
Stichwort: WJAS
Bank: Hamburger Sparkasse
IBAN: DE40 2005 0550 1049 2227 04
BIC: HASPDEHHXXX 

Foto: WJAS

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Fast genau zehn Jahre nach dem Attentat auf drei Genoss:innen der kurdischen Freiheitsbewegung 2013 in Paris kam es am 23. Dezember zu einem erneuten Mordangriff auf Kurd:innen.

Hubert Maulhofer sprach mit Konstantin von der internationalen Kampagne „Defend Kurdistan“ über das Geschehene und die Hintergründe.

Kannst du uns kurz etwas zur aktuellen Situation und dem Attentat des 23. Dezember geben?

Am 23. Dezember kam es mitten am Tag im Stadtzentrum von Paris, dort wo sich das kurdische Kulturzentrum „Ahmet Kaya“ befindet, zu einem blutigen Attentat. Der Täter schoss auf mehrere Menschen, die sich vor dem Kulturzentrum und in einem anliegenden Restaurant und Friseursalon befanden.

Drei Menschen sind dabei getötet worden, weitere teilweise schwer verletzt. Der Angreifer konnte durch den Mut einiger Menschen schließlich überwältigt werden, noch bevor die Polizei eintraf. Im Zuge dieses Anschlags kam es zu wütenden Protesten in ganz Europa, die dieses Attentat als eine Folge der anti-kurdischen Politik anprangern, welche sich immer weiter zuspitzt. Am 24. Dezember fand eine Großdemonstration in Paris statt. Die Demonstrationen wurden mehrfach von der französischen Polizei angegriffen und es kam zu Straßenschlachten.

In der kurdischen Community und in internationalistischen Zusammenhängen wird aktuell über eine Verbindung des Täters zum türkischen Staat bzw. dessen Geheimdienst MIT diskutiert und eine Parallele zu den Mordanschlägen von 2013 auf drei Genoss:innen in Paris gezogen. Was kannst du uns dazu sagen?

Wir sehen, dass dieses Attentat sich einreiht in eine anti-kurdische Politik. Von der Türkei und Nordkurdistan, wo tausende Menschen der Oppositionspartei HDP verhaftet werden, über die Giftgas-Angriffe der türkischen Armee in Südkurdistan bis zu den Angriffen auf Nord-Ost-Syrien, Rojava und die autonome Selbstverwaltung, bei denen gezielt zivile und lebensnotwendige Infrastruktur zerbombt wurde.

Auch in Europa existiert eine anti-kurdische Politik in Form der Kriminalisierung der kurdischen Freiheitsbewegung und ihrer Unterstützer:innen. Die Repression durch europäische Staaten wie die BRD und Frankreich nimmt immer weiter zu. Einen Tag vor dem Attentat in Paris wurde beispielsweise in Nürnberg ein Genosse inhaftiert, das dortige kurdische Kulturzentrum durchsucht. Diese Politik ermöglicht ein Klima, in welchem Anschläge, wie der von Paris, stattfinden können. Gleichzeitig sehen wir aber auch eine Kontinuität in diesem Attentat zu der Ermordung der Genossinnen Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez die im gleichen Stadtteil 2013 durch einen Agenten des türkischen Geheimdienstes ermordet wurden. Das Attentat jetzt fand zudem zu einem Zeitpunkt statt, in dem das jährliche Gedenken für die 2013 ermordeten Genossinnen im Pariser Kulturzentrum stattfanden. Wir werten den Angriff daher als einen gezielten Anschlag.

Was wissen wir über den Täter?

Es handelt sich um einen 69-jährigen Mann. Er hat bereits in der Vergangenheit Geflüchtete in einem Camp mit einem Schwert angegriffen und saß deshalb im Gefängnis. Er wurde aber vor elf Tagen aus dem Gefängnis entlassen. Die Tatsache, dass das Attentat in Paris in dem von mir oben angeführten Kontext stattfindet, und auch die Tatsache, dass er diese Tat mitten am Tag in einer Stadt wie Paris durchführen konnte, zeigt entgegen den Aussagen vieler bürgerlicher Medien, dass es sich hierbei nicht um eine Einzeltat handelt. Es geht um einen rassistischen, anti-kurdischen Mord. Das war ein gezielter Angriff auf die Aktivitäten der kurdischen Freiheitsbewegung in Europa. Wir sehen den türkischen Staat in der Verantwortung für diesen Mord.

Wir glauben, dass der französische Staat erneut „ein Auge zugedrückt“ hat, so ein Anschlag findet nicht einfach so statt. Der französische Staat hat kein Interesse daran, gegen die Aktivitäten des türkischen Geheimdienstes in Frankreich vorzugehen. Die mangelnde Aufklärung im Rahmen der Ermordung der drei Genossinnen 2013 bekräftigt dies und unsere Annahme, dass der 23. Dezember 2022 die Fortführung des Jahres 2013 ist.

Was wissen wir über die ermordeten Genoss:innen?

Bei den Gefallenen handelt es sich um Emine Kara, M. Şirin Aydın und Abdurrahman Kızıl.

Emine Kara war eine Genossin die aktiv in der kurdischen Frauenbewegung war und sich bereits seit 1989 in der Bewegung engagierte. In den Bergen und an vielen Orten in Kurdistan war sie aktiv und hat vor allem auch in Rojava eine große Rolle beim Aufbau der dortigen Selbstverwaltung gespielt. Sie half aktiv mit bei der Unterstützung der Jesid:innen nach den Massakern des sogenannten Islamischen Staats im Schengal. 2019 ist sie nach Europa gegangen, hat vor allem in Frankreich gewirkt und war aktiver teil des Vorbereitungskomitees für die Gedenkdemonstration an Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez in Paris.

Abdurrahman Kızıl war ein heimatverbundener Kurde, der sich in der Diaspora aktiv für die Rechte des kurdischen Volkes eingesetzt und an der demokratischen Gesellschaftsföderation in Frankreich beteiligt hat.

M. Şirin Aydın war ein kurdischer Musiker. Er war in der Diaspora bekannt für seine Lieder und ein Symbol der Vielfalt des Widerstands und der kurdischen Kultur.

Wie geht es jetzt weiter?

Der kurdische Dachverband in Europa „KCDK-E“ hat den Ausnahmezustand ausgerufen. Am 24. Dezember fand daraufhin in Paris eine erste Großdemonstration statt, auch Busse aus Deutschland sind angereist.

Gleichzeitig wird es in den kommenden Tagen überall in Europa zu Aktionen kommen. Die Hauptproteste werden jedoch vorerst in Frankreich und Paris stattfinden, um eine Verschleppung des Falls durch den französischen Staat zu verhindern.

Auch viele internationalistische Kräfte haben sich bereits solidarisiert und ihre Unterstützung ausgedrückt. Es ist an der Zeit, dass all diejenigen die hinter dem kurdischen Volk, der kurdischen Freiheitsbewegung und der Revolution stehen, für all diejenigen, die den türkischen Faschismus, seine europäischen Unterstützer und den Imperialismus bekämpfen, auf die Straße gehen und zur Aktion schreiten. Gerade jetzt in der Weihnachtszeit ist es wichtig, diese Geschehnisse nicht aus den Augen zu verlieren.

Update: Alle sind eingeladen nach Paris zu kommen und ihre Solidarität auszudrücken. Es gibt eine ständige Mahnwache vor dem Ahmet Kaya Kulturzentrum. Es wird aufgerufen überall dezentral Aktionen zu organisieren, um die Trauer und Wut zum Ausdruck zu bringen. Es wird eine große Beerdigung und Verabschiedung der Leichname in Paris geben. Alle sind aufgerufen und eingeladen daran teilzunehmen, allerdings ist noch unklar, wann die Leichname freigegeben werden. Sollte das vor dem 07.01.2023 passieren, wird für den 07.01. zu dezentralen Aktionen aufgerufen. Ansonsten wird am 07.01.2023 in Paris die alljährliche Gedenkdemonstration für Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez stattfinden. Wir rufen alle jetzt dazu auf an dieser Demonstration teilzunehmen und den nun sechs in Paris ermordeten Genoss:innen zu Gedenken.

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Die Fenster beben, der Boden bebt, ich höre meinen Namen, gefolgt von einigen kurdischen Wörtern. Ein weiterer Knall. Ich kann das stechende Geräusch des Flugzeugs, das über unsere Köpfe hinweg fliegt, förmlich spüren. Wie eine Spinne wandert es über meinen Rücken.

Die Fenster beben, der Boden bebt, die dritte Rakete schlägt ein. Auf meinen Namen folgt der Befehl, mich schnell auf den Boden zu legen. Von unten kommen Kinderschreie. Das Nötigste passt in die Jackentasche und ich trage nur meine Kamera. Mich ärgert es, dass ich keinen zusätzlichen Akku habe. Ich fühle mich unbeholfen: Warum denke ich in diesem schrecklichen Moment ausgerechnet daran?

Die Großmutter der Familie kontrolliert die Stimmung, hält die kollektive Angst im Zaum. Wir sind im sichersten und heißesten Raum, etwa 14 Personen. Die meisten Kinder schlafen, außer Armanc, der mit verschränkten Händen und zitternd auf den Beinen seiner Mutter liegt. Die Großmutter betet. Dann blickt sie mit offenen Händen auf und sagt: „Erdogan, warum tust du uns das an? Was haben wir getan? Kurd*innen zu sein? Wir haben Kinder! Was haben wir getan? Wir haben doch nur jeden Tag unsere Mahlzeiten zubereitet und versucht zu leben?“

Muhamed, der Vater einiger Kinder, sucht auf seinem Handy nach Informationen. „Es scheint, dass nicht nur Kobanê, sondern auch andere Städte gleichzeitig angegriffen werden“, sagt er und liest ihre Namen vor: „Derik, Ain Digna, Ayn Al Arab, Tal Rifat, Malikiyah, Şehba, Zirgan“. Außerdem wurden auch weitere Gebiete, außerhalb von Nordostysyrien, die aber für die kurdische Bewegung seit 40 Jahren große Bedeutung haben, getroffen. Zum Beispiel das Qandil-Gebirge und weitere Orte im kurdischen Nordirak.

Der Morgen des 20. November begann mit einem Tweet des türkischen Verteidigungsministers Hulusi Akar, der bekannt gab, dass die Operation „Klaue und Schwert“ erfolgreich durchgeführt wurde. Es seien mehr als 80 Ziele im Nordirak und im Gebiet der autonomen Selbstverwaltung von Nordostsyrien angegriffen worden. Die Angriffe in Nordsyrien breiteten sich von Derik, der irakisch-türkisch-syrischen Grenze, bis zum Bezirk Şehba aus, 40 Kilometer von der Stadt Aleppo entfernt. Der gesamte Luftraum in diesem Gebiet wird von den Vereinigten Staaten und Russland kontrolliert, was darauf hindeutet, dass beide Länder grünes Licht für den Angriff geben haben oder wegschauten.

In Kobanê war eines der Angriffsziele ein Corona-Krankenhaus. Am nächsten Morgen suchten Journalist*innen die Trümmer auf und die Türkei grifft wieder an. Ein Reporter wurde verletzt. In der nordsyrischen Stadt Derik wurden in der gleichen Nacht zwei Wachen eines Kraftwerks getötet. Als Menschen kamen, um zu helfen, darunter Krankenschwestern und Journalisten, griff die Türkei erneut mit Kampfflugzeugen und Drohnen an. Es starben zehn weitere Menschen. Ein halbes Dutzend wurde verletzt.

Dieses Doppelangriffe werden durch das Genfer Abkommen verboten: Wenn ein Ort bombardiert wird und Menschen zur Hilfe eilen dürfen diese nicht wieder bombardiert werden. Laut der in Großbritannien ansässigen Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte wurden innerhalb der ersten zwei Angriffstage allein in Nordsyrien mindestens 31 Menschen getötet.

In der Nacht werden von der Familie, bei der ich zu Besuch bin, viele Anrufe getätigt. Man versucht herauszufinden, wie es anderen Familienangehörigen geht und ob sie neue Informationen haben. Die Großmutter ist in einer WhatsApp-Gruppe von Verwandten von Gefallenen, die während dieses seit zu vielen Jahren andauernden Konflikts starben. Sie verlor selbst zwei ihrer Kinder: Eines davon starb, als es die vom Islamischen Staat hinterlassenen Minen entschärfte. „Ich hoffe, es gibt keine Toten“, murmelt die betagte Frau vor sich hin.

„Bisher gab es hier vor allem türkische Drohnen. Man hat sie erst bei der Explosion gehört oder am nächsten Tag davon erfahren. Jetzt sind die Flugzeuge zurück, da muss etwas passiert sein“, erklärt Muhamed. Die App „Syria live map“ zeigt an, dass die von Russland kontrollierte Flugzone freigegeben ist. Dazu gehört auch der Luftraum über Kobanê, wo wir uns aufhalten. Als die Luftangriffe begannen, twitterte Minister Akar, dass die „Stunde des jüngsten Gerichts“ gekommen sei, zusammen mit Bildern eines startenden Kampfjets und einer Explosion. „Zeit um Rechenschaft abzulegen! Diese Schurken bezahlen für ihre verräterischen Angriffe“, schrieb er in einem anderen Tweet.

13. November in Istanbul. Eine Frau sitzt um 15:40 Uhr auf einer Bank auf der Istiklal Caddesi. Sie bleibt 40 Minuten an Ort und Stelle, steht auf, geht hinaus und wenige Minuten später explodiert eine Bombe, bei der sechs getötet und 81 verletzt werden. Keine terroristische Gruppe übernimmt die Verantwortung für den Angriff. Am nächsten Tag behauptet Innenminister Süleyman Soylu, die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) trage die Verantwortung für den Anschlag. Er gibt außerdem die Festnahme des mutmaßlichen Terroristen und 50 weiterer Personen bekannt. Soylu behauptet, der Angriff sei von der Stadt Kobanê koordiniert worden. Die aktuellen türkischen Angriffe auf Nordostsyrien werden so von Ankara als Reaktion auf den Angriff in Istanbul gerechtfertigt.

Aber die Invasion war schon lange vorher geplant. Seit Frühjahr 2022 versucht Erdogan, in das Gebiet einzudringen, das er heute angreift. Bisher hat ihm die Zustimmung der USA und Russlands gefehlt. Hinsichtlich des Anschlags in Istanbul gibt es noch keine eindeutigen Beweise, wer ihn ausgeführt hat, aber Ankara beschuldigt weiterhin die PKK und die nordsyrische YPG. Das Attentat dient der Türkei als Vorwand, um neue Angriffe zu starten.

Dass der Beginn der Invasion auf den Beginn der Weltmeisterschaft in Katar fällt, scheint keine Zufall zu sein. Es gibt viele Beispiele dafür, dass Gräueltaten in Zeiten passieren, in denen sich die Aufmerksamkeit der Welt auf die Weltmeisterschaft konzentriert.

Knapp sieben Monate sind es noch bis zu den Präsidentschaftswahlen in der Türkei, die für Erdogan zur schwierigsten Wahl seiner gesamten politischen Laufbahn geworden ist: Sein Land befindet sich in den letzten Jahren in extrem schlechten wirtschaftlichen Verhältnissen. Erdogan weiß, dass die türkische Wählerschaft mit Nationalismus und Kriegskampagnen liebäugelt und er ist sich darüber im Klaren, dass das das Einzige ist, was ihn an der Macht halten könnte.

Die Opposition, die sich aus sechs Parteien mit mehr oder weniger nationalistischem Charakter zusammensetzt, ist ebenfalls ein entschiedener Verteidiger einer „starken Hand“ gegen die Kurd*innen. Erdogan erklärte: „Wir beschränken uns nicht auf einen Luftangriff, wir werden uns mit dem Verteidigungsministerium und den Militärkommandeuren beratschlagen, inwiefern wir unsere Bodentruppen einsetzen. Dann werden wir sehen, wie es weitergeht.“

Seit 2016 ist die Türkei dreimal in Nordostsyrien einmarschiert und hat hunderte Kilometer Territorium von der autonomen Selbstverwaltung besetzt. Jetzt droht Erdogan wieder in ein Gebiet einzudringen, in dem sowohl die Vereinigten Staaten als auch Russland militärisch präsent sind. Dieser Modus Operandi ist der türkischen Regierung bestens bekannt: Angriff auf die Kurden, wenn die Popularitätswerte sinken, und das Versprechen, das Osmanische Reich wieder aufzubauen.

Ein paar Tage nach der Bombennacht in Kobanê nehmen die Angriffe im Gebiet der autonomen Selbstverwaltung Flächendecken zu. Erdogan erklärte in einem Fernsehinterview: „Seit einigen Tagen sind wir mit unseren Flugzeugen, Bomben und Drohnen den Terroristen auf der Spur. So Gott will, werden wir sie bald alle mit unseren Panzern, Artillerie und Soldaten ausrotten.“ Zur gleichen Zeit bombardierte eine türkische Drohne nördlich der Stadt Haseke einen Stützpunkt der internationalen Koalition gegen den IS und der Anti-Terrorismus-Einheiten YAT.

Erdogans angeblicher „Kampf gegen den Terror“ bedroht erneut das Leben von fünf Millionen Menschen, die seit 10 Jahren autonom leben und inmitten des Krieges Tage des Friedens suchen, die ihnen immer verweigert wurden.

Autor*innen: Mauricio Centurión und Ariadna Masmitjà

Titelbild: Türkischer Luftangriff auf Zirgan vom 3.12.22

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Die Türkei führt seit Tagen erneut eine großangelegte Militäroperation gegen die befreiten Gebiete der Selbstverwaltung in Nord-Ost-Syrien und Rojava. Zur aktuellen Lage und den politischen Hintergründen sprach Hubert Maulhofer mit Şoreş Ronahî, Mitglied der Internationalistischen Kommune in Rojava und der Kampagne Riseup4Rojava.

Vielleicht kannst du zu Beginn kurz erzählen, was seit dem begonnen Angriff der Türkei am vergangenen Sonntag in Rojava passiert ist?

In der Nacht vom 19. auf den 20. November hat die türkische Besatzungsarmee mit massiven Luftangriffen und Bombardements des gesamten Grenzgebiets, sowie Angriffen bis tief hinein ins Landesinnere, begonnen.

Diese Angriffe setzen sich bis zu diesem Moment fort. Es gibt ununterbrochene Angriffe mit Kampfjets, Drohnen und Hubschraubern. Getroffen wurden militärische Ziele der Genoss:innen der YPG, der YPJ und der SDF. Aber auch viele zivile Orte wurden angegriffen, beispielsweise das Stadtzentrum von Kobane und Qamislo.

Vor allem in den letzten zwei Tagen wurde begonnen fokussiert die zivile und ökonomische Infrastruktur anzugreifen. Also Ölfelder, Stromversorgung, Gasversorgung und Wasserversorgung. Krankenhäuser und Kliniken, sowie Schulen wurden bombardiert. So wie es aktuell aussieht ist nicht mit einer Entspannung der Lage zu rechnen.

Trotz dieser massiven Angriffe, der Schäden und der gefallenen Freunde und Freundinnen ist die Moral in der Bevölkerung hoch. Das Volk leistet Widerstand, ist auf der Straße und kämpft gegen diese Angriffe.

Als Kampagne „RiseUp4Rojava“ habt ihr regelmäßig daraufhin gewiesen das Rojava in einem permanenten Kriegszustand ist. Wurde die Strategie der Türkei, einer Kriegsführung niedriger Intensität, jetzt zu einer Kriegsführung hoher Intensität gewandelt?

Das was gerade passiert ist eine neue Eskalationsstufe. Aber wir müssen klar herausstellen, dass es sich nicht um einen neuen Beginn des Krieges handelt. In den letzten drei Jahren, nach der Besatzung von Serekaniyê und Gîrê Spî 2019, herrschte kein Frieden. Die Region befindet sich konstant im Krieg. Insbesondere an den Frontlinien gab es täglich Angriffe. Der Krieg gegen Rojava wird und wurde aber nicht nur militärisch sondern auch auf allen anderen Ebenen weiter geführt. Medial, ökonomisch, politisch wurde Druck auf die Bevölkerung ausgeübt, beispielsweise durch das Kappen der Wasserversorgung und das gezielte Ermorden von Schlüsselfiguren der Revolution.

