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Der 2. November ist World Resistance Day, der weltweite Tag des Widerstandes. In mehr als 16 Ländern werden insgesamt mehrere Hunderttausend Menschen in Solidarität mit der kurdischen Befreiungsbewegung und der Revolution in Rojava auf die Straße gehen. Das ist großartig. So wie der Widerstand gegen Unterdrückung und Ausbeutung großartig und schön ist. Und weil es um Widerstand und Rojava geht, will ich die Gelegenheit nutzen, um von ein paar zufällig ausgewählten Menschen zu erzählen, die ich in meiner Zeit dort kennenlernen durfte. Es sind keine berühmten Menschen. Ihre Namen und Gesichter kennt man nicht aus den Hochglanzmagazinen, den Zeitungen oder aus den Talkshows.

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Es sind Menschen wie Mussa Doschka, den ich Anfang 2017 im südkurdischen Suleymaniya traf. Ich war mit einer internationalistischen Gruppe auf dem Weg nach Rojava. Mussa wollte so gerne, aber konnte noch nicht rüber. Er hatte Arbeit zu tun, durfte nicht weg. Mussa sprach nur Kurdisch. Ich sprach noch kein Wort Kurdisch. Also mussten wir mit uns mit Händen und Gestiken verständigen.

Mussa mochte uns komische Ausländer sichtlich. Er kam immer an, drückte uns ganz fest. Dann zeigte er auf seinen Bauch und sagte: Doschka. Er zeigte auf mich und sagte: Tu jî Doschka. Doschkas, das sind die russischen DschK- Maschinengewehre, sehr schwer und mit viel Rückstoß, grauenhaft laut. Ich verstand: Mussa wollte sagen, wir zwei, er und ich, eignen uns wegen der Statur sehr gut zum Doschka-Schützen. Ein paar Tage blieben wir zusammen. Dann ging es für mich los, Mussa blieb. Und mit ihm sein Traum, hinter einer Doschka zu stehen, der er auch seinen Nachnamen verdankte. Zum Abschied schenkte er mir ein großes scharfes Klappmesser mit einer Gravur. Als bîranîn, Erinnerungsstück.

Als ich dann sieben Monate später, irgendwann am Ende des Sommers 2017 in Qamislo eine Freundin ins örtliche Krankenhaus fahren musste, hatte ich Mussa Doschka längst vergessen. Zu viele Dinge waren geschehen, zu viele Menschen hatten meinen Weg gekreuzt. Am Eingang zum Krankenhaus stand ein kräftiger junger Mann, starrte mich an und sein Mund verzog sich breit nach oben. Er lachte, so dass man alle Zähne sah. Ich begann schon reflexartig zu lachen und auf ihn zuzulaufen, bevor ich noch ganz begriffen hatte, wer das eigentlich ist. Es war Mussa. Er war Doschka-Schütze geworden, ganz wie er es sich gewünscht hatte. Und er hatte ein paar Schrapnells im Bauch, von Gefechten gegen den Islamischen Staat. Ich fragte ihn, wie es ihm gehe. Er sagte nur: tişt nabe, kein Ding, und lachte. Er wollte so schnell wie möglich wieder an die Front.

Ich konnte nur kurz mit Mussa reden, jetzt wo wir eine gemeinsame Sprache hatten. Er erzählte mir von seiner Verletzung und wie gut sie schon verheilt war. Ich erzählte ihm, was ich in der Zwischenzeit so getrieben hatte. Zehn Minuten, mehr hatten wir nicht. Aber obwohl wir vielleicht alles in allem drei, vier Tage miteinander zu tun hatten, war da eine große Verbundenheit. In der Revolution ist das eine der wunderbarsten Sachen: die Freundschaft entsteht oft ohne viele Worte. Ohne lange Debatten. Sie speist sich daraus, auf der selben Seite zu stehen. Man muss sich nicht viel erklären.

Das Messer von Mussa Doschka trat wie die meisten Erinnerungsstücke eine lange Reise an. Ich behielt es über meine gesamte Zeit in Rojava. Als ich nachhause fuhr, gab ich es meinem Genossen Paramaz, der es mit nach Afrin nahm. Und als er zurückkam, gab er es an einen anderen Genossen weiter. Und so hat es bis heute seinen Platz in der Revolution und manchmal überlege ich, wie witzig es wäre, wenn es irgendwann wieder bei Mussa Doschka landet.

