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„Sein Gewissen war rein. Er benutzte es nie.“ Angesichts dieses mir schon lange vertrauten Zitats des polnischen Aphoristikers Stanislaw Jerzy Lec muss ich immer zuerst an den Mann denken, der vor ein paar Tagen zum Bundeskanzler dieses Landes gewählt worden ist. Olaf Scholz erscheint mir wie ein Prototyp dieses von Lec beschriebenen Menschenschlags. Was bürgerliche Medien bei dem Sozialdemokraten als „Pragmatismus“ bejubeln, lässt sich wohl eher als kalte Arroganz der Macht beschreiben. In Scholz‘ politischer Karriere gibt es genug Ereignisse, die diese Einschätzung bestätigen – aber wohl keines so deutlich wie der Fall Achidi John.

Es ist ein irgendwie seltsam anmutender – aber auch bezeichnender – Zufall, dass der frühere Hamburger Bürgermeister ausgerechnet am 9. Dezember 2021 zum Bundeskanzler gewählt worden ist. Das war auf den Tag genau 20 Jahre nach den Vorgängen im Institut für Rechtsmedizin des Hamburger Universitätsklinikums (UKE), die den Nigerianer Michael Paul Nwabuisi, der sich Achidi John nannte, das Leben kosteten. Mit großer Brutalität wurde dem als Kleindealer verdächtigten und erst 19 Jahre alten Mann am 9. Dezember 2001 dort zwangsweise ein Brechmittel verabreicht, um verschluckte Drogenkügelchen zu Tage zu fördern. John erlitt einen Herzstillstand, fiel ins Koma. Drei Tage später wurde er auf einer Station des UKE für tot erklärt.

Der 20. Todestag von Achidi John wurde in den bürgerlichen Medien, von Ausnahmen abgesehen, in den vergangenen Tagen geflissentlich beschwiegen. In der überbordenden Berichterstattung über die Kanzlerwahl und die neue Bundesregierung, fanden die Verstrickungen von Scholz in die Affären um die Cum-Ex-Deals und Wirecard oder seine Rolle beim G-20-Gipfel im Sommer 2017 in Hamburg gelegentlich Erwähnung. Aber mit dem Thema Brechmittel und seinem Anteil an der Sache wollte man dem neuen mächtigsten Mann im Staat offenbar nicht kommen. Dabei sagen die Vorgänge vermutlich mehr über ihn aus, als vieles andere.

Denn Achidi John kann ohne Übertreibung als direktes Opfer des machiavellistischen Politikansatzes des Olaf Scholz bezeichnet werden. Dazu muss man wissen, dass Scholz im Mai 2001 zum Innensenator Hamburgs ernannt worden war. Damals stand eine Bürgerschaftwahl im September bevor und der SPD und den Grünen drohte der Machtverlust. Die bürgerlichen Medien der Stadt arbeiteten fleißig daran, allen voran die Springerblätter Hamburger Abendblatt (inzwischen Funke-Gruppe), Bild und Welt. Die Kleindealer auf St. Pauli, in St. Georg und im Schanzenviertel, fast durchweg Afrikaner, wurden zum Hauptproblem der Stadt hochstilisiert. Zugleich baute die Presse den durch überharte Urteile aufgefallene Amtsrichter Ronald Schill, den man „Richter Gnadenlos“ getauft hatte, zum Heilsbringer auf.

Scholz versuchte der Schill-Partei, die mit dem Richter als Zugpferd gegründet worden war und rückblickend als Vorläufer der AfD bezeichnet werden kann, das Wasser abzugraben. Und zwar indem er einen harten Law-and-Order-Kurs fuhr. Dazu gehörte auch, dass er die zwangsweise Verabreichung von Brechmitteln gegen als Drogendealer verdächtigte Menschen erlaubte, obwohl es auch damals schon medizinische Bedenken gegen den Einsatz des Brechsirups Ipecacuanha gab. Mit diesem gewissenlosen Profilierungsversuch gab Scholz letzlich nur der rassistischen und protofaschistischen Schill-Partei recht, die folglich bei der Bürgerschaftswahl im September 2001 sensationelle 19,4 Prozent einfuhr und der CDU unter Ole von Beust an die Macht verhalf. Als Achidi John starb, war Schill bereits Innensenator.

Noch heute läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken, wenn ich Schilderungen der Foltertortur lese, die der junge Mann im Institut für Rechtsmedizin am 9. Dezember 2001 erleiden musste. Der Nigerianer wehrte sich verzweifelt gegen die Verabreichung des Sirups. Aber das half ihm nicht. Zuletzt fixierten ihn fünf Polizeibeamte. Mit auf dem Rücken gefesselten Händen hielten sie ihn auf dem Boden fest. Erst nach mehreren Versuchen gelang es der Rechtsmedizinerin Ute L., John eine Magensonde durch die Nase einzuführen und ihm 30 Milliliter des Brechsirups Ipecacuanha sowie Wasser einzuflößen. Später gab es Vorwürfe, L. und die Beamten hätten den Nigerianer anschließend liegen lassen ohne sich um ihn zu kümmern und die Reanimation zu spät eingeleitet. Dieser Verdacht ließ sich aber offenbar nicht wirklich erhärten. 