Der Krieg des türkischen Staats gegen die kurdische Freiheitsbewegung erstreckt sich ja nicht lediglich auf die befreiten Gebiete Nord-Ost-Syriens. Auch in den Bergen Südkurdistans herrscht Krieg, innerhalb der Türkei kommt es zu massiver Repression. Wie hängt all das miteinander zusammen?

Der Krieg in Rojava darf nicht getrennt betrachtet werden von den Entwicklungen der gesamten Region. Der Krieg ist alltäglich in Nordkurdistan, in Südkurdistan, in Ostkurdistan, in Rojava. Die gesamte Region ist in Bewegung. Ein Krieg in Rojava, ein Krieg in Südkurdistan, ein Volksaufstand in Ostkurdistan und dem gesamten Iran. Das kurdische Volk, in allen vier Teilen Kurdistans unterdrückt und kolonisiert, mit brutalster Repression und Vernichtungspolitik konfrontiert, steht auf.

Innenpolitisch ist die Position des Erdogan-Regimes nicht gefestigt. Die ökonomische Krise in der Türkei ist enorm. Die sozial-politische Krise in der Türkei hat sich massiv verschärft. Im Zusammenhang mit den Wahlen im kommenden Jahr befindet sich Erdogan unter extremen Druck, er versucht das eigene Überleben durch den Krieg zu sichern. Der erwünschte Erfolg durch den Krieg gegen die Guerillakräfte der PKK in den Bergen Südkurdistans ist nicht eingetreten. Im Gegenteil, an bestimmten Stellen konnte die Türkei zwar einige Geländegewinne verzeichnen, aber nur unter extremen Verlusten in den Reihen der türkischen Armee und dem Nutzen von allem was sie zur Verfügung stehen haben, inklusive dem massiven Gebrauch von Giftgas.

In der Türkei konnte die Opposition der HDP trotz massiver Inhaftierungen, Repression und Verleumdungen nicht mundtot gemacht werden. Die Unterstützung der Bevölkerung gegenüber dem Freiheitskampf konnte nicht gebrochen werden.

Die aktuellen Angriffe auf Rojava jetzt sind ein weiterer verzweifelter Versuch des Erdogan-Regimes sich selbst am Leben zu erhalten.

Wachsende Verwerfungen auf internationaler Ebene, innenpolitischer Druck der Opposition, eine gigantische Inflation, ein Krieg der Millionen Dollar und das Leben türkischer Soldaten fordert. Es scheint manchmal so, dass sich Erdogan und sein Staatsapparat in ihren Großmachtsphantasien beginnen zu übernehmen…

Das kann man definitiv so sagen. Ich meinte ja schon, dass es sich mit der Kriegsführung um einen Versuch handelt, an der Macht zu bleiben und den eigenen Absturz zu verhindern. Nichtsdestotrotz darf man die Türkei nicht unterschätzen. Sie verfügt über die zweitgrößte NATO-Armee. Erdogan hat es in der Vergangenheit immer wieder geschafft in den Krisen zwischen verschiedenen Interessen zu manövrieren und sich die Unterstützung für seine Politik national wie international zu sichern.

Aber das was gerade passiert ist kein Zeichen der Stärke des Regimes, sondern ein Ausdruck der Schwäche und der innenpolitischen Krise.

Vor den Wahlen 2023 versucht Erdogan nun über das Mittel des Krieges auch die Opposition erneut mundtot zu machen und auf Linie zu bringen. Mann muss sagen, dass ihm dies, abseits der HDP, auch gelungen ist. Wie sich das jedoch in den kommenden Monaten weiterentwickelt bleibt abzuwarten. Denn in diesem Kontext wird der Widerstand und der Kampf der kurdischen Freiheitsbewegung und der Bevölkerung, sowie der Verlauf des Krieges einen entscheidende Rolle spielen.

Was für ein Interesse haben die beiden in Syrien präsenten Weltmächte USA und Russland in der aktuellen Lage? Nach Außen positionieren sich beide Seiten ja vermeintlich gegen eine größere Militäroperation.

Der Krieg der Türkei gegen die kurdische Bewegung, in allen Teilen Kurdistans, könnten nicht ohne die Unterstützung der USA funktionieren. Im Fall von Rojava hat Russland teilweise eine ähnliche Rolle inne.

Die Besatzung von Êfrîn, Sêrêkaniyê und Gîrê Spî wäre ohne die Zustimmung Russlands und der USA nicht möglich gewesen.

Der Krieg in Südkurdistan wäre nicht möglich, jedenfalls nicht in dieser Intensität, ohne die Zustimmung der USA und der NATO.

Die AKP Erdogans, als ein Projekt des vermeintlich moderaten politischen Islams, welches die sunnitischen Kräfte in der Region bündeln soll für die Interessen der westlichen Staaten, ist für die USA ein strategischer Partner. Das schon seit dem Kalten Krieg und als zentraler Teil des sogenannten „Greater Middle East Projects“. In diesen strategischen

Planungen der NATO bezogen auf den mittleren Osten ist die kurdische Freiheitsbewegung ein großes Problem. Dementsprechend lies man stets der Türkei auch in ihrem Vernichtungswillen indirekt und direkt freie Hand und unterstützte sie. Das ist eine Realität seit dem Beginn des Freiheitskampfes in Kurdistan.

Das heißt es gibt Überschneidungen in den Interessen der Türkei und den USA. Es mag unterschiedliche Formen geben wie man gedenkt diese Politik umzusetzen. Vernichtungspolitik als Mittel der Türkei einerseits und Integration-Assimilation-Korruption als Mittel der USA andererseits, um in Rojava eine weitere KDP [Anm. d. Red.: Regierungspartei in Südkurdistan die mit der Türkei kollaboriert] wie in Südkurdistan aufzubauen. Der Inhalt, die Vernichtung der Freiheitsbewegung, bleibt jedoch der gleiche.

Auch für Russland ist die Türkei ein wichtiger Partner. Ökonomisch ist die Türkei ein wichtiger Handelspartner geworden. Russland hat stets über die Türkei versucht Einfluss auf die NATO zu nehmen, Widersprüche innerhalb der NATO zu verschärfen.

Durch die verstärkte Konfrontation der NATO mit Russland im Rahmen des Ukrainekriegs und die Restrukturierung der NATO, spielt die Türkei in der NATO eine wichtige Rolle.

Wenn wir als Internationalist:innen nicht an die Nationalstaaten appellieren, da wir wissen, dass von Ihnen nichts zu erwarten ist, was ist zu tun? Was ist euer Aufruf als Kampagne RiseUp4Rojava?

Vor einigen Tagen haben wir den sogenannten „Tag X“ ausgerufen.

Wir müssen sehen, dass, unabhängig davon ob es aktuell zu einer Bodenoffensive kommt oder nicht, Rojava sich im Krieg befindet. Die Revolution ist gefährdet.

Der Wille zum Sieg und Kampf gegen den türkischen Faschismus in der Bevölkerung ist groß, aber es braucht jetzt Internationale Solidarität.

Das was in Rojava in den vergangenen zehn Jahren aufgebaut wurde ist gefährdet. Die kurdische Freiheitsbewegung führt seit Jahrzehnten einen Kampf für Demokratie, Frauenbefreiung und ökologisches Wirtschaften.

Sie ist ein Beispiel dafür, wie konsequent gekämpft werden kann. Sie zeigt wie mit erhobenen Kopf den größten Schwierigkeiten getrotzt werden kann und bei allen Widersprüchen und Schwierigkeiten an der eigenen politischen Linie festgehalten werden kann. Für uns Internationalist:innen spielt diese Revolution auch gerade deshalb eine wichtige Rolle, weil sie zeigt, dass ein anderes Leben möglich ist, eine gesellschaftliche Alternative möglich ist. Die Front gegen den Faschismus muss international organisiert sein. Eine Niederlage Rojavas hätte massive Auswirkungen auf die revolutionären Kräfte weltweit, der Erfolg jedoch genauso.

Überall dort wo wir sind, wo wir leben und arbeiten, muss der türkische Faschismus angegriffen werden. Wir müssen unsere Solidarität mit dem Widerstand Kurdistans auf die Straße tragen. Wir sagen, jede Aktion und Beteiligung ist erwünscht. Von kleinen symbolischen Aktionen, über Massendemonstrationen und Blockaden. Einerseits haben diese Aktionen natürlich den Effekt Druck auf den deutschen Staat aufzubauen. Andererseits dürfen wir nicht die Wirkung unterschätzen, die diese Aktionen hier in Rojava haben. Sie gegeben Kraft und Mut weiterzukämpfen. Wenn du im Kampf bist und siehst, dass überall auf der Welt Menschen hinter dir stehen und sich auch als Teil dieses Kampfes sehen, das ist unbeschreiblich.

Unser Aufruf ist an alle: Geht auf die Straße, organisiert euch. Lasst diejenigen die dachten sie verdienen sich eine goldene Nase an diesem Vernichtungskrieg, es bereuen. Sorgt dafür, dass diejenigen die diese Vernichtungspolitik unterstützen, es bereuen werden.

#Titelbild: Trümmer der Pressestelle der YPG in Qerecox nach der Bombardierung durch die Türkei 2017

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Rezension von “The Other Side of the River”

Vielen Filmen zu (dem Befreiungskampf in) Kurdistan begegne ich mittlerweile mit dem Verdacht, ob die Protagonist:innen im Grunde zur Befriedigung fremder Sehnsüchte genutzt werden. Und dieser Verdacht ist meines Erachtens nicht unbegründet.

Es gab eine Zeit, in der sogar im türkischen Mainstream Filme mit Andeutungen oder direkten Erwähnungen zu Kurd:innen erstmalig zögerliche Aufmerksamkeit bekamen. Viele der Geschichten waren sehr vorhersehbar: Es gab einen türkischen Protagonisten, der Vorurteile abzubauen hatte, und die Kurd:innen sahen wir nur durch seine Perspektive. (Das Musterbeispiel hierfür ist Yangin Var [2011]) Mal lachend, mal mit Tränen beobachteten wir, wie der Türke weicher wurde, je mehr er die Kurd:innen kennenlernte: “Sie sind doch (Überraschung!) auch Menschen wie wir – sie lachen, machen Witze, sind manchmal auch traurig und bieten ihre Hilfe noch vor dem Entstehen eines Bedarfs an. Sie sind sogar gastfreundlicher als die Türken und sprechen manchmal ein witziges Türkisch – wie halt die alten, lustigen Türken in unseren Dörfern! Sie wären, wenn sich diese Bosheit entfernen ließe, niedlich und es gäbe keinen richtigen Grund mehr, einander nicht zu mögen!”

Die Phase solcher Filme ist (zum Glück?) nun wenigstens vorläufig auf Eis und seit jener Zeit sind ebenfalls unzählige gute Erzählungen und Bilder von und über (den Widerstand in) Kurdistan entstanden.

In Europa gabe es ebenfalls eine zeitlich parallele Entwicklung des Blickes auf die Kurd:innen. Kurdistan rückte auch hier in den Fokus des Mainstreams. In einer Zeit, in der zehntausende Menschen durch die Grausamkeit des islamistischen Terrors und im Kampf dagegen ums Leben kamen. In vielen dieser Erzählungen waren wir gezwungen, uns in die Gefühlswelt des angereisten Europäers hineinzuversetzen. Der Ansatz in vielen zeitgenössischen Erzählungen, dass die westlichen Zuschauer:innen lieber eine Identifikationsperson bekommen sollten, damit (auch) sie das Geschehene nachvollziehen können, war voll im Gang. Wir mussten uns Gedanken machen, wie der angereiste Europäer als ein in relativen Wohlstand geborener Mensch das alles wahrgenommen hätte. “Es ist ja schließlich nicht immer wie in Büchern oder Revolutionsliedern – das haben da alle drauf, aber weißt er das auch oder muss man in erst einmal ganz sanft an Unterdrückung und Armut gewöhnen – ihm erklären, wie es im Nahen Osten halt so ist?”

Der neue Dokumentarfilm “The Other Side Of The River” (Antonia Killian, 2022) zeichnet sich genau damit aus, diese Erzählweise vermeiden zu können (und damit enttäuscht er glücklicherweise die Pessimist:innen!).

Antonia Killian, die deutsche Regisseurin des Films, verbrachte nach eigenen Erzählungen bei zwei Besuchen mehr als ein Jahr in Nord-Ost Syrien (aka Rojava), bekam Einblicke in das Leben von Hala, einer jungen Frau aus Manbidsch und ließ sich währenddessen auf den Raum, die Zeit und den Kontext ein, in denen ihre Geschichte stattfindet. Im Vordergrund sehen wir diesmal nicht die Kurd:innen – aber sie sind doch immer da.

Die Region ist zwar noch einmal von westlichen Augen gesehen vor uns, dennoch mit einem neugierigen Blick, der verstehen will. Das bringt möglicherweise einen Vorteil mit: Auf einige Details dürfte die Regisseurin aufmerksamer geschaut haben, als diejenigen, die sie jeden Tag zu sehen bekommen.

Die Protagonistin Hala ist die Tochter einer arabischen Familie aus Manbidsch und ihr familiäres Umfeld sympathisierte bislang mit dem IS. Sie ist eine der Frauen, die ihre schwarzen Hijabs ausgezogen haben, nachdem QSD/YPG den IS besiegt hatte. Bei der ersten Gelegenheit schwamm sie über den Euphrat und schloss sich auf der anderen Seite des Flusses der Asayiş an – der örtlichen Polizei der autonomen Region. Ihre Schwester folgte ihr und schloss sich ebenfalls an.

An jenen Tagen war Hala noch 19 Jahre alt – im Film wird sie 21. Sie erzählt, dass sich fast alle Männer aus ihrer Familie dem IS angeschlossen hatten und sie Angst vor ihren Cousins habe, die im IS sind und sie ständig mit dem Tod bedrohen, weil sie durch ihre Haltung und ihr Handeln die Ehre der Familie befleckt habe. Für den Fall, dass sie von den Cousins geschnappt würde, führt sie immer eine Granate mit sich.

Der Film beinhaltet viele Sätze zu Männern und der Männlichkeit und wir kehren jedes mal zur Geschichte von Hala zurück. Die Erzählungen von Frauen werden vom Schatten ihrer Väter begleitet. Der Mann, den wir erst an späterer Stelle des Filmes zu sehen bekommen, trägt sein Baby auf dem Arm und spricht überzeugt von der durch seine zwei Töchter befleckte Ehre der Familie. “Es ist doch unvorstellbar, dass sie als Frauen überhaupt arbeiten – und noch dqzu mit einer Waffe herumlaufen? Hâşa! Tövbe!

Nach einer Weile sehen wir endlich die Schwester von Hala, von der immer wieder die Rede war, bei ihrer Rückkehr zur Familie: Im weißen Kleid der Hochzeit, weil die Ehre nur durch eine Ehe zu retten ist. Hala und ihre Schwester posieren vor der Kamera mit ihren vollgeschminkten und -gepuderten Gesichtern. Auf der Hochzeit gibt es keine Musik, denn die um die Ehre bettelnden haben weder Recht noch Lust, Spaß zu haben.

Im Dorf von Hala ist die Familie nicht die einzige, die sich wie eine Zelle des IS versteht und aufbaut. Einige Menschen erzählen immer wieder von einem “Früher”, das eigentlich fast gestern war, und Hala erwidert auf die überraschten Fragen immer mit derselben Antwort: “In jedem Haus hier, das ihr seht, gab es wenigstens zehn IS-Mitglieder!”

Im Vordergrund zeigt uns der Film die Arten und Bedingungen des Widerstands von Frauen in der Region, und er vernachlässigt dabei dessen Quellen nicht. Die Regisseurin erzählt einmal, dass sie Hala vier Tage lang nicht sehen konnten, weil sie auf Befehl ihrer Vorgesetzten in Gewahrsam genommen wurde: Sie hatte nämlich ihr Elternhaus mit Granaten und Waffen angegriffen, nachdem sie von Plänen ihres Vater hörte, eine weitere, kleinere Tochter zu verheiraten. Die Wut von Hala war verständlich, aber die Aktion verstieß nichtsdestotrotz gegen die Regeln. Ihre Vorgesetzte versuchte, ihr zu erklären, warum die Aktion fehl am Platz war, jedoch weigerte sie sich, eine richtige Selbstkritik abzulegen: Denn es war ein durchaus nachvollziehbarer Fehler.

Hala ist eine junge Frau, die durch die Intervention der nordsyrischen Verteidigungskräfte einen Weg fand, sich nach außen zu öffnen. Killian bringt uns einerseits ihre Geschichte näher und wirft zugleich mutige Blicke auf die eiternden Wunden vieler Gesellschaften im Nahen Osten. Hala, die in einer Szene mit voller Stolz und Freude ihre erste eigene Wohnung zeigt, wird auf der Straße von einer Frau angesprochen, deren Augen nur hinter der schwarzen Hijab zu sehen sind. Hala knabbert ihr Börek, hört dabei ihrem Anliegen zu und teilt der Kamera mit, dass sie sich mit ihren sechs Kindern der Asayiş anschließen wolle. Die Frau in Hijab kommt in das Gebäude der örtlichen Polizei, in dem nur Frauen sind, und erzählt ihre Geschichte. Sie und ihre Kinder sind den ständigen Belästigungen von ihrem Ehemann ausgesetzt. Die anderen Frauen hören aufmerksam zu und versuchen, sie zu beruhigen und sagen, dass sie ihre Wut und ihren Schmerz nachvollziehen können. Es wird schnell hinzugefügt: “Wir haben ein gesellschaftliches Problem!” Die Hijab wird ausgezogen, die Uniform der Asayiş angezogen – was dann passiert, lässt der Film im Dunkeln.

Im Gespräch mit Alex Berlin sagte Antonia Killian (Dokumentarfilmerin Antonia Kilian im Gespräch I Film-Drop), dass der Film “aus einer tiefen, aber dennoch kritischen Solidarität entstanden” sei. Das ist eine wichtige Anmerkung, wenn man den Film in einem richtigen Kontext verstehen will. Er ist kein Propagandastoff, sondern ein Lagebericht im historischen und gegenwärtigen Kontext – und das ist gut so! Eine Heroisierung, durch die viele Erzählungen zum Nahen Osten (insbesondere Kurdistan) geschädigt werden, ist in dieser Dokumentation nicht zu finden. Dennoch ist er ebenfalls kein Film mit fragwürdigen Objektivitätsansprüchen. Die Protagonist:innen will der Film nicht mit den im eigenen Kontext bezauberten Zuschreibungen der Öffentlichkeit “vorstellen”, sondern in ihrer Wahrheit zu Wort bringen.

In The Other Side of the River bekommen wir einen Teil des Alltags einer emanzipatorischen Revolution mit, in dem Kinder beim Spazierengehen statt Händchen den Griff einer Kalaschnikow halten oder Frauen in einem Bildungszentrum einander von ihren bedrückenden Gewalterfahrungen mit Männern erzählen und sich darauf einschwören, nie wieder mit Männern irgendwas anfangen zu wollen. Die Ausbilderin von Hala sagt im Unterricht, dass die sexuelle Begierde die Menschheit in den Abgrund führe, und sogar das kann man dank der Erzählung im eigenen Kontext und der Welt der Notwendigkeiten einordnen. Den Zuschauenden gibt der Film das Vertrauen, dass er versucht, die Ehrlichkeit zu bewahren – und zwar nicht trotz sondern anhand seiner Solidarität.