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Im Sommer 2017 habe ich meine militärische Ausbildung im Jesdiengebiet Sengal bei einer Servanen Nû, einer Kriegsschule der Jesidischen Verteidigungseinheiten YBS gemacht. Zu irgendeiner Art Special-Forces-Soldat bin ich dabei nicht geworden, aber es war eine gute ideologische Schule und vor allem eine in der Kunst des Zusammenlebens in einer Revolution. Die Mischung unseres Lehrgangs war bunt. Zwei Deutsche – so sehr wir uns bemühten übermäßig privilegiert, weil in einem Land ohne Krieg und mit Schulen, mehr oder minder intakten Familien und der Sicherheit, nicht einfach auf der Straße erschossen zu werden, aufgewachsen. Und eine Handvoll jesidisch-kurdischer junger Männer aus feudalen Haushalten. Unser Kommandant, Sehid Mahir Sengali, hielt den Laden zusammen und brachte uns wirklich viel bei. In jeder Hinsicht war er wie ein großer Bruder für uns.

Einer der jesidischen Jugendlichen dort war Heval Renas. Gerade 18 Jahre alt, nie lesen oder schreiben gelernt, zuhause geprügelt worden, ohne eigentlichen Rückhalt in der Familie, bitter arm. Renas hatte völlig verlernt, sich selbst oder andere ernst zu nehmen, hatte keinerlei Ziele in diesem Leben. Er machte nur Blödsinn, sehr zum Ärgernis aller anderen. Er fuchtelte mit der Waffe, zeigte mit dem Lauf auf andere, redete andauernd wirres Zeug. Aber Mahir mochte ihn. Und wir anderen mochten ihn auch. Wenn er es uns auch schwer machte, weil er uns mehrmals beinahe aus Versehen umbrachte. Einmal, als er aus Unvorsichtigkeit unseren Wassertank mit dem dreckigen, öl- und metall- und gottweißwassonstverseuchten Wasser, das nur zum Waschen der Autos oder des Bodens taugte, angefüllt hatte und wir alle erst nach mehreren Gläsern bemerkten, dass doch nicht das normale Chlor so komisch schmeckt, wurde Renas zum Gegenstand einer Selbstkritik- und Kritiksitzung samt Strafe. Es war die schwerste Strafe, die in unserer Ausbildung vorkam: Zigarettenentzug, drei Tage. Renas war am Boden zerstört, er rauchte sehr gerne.

Aber er begann, sich Gedanken zu machen. Und Mahir gab ihn nie auf. Ich habe mich oft gefragt, wie unsere deutsche Linke wohl in der Lage wäre, Menschen wie Renas eine Perspektive zu geben. Die kurdische Bewegung jedenfalls konnte das. Renas wurde aufmerksamer, hörte gelegentlich auch mal bei den achtstündigen in 50 Grad Hitze abgehaltenen Schulungen zur Geschichte der Befreiungsbewegung zu.

Es ging bergauf mit ihm. Dennoch, als wir die Ausbildung abschlossen, hätte jeder gewettet, dass Renas den Weg vieler armer Jugendlicher geht: Schnell noch das Gewehr mitnehmen, um es zu verscherbeln und weg. Monate später, kurz vor unserer Rückreise nach Deutschland kamen wir zwei Deutschen wieder in den Sengal. Wir trafen natürlich unseren Kommandanten Mahir zu einem Anstandbesuch bei Tee und Sonnenblumenkernen. Und was war passiert: Zwei andere aus unserem Jahrgang waren abgehauen. Aber Renas stand auf seinem Posten und war jetzt zu einem der Verteidiger des Sengal geworden.

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Nach der militärischen Ausbildung ging ich zurück in zivile Arbeiten. Ich blieb zwei Monate in der Kommune in Rojava, bevor ich weiterzog nach Raqqa. Davor hatte ich eigentlich eine Heidenangst. Aber ich hatte viele Menschen getroffen, die mit so viel Mut und Entschlossenheit bei der Sache waren, dass ich mir selbst nicht mehr sagen konnte, es sei okay, nicht zu gehen. Sehr beeindruckt hatte mich zum Beispiel eine Internationalistinnen, die sich bei uns im Zentrum von ihren Verletzungen erholte.