Weder Ute L. noch einer der beteiligten Beamten wurden jemals angeklagt. Die Staatsanwaltschaft stellte ein Vorermittlungsverfahren gegen die an dem Einsatz Beteiligten im Juni 2002 ein. Ein Klageerzwingungsverfahren des Vaters von Achidi John wurde vom Hanseatischen Oberlandesgericht im Juli 2003 wegen angeblicher Formfehler abgelehnt. Natürlich gab es weder von Olaf Scholz, noch von Klaus Püschel, dem kürzlich pensionierten Leiter des IfR, auch nur das geringste Wort des Bedauerns oder gar eine Entschuldigung. Unter Püschels Leitung wurden auch nach dem Tod von John die Brechmitteleinsätze noch bis ins Jahr 2006 fortgeführt. 

Erst danach wurde die zwangsweise Verabreichung in Hamburg eingestellt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte im Juli 2006 geurteilt, dass die erzwungene Vergabe von Brechmitteln gegen das Folterverbot des Artikels 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention verstößt. Nach Angaben der Hamburger „Initiative zum Gedenken an Achidi John“ wurden zwischen 2001 und 2006 insgesamt 530 Menschen – fast ausschließlich schwarze junge Männer – von der Polizei dem Institut zugeführt und mit einer Zwangseinflößung des Brechmittels bedroht, respektive malträtiert. Was wenig bekannt ist: Die „freiwillige“ Einnahme von Brechmitteln wurde noch bis 2020 fortgesetzt. Wobei von Freiwilligkeit nicht wirklich gesprochen werden kann, wenn einer Straftat Verdächtigte unter Druck gesetzt und Vorteile bei „Kooperation“ versprochen werden.

Die „Initiative zum Gedenken an Achidi John“ hat aus Anlass seines 20. Todestages dem Vorstand des Universitätsklinikums Eppendorf geschrieben und ihn unter anderem gefragt, „wie er heute zu der damaligen menschenrechtswidrigen Praxis am IfR steht, und ob zumindest eine medizin-ethische Aufarbeitung am UKE stattgefunden habe“. Die Antwort des UKE in einem Schreiben vom 12. August sei keine, erklärte die Initative in einer Mitteilung. Das UKE habe lediglich auf Bürgerschaftsdrucksachen verwiesen. „In den Räumen des Instituts für Rechtsmedizin ist gefoltert worden“, wird der Sprecher der Initiative, Daniel Manwire, zitiert. Püschel und seine Mitarbeiter hätten sich den Einsätzen verweigern können und müssen.


Ebenso wie die Linksfraktion in der hamburgischen Bürgerschaft fordert die Initiative eine Entschuldigung der Verantwortlichen und die Einrichtung eines „würdigen Gedenkortes“ für Achidi John und die anderen von der Brechmittelfolter Betroffenen auf dem Gelände des UKE. Daraus dürfte aber nichts werden. Ein entsprechender Antrag der Linken in der Bürgerschaft wurde abgebügelt. Von Vertreter*innen der SPD und der Grünen gab es Worte des Bedauerns, entschuldigen wollten sie sich nicht.

Olaf Scholz wird vermutlich weiterhin gut schlafen können, da er sich wohl – wie immer – nichts vorzuwerfen hat. Das Hermetische seiner Auffassungen macht Angst, mir jedenfalls. Ein langjähriger Abgeordneter der Linken in der Bürgerschaft erzählte mir einmal eine Begebenheit, die viel über den Sozialdemokraten aussagt. Er habe versucht, Scholz seinen Standpunkt zu erläutern, darauf habe dieser zu ihm gesagt: „Das weiß ich doch alles schon. Da sagen Sie mir nichts Neues.“ Diese felsenfeste Überzeugung, alles besser zu wissen, kann gefährlich sein – vor allem wenn jemand an den Hebeln der Macht sitzt. 

#Foto: Wikimedia Commons

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24. November 2016: Vor genau fünf Jahren unterzeichnete der kolumbianische Staat ein Dokument, welches einen 50 Jahre langen aufständischen Bürgerkrieg beenden sollte. Die Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens, besser bekannt als FARC-EP, setzten sich mit ihren jahrzehntelangen Feinden zusammen an den Verhandlungstisch.

Während 7.000 Guerrilerxs der FARC-Guerilla ihre Waffen in der aufrichtigen Hoffnung auf Frieden abgaben, hatte der Staat seine ganz eigene Motivation. Die kolumbianische Elite erkannte: Ein Krieg gegen Kommunisten ist schlecht fürs Geschäft.

Das Abkommen machte den Menschen Hoffnung auf Frieden und Wandel, gleichzeitig badete sich der derzeitige Präsident Juan Manuel Santos im Rampenlicht der internationalen Presse; Santos wurde mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.

Jetzt, 2021, ist am vergangenen Montag der UN-Generalsekretär im Land eingetroffen, um sich mit den Opfern des bewaffneten Konfliktes, Regierungsdelegierten und ehemaligen hochrangigen Führern der FARC-EP zu treffen. Am Mittwoch, dem 24. November, dem fünften Jahrestag der Unterzeichnung des Friedensabkommens, wird es einen großen Festakt geben. Was genau gefeiert wird ist unklar, denn Frieden gibt es in Kolumbien keinen.