The Other Side of the River bringt uns die tatsächlichen Erschütterungen und Folgen eines Emanzipationsprozesses nahe – mit seinen Tiefen und Höhen. Denn: Es sollte gesehen werden, dass eine Revolution (leider!) keinem leidenschaftlichen Tanz ähnelt. Sie ist eine zwangsläufige Entscheidung durch bittere Tatsachen. Revolution bildet und befreit Menschen – in einem mit Licht gefluteten Gebäude voller Fenster und vor vielen Grabsteinen.

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Vor dem Kölner Verwaltungsgericht klagen zwei Teilnehmerinnen einer Friedensdelegation nach Kurdistan gegen eine willkürlich verhängte Ausreisesperre

Als sich im Frühjahr 2021 der Angriffskrieg der Türkei gegen kurdische Gebiete im Nordirak zuspitzte, machte sich eine Friedensdelegation auf den Weg in die Autonome Region Kurdistan. Die Aktivist:innen setzten sich zum Ziel, an einer friedlichen Lösung des Jahrzehnte alten Konflikts mitzuwirken. Es beteiligten sich Parlamentarier:innen, Menschrechtsaktivist:innen, Gewerkschafter:innen, Journalist:innen, Klimaaktivist:innen, Initiativen und Einzelpersonen aus 14 verschiedenen Ländern. „Die Friedensdelegation wurde in Südkurdistan von der Bevölkerung und verschiedenen zivilgesellschaftlichen Organisationen und Oppositionsparteien als bedeutende Initiative für Öffentlichkeit zum Angriffs- und Besatzungskrieg der Türkei und für die Verhinderung eines innerkurdischen Geschwisterkrieges sehr begrüßt und dankbar aufgenommen – von fast allen, die wir getroffen haben“, berichtet Dr. Mechthild Exo, eine Teilnehmerin der Friedensdelegation.

Am 12. Juni 2021 wollte sich nun eine weitere Gruppe aus Deutschland auf den Weg in die Region machen. Nach der Gepäck- und Passkontrolle am Düsseldorfer Flughafen, wurden die Personen jedoch von Polizist:innen abgefangen und in einen „sehr heißen“ und „schlecht belüfteten“ Flur gebracht, berichtete eine der dort Festgesetzten, Ronja H. Über Stunden festgehalten, wurden alle einzeln angehört, in Räumen mit abgedunkelten Fenstern. 17 Personen bekamen eine befristete Ausreiseuntersagung für einen Monat in den Irak, welche mit einem Stempel in ihrem Pass, als auch einer inhaltsgleichen schriftlichen Erklärung untermauert wurde. Unter Anderem wird aus der angeführten Begründung deutlich, dass sich die deutschen Behörden um die Beziehung zwischen Deutschland und der Türkei sorgten, bzw. diese durch die geplante Reise „negativ belastet“ werden würden, heißt es in der Begründung. „Was die Beziehungen zur Türkei belasten sollte, ist dass das türkische Militär Menschenrechte verletzt, nicht selten mit dem Kampfgerät deutscher Rüstungskonzerne.“ so Klägerin Ronja H.

Zwei der dort Festgehaltenen, Theda Ohling und Ronja H. haben sich dazu entschieden, gegen das rechtswidrige Handeln der Bundespolizei mit einer sogenannten Fortsetzungsfeststellungsklage vorzugehen. Am 01.06.22 reichten sie die Klage beim Verwaltungsgericht Köln ein und verkündeten diese mit einer Pressekonferenz am darauffolgenden Tag. Auf dem Podium saßen, die Rechtsanwältin für Verwaltungsrecht Cornelia Ganten-Lange, die beiden Klägerinnen Theda Ohling und Ronja H., sowie die Friedensdelegationsteilnehmerin Dr. Mechthild Exo.

Auf rechtlicher Ebene wurde erklärt, dass die Verfügung, welche die Bundespolizei ausgestellt hatte, nur auf Behauptungen und Spekulationen beruhe und keine Tatsachen genannt wurden, welche diese rechtfertigen würden. Vielmehr sei festzustellen, dass die Delegationsreise gezielt verhindert und unmöglich gemacht wurde. Wie lange das Verfahren an Zeit in Anspruch nehmen wird, sei zum jetzigen Zeitpunkt nicht absehbar.

Die Statements der Teilnehmer:innen der Pressekonferenz haben viele Fragen aufgeworfen, die bisher noch unbeantwortet sind. So auch die Frage wieso eine Friedensdelegation, welche sich gegen völkerrechtswidrige Angriffe stellt, eine Gefahr für politische Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei darstellen solle, und was dies über diese Beziehungen aussage. Die Kläger:innen hoffen im Zuge des Prozesses herauszufinden auf welcher Grundlage die Ausreise untersagt wurde. „Wir wurden wie Kriminelle behandelt. Auf die Toilette durften wir nur mit polizeilicher Begleitung. Die ganze Zeit über behielten die Polizeibeamten ihre Schutzwesten an“, berichtet Ronja H. Mechthild Exo stellte in diesem Zusammenhang fest: „Wir dürfen nicht zulassen, dass auf die türkischen Forderungen nach mehr Repression gegen kurdische politische und gesellschaftliche Strukturen, u.a. in Finnland und in Schweden, aber auch in Deutschland, eingegangen wird. Stattdessen müssen wir mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln darauf drängen, dass die Verbrechen des türkischen Staates angeklagt werden.“ Dies bezieht sich auch auf das seit den 1990er-Jahren in Deutschland geltende Verbot kurdischer Organisationen, durch welches Kurd:innen in Deutschland andauernd kriminalisiert werden.

Neben der Verkündung der Klage wurde auf der Pressekonferenz auf den wieder aufflammenden Angriffskrieg der Türkei seit April diesen Jahres, auf kurdische Gebiete im Irak und Syrien aufmerksam gemacht. Theda Ohling, eine der Klägerinnen, stellte fest: „Bei den Angriffen aktuell, wie auch 2021 auf Südkurdistan handelte und handelt es sich um einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg des türkischen Staates.“ Es dränge sich die Frage auf: „Wieso geht unsere Gesellschaft mit Kriegen so unterschiedlich um? Warum bleiben manche Kriege im Schatten? Wird den Menschen, die von den Angriffen des türkischen Militärs in Kurdistan betroffen sind, weniger Wert beigemessen?“ betonte Ronja H. Mechthild Exo fügte hinzu: „Der türkische Staat droht mit einer weiteren Invasion und Besatzung von Gebieten im Norden Syriens. Im Schatten des Ukrainekrieges lassen die NATO-Staaten, einschließlich Deutschland als der wichtigste Partner der Türkei, diese Verbrechen gegen internationales Recht und Menschenrechte ohne Widerspruch zu.“ Betont wurde, dass auch zum jetzigen Zeitpunkt eine Friedensdelegation um Öffentlichkeit zu schaffen notwendig wäre.

# Video Pressekonferenz: https://www.youtube.com/watch?v=xiWnefFaoDUhttps://www.youtube.com/watch?v=xiWnefFaoDU

# Für mehr Informationen: www.defend-kurdistan.com
# Für mehr Informationen: https://civaka-azad.org/

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Während die Weltöffentlichkeit mit großer Aufmerksamkeit den Krieg in der Ukraine verfolgt, sieht der türkische Diktator Erdogan die Chance auf einen neuen Einmarsch in Syrien. Hier in den selbstverwalteten Gebieten Nordost-Syriens laufen die Verteidigungsvorbereitungen auf Hochtouren. Und die Linke in Deutschland?

Mit einem Lappen wische ich das letzte Körnchen Staub von meinem Maschinengewehr. Blitzblank ist es nun, bereit, um die Menschen hier gegen einen erneuten Angriffskrieg Erdogans und seiner jihadistischen Banden zu verteidigen. Später sitze ich bei kurdischen Revolutionsliedern mit meinen Genossen von unserer internationalistischen Einheit am Feuer. Wir alle denken an die nächsten Tage. Ich weiß, dass er kommen wird, der Angriff. Erdogan braucht den Krieg. Er hat die Türkei in den letzten Jahren in eine tiefe ökonomische Krise getrieben und versucht nun mit seinem Krieg gegen Rojava davon abzulenken. Im Anschluss will er vorgezogene Wahlen abhalten und hofft durch den militärischen Sieg doch noch, an der Macht zu bleiben.

Vor knapp zehn Jahren entfaltete sich in Rojava eine Revolution auf Basis von Frauenbefreiung, Ökologie und Demokratie. Eine Region, in der heute Kurd*innen und Araber*innen mit allen anderen Völkern friedlich zusammenleben. Mit ihrem Modell der Selbstverwaltung durch Räte stellt die Revolution eine enorme Hoffnung für die Völker der Region, aber auch weltweit dar. Das war der Grund, warum ich mich vor mehren Jahren auf den Weg gemacht habe, mit den Menschen hier diese Errungenschaften zu verteidigen. Ich bin fest davon überzeugt, dass nur ein System, in dem die vielen verschiedenen Völker gleichberechtigt zusammenleben und in dem Frauenbefreiung eine zentrale Säule darstellt, in dieser Region eine positive Veränderung bringen kann. Während die Kriegsrhetorik Erdogans jeden Tag lauter wird, treffen wir (YPG-Kämpfer*innen) alle nötigen Vorbereitungen für einen neuen Angriffskrieg durch die Türkei. Erdogan betreibt eine Art Kuhhandel: Für den Beitritt Schwedens und Finnlands in die NATO, fordert er grünes Licht für seinen Angriffskrieg.

Ich weiß, was auf dem Spiel steht. Die letzten Angriffskriege der Türkei gegen Nordost-Syrien 2016, 2018 und 2019 haben nicht nur viel Tod und Vertreibung gebracht, in den besetzten Gebieten wird bis heute täglich von Gräueltaten, durch die von der Türkei unterstützen Jihadisten berichtet. Viele von ihnen sind ehemalige IS oder Al-Nusra Kämpfer. Deswegen ist es auch keine Überraschung, dass die letzten beiden Anführer des IS sich dort versteckt hatten. Ich fühle auch die Verantwortung. Ich schätze mich glücklich, Teil dieser Revolution sein zu dürfen. Das heißt aber auch, dass ich für geselschaftlichen Wandel bereit bin, Verantwortung zu übernehmen. Eigene Schwächen zu überwinden. Und mit fester Überzeugung für die Werte Rojavas zu kämpfen. Ein gesellschaftlicher Aufbruch, der Menschen weltweit Hoffnung gibt, dass ein anderes Leben möglich ist. Doch dieser Angriff, so die türkische Propaganda, soll über die gesamte Grenzlänge einen 30 km tiefe Zone besetzen. Das wäre das Ende Rojavas.

Ich frage mich, was die Linke in Deutschland machen wird? Während auf die letzten beiden Angriffskriege mit ein paar kleineren Demonstrationen und Aktionen reagiert wurde, konnte sie den Krieg nicht verhindern. Jetzt aber geht es um die Frage des Fortbestehens der Revolution. Um Sein oder Nicht-Sein. Eine internationalistische Revolution muss international verteidigt werden. Daher kann ich in diesem Moment, kurz vor dem Sturm, nur an alle appellieren, sich ihrer Verantwortung bewusst zu werden. Was werdet ihr im Falle einer Niederlage dieses einmaligen gesellschaftlichen Aufbruchs hier, der zukünftigen Generation erzählen?

Und wenn sich viele fragen, was sie eigentlich Rojava interessieren soll? Liegt doch in Syrien. Ist weit weg. Dann kann ich nur antworten: Rojava zeigt allen von uns, dass eine andere Welt möglich ist. Schon allein die Hoffnung, die von der Existenz dieser Revolution ausgeht, gibt Menschen weltweit enorme Kraft und Stärke.

Ich habe mir geschworen, dem Faschismus keinen Fußbreit kampflos zu überlassen. Weder dem deutschen, dem türkischen, noch dem des IS. Mir ist aber auch klar, dass wir ihn nur gemeinsam besiegen können. Ich schultere meine Waffe, um mich dann an den Ort zu begeben, an dem ich in den kommenden Tagen den Vormarsch des Feindes erwarten werde. Dabei frage ich mich, was wirst du machen, wenn der türkische Einmarsch gegen Rojava beginnt?

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Interview mit Uli, 24 Jahre alt, Student aus Berlin. Uli ist organisiert in verschiedenen Strukturen und Teil der Initiative „PKK Verbot aufheben“.

#Dieter Oggenbach

LCM: Hi Uli, grüß dich. Die deutschen Repressionsbehörden haben mal wieder zugeschlagen. Diesmal gegen dich, unter anderem wurden dein Personalausweis und dein Reisepass eingezogen. Kannst du uns den Vorgang etwas genauer schildern?

Ende Januar 2022 erhielt ich einen Brief, in dem mir mitgeteilt wurde, dass ich innerhalb von vier Werktagen meine beiden Ausweisdokumente abzugeben habe. Hierfür wurde keine Widerspruchsfrist eingeräumt, das hieß konkret, dass es zu Beginn keine rechtlichen Mittel gab, diese Maßnahme zu verhindern. Begründet wurde diese Maßnahme, dass laut Informationen des Berliner Landeskriminalamts (LKA), bekannt gewurden sein sollte, dass ich in der vergangenen Zeit mehrmals Anmelder von Versammlungen und Demonstrationen war. Weitergehend dass einigem einer Auslandsaufenthalte, unter anderem Urlaubsreisen, dem Zweck des Besuchs eines „terroristischen Ausbildungscamps“ in Griechenland gedient haben sollen bzw. in Verbindung stehen könnten. Mit den Maßnahmen gegen mich soll jetzt verhindert werden, dass ich aus der BRD ausreise, da das LKA mir unterstellt an etwaigen Kampfhandlungen im Nordirak/Südkurdistan bzw. der Förderation in Nord-Ost-Syrien teilnehmen zu wollen. Bis zum heutigen Tage sei laut LKA nicht auszuschließen, dass ich in Griechenland ein Ausbildungslager besucht hätte, in welchem ich den Umgang mit Schusswaffen und Sprengstoff trainiert haben könnte.

In den letzten Jahren können wir ja in der BRD einen steigenden Druck auf verschiedene teile der revolutionären Bewegungen feststellen, häufig unter der Konstruktion von vermeintlichen kriminellen oder terroristischen Vereinigungen im Rahmen des § 129a oder § 129b. Wie würdest du das aktuelle Verfahrne gegen dich einordnen in die generelle politische Lage in der BRD bzw. Politik des Deutschen Staates?

Die aktuellen Maßnahmen gegen mich, schätze ich als politisches Kalkül ein. Der deutsche Staat hat einerseits eine langanhaltende Tradition, revolutionäre Bewegungen anzugreifen. Wir können sehen, dass vor allem auch wieder seit 2020 die Repressionsschläge sich häufen, auch gegen Menschen die mit der kurdischen Freiheitsbewegung zusammenarbeiten. Von der Internationalistin Maria und ihrer faktischen Ausweisung und einem Einreiseverbot für die kommenden 20 Jahre (LINK), einem Mitarbeiter des Rojava Information Centers, dem auf Initiative der BRD die zukünftige Einreise in den Schengen Raum verwehrt wurde. Natürlich bezieht sich diese Repression aber insgesamt auf alle Menschen die in revolutionären Bewegungen aktiv sind. Von der Antifaschistin Lina und den Angeklagten im Antifa-Ost-Verfahren, über die Verfahren gegen die Genossen und Genossinnen in Stuttgart oder Hamburg. Dieser steigende Verfolgungsdruck legt nahe, dass die Kapazitäten der Verfolgungsbehörden deutlich erhöht wurden. Unter der neuen Bundesregierung wird, trotz ihres liberalen Erscheinungsbildes, der Repressionsdruck gegen uns alle massiv steigen.

Du hast die Auslandsaufenthalte angesprochen. Unter anderem nehmen die Behörden Bezug auf eine Reise von dir nach Südkurdistan im Sommer 2021 im Rahmen einer internationalen Friedensdelegation gegen den Krieg in Südkurdistan, an welcher ja auch Mitglieder des Deutschen Bundestags teilnehmen wollten. Kannst du uns dazu nochmal etwas mehr sagen?

Diese Friedensdelegation fand wie du sagtest im vergangenen Sommer statt. Gemeinsam mit ungefähr 80 weiteren Genossen und Genossinnen, sind wir nach Südkurdistan gereist, um für eine friedliche Lösung des Kriegs in Südkurdistan zu werben. Für einen innerkurdischen Dialog zu werben, und diejenigen die vom Krieg profitieren zu demaskieren. Der Krieg in Südkurdistan ist ein Krieg in dem ideologische Widersprüche, der faschistische Charakter des türkischen Staates und ökonomische Interessen einzelner Staaten massiv wirken. In diesem Kontext wollten auch wir Internationalisten und Internationalistinnen unseren Platz einnehmen und zeigen, dass wir nicht wegschauen was dort passiert.

Seit der Revolution in Rojava/Föderation Nord-Ost-Syrien, können wir vom Aufkommen einer neuen Phase des Internationalismus sprechen. Viele Genossen und Genossinnen weltweit sind dorthin gereist und haben sich in den verschiedensten Bereichen an der Revolution beteiligt, sich eingebracht, gelernt und sind in ihre Heimatländer zurückgekehrt. Damit stieg aber ja auch bereits der generelle Repressionsdruck gegen diese Menschen. Unser Redakteur Peter Schaber war ja, mit anderen gemeinsam, auch von einem § 129 Verfahren betroffen (LINK). Dieser Aufbau von Drohszenarien und der Versuch die Beziehungen zwischen deutscher revolutionärer Linker und kurdischer Freiheitsbewegung zu sabotieren ist hingegen ja nichts neues. Worin begründet sich diese Politik deiner Meinung nach?

Für mich ist das Verhältnis dieser Kräfte eine politisch-historisch gewachsene Verbindung. Schon in den 1990er Jahren begannen Internationalisten und Internationalistinnen sich auf den verschiedensten Ebenen am kurdischen Freiheitskampf zu beteiligen, eine sind in diesem auch gefallen. Wenn wir von der kurdischen Gesellschaft in der BRD sprechen, sprechen wir auch von einer esellschaft die in hohem Maße politisch ist, die in nahezu allen größeren Städten Vereinsstrukturen aufgebaut hat, politisch wirkt. Es gibt hier ein großes Potential, gegenseitig über den eigenen Tellerrand zu schauen. Deutschland spielt im Krieg in Kurdistan seit jeher eine zentrale Rolle. Deshalb ist die Zusammenarbeit der kurdischen Bewegung und den revolutionären Kräften in Deutschland auch eine politisch-ideologische logische Schlussfolgerung. Nur der gemeinsame Kampf kann unsere gemeinsamen Interessen verteidigen, öffentlich machen, durchsetzen und weiterentwickeln.

Jetzt gibt es ja zwei Ebenen in diesem Ganzen Vorgang. Die Verwaltungsrechtliche Ebene mit dem Passentzug und auch eine vermutlich strafrechtliche Ebene. Wie willst du mit dieser Herausforderung umgehen?

Wichtig ist zuallererst, diesen Fall, genau wie alle andere in die Öffentlichkeit zu stellen, zu skandalisieren und sich nicht isolieren zu lassen. Andernfalls bieten wir den Repressionsbehörden immer die Möglichkeit, Präzedenzfälle zu schaffen, die in Zukunft gegen andere Genossen und Gneossinnen verwendet werden können. Druck aufzubauen und Öffentlichkeit auf allen Ebenen ist aktuell das wichtigste. Es ist schon absurd, dass diesen Maßnahmen stattgegeben wurde, da der einzige Vorwurf der zutrifft der ist, dass ich Tatsache einige Demonstrationen angemeldet habe.

Wie gehst du persönlich nun mit dieser Situation um? Wie hat sich dein Alltag verändert? Welche Erfahrungen hast du gemacht mit Solidarität?