Heval Dilan kam aus Kanada nach Rojava. Und sie arbeitete in der YPJ als Frontsanitäterin. Ein knochenharter Job. Ich kann mich noch an ein Gespräch mit einer anderen Genossin erinnern, die auch Frontsanitäterin war, bevor wir im Spätsommer nach Raqqa aufgebrochen sind. Sie wies uns notdürftig in erste lebenserhaltende Maßnahmen bei Schußwunden ein: „Wenn du Blut siehst, wenn einer einen Treffer hat, müsst ihr ihn von oben bis unten abtasten. Gebt euch nicht damit zufrieden, wenn ihr ein, zwei Löcher findet. Oft sind es mehrere. Und tastet wirklich alles ab, wir hatten oft große Löcher im Oberschenkel innen.“ Drei Stunden hörten wir uns die Fallbeispiele an: Menschen, denen der Kiefer fehlte, denen ein Stück Kieferknochen in der Luftröhre steckte; Bauchschüsse, bei denen Gedärme austreten; zur U-Form verkrüppelte Beine mit herausstehenden Knochen. Für die Frontsanitäterinnen war das Alltag.

Heval Dilan hatte genau diese Arbeit verrichtet. Und dann hatte sie einen schweren Autounfall. Als sie bei uns ankam, wirkte sie manchmal kaum ansprechbar. Dilan hatte eine schwere Gehirnerschütterung. Sie konnte kaum gehen, wenn sie aß, erbrach sie. Morgens sah sie aus wie aus einer Folge von walking dead. Ich dachte oft: Würde es mir so gehen, ich würde versuchen, so schnell wie möglich nachhause zu kommen. Doch Dilan dachte gar nicht daran. Sie wollten nach Raqqa, dann nach Deir ez-Zor. Am besten sofort. Und weil es so viele Menschen wie Dilan gab, wurde es auch für die ängstlicheren wie mich schwieriger, den eigenen Befindlichkeiten nachzugeben.

***

Die drei – Mussa, Renas und Dilan – sind völlig zufällige Beispiele für den alltäglichen Heroismus der Revolution in Rojava. Geschichten wie die ihren sind Alltag in Rojava. Es ist eine Revolution, die nur deshalb solange bestehen konnte, weil tausende Menschen den Fortgang dieses Projekts über ihr eigenes Wohlergehen, über ihr persönliches Geschick stellten. Das aber ist letztlich die Bedeutung von Widerstand. Er hört nicht da auf, wo es unbequem zu werden droht. Er fängt dort erst an. Denn er speist sich aus der empfundenen Einsicht, dass ein Leben auf Knien kein Leben sein kann.

Die Revolution in Rojava und die kurdische Befreiungsbewegung haben vielen Menschen diese Einsicht wieder ins Gedächtnis gerufen. Und sie hat ihnen eine Heimat gegeben, die auf keinem Territorium, sondern in den eigenen Köpfen liegt. Wenn wir zum 2. November auf die Straßen gehen, um den World Resistance Day zu begehen, protestieren wir nicht nur gegen die Kriegsverbrechen und das vom Feind begangene Unrecht. Wir feiern auch die Schönheit dieses Widerstandes.

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Ji bo bîranîna Şehîd Şiyar Gabar

Der deutsche Internationalist Jakob Riemer (Şiyar Gabar) aus Hamburg ist vor fast genau einem Jahr, am 9. Juli 2018, in Çarçella, einer Region des Zagros-Gebirges, bei einem Luftangriff der türkischen Armee gefallen. Zu seinem Gedenken fanden zum 1. Todestag Gedenkveranstaltungen und Plakataktionen statt. Berliner Aktivistinnen des Widerstandkomitees nahmen seinen Todestag zum Anlass, ihm in Form eines Wandbildes zu gedenken. Wir haben sie dabei begleitet.