Im Jahr 2016 war die FARC-EP bereit, ihre Waffen abzugeben. Jetzt werden unbewaffnete, ehemalige FARC-Veteranen erschossen. Systematische Morde an ehemaligen FARC-Guerilleros erschüttern das Land. Wenn der derzeitige Trend der gezielten Tötungen anhält, werden etwa 1.600 ehemalige FARC-Gueriller@s bis Ende 2024 ermordet werden, teilte das kolumbianische Tribunal für Übergangsjustiz am 28. April 2021 mit. Bereits jetzt wurden seit dem Friedensvertrag über 260 ehemalige FARC Mitglieder ermordet. Ehemalige FARC-EP-Gueriller@s fürchten um ihr Leben, während die Überzeugung, dass das so genannte Friedensabkommen auf einer Illusion beruht, immer mehr an Popularität gewinnt.

Nicht alle fügen sich diesem Schicksal. Der bittere Verrat am Friedensvertrag seitens des Staates war für viele ehemalige Mitglieder, Kommandeur:innen und Gueriller@s der FARC-EP und der mit ihrem verbundenen Kommunistischen klandestinen Partei Kolumbiens (PCCC) der Anlass, den bewaffneten Kampf wieder aufzunehmen. Derzeit sind die Strukturen der “neuen” FARC-EP landesweit in 138 Gemeinden präsent, was auf ein enormes Wachstum seit 2016 hinweist, dem Jahr, in dem der Friedensprozess zwischen der “alten” FARC-EP und der kolumbianischen Regierung abgeschlossen wurde.

Tausende zerrissen den Vertrag in zwei Teile und griffen wieder zu den Waffen. Die “Partei der Rose”, die legale Partei aus ehemaligen FARC Mitgliedern, verlor viele ihrer Mitglieder. Die einflussreichsten FARC-Kommandeure Jesus Santrich und Iván Márquez kehrten in die Berge zurück, um die Gründung der FARC-EP bekannt zu geben: Die Zweite Marquetalia. Fast täglich gibt es Gefechte. Frieden in Kolumbien eine Illusion.

Frieden gibt es in dem Land schon allein deswegen keinen, weil die FARC und der Staat nicht die einzigen Parteien im Krieg sind, und rechte Paramilitärs, die für die überwiegende Anzahl an politischen Morden verantwortlich sind, Kartelle und der Staat selbst immer noch einen bewaffneten Kampf gegeneinander und das Volk führen. Wie instabil der Status Quo aktuell ist, wurde während des Nationalstreiks 2021 und dem anschließenden Volksaufstand als Reaktion auf Polizei- und paramilitärischer Gewalt deutlich. Mindestens 84 Menschen wurden getötet, über 1.790 verwundet und 3.274 verhaftet. Dazu kommen 106 geschlechtsspezifische Gewaltakte.

Der Besuch von dem UN-Generalsekräter António Guterres findet inmitten einer Welle der Gewalt statt. Allein 2021 wurden  mehr als 150 Aktivisten und seit der Unterzeichnung des Friedensabkommens 1270 sozialen Aktivisten ermordet. In Kolumbien gibt es das Sprichwort: “Es ist weniger gefährlich in die Berge zu gehen (sich der Guerilla anzuschließen), als eine Gewerkschaft zu gründen.“ Die kolumbianische Bevölkerung und vor allem die Revolutionäre Bewegung ist sich bewusst, dass über die verfaulte bürgerliche Demokratie die korrupte Herrschaft der Oligarchen nicht überwunden werden kann. Aus diesem Grund sind die einzigen konstanten Kriegsparteien in dem über 50 Jahre dauernden Bürgerkrieg die Kommunistischen Guerilla und der Staat. 

# Titelbild: Juan Manuel Santos, ehem. Präsident von Kolumbien und Rodrigo Londoño Echeverri, alias «Timoleón Jiménez” von den FARC, 2016

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In der Schweiz beginnt ein großer politischer Prozess. Andrea, Kommunistin, Mitglied des Revolutionären Aufbaus Schweiz und Sekretärin der Roten Hilfe International, soll sich ab dem 18. November vor Gericht u.a. für Angriffe auf Institutionen des türkischen Staates verantworten. Ein Prozess, der nicht nur von den Schweizer Sicherheitsbehörden forciert wird.
Ein Interview mit der Angeklagten.

Erst einmal viel Kraft für den nun beginnenden Prozess gegen dich. Was wird dort eigentlich verhandelt?

Es geht hauptsächlich um zwei Sachen: Ein Angriff mit Pyrotechnik gegen das türkische Generalkonsulat in Zürich im Winter 2017 und verschiedene Delikte während Mobilisierungen in Zürich während des Covid-Lockdowns im Frühling 2020. Der Prozess findet vor dem Bundesstrafgericht in Bellinzona statt, weil beim Angriff gegen das Konsulat sog. „Unkonventionelle Brand- und Sprengvorrichtungen“ zum Einsatz kamen, bei denen jeweils der Bund die Ermittlungen und Strafverfolgung übernimmt.

In welchem Kontext fanden die Angriffe auf türk. Institutionen statt?

Der Angriff auf das türkische Generalkonsulat fand zeitgleich mit dem „World Economic Forum“ in Davos statt, dem jährlichen internationalen Stelldichein der Herrschenden. Damals waren hochrangige Minister der AKP in den Bündner Bergen zu Besuch, um ihre wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zu pflegen und sich grünes Licht für ihre Angriffskriege bei den anwesenden imperialistischen Kräften zu holen – wie ein Jahr später gegen Afrin.

Welche Rolle spielt der türkische Staat bei diesem Prozess?