Zu Beginn fiel es mir schwer mit diesen Maßnahmen einen Umgang zu finden. Als dieser Brief eintrudelte, hatte ich mehrmals Besuch von Zivilpolizisten des LKA, die versucht haben über meine Mitbewohner und meine Angehörigen Druck auf mich auszuüben und Informationen zu erhalten. Das angeblich schützenswerte Grundrecht der freien Meinungsäußerung in der BRD führt diese Praxis natürlich offensichtlich ad absurdum, letztlich sind diese Aussagen immer eine große Heuchelei. Das Anmelden einer Demonstration und Reisen werden umgedeutet zu einer Art Terrorismus. Natürlich heißt das alles für mich, dass ich mir bewusst werden musste, dass ich nun im Fokus der Ermittlungsbehörden stehe. Unabhängig davon, welche Vorwürfe das LKA versucht zu konstruieren, unabhängig von falschen und wahren Tatsachen, ist es aktuell erst einmal so das gilt was auf dem Papier steht. Was mir vorgeworfen wird, und die vermeintliche Planung von Anschlägen, sind natürlich Dinge, die erstmal schwer wiegen. Auch im Rahmen privater Beziehungen. Dem eigenen Umfeld und auch der eigenen Familie das alles zu erklären, war stellenweise nicht so einfach, denn nicht alle haben den Kontext in dem das alles stattfand nicht direkt verstanden. Oft wird ja das Drohszenario aufgebaut, wenn einen solche Repression trifft, isoliert dazustehen. Ich habe allerdings eine unglaubliche Wärme gespürt. Meine Genossen und Genossinnen sind eine große Unterstützung für mich aktuell. Mir ist wichtig, aber auch heruaszustellen, dass auch wenn Repression natürlich ein Problem ist, sie uns nicht davon abhalten sollte, dass zu tun was notwendig ist, für das Einzustehen von dem wir überzeugt sind. Für uns, die deutsche Ausweispapiere haben, kann das auch sein zum Beispiel eine Demonstration auf unseren Namen anzumelden, da wir aufgrund unseres Passes andere Privilegien erhalten.

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„Serê cîlo çarçella
Benda te me ey Zagros
Baranek hûr hûr barî
Mervanê’m şehîd ketî“

Wenn Genossen und Genossinnen fallen tut das weh. Tausende Emotionen, Erinnerungen, Versatzstücke kommen hoch, ziehen an den Augen vorbei. Und heute ist genau so ein Tag.

Heval Serfiraz Nîdal ist am 10. April 2022 in Rojava nach Kampf gegen eine Krebserkrankung von dieser Welt gegangen.

Wenn ich mich mit Genossen und Genosssinnen über Gefallene unterhalte kommt manchmal die Frage auf, ob man viel Zeit gemeinsam verbracht habe, sich besonders intensiv kennen würde. Denke ich an Heval Serfiraz müsste ich auf den ersten Blick wohl beide Fragen verneinen. Gerade einmal vier Wochen begegneten wir uns, kannten uns nicht aus unseren Kindheitstagen oder gemeinsamer politischer Organisierung.

Revolutionen sind mächtig. Sie bringen tausende Dinge hervor, das Gute, das Schlechte und das Unbestimmte. Und die Revolution in Kurdistan hat ihren Beitrag dazu geleistet, dass sich die Wege von mir und Heval Serfiraz in Rojava kreuzten, für 28 Tage. Und 28 Tage gemeinsam in einer Revolution zu kämpfen, zu leben, zu lachen und zu weinen sind intensiv, lehrreich und unvergesslich.

Die Märtyrer sterben nicht. All diejenigen, die länger mit der kurdischen Freiheitsbewegung und revolutionären Organisationen weltweit zusammengearbeitet haben kennen diesen Satz. Er ist weit mehr als eine Floskel oder pathetisches Gerede, denn der Satz drückt eine grundlegende philosophische Annäherung an das Leben selbst aus. Denn Märtyrer sterben deshalb nicht, weil die Militanten sie weiterhin in ihren Herzen tragen und in ihren Handlungen, Werte und Prinzipien repräsentieren. Dabei geht es nicht um einen Todeskult. Denn wie es viele Revolutionär:innen bereits gelebt haben, lieben wir das Leben so sehr, dass wir bereit sind dafür das eigene Leben zu geben.

Heval Serfiraz war unser Kommandant für den Frontabschnitt an welchem wir im Februar 2021 eingesetzt waren. Wir waren drei Freunde, Internationalisten, welche im Februar noch etwas unsicher in dem Dorf eintrafen, in welchem Serfiraz uns in Empfang nahm und welches für die kommenden Wochen unser Zuhause wurde.

Was uns allen direkt auffiel war die Wärme und der unglaublich gute Humor unseres Verantwortlichen und das in einer Situation in der uns zuerst nicht zu Lachen zu Mute war. Die türkische Armee und ihre dschihadistischen Söldnertruppen hatten sich seit ein paar Wochen wortwörtlich auf das kleine Dorf festgeschossen, welches von kurdischen, assyrischen und arabischen Kämpfern verteidigt wurde.

Eines Abends war ich zur Nachtwachse gemeinsam mit Serfiraz eingeteilt. Meine erste an diesem Abschnitt und es lag ein Schleier dichten Nebels über dem Gebiet. Kein gutes Wetter, sofern man davon ausgeht ein Angriff könnte stattfinden. Meine Hände waren schwitzig, mein Körper angespannt und ich versuchte Krampfhaft die tausenden Geräusche zu unterscheiden. Serfiraz legte seine Hand an meine Schulter und sagte, dass Angst ein normales Gefühl sei, es ginge aber darum sie steuern zu können. Heval Serfiraz schaffte es mit nur wenigen Worten genau die Ruhe zu erzeugen die es an einem Ort wie der Front braucht, unterschätzte die Lage aber auch nicht. Er verstand es sehr gut eine militante Führung im Alltag und organisatorisch zu entwickeln. Das notwendige Gleichgewicht aus Zärtlichkeit, Zugewandtheit und notwendiger Härte. Allen und vor allem auch sich selbst gegenüber.

Es regnete viel in diesen Tagen, das Dorf glich einem Moor, so tief sanken wir teilweise in den Schlamm ein. Er ließ es sich dennoch nie nehmen, einen tägliche Rundgang zu machen, jede Position und jeden Freund einmal am Tag zu sehen und sich nach deren Befinden zu erkundigen. Serfiraz war zwar unser Kommandant, aber er delegierte nicht nur arbeiten, sondern packte selbst da an wo es notwendig war, für keine Arbeit war er sich zu schade.

Er hatte das große Talent militärische Disziplin mit menschlicher Art und Weise zu leben. Es gab kaum einen Abend, an welchem wir nicht zusammen saßen, Tawla spielten, dutzende Teegläser leerten, an manchen Tagen gemeinsam aßen an anderen gemeinsam nichts aßen oder in der feuchten Erde froren. Serfiraz sprach drei Sprachen, kurdisch, türkisch, arabisch. Denn auch für ihn war die Sprache ein Schlüssel zur Welt, zumal in unserer Einheit wirklich die gesamte Sprachbreite Rojavas repräsentiert war, und die Sprache des Gegenübers zu erlernen bzw. zu sprechen war für ihn eine wichtige Geste des gegenseitigen Respekts. Für mich legte er damit eine große Wertschätzung den eigenen Genossen gegenüber an den Tag, da er selbst bereit war neues zu lernen um sie zu verstehen, er ging nicht davon aus, dass alle ihn verstehen müssten.

Heval Serfiraz war ein sehr neugieriger Mensch, er wollte alles Wissen, über die Lage der revolutionären Kräfte in Europa, über die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse. Vor allem aber begrenzte sich sein Interesse nicht lediglich auf die „harten“ politischen Fragen. Wir diskutierten über den Einfluss von Mode, Popkultur und Musik auf die jeweiligen Gesellschaften. Und Heval Serfiraz hatte eine Eigenschaft, die uns allen als Militante leitend sein sollte: Er schämte sich nicht zu fragen, wenn er etwas nicht wusste oder verstand. So saßen wir teilweise Abende zusammen und übersetzten gemeinsam die Bedienungsanleitungen notwendiger Gerätschaften vom englischen ins kurdische und anschließend ins arabische oder türkische. In all diesen Erinnerungen bleibt für mich immer besonders prägend, dass er bei weitem kein Dogmatiker war. Unsere Diskussionen reichten von Lenins Imperialismustheorie, der Rolle Stalins, Neuerungen in den Programmen der weltweiten kommunistischen Parteien, Diskussionen mit einem anarchistischen Genossen über die Ukraine und Machno, über unsere Lieblingsrezepte unserer jeweiligen Küchen bis hin zur zentralen Rolle der LGTBIQ-Bewegung bei den Gezi-Protesten in der Türkei.

Er war ein wandelnder Erzähler, konnte seine Werdung zu einem militanten der MLKP mit Leben füllen, erzählte auch von seinen eigenen Erfahrungen in der Türkei, Kurdistan oder den türkischen Gefängnissen. Er machte diese Entwicklung greifbar. Ein lebendes Vorbild.

Als wir nach mehreren Worten aufbrachen, erinnere ich mich noch an unseren Händedruck des Abschieds und unser Versprechen, uns wiederzusehen, die feste Umarmung und unser gemeinsames herzliches Lachen.

Lieber Freund, heute habe ich den Namen kennengelernt, den dir deine Mutter bei deiner Geburt gab. Welat. Dein Familienname Yildiz. Land der Sterne. Serfiraz yoldaş, ich werde dich vermissen, genau wie hunderte Andere dich vermissen und in ihren Herzen tragen werden. Und auch ich werde dich bei mir tragen, unabhängig davon wo ich mich befinde und in den Sternenhimmel schauen werde. In meinem oder in deinem Land. Welat.

#Deniz Nîdal

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Eine Gruppe an den Ideen des kurdischen Revolutionärs Abdullah Öcalan orientierter Aktivst:innen hat ein Akademie-Projekt begonnen. Wir haben mit ihnen über ihre Ziele gesprochen.

Vor kurzem habt ihr die Akademie der Demokratischen Moderne ins Leben gerufen. Was können wir uns darunter vorstellen? Wer seid ihr und was sind eure Ziele?

Wir sind eine Gruppe von AktivistInnen, die aus unterschiedlichen Kontexten und sozialen Kämpfen zusammengekommen sind. Wir sehen unsere Aufgabe im Aufbau der Demokratischen Moderne, in der Bildungsarbeit zur Schaffung eines neuen Verständnisses von demokratischer Politik, gesellschaftlicher Aufklärung und für ein neues politisch-moralisches Bewusstseins, welche die Grundlagen einer freien Gesellschaft bilden. Gleichzeitig betrachten wir das Schaffen von neuen Netzwerken und Verbindungen zwischen demokratischen Kräften als grundlegende Voraussetzung für den Aufbau der Demokratischen Moderne. Über die Schaffung von Foren und Plattformen wollen wir zur Stärkung des internationalen Erfahrungsaustausches beitragen und bestehende Kämpfe verbinden.

Wenn ihr von „Demokratischer Moderne“ sprecht, was meint ihr damit?

Die Demokratische Moderne, basierend auf einer demokratischen Gesellschaft, einer ökologischen Industrie und dem politischen Systems des Demokratischen Konföderalismus, begreifen wir als Gegensystem zur existierenden Weltordnung, der Kapitalistischen Moderne. Dabei stützen wir uns auf die Theorie und das politische Denken Abdullah Öcalans, welcher den meisten wohl eher als Repräsentant und Vordenker der kurdischen Freiheitsbewegung bekannt ist.

Abdullah Öcalan analysiert in seinen Schriften die Geschichte der Zivilisation, als Kampf zwischen zwei Linien welche immer parallel zueinander aber im ständigen Widerstreit miteinander existiert haben. Auf der einen Seite der Geschichte stehen dabei die Widerstände der Gesellschaft, der Ausgebeuteten und Unterdrückten, der Frauen und der Jugend sowie alle Versuche eines selbstbestimmten und freien Lebens. Diese Geschichte reicht von den antiken Sklavenaufständen bis zu den Klassenkämpfen, Revolutionen und nationalen Befreiungsbewegungen des 20. Jahrhunderts. Auf der anderen Seite finden wir die Geschichte der Herrschenden, der Staaten und Imperien, der Könige und Despoten.

Wir gehen davon aus, dass auch heute zwei „Modernen“ nebeneinander existierenden und der Kapitalismus gar nicht so fest im Sattel sitzt, wie das manchmal scheinen mag. Die Intensität der Krise der Kapitalistischen Moderne nimmt für die Menschen weltweit spürbar zu und die Ablehnung wächst. Die Frage nach Alternativen wird mittlerweile in breiten Kreisen gestellt und diskutiert. In den Massenprotesten und Aufständen der vergangenen Jahre, dem Neuerwachen einer globalen Frauenbewegung, der jungen Klimagerechtigkeitsbewegung, den Protestbewegungen gegen Rassismus und weiße Vorherrschaft, aber auch den Massenstreiks in Industrie und Landwirtschaft vor allem im globalen Süden, wird die Demokratische Moderne fassbar und nimmt Gestalt an.

Die alte und die neue Welt, also die Kapitalistische Moderne und die Demokratische Moderne existieren heute schon nebeneinander und ineinander verschränkt. Doch während die Kapitalistische Moderne ein hochorganisiertes und weltumspannendes System darstellt, ist die Alternative bis heute unorganisiert, zersplittert und ohne einen strategischen und vereinigenden Vorschlag der gemeinsamen Organisation. Unter der Demokratischen Moderne verstehen wir auch den Vorschlag, die voneinander isolierten Kämpfe unter einem gemeinsamen Dach zu vereinen.

Wir nehmen mal an es ist kein Zufall, dass ihr eure Seite am 18. März, dem Jahrestag der Ausrufung der Pariser Kommune 1871, vorstellt, oder?

Das ist richtig. Das ist natürlich kein Zufall. Wir finden es wichtig, an die Geschichte demokratischer und revolutionärer Bewegungen anzuknüpfen und von den Kämpfen, Erfolgen und auch Niederlagen der Vergangenheit zu lernen. Daher hat das Datum natürlich eine besondere Bedeutung für uns. Die Pariser Kommune hat in der Epoche der Kapitalistischen Moderne als einer der ersten und der konkretesten Versuche eine andere Welt aufzubauen, Symbolcharakter gewonnen. Die Kommune mit ihrer basisdemokratische Organisationsform, durch welche sich die Menschen selbst ermächtigen ihr Leben in die eignen Hände zu nehmen, ist für uns das konkrete Modell wie eine Gesellschaft sich selbst verwalten kann. Im Demokratische Konföderalismus, welchen wir als politisches System gesellschaftlicher Verwaltung und Alternative zum Nationalstaat liberaler oder autoritärer Prägung, vorschlagen, ist die Kommune die kleinste Zelle gesellschaftlicher Selbstorganisation. Ganz praktisch findet dieses Modell heute seine Anwendung in der autonomen Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens und anderen Teilen Kurdistans.

In eurem Selbstverständnis, sprecht ihr von einer Krise revolutionärer und demokratischer Bewegungen, aber auch von einer globalen Suche nach Alternativen. Wie seht ihr eure Rolle in der Suche nach neuen Ansätzen?

Wir konzentrieren uns vor allem auf Bildungsarbeit und wollen eine Plattform bieten, um Lösungsansätze für lokale Probleme als auch die grundlegenden Widersprüche des herrschenden Systems zu diskutieren. Wir sind davon überzeugt, dass eine grundlegende gesellschaftliche Veränderung nicht ohne den Aufbau der nötigen Organisation denkbar ist. Und dass eine Organisation nichts ist, ohne eine kohärente und solide theoretische Grundlage. Gleichzeitig betrachten wir es als unsere strategische Aufgabe, die bestehenden Kämpfe zu verbinden und globale Netzwerke des Austausches und der Solidarität zu schaffen.

Durch Erfahrungsaustausch und Dialog kann gegenseitiges Verständnis und kollektives Bewusstsein geschaffen werden. Dabei geht es uns darum, ideologische Gräben zu überwinden und unsere geteilten Werte und Interessen in den Vordergrund zu stellen. Wir wollen ein Bewusstsein für die historische und globale Verbundenheit aller Kämpfe gegen Ausbeutung und Unterdrückung schaffen, um so unseren Kämpfen weltweit zu neuer Stärke zu verhelfen. Die Lösung der dringendsten Menschheitsprobleme verlangt heute mehr denn je zuvor die Schaffung globaler Plattformen und Strukturen. Allein die ökologische Katastrophe macht deutlich, dass einzelne isolierte Lösungsansätze zum Scheitern verurteilt sind. Erst die Verbindung der lokalen Arbeit mit einer globalen Perspektive, kann einen Ausweg aus der Krise eröffnen.

Also geht es euch um mehr als Theorieproduktion …

Ja, unsere Ideen bringen schließlich nichts, solange sie nur schöne Worte bleiben. Zur Überwindung der Kapitalistischen Moderne braucht es auch konkreter lokaler und globaler Strukturen. In diesem Sinne betrachten wir unsere Arbeit als einen Beitrag zum Aufbau des Demokratischen Weltkonföderalismus. Mit der Verbreitung von Ideen, der Erarbeitung einer theoretischen Basis und der Mobilisierung und Vernetzung des bestehenden organisatorischen Potentials wollen wir den Weg dafür bereiten, die Demokratische Moderne aufzubauen. Wenn es gelingt, demokratische Politik im Alltag auszuweiten – durch Bündnisse, Räte, Kommunen, Kooperativen, Akademien –, wird sich die Kraft der Gesellschaft entfalten und für die Lösung gesellschaftlicher Probleme zum Einsatz kommen. Letztendlich geht es darum im Weltmaßstab die nötigen, Plattformen, Netzwerke und Organisationen zu schaffen, die es braucht, um im 21. Jahrhundert das kapitalistische System tatsächlich herauszufordern. Wir denken, dass wenn die Herrschenden über unzählige Gremien, Plattformen und Orte der Koordination verfügen, dann muss auch unsere Seite der Geschichte sich global organisieren und Orte der gemeinsamen Planung und Aktion schaffen. Auch wenn in den letzten Jahren viele vielversprechende Versuche unternommen worden sind, so spüren wir doch, ganz besonders in Zeiten in denen der imperialistische Krieg weite Teile der Welt heimsucht, die dringende Notwendigkeit internationale Strukturen und Organisationen revolutionär-demokratischer Kräfte zu schaffen.

Klingt ambitioniert. Aber was wollt ihr kurzfristig machen um dem Ganzen näher zu kommen?

Wir fangen im Kleinen an. Ein erster ist Schritt die Website mit der wir in Zukunft eine Plattform für den Diskurs über die Demokratische Moderne bieten wollen. Gleichzeitig wollen wir dort ideologische Schriften, Übersetzungen und eigene Perspektiven veröffentlichen. Es geht zuallererst auch darum, in bestehende Diskurse zu intervenieren und neue Horizonte aufzuzeigen. Über gesellschaftliche Bildungsarbeit, Konferenzen und Publikationen können Inhalte vermittelt und die theoretische Grundlage für eine erfolgreiche Praxis gelegt werden. Durch diese Arbeit erhoffen wir uns Möglichkeiten mit möglichst vielen revolutionär-demokratischen Kräften in Austausch zu kommen und gemeinsam die Diskussion über das was zu tun ist, vertiefen.

#Foto: ANF

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Häusliche, öffentliche, staatliche, körperliche, sexualisierte, verbale, psychische. Patriarchale Gewalt hat viele Gesichter und ist dabei immer eines: Politisch und systematisch. Sie dient der Aufrechterhaltung der patriarchalen Ordnung.

Durch Gewalt sollen unser Wille gebrochen und unsere individuellen sowie kollektiven Kämpfe für Selbstbestimmung angegriffen werden. Gewalt soll uns voneinander isolieren, schwächen, und uns machtlos und allein fühlen lassen. Sie tötet und treibt in den Suizid.

Nicht nur einzelne Individuen beteiligen sich an ihr. Es ist ein System: Staaten, die über unsere Körper bestimmen wollen; Kapitalismus und Rassismus, der unsere Körper ausbeutet und objektifiziert; Faschisten und Neonazis, die gezielt Frauen und queere Menschen bedrohen und angreifen; Prominente und Reiche, die über Jahre ihre Macht missbrauchen und damit davonkommen; oder aber auch die patriarchale Justiz, durch die Täter oft keine Konsequenzen befürchten müssen.