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Stadtteilarbeit in Berlin: Die »Kiezkommunen«

Vermummte Gartenzwerge lauern hinter den noch kaum einen halben Meter hohen Tomatensträuchern des frisch zurecht gemachten Vorplatzes. Achtlos dreht sich ein junger Mann, der gerade mit dem Gartenschlauch das Beet wässert, um und erwischt versehentlich den kaum zwei Meter entfernt geparkten Wagen, in dem zwei Zivilpolizisten lungern. Die Schlapphüte düsen ab, die rund zwanzig vor der Berliner Waldemarstraße 110 sitzenden Nachbar*innen lachen. Die Sonne scheint, man gönnt sich Kuchen und Kaffee, an einem Tisch wird über Besuche bei politischen Gefangenen diskutiert, an einem anderen spielt man Skat und zwei junge Frauen schrauben eine neue Info-Tafel an ein Holzgerüst.

Der kleine Vorplatz gehört zu einem – relativ – neuen Kiezladen in Kreuzberg, dem »Mahalle«. Seit etwas weniger als einem Jahr gibt es hier Essen, Filme, Info-Veranstaltungen – und den Versuch, der revolutionären Linken in Deutschland ein neues, tragfähiges Fundament zu bauen.

»Wir machen das jetzt schon eine Weile«, sagt Miles lächelnd. »Aber wir haben gedacht, dass es am Anfang keinen Sinn macht, irgendwelche Absichtserklärungen in die Welt hinauszuposaunen«, so der 27-Jährige. »Erstmal in der eigenen Nachbarschaft was erreichen, dann kann man immer noch im Internet drüber schreiben«, sei die Devise.

Das, was Miles und ein paar Dutzend seiner Genoss*innen schon eine Weile machen, ist politische Aufbauarbeit in Stadtteilen Berlins. Im Wedding, Kreuzberg-Neukölln und in Friedrichshain gibt es bislang Sektionen des Projekts, das sich »Kiezkommune« nennt.

Im Kiez – aus dem Kiez – für den Kiez

»Für Kreuzberg und Neukölln liegt einer unserer Schwerpunkte gerade hier im Laden«, erzählt Emma, eine der Info-Tafel-Schrauberinnen. Man habe einen Raum schaffen wollen, der offen ist für die Nachbarschaft, nicht subkulturell, aber dennoch nicht unpolitisch. »Wir nutzen den Laden als Anlaufpunkt. Es kommen oft Einzelpersonen oder Initiativen, weil sie wissen, wir sind da ansprechbar. Aber wir machen auch wöchentlich Veranstaltungen, bereiten Demonstrationen und Aktionen vor – solche Sachen eben«, sagt Emma.

Inhaltlich drehe sich viel um Verdrängung und Mieten, aber auch Touristifizierung sei ein Thema, das in der Nachbarschaft ziehe. »Wir haben uns vor ein paar Monaten an einer Initiative von Kreuzbergern gegen den Neubau eines großen Hotels hier im Eck beteiligt. Das Ding wird jetzt nicht gebaut, was ein toller Erfolg ist. Aber das Thema bleibt«, erklärt Emma. Deshalb sei derzeit auch jeder zweite Samstag dem Kampf gegen Touristifizierung, AirBnB und Hotels gewidmet. »Das betrifft viele Anwohnerinnen und Anwohner«, weiß die 25-Jährige auch aus eigener Erfahrung. »Schon dieses dauernd fotografiert werden, als wäre man im Zoo, nervt. Aber klar, noch schlimmer ist, dass alles auf die Bedürfnisse des Tourismus zugeschnitten wird, dass Ferienwohnungen entstehen, wo wir Wohnraum brauchen. Und Yuppie-Boutiquen, wo wir früher bezahlbare Lokale hatten.«

Dennoch, sagen Miles und Emma, sei man keine Stadtteilinitiative, die nur zur Wohnungs- und Mietproblematik arbeite. Ein Frauen*-Café und ein autonomes Frauen*treffen sind an die Kommune angebunden, Jugendliche organisieren sich unter dem Label »Kreuzberg United« und machen Kampfsport oder Brunch im Laden. Man wolle mittelfristig eine Art Rätestruktur aufbauen, die sich um alle Belange der Nachbarschaft kümmert, beschreibt Miles die Ziele. »Als hier mal ein Nazi bei einem Lebensmittelgeschäft am Kotti gearbeitet hat, haben wir das natürlich auch als unsere Aufgabe gesehen, den loszuwerden. Und in Zukunft wollen wir auch mehr zu Arbeitskämpfen machen, gerade auch, wenn die so entschlossen sind wie zum Beispiel der kürzlich beim Wombat‘s Hostel«, schwärmt der arbeitslose Informatiker.