Der türkische Staat ist die treibende Kraft in diesem Verfahren. Er hielt über seine diplomatischen Vertreter_innen in der Schweiz den Druck im Verfahren stets aufrecht: Angesichts der kümmerlichen Beweislage bezüglich dem Angriff gegen das türkische Generalkonsulat versuchte die Bundesanwaltschaft mehrfach diesen Teil des Verfahrens einzustellen. Stets intervenierte die türkische Diplomatie, um eine solche Einstellung zu verhindern.

Derlei Interventionen sind kein Alleinstellungsmerkmal des Prozesses gegen mich oder andere Genossen und Genossinnen. Vielmehr ist allgemein zu beobachten, dass Versuche der Kriminalisierung der praktischen internationalen Solidarität in Westeuropa eine Front des türkischen Staats in ihrem Krieg niedriger Intensität gegen die kurdisch-türkische Linke ist. Wir verweisen dazu auf die Erklärung der Roten Hilfe International, welche diese Zusammenhänge ausführlich beleuchtet – der Prozess zielt auf Andi, bedeutet aber einen Angriff auf Rojava.

Was bedeutet dieser Prozess der Klassenjustiz für die revolutionären Kräfte in der Schweiz?

Hier könnte man zwei Sachen ansprechen. Erstens: Getroffene Hunde bellen – die Angriffe gegen die Institutionen des türkischen Staats treffen ins Schwarze, provozieren große Reaktionen. Wieso? Weil es ihren Nimbus der Macht durchbricht, weil es ihre Propaganda als hohl entlarvt, weil es aufzeigt, dass die Front jene, die gegen ihre Politik stehen, breit ist.

Zweitens: Die Dinge sind volatiler als man denkt – entsprechend die Reaktion des bürgerlichen Staats in der Covid-Pandemie. Die Widersprüche spitzen sich weltweit zu einer historischen politischen Krise zu, das ist nicht nur in der Schweiz so. Darin ist der Ausbau von Instrumenten zur präventiven Aufstandbekämpfung – wie Staatsschutz, Polizei, Militär – nur ein Ausdruck. Diese «Brüche» sollten wir als Linke genau verfolgen, antizipieren und unsere Strategien entsprechend ausrichten.

Wie ist eure Prozessstrategie?

Es ist klar, dass dieser Prozess ein politischer Prozess ist – die Konfrontation vor den Schranken der Klassenjustiz beschränkt sich nicht auf eine juristische Ebene, sondern ist hochpolitisch. Mit der Kampagne zum Prozess wollen wir diesem Charakter Rechnung tragen – wir kehren den Spieß um und richten den Angriff auf den Kapitalismus, den schweizer und den türkischen Staat! Dazu gehört zum Beispiel die Vertiefung der internationalen Solidarität mit Rojava – nicht nur angesichts der aktuellen akuten Bedrohung eines neuen Angriffskriegs in Nordostsyrien durch das türkische Militär oder der Giftgaseinsätze in den nordirakischen Bergen, wo die freien Berge der PKK-Guerilla liegen, sondern auch angesichts der Bedeutung des revolutionären Prozesses in Rojava, welcher seit bald zehn Jahren weltweit ausstrahlt und die revolutionäre Linke inspiriert.

Dazu gehört auch die konsequente Kritik des bürgerlichen Staats als Herrschafts- und Gewaltinstrument der bürgerlichen Klasse, dessen Charakter im Umgang mit der Covid-Pandemie für viele fassbar wird – ihrem Schutz der Interessen des Kapitals stellen wir den selbstorganisierten Schutz der Menschen gegenüber, also ein System, in dem der Schutz des schwächsten Gliedes der Gesellschaft im Zentrum, steht oder wo die schwächeren Länder und Kontinente durch die reicheren in den Zentren solidarisch getragen werden. Eine Gesellschaftsformation, in der wir die Dinge in die eigenen Hände nehmen. Dazu haben wir jeweils inhaltliche Veranstaltungen organisiert, zudem treffen laufend Solidaritätsaktionen ein, die auf unserer Homepage gesammelt werden.

Was sind eurer Meinung nach die Aufgaben der revolutionären Kräfte in Europa im Bezug auf die internationalen Kämpfe, beispielsweise in Kurdistan? Wie ist das jeweilige Verhältnis und welche Aufgaben resultieren daraus für euch?

Wenn wir den großen geostrategischen Kontext mit all seinen Widersprüchen und kriegerischen Auseinandersetzung betrachten und darin wiederum die Rolle der sich entwickelnden reaktionären, faschistischen Strömungen, anschauen, dann erkennen wir ohne Zweifel, dass in der historischen Phase von «Sozialismus oder Barbarei» alle revolutionären Kräfte sich zwingend einheitlicher und geschlossener positionierend aufstellen müssen. Es geht darum, die Einheit ins Zentrum zu setzen und den objektiven Bedingungen wie auch subjektiven Ungleichzeitigkeiten Rechnung tragend, einen internationalen strategischen Strang zu entwickeln. In diesem Strang lässt sich der revolutionäre Prozess im eigenen Land mit solchen wie in Kurdistan dialektisch aufeinander beziehen und sich auch hier konkret niederschlagen. Bestimmt ist davon ein Teil auch der sich ausbreitende türkische Faschismus. Kampagnen wie #riseup4rojava oder #fight4rojava sind Ansätze dazu.

Die letzten Worte gehören dir.