Der 25. November, der internationale Kampftag gegen patriarchale Gewalt, geht zurück auf die Ermordung der Schwestern Patria, Minerva und María Mirabal, die an diesem Tag im Jahr 1960 auf Befehl des dominikanischen Diktators Rafael Trujillo (der wohlgemerkt auch ein Missbraucher von Mädchen und Frauen war) ermordet wurden. Die Schwestern waren Teil der kommunistischen Agrupación política 14 de junio, einer revolutionären Gruppierung, die den Sturz des Diktators plante. Nach einem Gefängnisbesuch wurden sie überfallen und erdrosselt. 21 Jahre danach – also vor 40 Jahren – wurde der 25. November zum Gedenk- und Aktionstag gegen Gewalt an Frauen erklärt.

Patriarchale Gewalt ist heute nicht „noch immer“, sondern „erst recht“ aktuell in Zeiten von Pandemie, zunehmender Ausbeutung und Krieg. Einige Ebenen dieser Gewalt sind Femizid, sexualisierte, staatliche und psychische Gewalt, die in diesem Text beleuchtet werden sollen.

Jeden Tag werden weltweit Hunderte Femizide begangen, also Morde an Frauen, weil sie Frauen sind. Das hat Aktivist*innen auf der ganzen Welt dazu veranlasst, sich unter dem Slogan Ni Una Menos („Nicht eine weniger“) zu Massenbewegungen zusammenzuschließen und feministischen Widerstand und Selbstverteidigung zu organisieren. Denn Femizid ist eine der sichtbarsten Formen patriarchaler Gewalt. Bei jedem Fall wird uns bewusst: Das hätte eine Freundin, Schwester, Nachbarin oder auch ich sein können.

In etwa zwei von drei Fällen ist der Täter ein (Ex-)Partner oder Familienmitglied. Femizide und andere Formen patriarchaler Gewalt sind jedoch niemals Privatsache. Feminist*innen kritisieren schon lange das mediale Framing von Femiziden als „Beziehungstat“, „Familiendrama“ oder „Eifersuchtsdrama“ – denn durch solche Bezeichnungen entsteht der Eindruck, es handle sich um die Brutalität eines einzelnen Täters. Dabei zieht sich die Gewalt durch sämtliche Ebenen des Lebens und wird durch das kapitalistische patriarchale System begünstigt und gefördert.

Abkommen wie die Istanbul-Konvention verpflichten die Unterzeichnerstaaten zur Ergreifung bestimmter Maßnahmen, um Femizide und patriarchale Gewalt zu vermindern. Jedoch ist unklar, was solche Maßnahmen versprechen sollen, wenn gleichzeitig ebendiese Staaten beispielsweise feministische Aktivist*innen und Bewegungen kriminalisieren, Opfer von Gewalt im Stich lassen und verhindern, dass Betroffene sich verbünden und verteidigen. Mit der Türkei ist in diesem Jahr der erste Staat aus dem Abkommen zurückgetreten – unter anderem mit der Begründung, es gefährde die „familiären Werte“ des Landes und „normalisiere die Homosexualität“. Auch wenn der Austritt die Situation für Betroffene drastisch verschlimmern könnte, haben die letzten Jahre gezeigt, dass die Istanbul-Konvention nie ein Hindernis für die Türkei dargestellt hat, Täter zu schützen, feministische Demos mit brutaler Polizeigewalt anzugreifen oder durch Invasionen in Rojava die Errungenschaften der Frauenrevolution und der autonomen Frauenbewegung anzugreifen. Das Land betreibt – sowohl innen- als auch außenpolitisch – eine femizidale Politik. Das Beispiel Türkei führt uns besonders deutlich die Notwendigkeit von autonomer feministischer Organisierung jenseits des Staates vor Augen. Das trifft auch auf eine weitere Ebene patriarchaler Gewalt zu – sexualisierte Gewalt und rape culture.

Rape culture bezeichnet eine Mentalität und gesellschaftliche Struktur, die sexualisierte Gewalt normalisiert und fördert, die Schuld bei den Opfern sucht und Täter in Schutz nimmt. Rape culture erleichtert es Tätern die Schuld von sich zu weisen, während Betroffenen vorgeworfen wird, sie würden lügen, Aufmerksamkeit suchen oder hätten es nur darauf abgesehen, dem Täter „das Leben zu ruinieren“. Der Fall Luke Mockridge oder auch die wichtige Debatte, die in diesem Jahr dank #deutschrapmetoo und Nika Irani angestoßen wurde, haben noch einmal verdeutlicht, wie tief Frauenfeindlichkeit und Sexismus in der deutschen Gesellschaft sitzen. Betroffene und Aktivist*innen wurden massiv angefeindet und mit Vorwürfen wie den oben genannten bombardiert. In so einer Atmosphäre ist es kein Wunder, dass die meisten Betroffenen ihre Erlebnisse nicht öffentlich machen, nicht darüber sprechen und auch keine Anzeige erstatten – aus Angst, dass ihnen nicht geglaubt wird, dass sie selbst dafür beschuldigt und angefeindet werden, und dass Konsequenzen am Ende sowieso ausbleiben, weil „keine Beweise“. Es versteht sich fast von selbst, dass Staat und Polizei auch hier keine Helfer oder Verbündeten sind, sondern selbst Teil der patriarchalen Struktur.

Aber auch in der Linken geschieht sexualisierte Gewalt – wo sie oftmals totgeschwiegen wird, um „der Sache nicht zu schaden“. Besonders da wird deutlich: Selbst ein cis Mann, der sich für noch so links und revolutionär hält, profitiert von seiner Position im Patriarchat und ist potenziell bereit, diese Position zu missbrauchen. Nicht selten decken cis Männer einander und schweigen zum Verhalten ihrer „Genossen“. Auch hier wird besonders spürbar, dass es autonome feministische Strukturen braucht, um mit dem Patriarchat zu brechen und sich durch cis Männer nicht spalten zu lassen.

So macht es etwa die Frauenbewegung in Rojava bzw. Nord- und Ostsyrien vor, deren revolutionäre Errungenschaften nun unmittelbar durch türkische Besatzer bedroht werden. Hier offenbart sich uns eine weitere Ebene patriarchaler Gewalt offenbart: Nämlich jene die von Staat, Polizei und Militär ausgeht. Staatliche Gewalt selbst ist in ihrem Charakter zutiefst patriarchal und basiert traditionell auf der Verknüpfung von Männlichkeit, Militär und der Verteidigung des „Vaterlandes“, a.k.a die Verherrlichung von Krieg, Invasionen, Imperialismus und Nationalismus. Besatzung und Gewalt werden beschönigt und als Teil einer „ehrenhaften“ patriotischen Mission präsentiert, für die es angeblich in Ordnung ist, Opfer zu bringen und zu töten. In dem Glauben, die „Nation zu verteidigen“, werden ganze Bevölkerungsgruppen entmenschlicht und die Brutalität von Militarismus und Krieg trifft Frauen ganz besonders. Sie leiden unverhältnismäßig unter der durch Kriege ausgelösten Gewalt, Verfolgung, Flucht und Ausbeutung.In jedem Krieg und in jeder Besatzung sind Frauen, Queers und Minderheiten die primären Leidtragenden. Insbesondere sexualisierte Gewalt wird gezielt eingesetzt, um Gemeinschaften und ihren Widerstand zu brechen. 

Gleichzeitig bilden genau diese Gruppen aber auch die potenziell radikalste Kraft für gesellschaftlichen Umbruch und Frieden und sind deshalb den Angreifern ein Dorn im Auge. Frauenrechtler*innen und feministische Aktivist*innen werden nicht zufällig ermordet. Ob Frozan Safi in Afghanistan oder Hevrîn Xelef in Kurdistan, Marielle Franco in Brasilien oder die Schwestern Mirabal – ihre Ermordungen waren immer gleichzeitig auch politische Botschaften, gezielte Angriffe auf die Widerstände aller Frauen und Feminist*innen, und nicht zuletzt Einschüchterungsversuche. Dasselbe gilt für Repressionen und Kriminalisierung, von denen insbesondere nicht-weiße Frauen und queere Menschen betroffen sind.

Eine weitere Ebene patriarchaler Gewalt bilden Eingriffe in unsere körperliche und sexuelle Selbstbestimmung. So etwa die verschärften Abtreibungsgesetze bzw. -verbote wie jetzt in Texas oder in Polen, die sichere Schwangerschaftsabbrüche erschweren bzw. unmöglich machen. Solche Gesetze gefährden das Leben von Schwangeren und haben bereits erste Todesopfer gefordert, wie erst vor kurzem im Fall der 30-jährigen Izabela S. in Polen. Obwohl klar war, dass der Fötus in ihrem Bauch nicht überlebensfähig war, halfen ihr die Ärzt*innen nicht, woraufhin sie an einem septischen Schock verstarb. Restriktive Abtreibungsgesetze erhöhen auch die Zahl unsicherer Schwangerschaftsabbrüche, an deren Folgen jährlich Zehntausende ungewollt Schwangere sterben. Todesfälle, die mit dem Zugang zu legalen, sicheren Schwangerschaftsabbrüchen hätten verhindert werden können und die nicht nur Mängeln in der Gesundheitsversorgung, sondern einer konservativen Mentalität und einem patriarchalen System entspringen, das Abtreibungen kriminalisiert, stigmatisiert und erschwert.

Dass staatliche Angriffe gegen die körperliche Selbstbestimmung eine Form patriarchaler Gewalt sind, zeigt sich auch an der enormen Gewalt gegenüber trans Menschen in Form von Verfolgung, Kriminalisierung, Hassverbrechen, oder Schikane durch etwa staatliche Behörden. Die täglichen körperlichen und verbalen transfeindlichen Übergriffe enden mitunter tödlich. Besonders betroffen sind trans Frauen. Erst vor wenigen Monaten verbrannte sich Ella N., eine trans Frau, die zuvor wegen Verfolgung aus dem Iran geflohen war, mitten auf dem Berliner Alexanderplatz, nachdem sie jahrelanger Schikane seitens der deutschen Ämter ausgesetzt war, als sie versuchte, hier Asyl zu bekommen und ihre Transition zu vollziehen. Auch diese Fälle sind Formen patriarchaler Gewalt, ausgelöst durch Angriffe gegen die körperliche Selbstbestimmung und das gewaltsame Aufzwingen binärer Geschlechtervorstellungen im Sinne der patriarchalen Ordnung.

Nach wie vor versucht der Staat in unsere Körper und unsere Gedanken einzugreifen. Es ist eine Illusion zu glauben, kapitalistische Staaten würden uns nach und nach mehr Freiheiten und Rechte zusichern. Vielmehr verschleiert der Staat seine Kontrolle, indem er uns neoliberale Konzepte von Freiheit verkauft, während auf der anderen Seite Ausbeutung, Kriminalisierung und staatliche sowie patriarchale Gewalt überall stetig zunehmen. Dazu gehört auch psychologische Gewalt.

Die kurdische Frauenbewegung benutzt oft den Begriff „Spezialkrieg“, um die Methoden zu beschreiben, mit denen Staat und Kapitalismus Widerstand unterdrücken bzw. Menschen (und insbesondere Jugendliche) enger an das System binden wollen, damit sie gar nicht erst widerständig werden. Auch was feministischen Widerstand betrifft hält der Neoliberalismus seine „Alternativen“ bereit. Anstatt Feminismus zu verteufeln, werden feministische Ideen in oberflächlicher Form übernommen und kommerzialisiert. Slogans werden von der Straße genommen und auf Waren gedruckt, kämpferische Begriffe und Konzepte werden ihrem Sinn beraubt. So entsteht der Eindruck: „Hey, sogar H&M druckt jetzt feministische Sprüche auf T-Shirts, dann sind wir ja gar nicht mehr weit vom Ziel entfernt“ – dabei ist genau das Gegenteil der Fall. Denn auf allen Ebenen intensiviert sich die Gewalt und Ausbeutung. Das gilt auch für den Westen, wo das reale Ausmaß patriarchaler Unterdrückung oft im Verborgenen bleibt, weil hier gerne so getan wird, als hätten Frauen es vergleichweise noch ganz gut „im Gegensatz zu anderen Regionen“. So wird der Status Quo normalisiert und außerdem suggeriert, patriarchale Unterdrückung und Ausbeutung seien so gut wie beseitigt.

Diese und andere Formen psychologischer Gewalt sind im Alltag verankert und begegnen uns jeden Tag. Auch verbale Gewalt, Belästigung, Stalking, Erniedrigung, sowie wirtschaftliche Abhängigkeit, Ausbeutung und Verarmung gehören dazu. Kurz gesagt alles, was Betroffene psychisch schwächt, sie in Hoffnungslosigkeit und Ausweglosigkeit verfallen lässt und verhindert, dass sie sich gegen Gewalt zur Wehr setzen und organisieren. Im aktivistischen Zusammenhang ist es deshalb unumgänglich, sich auch mental und emotional gegen das Patriarchat zu verteidigen, indem man sich von den Einflüssen der sexistischen Gesellschaft befreit.

Viele Punkte wurden in diesem Text angerissen, und doch sind zahlreiche Aspekte noch unerwähnt geblieben. Häusliche Gewalt, Zwangsheirat, Zwangsabtreibung, Genitalverstümmelung (FGM), Zwangsprostitution und Menschenhandel sind nur einige weitere Beispiele von vielen. Das Ausmaß patriarchaler Gewalt ist zu enorm als dass es in so wenigen Zeilen abgebildet werden könnte und jede Art von patriarchaler Gewalt verdient eine eigene Analyse und Kampfstrategie. Was jedoch alle Beispiele verdeutlichen und worüber sich revolutionäre Feminist*innen einig sind, ist, dass sie tief im System verankert und niemals eine private Angelegenheit ist. Daher muss sie auch dementsprechend bekämpft werden – kollektiv, organisiert und radikal.

Anm. d. Red:
Demonstration zum Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen*
am 25.11.2021 um 18 Uhr vor dem Eastgate-Center (S-Bahnhof Marzahn)

#Foto: Wikimedia Commons

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In der Schweiz beginnt ein großer politischer Prozess. Andrea, Kommunistin, Mitglied des Revolutionären Aufbaus Schweiz und Sekretärin der Roten Hilfe International, soll sich ab dem 18. November vor Gericht u.a. für Angriffe auf Institutionen des türkischen Staates verantworten. Ein Prozess, der nicht nur von den Schweizer Sicherheitsbehörden forciert wird.
Ein Interview mit der Angeklagten.

Erst einmal viel Kraft für den nun beginnenden Prozess gegen dich. Was wird dort eigentlich verhandelt?

Es geht hauptsächlich um zwei Sachen: Ein Angriff mit Pyrotechnik gegen das türkische Generalkonsulat in Zürich im Winter 2017 und verschiedene Delikte während Mobilisierungen in Zürich während des Covid-Lockdowns im Frühling 2020. Der Prozess findet vor dem Bundesstrafgericht in Bellinzona statt, weil beim Angriff gegen das Konsulat sog. „Unkonventionelle Brand- und Sprengvorrichtungen“ zum Einsatz kamen, bei denen jeweils der Bund die Ermittlungen und Strafverfolgung übernimmt.

In welchem Kontext fanden die Angriffe auf türk. Institutionen statt?

Der Angriff auf das türkische Generalkonsulat fand zeitgleich mit dem „World Economic Forum“ in Davos statt, dem jährlichen internationalen Stelldichein der Herrschenden. Damals waren hochrangige Minister der AKP in den Bündner Bergen zu Besuch, um ihre wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zu pflegen und sich grünes Licht für ihre Angriffskriege bei den anwesenden imperialistischen Kräften zu holen – wie ein Jahr später gegen Afrin.

Welche Rolle spielt der türkische Staat bei diesem Prozess?

Der türkische Staat ist die treibende Kraft in diesem Verfahren. Er hielt über seine diplomatischen Vertreter_innen in der Schweiz den Druck im Verfahren stets aufrecht: Angesichts der kümmerlichen Beweislage bezüglich dem Angriff gegen das türkische Generalkonsulat versuchte die Bundesanwaltschaft mehrfach diesen Teil des Verfahrens einzustellen. Stets intervenierte die türkische Diplomatie, um eine solche Einstellung zu verhindern.

Derlei Interventionen sind kein Alleinstellungsmerkmal des Prozesses gegen mich oder andere Genossen und Genossinnen. Vielmehr ist allgemein zu beobachten, dass Versuche der Kriminalisierung der praktischen internationalen Solidarität in Westeuropa eine Front des türkischen Staats in ihrem Krieg niedriger Intensität gegen die kurdisch-türkische Linke ist. Wir verweisen dazu auf die Erklärung der Roten Hilfe International, welche diese Zusammenhänge ausführlich beleuchtet – der Prozess zielt auf Andi, bedeutet aber einen Angriff auf Rojava.

Was bedeutet dieser Prozess der Klassenjustiz für die revolutionären Kräfte in der Schweiz?

Hier könnte man zwei Sachen ansprechen. Erstens: Getroffene Hunde bellen – die Angriffe gegen die Institutionen des türkischen Staats treffen ins Schwarze, provozieren große Reaktionen. Wieso? Weil es ihren Nimbus der Macht durchbricht, weil es ihre Propaganda als hohl entlarvt, weil es aufzeigt, dass die Front jene, die gegen ihre Politik stehen, breit ist.

Zweitens: Die Dinge sind volatiler als man denkt – entsprechend die Reaktion des bürgerlichen Staats in der Covid-Pandemie. Die Widersprüche spitzen sich weltweit zu einer historischen politischen Krise zu, das ist nicht nur in der Schweiz so. Darin ist der Ausbau von Instrumenten zur präventiven Aufstandbekämpfung – wie Staatsschutz, Polizei, Militär – nur ein Ausdruck. Diese «Brüche» sollten wir als Linke genau verfolgen, antizipieren und unsere Strategien entsprechend ausrichten.

Wie ist eure Prozessstrategie?

Es ist klar, dass dieser Prozess ein politischer Prozess ist – die Konfrontation vor den Schranken der Klassenjustiz beschränkt sich nicht auf eine juristische Ebene, sondern ist hochpolitisch. Mit der Kampagne zum Prozess wollen wir diesem Charakter Rechnung tragen – wir kehren den Spieß um und richten den Angriff auf den Kapitalismus, den schweizer und den türkischen Staat! Dazu gehört zum Beispiel die Vertiefung der internationalen Solidarität mit Rojava – nicht nur angesichts der aktuellen akuten Bedrohung eines neuen Angriffskriegs in Nordostsyrien durch das türkische Militär oder der Giftgaseinsätze in den nordirakischen Bergen, wo die freien Berge der PKK-Guerilla liegen, sondern auch angesichts der Bedeutung des revolutionären Prozesses in Rojava, welcher seit bald zehn Jahren weltweit ausstrahlt und die revolutionäre Linke inspiriert.

Dazu gehört auch die konsequente Kritik des bürgerlichen Staats als Herrschafts- und Gewaltinstrument der bürgerlichen Klasse, dessen Charakter im Umgang mit der Covid-Pandemie für viele fassbar wird – ihrem Schutz der Interessen des Kapitals stellen wir den selbstorganisierten Schutz der Menschen gegenüber, also ein System, in dem der Schutz des schwächsten Gliedes der Gesellschaft im Zentrum, steht oder wo die schwächeren Länder und Kontinente durch die reicheren in den Zentren solidarisch getragen werden. Eine Gesellschaftsformation, in der wir die Dinge in die eigenen Hände nehmen. Dazu haben wir jeweils inhaltliche Veranstaltungen organisiert, zudem treffen laufend Solidaritätsaktionen ein, die auf unserer Homepage gesammelt werden.