Wie aber die jeweiligen Kommunen arbeiten, hängt von den jeweiligen örtlichen Bedingungen ab. Im Wedding entsteht zwar derzeit ebenfalls ein neuer Laden, aber bislang bedienten sich die dortigen Genoss*innen eher anderer Mittel: militanter Untersuchungen und der Kiezzeitung »Plumpe«.

Gegenmacht und Revolution

Wenn auch der Schwerpunkt auf der lokalen Arbeit liegt, soll die »Kiezkommune« doch kein auf einen Stadtteil beschränktes Projekt sein. In einem kürzlich von den Kiezkommunen Wedding, Friedrichshain und Kreuzberg-Neukölln sowie der Gruppe radikale linke berlin (rlb) gemeinsam veröffentlichten Strategiepapier heißt es: »Von Beginn an soll daher der Aufbau der lokalen Organe der Gegenmacht mit ihrer Koordinierung und Verknüpfung auf überregionalem Niveau einher gehen«. Gegenmacht bedeute dabei zum einen, »die Fähigkeit, Dinge, die uns nicht passen, verhindern zu können. Wenn ein Nazi-Aufmarsch nicht durch den Kiez läuft, ist das Gegenmacht. Wenn ein Hotelbau nicht umgesetzt werden kann, ist das Gegenmacht. Wenn ein Betrieb eine Kündigung zurücknehmen muss, ist das Gegenmacht.« Aber: Zum anderen besteht Gegenmacht aber nicht nur im Verhindern, sondern auch im Aufbauen und Entwickeln. Wenn wir unser eigenes Zusammenleben organisieren können, ist das Gegenmacht; wenn im Kiez nicht die Bullen, sondern die Kommune gerufen wird, um Konflikte zu regeln, ist das Gegenmacht; wenn wir unsere Reproduktionsarbeit kollektiv gewährleisten können, ist das Gegenmacht.«

Letztlich gehe es, so formuliert der Text, um nicht weniger als die Revolution: »Dass die Herrschenden dieses Schaffen anderer Beziehungen, sobald es ihnen gefährlich wird, blutig unterdrücken, zeigt auch die Geschichte der Räterepublik, von der Landauer schrieb. Letztlich also wird auch an einem bestimmten Punkt des Aufbaus von Gegenmacht der Angriff der Herrschenden kommen. Bevor sie nicht ganz und vollständig entmachtet sind, bleibt auch der Aufbau von Gegenmacht vorläufig. Ein dynamisches Sozialismus-Konzept schließt insofern immerdie Notwendigkeit umfassender Selbstverteidigung mit ein.«

Betonen wollen Emma und Miles vor allem die veränderte Einstellung zur Gesellschaft, die ihrer heutigen Arbeit zugrunde liegt. »Ich komme aus eher klassischer Antifa-Arbeit, die viel über Abgrenzung gegen andere funktioniert hat«, sagt Emma. »Aber in den vergangenen Jahren bin ich wie viele andere zu dem Schluss gekommen, dass wir gar nichts erreichen können, wenn wir uns nicht als Teil der Gesellschaft verstehen und sie als ihr Teil von innen verändern.« Das müsse man aber auch neu lernen. »Deshalb legen wir nach innen viel Wert auf Bildung und auf das neue Erlernen einer Arbeitsweise, die offen und ansprechend ist. Aber auch auf die Ausgestaltung der genossenschaftlichen Beziehungen unter uns«, ergänzt Miles.

Große Ziele

Das zeige auch Erfolge. Und die wiederum machen die Arbeit für die Aktivist*innen bei aller Anstrengung schön. »Allein als letzte Woche drei ältere Frauen am Laden vorbeikamen und sagten: Ihr seid doch Sozialisten, ich find‘s gut, dass es endlich wieder nen sozialistischen Laden hier gibt«, das gibt richtig Kraft«, lacht Miles. In der Tat scheint der Laden und mit ihm die Kommune gut in die Nachbarschaft integriert.