Lasst uns uns gemeinsam gegenüber den konterrevolutionären Angriffen auf alles, was sich in diesem und anderen Kontexten entwickelt, aufstellen, vereint den Spieß umdrehen und unsere internationalen Prozesse verstärken.

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Am 27. November findet in Berlin eine Demonstration der Initiative „PKK-Verbot aufheben!“ für die Entkriminalisierung der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) statt. Das LowerClassMagazine sprach mit der Initiative über ihre Ziele, Forderungen und die letzten Informationen zum Stand der Vorbereitungen.

Was für Ziele verfolgt ihr als Initiative „PKK-Verbot aufheben!“?

Wir sind ein Netzwerk von politisch aktiven Menschen, die der Meinung sind, dass das PKK-Verbot in Deutschland umgehend aufgehoben werden muss. Und dass die PKK umgehend aus der EU-Terrorliste genommen werden muss. Wir möchten über das PKK-Verbot, seine Geschichte und Auswirkungen sowie den politischen und juristischen Kampf dagegen informieren. Um ein bisschen konkreter zu werden und Zahlen zu nennen: Aufgrund des PKK-Verbots haben alleine in den letzten fünf Jahren über 800 Verfahren wegen Mitgliedschaft und Unterstützung einer terroristischen Vereinigung stattgefunden, 18 Menschen haben aufgrund des Verbots hier in Deutschland ihr Leben verloren, wie zum Beispiel der 17-jährige Halim Dener, der 1994 beim Plakatieren gegen das Verbot von hinten erschossen worden war. Allgemein stellt das PKK-Verbot eine staatlich institutionalisierte Diskriminierung der kurdischen Gesellschaft hier in Deutschland dar, so wurde in den neunziger Jahren pauschal in jedem Bericht der deutschen Medien über die kurdische Gesellschaft von „den Terrorkurden“ geredet, gleichzeitig verhindert die Bundesrepublik somit gezielt, dass sich demokratische Lösungen für die kurdische Frage weiterentwickeln können.

Deswegen ist es ein weiteres großes Ziel unserer Initiative, dass wir Menschen dazu ermutigen, selbst aktiv zu werden und ihre Mitmenschen über die Auswirkungen des Verbots zu informieren. Wir wollen die Menschen dazu aufrufen sich mit der PKK an sich auseinanderzusetzen und anhand dessen eine Diskussion zu führen, statt weiterhin pauschal die stumpfe Diffamierung unkritisch zu übernehmen.

Am 27. November ladet ihr zu einer bundesweiten Demonstration gegen das PKK-Verbot ein. Was sind eure Forderungen?

Wenn man sich das Motto unserer Demonstration „PKK-Verbot aufheben! Krieg beenden – politische Lösung fördern!“ genauer anschaut, werden unsere Forderungen schnell offensichtlich sein. Das Betätigungsverbot der PKK muss umgehend aufgehoben werden. Sprich alle Organisationen und Unterorganisationen der Arbeiterpartei Kurdistans müssen umgehend legalisiert werden. Alle politischen Gefangenen müssen umgehend freigelassen werden, die laufenden Verfahren müssen fallen gelassen werden und der §129 a/b des Strafgesetzbuches muss gestrichen werden.

Mit „Krieg beenden – politische Lösung fördern!“ meinen wir, dass der militärische Krieg der in Kurdistan gegen die PKK, welcher massiv durch deutsche Waffenlieferungen und militärisches Know-How vorangetrieben wird, sowie der Kampf der Behörden hier in Deutschland gegen die kurdische Freiheitsbewegung sofort eingestellt werden muss. Der Staat muss sich auf den Dialog um eine demokratisch-friedliche Lösung auf die kurdische Frage, welchen die PKK immer wieder angeboten hat, einlassen. Wir fordern also konkret, dass der deutsche Staat die von ihm vorangetriebene Gewaltspirale anhält, sich auf den Dialog mit der PKK einlässt um somit politische Lösungen für die knapp eine Million in Deutschland lebenden Kurdinnen und Kurden aufzubauen. Denn das ist die einzige Möglichkeit um für Frieden, Demokratie und Selbstbestimmung in Kurdistan zu sorgen. 

Im Vorfeld der Demonstration habt ihr in einer Erklärung die Einschränkungen von Grundrechten scharf kritisiert. Könnt ihr uns schildern mit was für Repressionen ihr konkret konfrontiert seid?

Richtig, wir hatten bereits in unserer Erklärung allgemein darüber berichtet, wie der deutsche Staat seit 1993 jegliche Versuche, gegen das PKK-Verbot Öffentlichkeit zu schaffen, zu verhindern und zu diffamieren suchte. Auch wir als Entkriminalisierungsinitiative waren direkt selbst wieder von Kriminalisierung betroffen.

Der Internethost „Strato“ wurde dazu gedrängt unsere Webseite verbot-aufheben.de vom Netz zu nehmen, was ganz klar einen Verstoß gegen unser gutes Recht auf freie Meinungsäußerung darstellt. Monatelange Arbeit und Recherche für diese Webseite wurde somit zunichte gemacht. Dort fanden sich dutzende Artikel zu Entwicklungen bezüglich des Verbots in diesem Jahr sowie unzählige Prozessberichte. Desweiteren mehrere Dossiers, in denen die Auswirkungen des Verbots in den letzten 28 Jahren klar ausgearbeitet wurden, sowie Diskussions-Leitfäden, die es einfach ermöglichten gegen die staatliche Diffamierung der PKK argumentieren zu können. Auch allgemein alle Informationen bezüglich der Demonstration waren dort gesammelt. Nun haben wir zwar einen neuen Blog (https://verbotaufheben.noblogs.org/), doch wird es vermutlich dauern, bis wir wieder so viele Inhalte vorbereiten können.