Was sind eurer Meinung nach die Aufgaben der revolutionären Kräfte in Europa im Bezug auf die internationalen Kämpfe, beispielsweise in Kurdistan? Wie ist das jeweilige Verhältnis und welche Aufgaben resultieren daraus für euch?

Wenn wir den großen geostrategischen Kontext mit all seinen Widersprüchen und kriegerischen Auseinandersetzung betrachten und darin wiederum die Rolle der sich entwickelnden reaktionären, faschistischen Strömungen, anschauen, dann erkennen wir ohne Zweifel, dass in der historischen Phase von «Sozialismus oder Barbarei» alle revolutionären Kräfte sich zwingend einheitlicher und geschlossener positionierend aufstellen müssen. Es geht darum, die Einheit ins Zentrum zu setzen und den objektiven Bedingungen wie auch subjektiven Ungleichzeitigkeiten Rechnung tragend, einen internationalen strategischen Strang zu entwickeln. In diesem Strang lässt sich der revolutionäre Prozess im eigenen Land mit solchen wie in Kurdistan dialektisch aufeinander beziehen und sich auch hier konkret niederschlagen. Bestimmt ist davon ein Teil auch der sich ausbreitende türkische Faschismus. Kampagnen wie #riseup4rojava oder #fight4rojava sind Ansätze dazu.

Die letzten Worte gehören dir.

Lasst uns uns gemeinsam gegenüber den konterrevolutionären Angriffen auf alles, was sich in diesem und anderen Kontexten entwickelt, aufstellen, vereint den Spieß umdrehen und unsere internationalen Prozesse verstärken.

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Am Sonntag den 24. Oktober erreichte die türkische Lira ein Rekordtief und mit Bange beobachtete die Bevölkerung des Landes wie ihre wirtschaftliche Situation sich wieder ein Stück weiter verschlimmerte. Aber nicht allen geht es so – für viele andere ist der politisch-mediale Apparat des faschistischen türkischen Staates nämlich wieder so effektiv, dass kaum eine Minute bleibt, um an Inflation und eine horrende Suizidrate aufgrund von Armut im Land zu denken, denn die weitere rechtsnationalistische Sau muss durch das Land gejagt werden. So wurden kürzlich beispielsweise Verfahren und sogar sofortige Abschiebebefehle gegen mehrere syrische Flüchtende ausgesprochen, die „provokativ“ Bananen auf social media aßen, nachdem sich ein türkischer Bürger auf Social Media darüber beschwerte, dass die durchschnittliche türkische Person sich diese im Gegensatz zu den Geflüchteten nicht leisten könne. In Denizli beging wieder einmal ein Mann einen Femizid an seiner Ex-Freundin und wieder einmal wird in den Kommentarspalten darüber diskutiert, was die Frau alles gemacht haben muss, um den Mann so provoziert zu haben. Und schließlich beschloss das türkische Parlament öffentlichkeitswirksam, dass sowohl die militärischen Einsätze in Syrien als auch im Irak um zwei Jahre verlängert werden sollen – gemeint ist natürlich der vermeintliche Krieg gegen die PKK. Wieso man sich Bananen nicht leisten können sollte, wieso FLINTA* Personen täglich sterben müssen, wieso das kurdische Volk bei jeder noch so kleinen Gelegenheit vernichtet werden muss, das fragen sich die wenigsten in einem Land, wo vor allem eins intersektional ist: Das Elend und die Krisen.

Es gibt viele Gründe anzunehmen, dass in Konsequenz dieser parlamentarischen Entscheidung eine größere neue Militäroffensive in Rojava von Seiten der Türkei ansteht. Genau wie bei den Operationen Euphrates Shield 2016/2017, Olive Branch 2018 (bekannter als der Krieg um Afrin) und Peace Spring (eine böswillige Untertreibung der ethnischen Säuberungskampagne zwischen Girespi und Serekaniye im Herbst 2019) werden sowohl türkische Luftkräfte, türkische Spezialkräfte am Boden und eine Horde an islamistischen Schergen der SNA (Syrian National Army, ehemals bekannt unter FSA/TFSA) mobilisiert. Dabei ist man sich nach wie vor nicht zu schade vormalige IS oder al-Kaida Kräfte mit einzubinden, wie der Sprecher des SDF Medienzentrums, Farhad Shami, feststellt.

Diesmal sieht es so aus, als würde die Türkei weiter ihrem Projekt nachkommen, die Verbindung zwischen den größeren Gebieten Rojavas zu kappen, wie auch schon zuvor geschehen. Afrin konnte die Türkei erfolgreich durch die Operation Euphrates Shield isolieren, um sich so auf die Einnahme des Gebiets vorzubereiten. Und auch der Vorstoß in Girespi und Serekaniye im Jahr 2019 lief vor allem darauf hinaus, das Gebiet bis zum M4 Highway (der Schnellstraße, die alle wichtigen Städte entlang der syrisch-türkischen Grenze verbindet) einzunehmen. Damals musste die türkische Armee den Highway nach einigen Wochen wieder freigeben, weil auch alle anderen Kräfte, unter anderem die russischen und US-amerikanischen, über diesen verkehrten. Doch ein strategisches Auge hat der NATO-Partner weiterhin darauf geworfen – besonders auf die am Highway gelegene Stadt Ain Issa, die südwestlich vom durch die Türkei besetzten Girespi (arabisch: Tel Abiyad) liegt.

In Ain Issa sammeln sich mitunter einige der wichtigsten Strukturen der Syrisch Demokratischen Kräfte (SDF) und wer etwa vom Nordosten also von Qamishlo oder Heseke nach Kobani will, muss durch diese Stadt hindurch. Man kann also davon ausgehen, dass die nächste größere türkische Operation genau dieses tendenziell abgehängte Glied Rojavas einnehmen und vor allem Kobani isolieren will – ein militärischer und vor allem symbolischer Vorstoß, der ohne Gleichen wäre. 

In der Region Kurdistan (KRI) im Irak, wo der türkische Drohnenkrieg gegen die kurdische Bevölkerung allerhöchstens zum Eklat von Gare führte, konnte hingegen noch kein symbolischer Sieg errungen werden, der ausreichend von den eigenen Krisen ablenken könnte. Während die Türkei mit allen Mitteln die gesamte Grenzregion zwischen dem Irak bzw. der KRI und der Türkei mit Drohnen und Giftgas bombardiert und ganze Waldflächen rodet, fliegt sie mittlerweile bis in das östlich von Kirkuk gelegene Chamchamal Drohnenangriffe gegen vermeintliche PKK-Stellungen. Besonders zugute kommt der Türkei eine schwache PUK – Jene Partei, welche im Osten der KRI das Sagen hat und durch interne Machtkonflikte enorm an Kraft verlor. Der bis dato mächtigste Mann der PUK, Lahur Sheikh Jangi, der als im weitesten Sinne als PKK-freundlich gilt, wurde infolge dieser Auseinandersetzungen seines Amtes enthoben. Zwischenzeitlich war sogar die Rede davon, ihn des Landes zu verweisen. Kurz nach diesen schicksalshaften Tagen hagelte es in der sonst sicheren und eher links eingestellten Stadt Sulaimaniya Kugeln. Mehrere PKK-Kader wurden getötet, darunter Yasin Bulut. Die türkischen NATO-Truppen bombardieren in Südkurdistan also weiterhin so gut wie alle Gebiete und dank dem erneuten Parlamentsmandat ist kein Ende dieser Kampfhandlungen in Sicht. Besonders makaber in diesem Kontext: Nur wenige Tage nach der Entscheidung des türkischen Parlaments postet die Twitter-Seite der NATO einen Ehrentweet an den NATO-Alliierten Türkei um mit ihnen den Nationalfeiertag zu zelebrieren. 

Wie gegen Ende des Jahres die Sicherheitslage der Kurd*innen im Irak aussehen wird, ist absolut unklar. Denn bis auf Weiteres sollen alle US-Truppen das Land verlassen, wie Präsident Biden schon im Juli nach Absprache mit Ministerpräsident Mustafa al-Kadhimi ankündigte. Das irakische politische Establishment hat wiederholt keinerlei Einspruch gegen das kilometerweite Eindringen der Türkei geäußert und mit einem Ende der US-Präsenz und somit einem Vorteil für den Iran und iranische Milizen gibt es keinen Grund anzunehmen, dass die Region Kurdistan von freundlichen Kräften umzingelt und besetzt sein wird. Ein Szenario, in dem die KRI weiter von türkischen NATO-Drohnen bombardiert und gleichzeitig von iranischen Raketen angegriffen wird, ist nicht besonders unwahrscheinlich. Es zeichnet sich ab, dass 2022 das Jahr des Überlebenskampfes der Region Kurdistan wird. Dafür sprechen nicht zuletzt die Rekordzahlen an flüchtenden Kurd*innen aus der KRI, die vor allem gerade an der polnisch-belarussischen Grenze feststecken. Denn zwischen der Korruption von KDP und PUK sowie dem fortwährenden Vernichtungskrieg der Türkei bleibt für die Zivilbevölkerung kaum eine Alternative. Und so nehmen viele eher den Tod auf der Fluchtroute in Kauf, als weiter dort im Elend zu leben.

An der vermutlich künftigen Koalition der Bundesregierung ist allerdings nur ihre Farbkombination pro-kurdisch, denn zum Thema Türkeipolitik hüllt man sich in Ampelkreisen in Schweigen. Nachdem Erdogan fast ohne Konsequenzen die Ausweisung verschiedener Botschafter*innen, unter anderem des Deutschen, verlangte und auch dies in Deutschland höchstens Mahnungen zur Besonnenheit hervorgerufen hat, gab es keinerlei weitere Statements zum Kameraden vom Bosporus. Gerade in bei SPD und Grünen begnügt man sich damit, politisch akzeptierte Oppositionelle wie Can Dündar oder Osman Kavala mit Phrasen  – oder mit einem netten Abendessen, wenn sie denn nun frei sind – zu beehren, anstatt sich wirklich zur Vernichtungspolitik der Türkei gegen Kurd*innen oder Armenier*innen zu positionieren. Man feiert 60 Jahre Gastarbeiter*innenabkommen, aber schweigt zur allgegenwärtigen Kriminalisierung kurdisch-linker und türkisch-linker Organisationen in Deutschland.

Vielleicht eint das Deutschland und die Türkei also am meisten: Während ökonomische Krisen, fundamentale Verteilungsfragen, tägliche Femizide und vieles mehr die Systemfrage hervorrufen sollten, vergnügt man sich lieber mit besonders emotionalisierten und symbolischen Debatten. So kann man leider davon ausgehen, dass die sich anbahnende neue Militäroffensive nicht die geringsten Reaktionen in den Kreisen des deutschen politischen Establishments auslösen wird. So wenig man mit diesen rechnen kann, so wenig sollten sie ein Standard politischen Handelns sein. Die nächsten Monate müssen vor allem dafür genutzt werden auf allen Ebenen Widerstand gegen den Vernichtungskrieg der NATO in Kurdistan – an allen Fronten – zu leisten. Sowohl in Südkurdistan als auch in Rojava geht es um nichts weniger, als um den Überlebenskampf der einzigen existierenden kurdischen Autonomieregionen – ihnen und vor allem ihrer Bevölkerung sollte nichts als grenzenlose Solidarität gelten.

#Bildquelle: ANF

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Die Türkei führt – weitgehend unbeachtet von der Weltöffentlichkeit – ihren Krieg gegen die kurdische Befreiungsbewegung nicht nur an der irakisch-türkischen Grenze weiter. Sie setzt dabei neben der Luftwaffe und Bodentruppen mittlerweile auch immer häufiger international geächtete Waffen wie Giftgas ein. Doch die Guerilla und die Bevölkerung leisten weiterhin Widerstand – mit Erfolg. Wir haben mit Şoreş Ronahî, Mitglied der Revolutionären Jugendbewegung Syriens und der Internationalistischen Kommune in Rojava (Teil der Kampagne Riseup4Rojava) über die aktuelle Lage gesprochen.

Du bist ja derzeit in Rojava, im Norden Syriens, und dort politisch aktiv. Wie ist die Situation im Moment vor Ort nach deiner Einschätzung? Wir hören vermehrt von der konkreten Gefahr einer neuen Großoffensive der türkischen Armee gegen kurdische Gebiete in Syrien. Wie ist die Stimmung bei euch und wie bewertet ihr die aktuellen Entwicklungen in der Region?

Was auch immer passiert, das Leben geht hier natürlich weiter. Die Menschen hier haben sich daran gewöhnt unter Kriegsbedingungen und mit dem andauernden Embargo zu leben. Auch die Drohung mit neuen Angriffen gegen das befreite Rojava ist nichts neues, sondern immer wiederkehrende Realität. Das soll nicht heißen, dass wir das nicht ernst nehmen, doch Krieg und Widerstand sind hier nicht an einen “Tag X” gebunden. Der türkische Staat handelt in Zeiten, in denen er nicht mit einer großangelegten Offensive versucht Gebiete zu besetzen, nach einer Strategie des Krieges niedriger Intensität.

Sie töten unsere Genossi:nnen und auch Zivilist:innen täglich durch Luftschläge mit ihren Drohnen. Sie schneiden die Wasserversorgung Rojavas ab, versuchen für Probleme und Chaos zu sorgen, indem sie Agenten in die Region einschleusen, versuchen Kurd:innen und Araber:innen gegeneinander aufzuhetzen und verbreiten Lügen und Anti-Propaganda. Gleichzeitig hat der physische Krieg an den essentiellen Frontlinien nie aufgehört. Tagtäglich werden die Gebiete rund um Til Temir, Eyn Îsa, Minbic und Şehba bombardiert und natürlich leisten die Leute hier dagegen Widerstand und verteidigen sich aktiv.

Es geht auch nicht nur um Rojava, sondern wir müssen verstehen, dass die Kriege in den Bergen, in Rojava, in Nordkurdistan, usw. miteinander verbunden sind. Der türkische Staat ist ein faschistischer Staat, seine Regierung ist faschistisch. Sie haben ihre eigene Existenz auf Krieg und Völkermord aufgebaut und setzen diese ihre Existenzgrundlage heute auf gleiche Weise fort. Der Widerstand dagegen ist immer legitim und dieser Widerstand ist heute grenzübergreifend und im Interesse aller Völker der Region.

Die letzten Jahre waren geprägt von Krieg und Widerstand, sowohl hier in Rojava als auch überall anders in der Region. Seit Februar diesen Jahres versucht die türkische Armee verzweifelt in weitere Gebiete der von der Guerilla im Süden Kurdistans (Nordirak, d. Red.) kontrollierten Medya-Verteidigungsgebiete vorzudringen. So startete sie eine aufwändige Blitzoperation gegen die Gare-Region am 10. Februar mit Unterstützung der KDP (vom Barzani-Clan geführte, von der Türkei, Deutschland und den USA abhängige Kompradorenpartei in der Kurdischen Autonomieregion im Nordirak, d.Red.), musste sich jedoch nach 4 Tagen schwerer Gefechte geschlagen geben und unverrichteter Dinge abziehen.

Kurz darauf begann die nächste Großoffensive am 24.04. gegen die Regionen Metina, Zap und Avaşîn. Diese Operation unter dem Namen “Claw Lightning and Claw Thunderbolt” hält bis heute an. Erst vor ein paar Tagen veröffentlichten die Volksverteidigungskräfte HPG eine Bilanz der letzten sechs Monate. Daraus geht hervor, dass die türkische Armee trotz allen Aufwands, modernster Technik, unablässiger Luftüberwachung, flächendeckender Bombardements, dem Einsatz tausender Soldaten und der hinterhältigen Unterstützung durch die KDP und Roj-Peşmergas (Von der Türkei ausgebildete KDP-nahe Milizen, d.Red.) schwere Rückschläge einzustecken hatte und keine großen Gebietsgewinne für sich verzeichnen kann.

Besonders in den Gebieten Zendura, Mamreşo, Girê Sor und Werxelê leistete die Guerilla einen historischen und kompromisslosen Widerstand, der weiterhin anhält. Die einzige Lösung, welche der türkische Staat für sich dabei zu sehen scheint ist der massive Einsatz von chemischen Waffen. Laut der sechsmonatigen Bilanz der Volksverteidigungskräfte HPG setzte die türkische Armee innerhalb dieses Zeitraumes 323 mal verschiedene Arten von Chemiewaffen und Giftgas ein.

Wir wissen alle, dass das ein international anerkanntes Verbrechen ist, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, doch wirklich zu kümmern scheint das niemand. Nun sieht es so aus, dass die türkische Armee in den Bergen an ihre Grenzen gestoßen ist. Gleichzeitig geht es der Erdoğan-Regierung alles andere als gut. Laut Umfragen würde ihr Regierungsbündnis nicht einmal annähernd in die Nähe einer Mehrheit kommen bei kommenden Wahlen. Die Wirtschaft steckt in der Krise, den Menschen in der Türkei geht es nicht gut und sie sind unzufrieden. Der Staat versucht jetzt, wie immer, die Probleme einfach unsichtbar zu machen, indem die Kriegspolitik weiter angeheizt wird. Für das AKP-MHP-Regime sind die Menschen im eigenen Land nichts wert, sie haben alles und jeden dem Ziel untergestellt den Widerstand des kurdischen Volkes zu brechen und die Freiheitsbewegung militärisch zu vernichten. Die gesamte Innen- und Außenpolitik des türkischen Staates ist darauf ausgerichtet und auch die Wirtschaftskrise selbst rührt eben genau daher. Als diesen Sommer Wälder in der Türkei brannten, da bemühten sie sich sehr darum die kurdische Freiheitsbewegung dafür verantwortlich zu erklären, doch auch mit diesen dreckigen Spielchen konnten sie nicht davon ablenken, dass die Unfähigkeit zur Bekämpfung der Brände vor allem daher rührte, dass Investitionen zum Großteil ins Militär, Kriegstechnologie und Waffen gesteckt werden, während es dann z.B. an notwendig ausgerüsteter Feuerwehr mangelt.

Interessant ist auch, dass die türkische faschistische Regierung seit Jahren alles tut, um die HDP zu isolieren, ihre Verankerung in der Bevölkerung zu brechen und sie somit in die Bedeutungslosigkeit zu schicken. Doch Massenverhaftungen, drakonische Strafen für quasi nichts und wieder nichts, Folter, Mord und Verfolgung haben nichts dergleichen erreichen können und die Unterstützung der Bevölkerung für die HDP ist ungebrochen. Das Erdoğan-Regime erhofft sich nun durch eine Fortsetzung ihrer vorherigen Invasionen in Nordsyrien/Rojava ein Deckel auf die eigenen Problem packen zu können und einen lang ersehnten Erfolg für sich verbuchen zu können, welchen sie weder in den Bergen militärisch noch gesellschaftlich und politisch im eigenen Land erreichen konnten.

Natürlich spielen noch viele andere Faktoren eine Rolle. Die weitere Besatzung eines Gebietes in Rojava, nach der Besatzung von Efrîn und Serêkaniyê, wäre ein schwerer Schlag gegen die Revolution, von dem sich Rojava nur noch schwer erholen würde. Dessen ist sich der türkische Staat bewusst und auch die internationalen, imperialistischen Kräfte, die in der Region aktiv sind, sprich USA und Russland, wissen das und versuchen dementsprechend für ihre eigenen Interessen Druck aufzubauen. Die Türkei selber versucht für sich die notwendige politisch-diplomatische Grundlage zu schaffen, um grünes Licht für eine neue Invasion zu bekommen. Ob sie dieses grüne Licht bereits bekommen hat von einer der genannten Großmächte und ob sie vielleicht schon morgen mit der nächsten Offensive anfangen wird, das wissen wir nicht. Doch hier sind sich alle dessen bewusst, dass eine solche Situation nicht unwahrscheinlich ist und wir uns deshalb alle auf den Widerstand vorbereiten müssen. Die Stimmung ist aber nicht negativ, ganz im Gegenteil. Das ist die Realität hier: Ohne Krieg und Widerstand hätte sich die Revolution bis heute nicht halten können und da Gewalt die einzige Sprache ist, die der Faschismus versteht, müssen wir ihm mit aller uns zur Verfügung stehenden Gewalt gegenübertreten. Wir sind zuversichtlich, dass wir erfolgreich Widerstand leisten werden. Natürlich gibt es auch viel Wut, Frust und Hass der Türkei und der internationalen Staatengemeinschaft gegenüber. Wenn es anders gehen würde und allein mit Worten ein würdevolles Leben erkämpft werden könnte, dann würde hier niemand zur Waffe greifen. Da die Realität jedoch anders aussieht, sind die Menschen hier dazu bereit die Waffe in die Hand zu nehmen um die eigene Würde zu verteidigen.