Das aber reicht den Aktivist*innen lange nicht. »Wir arbeiten auf mehrere hundert Kiezkommunen in der Stadt hin, dann vernetzen wir das deutschlandweit und werden zum Kern des kommenden revolutionären Aufstands in Europa«, sagt Miles lächelnd. Bis dahin sei aber noch ein weiter Weg zu gehen, nach innen wie in der Vermassung des Konzepts.

»Wir haben viele Neubeitritte und da legen wir Wert darauf, uns gemeinsam weiter zu entwickeln. Außerdem müssen wir unsere Arbeitsfelder ausdehnen, da sind wir oft noch zu sehr auf einzelne Themen beschränkt«, stellt der Informatiker fest. Aber am Ende sei klar: »Für weniger als das Ende von Kapitalismus, Staat und Patriarchat lohnt sich die ganze Nummer ja nicht.«

Infos: www.kiezkommune.org

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Wenn linke Ideen von rechts attackiert werden, etwa von reaktionären Organen wie FAZ oder Spiegel, kann das nicht überraschen. Man weiß, von wem es kommt. Gefährlicher wird es, wenn pseudolinke Journalist*innen und Autor*innen dasselbe tun. Unter dem Deckmantel der Verteidigung der Zivilisation hintertreiben sie den Klassenkampf, verwirren Diskurse.

Geradezu ein Prototyp ist der taz-Redakteur Martin Kaul, wie sich an einem Beitrag zeigen lässt, den er am 19. Februar zur Bewegung der Gelbwesten in Frankreich geschrieben hat. Der Ton von Kauls Erguss erinnert an den der Erklärvideos in der „Sendung mit der Maus“. Nur dass Eleganz und Ironie fehlen. Vielleicht will der Mann auch einfach nur sarkastisch klingen, was total daneben geht. „Dies ist ein Text zum Thema Revolutionsromantik und wohin sie führen kann, denn sie führt ja zu nichts Gutem“, schreibt er. Hoho! Revolutionsromantik? Da könnte man an Barrikaden im Feuerschein oder rote Fahnen im Wind denken. Aber Kaul will davor warnen, etwas furchtbar Gefährliches zu verharmlosen „Revolutionsromantiker“, das sind für ihn Leute, die mit einem „gewissen Neid“ auf die französische Streitkultur schauten.

Vor denen „muss man sich in acht nehmen“, notiert er mit Anzeichen von Abscheu und Entsetzen. Gehe dem Franzosen „etwas gegen den Strich“, dann sei er „alsbald auf der Straße“, belehrt uns der Autor weiter. Kids aus den Banlieus zerlegten Fensterfassaden und Lastwagenfahrer zündeten auf Autobahnen Reifen an. Ja, so ist er, der Franzose. Zündet gern mal einen Reifen an oder schmeißt ‘ne Scheibe ein, wenn ihm etwas „gegen den Strich geht“. In den Banlieus hat man halt nichts Besseres vor.

Kaul will sich später nicht vorwerfen lassen, nicht gewarnt zu haben vor der Ausbreitung dieser neuen französischen Krankheit, der Gelbwestensucht. Hierzulande gebe es Sympathien für die Revolution. Das Buch „Der kommende Aufstand“, in Frankreich verfasst von einem „Unsichtbaren Komitee“, sei zum Beispiel gut angekommen. „Schmissig geschrieben“ sei es schon, räumt die Edelfeder gönnerhaft ein, nur umeinen von der Autor*innen direkt danach mit Schmutz zu bewerfen.

Als mal „einer von denen“ in Hamburg auf einer Bühne was sagen sollte, um die deutsche Revolutionsromantik „ein wenig zu inspirieren“, habe sich herausgestellt, dass er „ein Würstchen war: zu klein für den eigenen Schatten – aber ansonsten ganz gut vernetzt“. Woraus der Herr Redakteur geschlossen hat, dass der Franzose ein Würstchen ist, verrät er uns nicht – vielleicht, weil er nicht wie dieser Politik- und Kulturwissenschaft in Berlin und Istanbul studiert hat. Was aber will der Autor uns eigentlich sagen? Wir erfahren es gegen Ende seines Aufsatzes.