Auf der anderen Seite wurde auch die Mobilisierung in den sozialen Medien massiv attackiert. Unsere eigenen Accounts wurden gesperrt, die Posts, Tweets und Beiträge solidarischer Gruppen wurden ebenfalls zensiert und teilweise wurden auch ihre Accounts temporär gesperrt. Eine Begründung dafür haben weder wir, noch die anderen Freund:innen erhalten, denn weder wurden verbotene Symbole gezeigt, noch wurde zu Straftaten oder Ähnlichem aufgerufen. Bei allem handelte es sich lediglich um Aufrufe zu unserer Demonstration am 27. November in Berlin. Auch hier werden uns die Grundrechte der Meinungs- und der Versammlungsfreiheit verwehrt. Denn zur Ausübung dieser Grundrechte ist es notwendig im öffentlichen Raum die Forderung der Aufhebung des Verbots lautstark aussprechen zu können. Und auch die Mobilisierungstätigkeit im Vorfeld der Demonstration ist grundrechtlich geschützt, was jedoch auch hier nicht eingehalten wurde.

Könnt ihr uns nochmal den aktuellen Stand der Vorbereitungen schildern? Wo findet man mehr Infos?

Wir befinden uns mittlerweile knapp 2 ½ Wochen vor der Demonstration in der intensivsten Phase der Vorbereitung. Die Demonstration ist angemeldet, wird sich um 12 Uhr sammeln, ab 13 Uhr mit einer Auftaktkundgebung am Hermannplatz beginnen und bis zum Oranienplatz laufen. Aktuell finden bundesweit in vielen verschiedenen Städten Seminare und Informationsveranstaltungen bezüglich der PKK und des PKK-Verbotes statt, parallel dazu werden Busse aus nahezu allen größeren Städten in der Bundesrepublik organisiert, um es für Menschen und Aktivist:innen aus ganz Deutschland zu ermöglichen an der Demonstration teilzunehmen. Desweiteren sind wir gerade damit beschäftigt eine neue Informationsplattform aufzubauen, nachdem, wie ich ja oben oben beschrieben hatte, all unsere Kanäle blockiert wurden. Bisher haben wir dafür im Austausch mit der Nachrichtenagentur ANF viele Informationen und Statements veröffentlichen können, doch nun wird vor allem unser neuer Blog https://verbotaufheben.noblogs.org/ unser zentrales Sprachrohr sein. Alle Informationen bezüglich der Demonstration, der Route, der Busse und der Veranstaltungen werden dort zu finden sein. Für weitere Nachfragen sind wir als Initiative stets unter der Email info@verbot-aufheben.de zu erreichen.

Was kann man jenseits der Demonstration gegen das Verbot tun?

Es gibt sehr viele Möglichkeiten sich sinnvoll gegen das PKK-Verbot einzusetzen. Anfangs sind wir ja bereits auf ein paar Punkte eingegangen. So ist es vor allem wichtig, dass die Menschen mehr aufeinander zugehen, ein Diskurs muss geschaffen werden, in dem man sich mit der PKK und ihren Zielen, Vorstellungen und Praxis auseinandersetzt.

Dabei ist es auch wichtig zu betonen, dass sich das Verbot nicht „nur“ gegen Kurd:innen richtet, sondern allgemein gegen alle Menschen, die sich für einen demokratischen, fortschrittlichen Wandel einsetzen. Wir sehen die klare Verbindung zwischen den §129-Verfahren, mit den wir konfrontiert sind, zu den §129-Verfahren, die gerade in Stuttgart, Frankfurt, Dresden und sonstwo laufen.

Aber auch unabhängig davon sind Prozessbeobachtungen, kleine Aktionen, sowie Demonstrationen zentral wichtig. Dafür ist kein Expertenwissen notwendig und so wird dafür gesorgt, dass die Thematik auf die Agenda der Menschen hier in Deutschland kommt und Druck auf die Regierung ausgeübt wird. Die Wirkung von kleinen solidarischen Aktionen sollte nicht unterschätzt werden und im Gegenteil viel mehr zur Praxis werden. Der Kreativität sind dabei keine Grenzen gesetzt.

Konkret auf die Demonstration bezogen ist aber vor allem auch die Aktionswoche, vom 22. bis zum 26. November, vor der Demo ein guter Rahmen, selbst aktiv zu werden. Es wird bundesweit Bannerdrops, Infostände, Sit-In‘s etc. geben und in den Städten, wo noch nichts geplant ist, rufen wir die Menschen dazu auf, selbst Initiative zu ergreifen. Am letzten Tag der Aktionswoche und am Tag der Demonstration selbst, wird es auf social media einen Twitterstorm geben. Auch dies ist eine Möglichkeit sowohl für Menschen, die sich bereits mit der Thematik auseinandergesetzt haben, aber auch für Menschen, für die das Thema noch komplett neu ist, einfach aktiv zu werden.