In den kurdischen Nachrichten wird insbesondere von Til Refat und Kobane als möglicher Zielorte einer neuen Invasion gesprochen. Wie schätzt ihr vor Ort ein, wo und wann es eskalieren wird?

Das ist schwer zu sagen und es wäre falsch anzunehmen eine hundertprozentige Vorhersage treffen zu können. Nichtsdestotrotz zeichnen sich einige mögliche Szenarien ab und türkische staatsnahe Medien sprechen selber von diesen Szenarien. Wie du selber gerade gesagt hast, stehen die Regionen Til Refat, also Şehba im Norden Allepos und Südosten Efrîns, Kobanê und Minbic zur Zeit im Vordergrund. Alle diese drei Regionen sind der Türkei seit Jahren ein Dorn im Auge. Ein weiteres mögliches Szenario wäre eine Operation in der Region Dêrik im nordöstlichen Länderdreieck Rojavas. Dies ist ein weiteres strategisches Ziel für den türkischen Staat, da dort die Verbindung Rojavas nach Südkurdistan besteht, desweiteren könnte eine für den türkischen Staat erfolgreiche Besatzung der Region Dêrik den direkten Landweg für den türkischen Staat nach Şengal öffnen.

Eine andere Möglichkeit ist auch die Fortsetzung einer Offensive an den bestehenden Frontlinien in Eyn Îsa, Til Temir und Zirgan. Es kann auch sein, dass mehrere dieser Szenarien zur selben Zeit versucht werden. Wie auch immer, die Rhetorik des türkischen Staates ähnelt sehr der Rhetorik im Vorlauf zum Krieg in Efrîn und später in Serêkaniyê. Truppenbewegungen an den Grenzen finden vermehrt statt, die islamistischen Banden der SNA werden mobilisiert und offensichtlich versucht die Türkei, die notwendige internationale Unterstützung für sich zu sichern. Ob es morgen anfängt oder in einem Monat ist weniger wichtig, wichtig ist, dass wir alle darauf vorbereitet sind, sowohl hier vor Ort als auch international, um Widerstand zu leisten und den türkischen Faschismus zu zerschlagen.

Als Kampagne RiseUp4Rojava, was ist eure Antwort auf die aktuellen Entwicklungen und wie wird eure Antwort aussehen, sollte es zu einer neuen Bodenoffensive gegen die Autonome Selbstverwaltung in Nordost-Syrien (AANES) kommen?

Als Kampagne RiseUp4Rojava existieren wir ja bereits seit Frühjahr 2019 und insbesondere zur Zeit des Krieges in Serêkaniyê und Girê Spî waren wir dazu in der Lage, gemeinsam mit anderen Initiativen weltweit hunderttausende Menschen auf die Straße zu bringen und ernsthaften Druck von unten aufzubauen. Seither versuchen wir eine Kontinuität in unserer Arbeit gegen den türkischen Faschismus zu gewährleisten und auf dieser Grundlage fanden über die letzten 2 Jahre zahlreiche Aktionstage zur Unterstützung der Revolution in Rojava und dem Widerstand gegen die türkische Aggression, als auch gegen die internationalen Profiteure vom Krieg und Kollaborateure mit dem Faschismus statt. Wir versuchen durch unsere Website als auch soziale Medien über die Situation vor Ort zu informieren, die internationalen Helfer der Türkei aufzudecken, unsere Position zu verbreiten und gegen den türkischen Faschismus zu mobilisieren.

Kampagnenintern haben wir diskutiert, dass wir bei einer erneuten Offensive der Türkei nicht direkt von einem “Tag X” sprechen können, denn der Krieg ist jeden Tag, auch wenn er in den Mainstreammedien meistens nicht sichtbar ist. Gleichzeitig können auch wir uns nicht komplett der Dynamik eines solchen “Tag X” entziehen. Im Falle einer neuen Offensive rufen wir alle auf unserem Aufruf zu folgen und den Protest direkt vor die Türen der internationalen Vertretungen des türkischen Staates zu tragen. Gleichzeitig geht es uns nicht um eine einzige Aktion oder einen Tag. Wir werden kontinuierlich weiter mobilisieren und mit unseren Initiativen versuchen den türkischen Staat und alle Institutionen, die ihn unterstützen zu blockieren, zu stören und zu besetzen.

Unabhängig davon bereiten wir auch im Moment neue internationale Aktionstage für das Wochende vom 26. bis 28. November vor. Der Slogan lautet “Smash Turkish Fascism – Stand with the Guerrilla!”. Unter unserem Motto “Block! Disturb! Occupy!” rufen wir auch hierzu alle auf aktiv zu werden und auf die Straße zu gehen.

Die Aktionstage vom 26.-28. November, von denen du sprichst, wie werden die konkret aussehen und wie können sich Gruppen und Menschen außerhalb eurer Kampagne daran beteiligen?

Der Aufruf zu den Aktionstagen wird in den kommenden Tagen veröffentlicht werden. Unsere zentralen Ziele sind erstens, den Vertrieb von Olivenöl aus dem besetzten Efrin anzugreifen, an dem sich einige eine goldene Nase auf Kosten des Leidens der Bevölkerung von Efrin verdienen. Zweitens, die Waffenindustrie, welche weiterhin für die türkische Kriegsmaschinerie produziert. Drittens, die Kollaborateure in Politik und Diplomatie, welche weiterhin mit Erdogan liebäugeln und dem türkischen Faschismus Grund und Boden für seine Vernichtungspolitik liefern. Gleichzeitig wollen wir den Widerstand der Guerrilla unterstützen und den Gebrauch von Chemiewaffen durch den türkischen Staat verurteilen. Der 27.11. stellt auch den 43. Jahrestag der Gründung der PKK dar. Wir erklären uns solidarisch mit dem Kampf der PKK, gratulieren ihr zum Geburtstag und sagen klar und deutlich, dass die Kriminellen hier nicht die Kämpfer:innen der PKK sind, sondern diejenigen, die Kurdistan besetzt halten und ausbeuten.

An den Aktionstagen können alle teilnehmen, die wollen. Es wird in einigen Städten sicherlich auch zentrale Veranstaltungen geben, aber darüber hinaus wollen wir, dass alle dezentral selbst aktiv und kreativ werden.

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Interview mit Welat Direj, 28, Internationalist und Mitglied der militärischen Verteidigungsstrukturen Rojavas zu den aktuellen Angriffen des türkischen Staates in Kurdistan und dem revolutionären Widerstand.

Bei euch in Nordsyrien sind es bereits über 30 Grad und der Sommer ist da. Seit vielen Monaten erreichen uns Nachrichten, dass die Türkei den Wasserzufluss nach Rojava unterbindet. Was ist Erdogans Kalkül hinter dieser Blockade?

Das ist Teil der Kriegsführung des faschistischen, türkischen Staates. Sie versuchen, mit allen Mitteln das Projekt der Selbstverwaltung im wahrsten Sinne des Wortes auszutrocknen. Ihnen ist vollkommen bewusst, dass sich Nord Ost Syrien, zu einem Großteil wirtschaftlich auf die Landwirtschaft stützt, für welche kontinuierliche Bewässerung ein essentieller Bestandteil ist, genauso wie natürlich einfach nur Trinkwasser. Zudem läuft durch die in der Vergangenheit starke Zentralisierung – ein Relikt aus Zeiten des Baath-Regimes – die Stromerzeugung zu einem sehr großen Anteil über den Staudamm in Tabqa und Tischrin. Ihr Ziel ist also, wenn sie auf militärischer Ebene keine Erfolge erzielen können bzw. es dafür gerade keinen Raum gibt, mit Hilfe von Wasserverknappung, Spezialkrieg, Embargo etc. das Volk zur Flucht und damit in die Verteidigungslosigkeit zu zwingen.

Wie reagiert die Selbstverwaltung Nord-Ost-Syriens auf diese Angriffe?

Es gibt natürlich nicht erst seit heute verschiedene Planungen und Projekte dem zuvorzukommen bzw. diesen Angriff abzuschwächen, aber diese reichen bei weitem nicht aus. Das reicht von Wasserumleitungsprojekten über Brunnenbohrungen zu neuen Bewässerungsmethoden in der Landwirtschaft. Außerdem ist auch ein wichtiger, nicht zu unterschätzender Aspekt die Aufklärung und Bildung, welche Ziele der faschistische, türkische Staat mit diesen Angriffen verfolgt, um sie damit ins Leere laufen zu lassen. Wir müssen begreifen, dass dieser kurdenfeindliche Staat eine Agenda des kulturellen Genozids verfolgt, er also vielleicht nicht 40 Millionen Kurdinnen und Kurden physisch auslöschen kann, aber diese in alle Himmelsrichtungen zerstreuen, sie vertreiben, schwächen und assimilieren will.

Mit der Besatzung Afrins durch den türkischen Staat und seine dschihadistischen Banden im März 2018 begann eine neue Phase von Guerillawiderstand, angeführt von den Befreiungskräften Afrins (HRE). Wie läuft es aktuell an dieser Front?

Ich würde das so formulieren: Afrin ist noch immer besetzt durch den Feind und daher ist der Widerstand nicht ausreichend, da Afrin bisher nicht befreit wurde. Aber wir sehen eindeutig eine positive Entwicklung in die richtige Richtung. In den letzten Jahren wurde in Rojava im Kampf gegen den Islamischen Staat eine bestimmte Art und Weise des Kampfes erlernt. Die türkische Invasion und Besatzung Afrins 2018 mit Drohnen, Kampfhubschrauber und Kampfflugzeugen war für die militärischen Kräfte in Rojava an vielen Stellen eine neue Herausforderung, die eine vollkommen neue Art und Weise der Kriegsführung erforderte. Sich dahingehend zu adaptieren, braucht etwas Zeit, aber wir können in jedem Fall eine deutliche Entwicklung sehen.

Seit April führt der türkische Staat eine neue Großoffensive gegen die Guerillaeinheiten der PKK in Südkurdistan/Nordirak. Nach der Niederlage gegen die siegreiche Guerilla in Haftanin 2020/21 folgt nun eine weitere Großoffensive. Wie bewertest du diese Angriffe?

Das wird schwer darauf kurz zu antworten, aber ich versuche es mal. Wir können ganz klar sehen, dass der Diktator Erdogan seit Jahren innenpolitisch nicht nur immer mehr an Popularität einbüßt, sondern zugleich eine schwere Wirtschaftskrise das Land erschüttert, die sich noch intensivieren wird. Erdogan steht mit dem Rücken zur Wand, was auch die erneuten Bemühungen seitens der Türkei zeigen, die Guerilla zu einem Waffenstillstand zu überreden. Eine alte Taktik der AKP um sich wieder in Position zu bringen.

Die AKP-MHP Regierung versucht alles, um mit Hilfe von billigem Nationalismus ihre Misserfolge zu überdecken. Außerdem existieren natürlich noch geopolitische Interessen der NATO, das muss man ganz klar festhalten: Die Guerilla kämpft nicht nur gegen den türkischen Staat, sondern gegen die gesamte NATO. Der Luftraum des Nord-Iraks ist immer noch unter der Kontrolle der USA, die für diese Operationen grünes Licht gaben. Wenn verschiedene imperialistische Konstellationen gerade keine Angriffe in Rojava zulassen, dann werden die Angriffe gegen die Guerilla, das Herz der kurdischen Freiheitsbewegung, intensiviert.

Wie sieht der Widerstand der Guerilla aus? Murat Karayilan, Oberkommandierender der HPG, spricht seit einer gewissen Zeit von der „Guerilla des 21. Jahrhunderts“. Wie sehen diese neuen Taktiken konkret aus?

Der Widerstand einer Guerilla mit kleinem Waffenarsenal gegen die gesamte NATO ist bis jetzt mehr als beeindruckend. In Gare wurden die extra trainierten Spezialkräfte der Türkei in vier Tagen in die Flucht geschlagen und zu allem noch der verantwortliche Kommandant für die Operation getötet.

Obwohl die Türkei ununterbrochen Dutzende Drohnen und Kampfflugzeuge in der Luft hat, kann sie die Guerilla nicht finden, die im Sinne der angesprochenen Reorganisierung bzw. Entwicklung hin zu einer Guerilla des 21. Jahrhunderts mit effektiver Tarnung, über spezielle Regenschirme gegen Wärmebildkameras zu den neu gegründeten Sehid-Delal-Flugabwehrkräften viele neue Methoden anwenden. Die Guerilla dezentralisiert ihre Kräfte noch mehr als zuvor, und wird den türkischen Staat so weit in die Enge treiben, dass er um einen Waffenstillstand betteln wird.

In der BRD ist der Krieg gegen die Guerilla in den Bergen Nord- und Südkurdistans wenig präsent. Rojava und die restlichen Teile Kurdistans werden auch innerhalb der Solidaritätsstrukturen oft getrennt voneinander betrachtet. Was können wir tun um diese Trennung zu überwinden?

Mit dieser Trennung spielen wir nur dem Feind in die Hände, der ja genau das erreichen will. Das ist die alte, leider sehr erfolgreiche Taktik von Teile und Herrsche: „Die in Rojava sind ok, aber die PKK ist radikal“. Wenn linke, demokratische Menschen dieses Denken anwenden, ist das umso problematischer, denn nur der gemeinsame Kampf gegen Kolonialismus und für Freiheit aller kann erfolgreich sein.

Das gilt genauso für Südkurdistan, wo gerade wieder die KDP zusammen mit der Türkei einen Krieg gegen die Guerilla beginnt. Barzani und Co wollen scheinbar nicht sehen, dass sobald die Guerilla besiegt wäre, sie die nächsten auf der Liste des türkischen Staates sein würden.Wir müssen begreifen, dass es ohne den Kampf der PKK die anderen Kämpfe – zum Beispiel die in Rojava – nicht mehr geben wird, dass die Guerilla in den Bergen Kurdistans ein Garant für die Freiheit Kurdistans ist.

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Mitte Februar startete der türkische Staat eine erneute Militäroperation in Gare, einem Gebiet in Südkurdistan/Nordirak. Das Ziel: Die Vernichtung der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Bereits wenige Tage danach erklärte Ankara allerdings die Operation für beendet. Hintergrund: Die türkische Armee konnte gegen die Guerilla der PKK nicht ankommen. Nun versucht sie, den Krieg medial weiterzuführen. Ein Gespräch mit Women Defend Rojava Deutschland.

Die Meldungen über die geplante Invasion in Südkurdistan überschlugen sich vorvergangene Woche. Könnt ihr nochmal erläutern, was genau eigentlich in Gare passiert ist?

In der Nacht vom 9. auf den 10. Februar startete der türkische Staat eine erneute Operation mit dem Namen „Adlerklaue 2“ auf die befreiten Gebiete Südkurdistans, konkret die Region Gare. Diese Angriffe waren lange vorher und mit großen Worten in der Türkei angekündigt worden. Das Ziel des AKP/MHP-Regimes war es, Gare zu besetzen, die Operation von dort aus auf Qendîl und weitere Regionen auszuweiten und dadurch die kurdische Freiheitsbewegung zu vernichten. All diese Ziele wurden offen vom türkischen Regime kommuniziert.

Aber nicht erfüllt?

Nein, ganz im Gegenteil. Die türkische Armee war der Guerilla in Gare nicht gewachsen. Diese Operation hat sich im Endeffekt als enorme Niederlage für den türkischen Staat herausgestellt. Trotz massiver tagelanger Bombardierungen durch zahlreiche Flugzeuge und Helikopter, war die türkische Armee nicht, beziehungsweise kaum in der Lage ihre Soldaten am Boden abzusetzen. Videos der Volksverteidigungseinheiten HPG zeigen, wie türkische Hubschrauber wegen massiver Gegenwehr der Guerilla umdrehen und abziehen mussten.

Für den türkischen Staat ist das Ergebnis dieser Angriffe absolut peinlich. Ihre Ankündigungen, die PKK zu vernichten, erwiesen sich erneut als nichts weiter als heiße Luft. Diese Niederlage reiht sich ein in viele weitere. Vergangenes Jahr versuchte die türkische Armee erfolglos die befreiten Gebiete in Heftanîn zu besetzen. Darüber hinaus gleicht die Operation in Gare den Angriffen auf die Zap-Region 2008, die ebenfalls am 10. Februar begann. Auch damals hatte der türkische Staat mit großen Tönen die Vernichtung der Guerilla angekündigt und musste im Endeffekt eine enorme Niederlage einstecken, weil sie den Widerstand der Volksverteidigungseinheiten unterschätzt hatten und ihnen unterlegen waren.

Bedeutet das, der befürchtete Großangriff ist damit abgewendet?

Nein. Die Invasion in Gare konnte zwar durch die mutige Gegenwehr der Guerilla verhindert werden, dennoch ist es nicht ausgeschlossen, dass es in den kommenden Tagen und Wochen zu erneuten Angriffen kommt. Erdoğan kündigt bereits seit einiger Zeit öffentlich eine Invasion in der Jesidenregion Şengal an. Auch Dêrik, eine Stadt in Rojava, die strategisch wichtig sowohl an der türkischen als auch irakischen Staatsgrenze liegt, könnte ein mögliches Ziel für eine Operation der türkischen Armee sein. Wann und wo neue Angriffe starten werden, wissen wir nicht. Aber es ist wichtig, aus der enormen Niederlage des türkischen Staats in Gare nicht zu schlussfolgern, dass Erdoğan seinen Völkermord an den Kurd_innen stoppen wird. Es ist schließlich auch ein ideologischer Kampf.

Das bedeutet auch für uns, die hier in Deutschland solidarisch mit der kurdischen Freiheitsbewegung sind, dass wir weiter aktiv auf die Straße gehen müssen, um eine Öffentlichkeit für die Kriegssituation zu schaffen und Widerstand zu leisten – egal wo wir sind.

Eine Sache, die – vergleichsweise – viel Aufmerksamkeit in den Medien bekommen hat, ist die Tötung von 13 türkischen Kriegsgefangenen, die in Gare festgehalten wurden. Könnt ihr dazu was sagen?

Es ist gut, dass du von „vergleichsweise viel Aufmerksamkeit in den Medien“ sprichst. Es ist wirklich jedes Mal wieder erschreckend, wie wenig Öffentlichkeit die größeren deutschen Medien für die völkerrechtswidrigen Angriffe des türkischen Staats schaffen. Auch dieses Mal gab es viel zu wenig Berichterstattung – und wenn es sie gab, war sie sehr einseitig.

Die 13 ermordeten Kriegsgefangenen, auf die du anspielst, sind Opfer ihres eigenen Staates geworden. Sie sind bei einem Luftangriff der türkischen Armee ums Leben gekommen. Nachdem die Besatzungskräfte zunächst von der Guerilla zurückgedrängt werden konnten, bombardierte die türkische Luftwaffe das Camp, in dem sich neben den Guerillakämpfer_innen auch die Kriegsgefangenen aufhielten, intensiv. Es muss den Verantwortlichen vollkommen klar gewesen sein, dass bei einem solchen Angriff niemand, auch nicht die Gefangenen überleben konnten. Der türkische Staat hat damit den Tod seiner eigenen ehemaligen Sicherheitskräfte und Mitglieder des Geheimdienstes MIT mutwillig in Kauf genommen. Es ist auch nicht auszuschließen, dass die umfassenden Aussagen von einigen Kriegsgefangenen zum Beispiel zu den Hintergründen der Morde an Sakine Cansiz, Fidan Dogan und Leyla Seylemez, dazu führen, dass der türkische Staat keinerlei Interesse daran hat, das weitere Aussagen überhaupt gemacht werden könnten. Diese Umstände zeigen die menschenverachtende Haltung des türkischen Regimes sehr deutlich.