Er hat festgestellt, dass es bei den Aktionen der Gelbwesten zu Gewalt gekommen ist. Schlimm, schlimm! Damit meint er nicht etwa die brutale französische Polizei, die mittels Pfefferspray, Schlagstock und Gummigeschossen hunderte Protestler*innen verletzt hat, sondern die Gelbwesten, von denen viele schlimme Dinge täten: „Sachen kaputt machen“. Auch seien Antifaschist*innen und Faschisten gemeinsam auf Polizist*innen losgegangen. Schließlich habe etwas begonnen, was „den Wesenskern des Aufstands meist begleitet: Sie gingen sich gegenseitig an, prügelten aufeinander ein.“ Eine „ordnende Instanz“ habe nicht eingreifen können, „denn die war ja vorher verjagt worden: die Autorität“.

Spätestens hier muss den linken Leser*innen eigentlich der Ekel kommen. Offenbar sieht er sich als Aufstandstheorektiker und doziert: „Das erste Opfer der Revolution ist in der Regel die körperliche Unversehrtheit. Das zweite die Pressefreiheit. Manchmal auch umgekehrt.“ Die Regel des Aufstands sei, dass es keine Regel gibt – und „wenn, dann nur die des Stärkeren“. Sein Fazit: „Kluge Menschen“ sollten sich der Revolutionsromantik nicht anschließen, denn „Revolutionen waren niemals romantisch.

Es ist im Prinzip ganz einfach: Revolutionen und Revolutionsgequatsche in demokratischen Staaten sind eine ausgesprochene Scheißidee.“ Erstaunlich an diesen letzten Sätzen ist vor allem, wie man mit so wenigen Worten soviel Stuß von sich geben und die Verhältnisse dermaßen auf den Kopf stellen kann. Das erste Opfer des Kapitalismus ist die körperliche Unversehrtheit, Herr Kaul! Gucken Sie sich doch die Menschen in Bangladesh an, die für uns die T-Shirt zusammennähen, oder die Abgehängten hierzulande, Arbeitslose, Junkies, Obdachlose.

Und was bitte ist die Grundregel des Kapitalismus, wenn nicht das Recht des Stärkeren?! Was ist bitte eine Pressefreiheit wert, wenn die Mehrheit der Medien Konzernen gehört und die Masse mit „Brot und Spielen“ bei Laune gehalten wird? Und wer in aller Welt hat denn behauptet, dass Revolutionen romantisch sind?! Im Gegenteil, alle Linken, die es damit ernst meinen, sind sich darüber im Klaren, dass eine Überwindung der Verhältnisse ohne Gewalt und ohne persönliches Risiko nicht zu machen ist. Martin Kaul entpuppt sich als typischer Vertreter des sich links und aufgeklärt gebenden Teils der deutschen Journaille, die tatsächlich im Kern erzreaktionär ist. Leute, die sich an die Medien der Konzerne verkauft haben.

Die gelernt haben, was die Herrschenden im Lande gern hören und noch tolerieren. Die jederzeit bereit sind, mit Häme über jeden tatsächlichen Linken herzufallen, der ihre heile Welt bedroht. Sie sitzen warm und trocken auf ihren gut bezahlten Stellen und das Elend der Leute geht ihnen am Arsch vorbei.

Die Laufbahn des taz-Redakteurs passt dazu. Er war zuvor bei Spiegel Online, bei dpa, der Financial Times, war Stipendiat der Robert-Bosch-Stiftung, ist aktiv im Vorstand von „Reporter ohne Grenzen“, einer Organisation, die dadurch auffällt, dass sie Meinungsfreiheit als Kampfbegriff gegen Staaten wendet, die die westliche Hegemonie bedrohen. Kaul weiß, wo Barthel den Most holt. Wir werden von dem Mann noch hören.

#Titelbild: Johan Px; Pixabay; Montage LCM

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Am 23. Oktober 1998 wurde Andrea Wolf, Kampfname »Ronahî«, bei Catak in der südostanatolischen Provinz Van von türkischen Soldaten ermordet. Andrea, geboren in München, war als Internationalistin nach Kurdistan gegangen, hatte sich der Frauenguerilla der PKK angeschlossen und mit ihr gekämpft. Als Person steht sie für viele Kampffelder, die auch in der heutigen linksradikalen Bewegung in Deutschland eine Rolle spielen: Sie kam aus der autonomen Szene, beteiligte sich an direkten Aktionen, war in der RAF-Soli und der Hausbesetzer_innenbewegung aktiv. (mehr …)

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