Mehr Informationen:

https://verbotaufheben.noblogs.org/

Kontakt:

info@verbot-aufheben.de

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So ziemlich alle in diesem Land dürften mittlerweile wissen, was mit dem Begriff „Streisand-Effekt“ gemeint ist. Für diesen Umstand und für eine überragende bundesweite Bekanntheit seiner selbst hat der Hamburger Innensenator und rechte Sozialdemokrat Andy Grote gesorgt. So gut wie kein Medium lässt es sich nehmen, unter dem Schlagwort „Pimmelgate“ in meist süffisantem Tonfall über die Vorgänge zu berichten, um die es hier geht. Weil er sich von einem harmlosen Tweet bei Twitter vor einigen Monaten beleidigt fühlte, trat Grote eine Lawine los, die ihn jetzt überrollt – so lustig das Ganze auf den ersten Blick wirkt, sollte der Vorgang nicht dazu führen, den Mann nur noch als Clown zu sehen und die Folgen seiner Politik aus dem Blick zu verlieren.

Ehe jetzt jede Menge Leser*innen hektisch zu Wikipedia wechseln, sei der Begriff „Streisand-Effekt“ hier kurz erklärt. Dazu ist es zielführend, den ersten Satz des entsprechenden Artikels der Online-Enzyklopädie wörtlich zu zitieren „Als Streisand-Effekt wird das soziologische Phänomen bezeichnet, wenn der Versuch, eine unliebsame Information zu unterdrücken, das Gegenteil erreicht, indem das ungeschickte Vorgehen eine öffentliche Aufmerksamkeit erzeugt, die das Interesse an der Verbreitung der Information deutlich steigert.“ Besser und treffender kann man nicht ausdrücken, was der auch früher schon nicht durch geschicktes Agieren aufgefallene Grote losgetreten hat.

Woher der Begriff „Streisand-Effekt“ kommt, sei hier auch noch erläutert. Er geht zurück auf einen Vorgang, der von der US-amerikanischen Sängerin, Schauspielerin und Regisseurin Barbra Streisand 2003 ausgelöst wurde, als sie einen Fotografen und die Website Pictopia.com erfolglos auf Zahlung von 50 Millionen US-Dollar Schadensersatz verklagte. Und zwar ging es ihr darum, dass auf einer der auf der Website veröffentlichten 12.000 Luftaufnahmen der Küste Kaliforniens, die die Küstenerosion für das „California Coastal Records Project“ dokumentierten, Streisands Haus zu sehen war. Natürlich hatte das keine Sau gewusst – erst durch die Klage verbreitete sich das Foto lawinenartig im Internet und alle wussten, wo das Luxusanwesen der guten Barbra steht. Früher nannte man das ein klassisches Eigentor, ab da halt „Streisand-Effekt“.

Wie das bei Grote lief, dürfte allgemein bekannt sein. Der Account einer Fankneipe des FC St. Pauli schrieb bei Twitter in Richtung des Senators: „Du bist so 1 Pimmel.“ Es folgte ein Strafantrag Grotes gegen diese „Beleidigung“ und eine Hausdurchsuchung, die dem vermeintlichen Autor des Tweets galt. Richtig Fahrt bekam die Sache, als Aufkleber mit dem Slogan auf St. Pauli auftauchten, die Polizisten abkratzen mussten, und der Satz aus dem Tweet schließlich Ende Oktober groß auf einer Plakatwand des autonomen Zentrums Rote Flora im Schanzenviertel landete. Zweimal rückte die Polizei an, um ihn zu übermalen, die Aufschrift wurde jedesmal erneuert, so dass die Polizei das Übermalen schließlich aufgab.

Natürlich ist Schadenfreude über das saudämliche Verhalten von Andy Grote durchaus angebracht. Auf der anderen Seite ist es nicht ganz ungefährlich, dass der Vorgang die Beurteilung des Sozialdemokraten ins Lächerlich-Harmlose verschiebt. Denn was der Mann, der im rechten Flügel der insgesamt schon rechten Hamburger Sozialdemokratie sozialisiert wurde, in den vergangenen Jahren angerichtet hat, ist nicht harmlos. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, sei hier darauf verwiesen, dass er der verantwortliche Senator für den gigantischen Polizeieinsatz zur Absicherung des G-20-Gipfels im Sommer 2017 gewesen ist.

Unvergessen ist Grotes faustdicke Lüge, der Gipfel werde ein „Festival der Demokratie“ sein. Tatsächlich wurden Grundrechte massiv eingeschränkt, etwa durch die Einrichtung einer großen Demo-Verbotszone. Die Polizei ging gegen Camps von Gipfelgegnern vor, auf die massive Gewalt gegen Demonstrant*innen von Anfang bis Ende des Gipfels und auf die Zustände in der Gefangenensammelstelle muss hier nicht näher eingegangen werden, weil darüber bereits genug geschrieben wurde. Der Hamburger Innensenator bekam damals zu Recht einen Spitznamen verpasst: „Verbote-Grote“. Er erwies sich damals als braver Kettenhund seines „Masters“, des damaligen Ersten Bürgermeisters Olaf Scholz, der sich gerade anschickt, Bundeskanzler zu werden. Das sollte man bei allem berechtigten Gelächter über „Pimmelgate“ nicht vergessen.