Wie kann es überhaupt dazu kommen, dass die Türkei Angriffe auf die Autonomieregion Kurdistan fliegt? Es ist ja in einer Form irakisches Staatsgebiet und gleichzeitig auch in der Autonomieregion Kurdistan. Stellen sich z.B. die anderen kurdischen Parteien in Südkurdistan gar nicht dagegen?

Einerseits ist es kein neues Phänomen, dass die kurdischen Parteien in Başûr inhaltlich klare Differenzen mit den basisdemokratischen Vorschlägen der kurdischen Befreiungsbewegung haben. Es ist eine nationalistisch und auch kapitalistisch ausgerichtete Regierung der PDK, die sich seit jeher eher an der Türkei orientiert als an einer gemeinsamen kurdischen und freiheitlichen Perspektive. Andererseits ist es durchaus eine neue Qualität, dass die Regionalregierung zulässt, dass die Angriffe von Militärbasen in Südkurdistan selbst geflogen werden. Was das an Haltung, bzw. mangelnder menschlicher Haltung, zeigt, erklärt sich von selbst.

Nach den Angriffen auf Gare, fanden in verschiedensten Städten Deutschlands Kundgebungen und Demonstrationen statt, die von Women Defend Rojava organisiert wurden. Dabei liegt Gare gar nicht in Rojava (Westkurdistan) sondern Başûr (Südkurdistan) …

Ja das stimmt. Gare ist geographisch kein Teil Rojavas. Dennoch ist der Widerstand der Guerilla in Gare, genauso wie in ganz Süd-, Nord-, und Ostkurdistan, untrennbar mit der Revolution in Rojava verbunden. Die Guerilla ist das ideologische Herz der kurdischen Freiheitsbewegung. Ein Angriff auf sie, egal ob in Gare, Şengal, Wan oder Rojava, stellt einen Angriff auf alle Errungenschaften der kurdischen Freiheitsbewegung dar. Das Ko-Vorsitzendenprinzip, die Frauenbefreiung, Basisdemokratie oder Ökologie sind Errungenschaften, die nicht unabhängig von der Guerilla gesehen werden können. Und auch geographisch ist es falsch, sich an den Staatsgrenzen zu orientieren. Alle vier Teile Kurdistans, egal ob auf türkischem, syrischen, irakischen oder iranischen Staatsgebiet, hängen untrennbar zusammen. Solidarität mit Rojava bedeutet damit immer auch Solidarität mit der Guerilla in Südkurdistan – und die haben wir vergangene Woche gemeinsam auf die Straße getragen.

Ihr macht ja auch noch andere Aktionen, z.B. hattet ihr am sogenannten Valentinstag auch einen Aktionstag gegen Feminizide ausgerufen. Habt ihr schon Pläne, wie es nach den vergangenen Protesten weitergehen soll?

Ja, der Aktionstag fand unter anderem auf Grund der „100-Gründe“-Kampagne der Kurdischen Frauenbewegung in Europa statt. Bis zum 8. März rufen wir dazu auf, die Kampagne zu unterstützen und Unterschriften zu sammeln, um den türkischen Staat für seine feminizidale Politik zu verurteilen. Die Kampagne lohnt sich für eine Arbeit an der Basis, da sie eine gute Bewusstseinsarbeit über Feminizide und die systematische Gewalt ermöglicht.

Allgemein glauben wir, dass wir der Bevölkerung in Deutschland vermitteln müssen, dass die vier Teile Kurdistans, der Widerstand in den Bergen und die Frauenrevolution in Rojava zusammenhängen und dass das eine ohne das andere nicht existieren kann. Gleichzeitig auch, dass die Realität dort nicht unabhängig ist von Dingen, die hier in Deutschland passieren. Woher kommen zum Beispiel all die Waffen? Was sind hier die Masken des Patriarchats? Um diese Themen deutlich zu machen, planen wir vor allem Veranstaltungen und Interviews.

Ansonsten ist es für uns wichtig, langfristig zu denken, denn neben Aktionen und guter Öffentlichkeitsarbeit ist es vor allem wichtig, dass wir uns organisieren und dem mit einer Verbindlichkeit und Verantwortlichkeit nachgehen. Unter dem Dach von Women Defend Rojava Deutschland organisieren sich zum Teil seit Ende des Jahres 2019 Komitees in verschiedenen Formen in unterschiedlichen Städten, wir rufen dazu auf, gemeinsam weitere Komitees aufzubauen und unsere Organisierung zu vergrößern. Letztlich sagen wir: „Schaffen wir an den Orten, wo wir leben, konföderale Strukturen, Werte und Prinzipien nach denen wir uns organisieren und verteidigen wir gemeinsam die Errungenschaften der Frauenrevolution.“

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Jedes Jahr seit nunmehr über zwei Jahrzehnten kommen in Deutschland kurdische und internationalistische Aktivist:innen im Februar zu einem „Langen Marsch“ zusammen. Gewidmet ist die Aktion dem PKK-Mitgründer Abdullah Öcalan. Das Datum erinnert an die Festnahme des prominenten Vordenkers des Demokratischen Konföderalismus, denn im Februar 1999 wurde dieser auf die türkische Gefängnisinsel Imrali verbracht, wo er bis heute in nur selten unterbrochener völliger Isolation gefangen gehalten wird.

Vorangegangen war dieser Verschleppung eine lange Odyssee Öcalans, der durch türkischen Druck aus seinem Exil in Syrien vertrieben worden war. Öcalan begab sich auf die Suche nach einem Ort, an dem er politisches Asyl bekommen und die Kurdenfrage auf die Tagesordnung der internationalen Politik setzen konnte. Russland, Griechenland, Italien wurden Stationen dieser Reise, doch wo immer sich eine Verschnaufpause abzeichnete, intervenierte die US-Regierung, die ihrem türkischen Partner den gesuchten Staatsfeind in die Arme treiben wollte. Öcalan endete schlussendlich in der griechischen Botschaft in Nairobi, nachdem deutsch-italienische Initiativen für einen Prozess vor einem internationalen Gericht abgewürgt worden waren.

Dort landete am 14. Februar 1999 ein Flugzeug mit malaysischem Hoheitszeichen, in dem sich ein Kommando des türkischen Geheimdienstes MIT befand. Öcalan wurde in die Maschine verschleppt und via Tel Aviv nach Istanbul geflogen. Die kurdische Bewegung geht von einer Mittäterschaft von CIA und Mossad aus und spricht deshalb bis heute von einem „internationalen Komplott“, das nicht nur gegen Öcalan gerichtet gewesen sei, sondern gegen die gesamte Unabhängigkeitsbewegung.

In der Tat erhoffte man sich nicht nur in der Türkei, sondern auch in den USA und Deutschland, das bei der Kriminalisierung der PKK stets eine Vorreiterrolle eingenommen hatte, einen raschen Zerfall der Arbeiterpartei Kurdistans. Doch es kam anders.

Neues internationales Komplott

Abdullah Öcalan nahm Debatten der 1990er-Jahre innerhalb der PKK wieder auf und nutzte die Zeit in Gefangenschaft zur Überarbeitung von Strategie und Taktik der Organisation. Es kam zu einem Paradigmenwechsel und die Orientierung auf die in erster Linie militärische Befreiung eines sodann zu einem sozialistischen Nationalstaat umzubauenden kurdischen Territoriums trat hinter den Aufbauprozess eines grenzüberschreitenden Geflechts politischer, zivilgesellschaftlicher, kultureller und wirtschaftlicher Institutionen zurück. Die Guerilla wurde zur Verteidigungskraft dieses Aufbaus.

Das global bekannteste, keineswegs aber einzige Resultat dieser Neuorientierung trägt den Namen Rojava, Westkurdistan, oder eigentlich korrekter: Demokratische Föderation Nord- und Ostsyrien, und ist seit langem keine rein kurdische Angelegenheit mehr. Vielmehr gelang es, in einem Teil des durch den imperialistischen Krieg und die islamistische Reaktion verwüsteten Syriens ein Gebiet des demokratischen Aufbaus zu errichten, in dem sich unterschiedliche Gemeinschaften auf Basis von Räten selbst organisieren.

Doch der unversöhnliche Hass der Türkei und der imperialistischen Hauptmächte blieb. Die Strategien zur Zerschlagung mögen sich unterscheiden, doch USA, Russland, Deutschland und die Erdogan-Diktatur teilen ein Ziel: Das Experiment in Rojava muss beendet, die PKK zerstört werden. Die Türkei verfolgt dieses Ziel durch rein repressive Mittel: Massenverhaftungen, Invasion und Besatzung, Ermordung und Vertreibung von Kämpfer:innen und Zivilist:innen, Förderung des Dschihadismus von IS bis „Freie Syrische Armee“. Russland lässt Erdogan gewähren und erhofft sich die Zuspitzung von Widersprüchen zwischen Ankara und Washington, die USA wiederum versuchen sich in der Spaltung und Entpolitisierung der kurdischen Bewegung. Deutschland liefert Waffen, nickt militärische Angriffe der Türkei ab und kriminalisiert die große exilkurdische Community hierzulande.

Hungerstreik für Freiheit Öcalans

Für die kurdische Bewegung nimmt die andauernde Inhaftierung Abdullah Öcalans eine zentrale Rolle in diesem Kampf ein. Denn Öcalan gilt Millionen Kurd:innen als legitimer politischer Repräsentant und ohne seine Freiheit bleibt auch nur der Gedanke an irgendeine Verhandlungslösung perspektivlos. Die Türkei hält Öcalan indes wie eine Geisel – und ihre deutschen Verbündeten verbieten sein Konterfei und stampfen seine Schriften ein.

Die kurdische Bewegung begann nun, um die Situation des gefangenen Revolutionärs erneut zum Mittelpunkt politischer Auseinandersetzung zu machen, die Kampagne „Die Zeit ist reif – Freiheit für Abdullah Öcalan“, die von hunderten Organisationen und Einzelpersonen getragen wird. Zeitgleich befinden sich politische Gefangene in der Türkei in einem Hungerstreik, der ebenfalls die Forderung nach Freiheit Öcalans aufgreift.

International gibt es eine Reihe von Beteiligungsmöglichkeiten: Eine Briefkampagne an die Vereinten Nationen, Dauerkundgebungen in Solidarität mit dem Hungerstreik und eben auch die Teilnahme am Langen Marsch, der am 4. Februar in Frankfurt beginnt und am 13. Februar mit einer Großdemonstration in Straßburg endet. In ihrem Aufruf betonen die Organisator:innen die Chance, die diese Aktion darstellt. Aktivist:innen unterschiedlicher Nationen kommen zusammen, um den von Rojava ausgehenden internationalistischen Zusammenschluss zu verbreitern. „Die Philosophie des Demokratischen Konföderalismus, die vom kurdischen Vordenker Abdullah Öcalan entwickelt wurde, lässt sich mittlerweile nicht mehr nur in Rojava oder den Bergen Kurdistans wiederfinden, sondern ist mittlerweile überall dort präsent, wo Menschen sich damit auseinandersetzen“, heißt es im Aufruf zum Langen Marsch.

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Von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet, begann am 24. April der Prozess gegen den Dschihadisten Taha Al J., angeklagt wegen des Völkermordes an den Eziden, vor dem Oberlandesgericht in Frankfurt am Main. Taha Al J. war Teil des sogenannten „Islamischen Staat“ (IS). Die Bundesanwaltschaft (BAW) wirft dem 27-Jährigen Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen gegen Personen, Menschenhandel zum Zweck der Ausbeutung der Arbeitskraft, den Mord an einem fünfjährigen ezidischen Mädchen sowie die Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung nach Paragraph 129b vor. Die BAW ließ Taha Al J. am 16.05.2019 in Griechenland festnehmen und nach Deutschland ausliefern, wo er sich seit dem 10. Oktober 2019 in Untersuchungshaft befindet.

Die „Karriere“ von Taha Al J. und seiner Ehefrau Jennifer W. im System „Islamischer Staat“

Bereits im Jahr 2013 schloss sich Taha Al J. im Irak dem IS an. Spätestens ab 2015 fungierte er als Leiter des Büros für „schariagemäße Geisteraustreibung“ in der späteren Hauptstadt des IS Raqqa. Er war als Verantwortlicher für die Unterbringung von Frauen in einer Unterkunft im türkischen Samsun zuständig, wo er seit September 2015 problemlos ein- und ausreisen konnte. Al J.s Ehefrau, die deutsche Dschihadistin Jennifer W., war 2014 über die Türkei in den Irak eingereist und hatte sich dem IS angeschlossen. Sie übernahm die Funktion einer bewaffneten „Sittenwächterin“ zur Einhaltung des stregen Regelwerks des Kalifats. 2015 kaufte der IS-Funktionär gemeinsam mit seiner Ehefrau Jennifer W. die Ezidin Nora T. und ihre fünfjährige Tochter Rania als Sklavinnen auf einem IS-Stützpunkt in Syrien. Beide wurden beim Völkermord an den Eziden im Shengal verschleppt und bereits mehrfach als Sklavinnen weiterverkauft.

Auf seinem Anwesen im irakischen Falludscha hielten Taha Al J. und seine Ehefrau Jennifer W., Mutter und Tochter als Sklavinnen gefangen, misshandelten beide schwer und ließen sie Hunger leiden. Als sich die 5-jährige Rania auf Grund einer Erkrankung einnässte, kettete Taha Al J. sie zur Strafe ohne Trinken und Essen bei circa 45 Grad im Hinterhof an. Die Hitze war so stark, dass das Mädchen vor den Augen der Mutter qualvoll verdurstete. Der Mord an dem 5-jährigen Mädchen geschah, während Jennifer W. Tatenlos dabei zusah.

Die Staatsanwaltschaft in Frankfurt gibt dazu an: „Taha Al J. habe beabsichtigt, mit dem Ankauf der beiden Jesidinnen und deren Versklavung ‒ neben erstrebten Annehmlichkeiten in seinem Haushalt ‒ die religiöse Minderheit der Jesiden im Einklang mit den Zielen des „IS“ zu vernichten.“ Die Staatsanwaltschaft wertet damit den Mord und den Kauf der beiden Frauen als Sklavinnen als Beteiligung am Völkermord.

Die Angaben zum Tod der 5-jährigen Rania stammen im wesentlichen von Jennifer W. selbst. Sie hatte sich einem verdeckten Ermittler in einem verwanzten Auto offenbart, als sie im Juni 2018 dabei war, erneut in den Irak und zurück zum IS zu reisen. Seither sitzt sie in Untersuchungshaft und steht seit 2019 wegen Mitgliedschaft im „Islamischen Staat“, Verstoß gegen das Kriegswaffengesetz und wegen der Beteiligung am Mord an Rania vor dem Münchener Oberlandesgericht. Ranias Mutter nimmt als Nebenklägerin am Prozess gegen Jennifer W. teil und sagte bereits gegen sie aus. Auf die Aussagen von Ranias Mutter stützt die BAW auch das Verfahren gegen Taha Al J. Er war noch im Jahr 2018 bereit in seinem Haus in der Türkei IS-Mitglieder im Umgang mit Sprengstoff zu unterweisen. Der Prozess in München gilt als erster Prozess gegen eine Rückkehrerin des „Islamischen Staates“.

Der Prozess in Frankfurt und der Kampf um Anerkennung

Der Prozess in Frankfurt ist der erste gegen einen anwesenden Täter des Völkermordes weltweit. In Frankreich wurde bereits im vergangenen Jahr ein Verfahren gegen ein IS-Mitglied wegen der Beteiligung am Völkermord 2014 eröffnet, welches jedoch in Abwesenheit des Täters geführt wird, da dieser als tot gilt. Betroffene und Hinterbliebene des IS-Terrors forderten bereits mehrfach einen Internationalen Gerichtshof, der in Syrien stattfinden. Genauso wird gefordert, dass die in der Föderation Nord-Ostsyrien (Rojava) inhaftierten Dschihadisten zurücknimmt und in den jeweiligen Ländern vor Gericht stellt. Bisher mit ausbleibendem Erfolg.

Die Europäischen Staaten halten zum Großteil daran fest, diejenigen die federführend den „Islamischen Staat“ militärisch zerschlagen haben, mit dem Umgang europäischer Dschihadisten, die sich immer noch in Syrien befinden, alleine zu lassen. Selbiges gilt auch für die Bergung der vom „IS“ angelegten Massengräbern, sowie für die Räumungen ganzer Städte von den Minen und Sprengfallen. Nicht zuletzt sind es auch die Menschen vor Ort und internationale Freiwillige, die sich um die Ver- und Aufarbeitung der zahllosen Traumatas bemühen, die der IS mit seinen Gräueltaten und schweren Kriegsverbrechen ausgelöst hat. Das alles passiert in einem Zustand des permanenten Krieges, schwerer Angriffe durch die Türkei und deren dschihadistischen Milizen und dem Ausbleiben internationaler staatlicher Hilfe.

Sollte die Demokratische Föderation Nord-Ostsyrien, auf politischer-internationaler Ebene, weiterhin nicht als solche anerkannt werden, wird sich an den aktuellen Zuständen wenig bis gar nichts ändern.

Wider dem vergessen!

Dem Völkermord des „Islamischen Staates“ sind 2014 mehr als 10.000 Menschen zum Opfer gefallen. Weitere 400.000 wurden aus ihrer Heimat vertrieben. 7.000 Kinder und Frauen wurden entführt und anschließend versklavt. Bis heute gelten mehrere tausend Menschen als vermisst. Die Bilder die wir vor mehr als sechs Jahren gesehen haben, werden mit dem Prozess in Frankfurt wieder präsenter und klarer. Die Bilder fliehender Menschen und unsäglichen Leides. Die Bilder der Kämpfer*innen der YPG/YPJ & HPG welche den eingeschlossenen und vom IS umzingelten Ezid*innen in Shengal zur Hilfe eilten und so den sicheren Tod tausender Menschen verhinderten.

Nun steht mit dem Prozess in Frankfurt einer der Täter und „Handwerker“ des selbsternannten „Islamischen Staates“ vor Gericht. Bei aller Kritik die wir an Gerichten und der Institution Gericht als solches haben, verdient insbesondere dieser Prozess Aufmerksamkeit und (kritische) Beobachtung. Der Prozess bietet die Chance weitere Einblicke in die Strukturen des „Islamischen Staates“ zu gewinnen. Aber auch die Rolle der Türkei als Dreh- und Angelpunkt weltweiter Dschihadisten zeigt sich schon in den bisherigen Erkenntnissen. Zudem sollte es insbesondere darum gehen, den Forderungen der Betroffenen und Hinterbliebenen Nachdruck zu verleihen. Vor allem die Forderung nach Anerkennung des Völkermordes 2014 als solchem, hat nicht an Aktualität verloren und ist verbunden mit dem Wunsch nach „Wiedergutmachung“ und Aufklärung.

Der Prozess in Frankfurt kann zudem weichenstellend für die kommenden 129b Prozesse werden. Denn was ist, wenn dieser Paragraph zukünftig auch gegen diejenigen Internationalist*innen angewandt wird, die gegen die Schlächter des IS gekämpft haben, Sso wie es in anderen europäischen Ländern bereits gängige Praxis ist? Der Prozess in Frankfurt verdient unter all diesen und vielen weiteren Gesichtspunkten mehr Beobachtung und Öffentlichkeit. Insbesondere aus Sicht einer radikalen Linken.

# Text: Antifaschistische Koordination 36

# Titelbild: Willi Effenberger, Mai 2017, Tabqa, Syrien. Kämpfer aus SDF und HAT präsentieren eine aus einer eroberten Stellung des IS

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