Was der G-20-Gipfel und auch die nachfolgende Fahndungswut der Soko „Schwarzer Block“ vor allem gezeigt haben: Grote und seine Polizei sind nicht zimperlich, wenn es gegen Linke geht. Da schert man sich nicht um die Gesetze, wie zum Beispiel die fragwürdigen Öffentlichkeitsfahndungen nach Gipfelgegnern gezeigt haben. Auch bei Demonstrationen wird im Zweifelsfall ordentlich hingelangt, wie sich etwa bei der Auflösung der „Welcome to hell“-Demo zu Beginn des Gipfels gezeigt hat. Und das ist eigentlich der Punkt: Es ist mehr als grotesk, wenn ein Politiker und eine Polizei, die dermaßen austeilen, sich über die Bezeichnung „Pimmel“ aufregen.

Selbst Andy Grote geht zum Schlagermove, trägt dort eine bunte Kette und einen dummen Hut –
Selbst Andy Grote geht zum Schlagermove, pisst vor seine eig’ne Haustür –
Was für ein Idiot! Was für ein Idiot! Was für ein Idiot!“ (Oidorno, 2019)

# Titelbild: Rasande Tyskar, Hamburg, 24.10.21, Attribution-NonCommercial 2.0 Generic (CC BY-NC 2.0)

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Kann sich noch jemand an den Türknauf des Todes erinnern? Am 29. Juni 2017 wurde der Kiez- und Nachbarschaftsladen Friedel54 geräumt. Die Polizei behauptete während der Räumung auf twitter, die Besetzer*innen des Ladens hätten einen Türknauf unter Strom gesetzt: „Lebensgefahr für unsere Kolleg. Dieser Handknauf in der #Friedel54 wurde unter !Strom! gesetzt. Zum Glück haben wir das vorher geprüft.“ Dass das natürlich frei erfundener Quatsch war, war egal. Ist die Sache erst Mal in der Welt, gerade von einer privilegierten Quelle, wie der Polizei, wurde das Gerücht in die Welt gesetzt und verbreitete sich wie ein Lauffeuer.

Die Liste an absurden Falschbehauptungen der Polizei ist lang, gerade wenn es um vermeintliche „linke Gewalttäter“ geht. In Säure getunktes Konfetti, Clowns, die Säure mit Wasserpistolen versprühen, Molotov-Cocktail-Würfe im Schanzenviertel während der G20-Proteste usw. usf. Dennoch gilt die Polizei, wie gesagt, als privilegierte Quelle, das heißt, Quellen, von denen Journalist*innen annehmen können sollen, dass ihre Angaben der Wahrheit entsprechen. Polizeibehörden, Staatsanwaltschaft und auch Nachrichtenagenturen gehören dazu.

Die Wirkmacht dieser Priviligierung zeigt sich aber auch über das Verbreiten von Falschmeldungen hinaus. Vergangenen Sonntag gab es in Berlin-Schöneberg ein Straßenfest von demlinken Hausprojekt Rote Insel. Dort kam es nach übereinstimmenden Berichten, sowohl von der Polizei, als auch von Augenzeug*innen zu einer Festnahme. Ab hier unterscheiden sich die Darstellungen aber gewaltig. Die Polizei (und die bürgerliche Presse) berichten von Angriffen auf Polizeibeamt*innen, die Springerpostille BZ schreibt ein Mob habe die Polizei durch die Straßen gejagt.

Ein Augenzeuge, mit dem das lowerclassmagazine sprach und der anonym bleiben will, schilderte die Situation anders: „Eigentlich war das ganze Fest ziemlich entspannt, […] bis dann die Polizei einen Typen festgenommen hat. Das war ganz schön brutal, die saßen zu dritt auf ihm drauf. Das war dann eigentlich auch noch kein Drama, die Leute standen halt drumherum und haben gepöbelt.“

„Dann kam ein ziemlicher großer Bulle und und hat links und rechts Faustschläge ausgeteilt. Das war dann die Situation, wo es eskaliert ist. Danach waren die Leute halt sauer, auch weil die anderen Bullen auch angefangen haben Schläge zu verteilen und zu pfeffern.“

Dieses Statement deckt sich weitestgehend mit einem vom Jugendclub Potse veröffentlichten Tweet: „Gegen 17 Uhr rannte ein Trupp Polizisten auf den Spielplatz in der Mansteinstr. auf welchen zu dem Zeitpunkt Kinder gespielt haben und nahmen eine Person brutal fest. Das Gesicht der Person wurde in den Sand gedrückt, nachdem ihm ins Gesicht geschlagen wurde. Menschen die sich über die massive Gewalt beschwert haben wurden von der Polizei mit Schlägen und Tritten traktiert. Dabei nahm die Polizei eine weitere Person fest. Als die Polizei die Menschen in den Mannschaftswagen gebracht hat, wurden sie von einer empörten Menge aus der Straße gedrängt. Beide der festgenommen Personen wurden in der Wanne mehr mehrfach von verschiedenen Polizisten misshandelt. So wurde der Kopf einer der Personen mehrfach gegen die Scheibe geschlagen, die andere Person lag auf dem Boden des Wagens und ihr wurde auf den Kopf getreten.“

Auch dass der Festgenommene im Polizeiwagen misshandelt wurde, konnte bestätigt werden. Ein dem lowerclassmagazine zugesandtes Video zeigt eindeutig, wie der Kopf der gefesselten Person mehrfach gegen das Fenster geschlagen wird:

https://twitter.com/LowerClassMag/status/1424768987699814404

Jetzt kann man sagen, dass das was bisher in der bürgerlichen Presse veröffentlicht wurde, und weitestgehend ein Nachplappern der Polizeimeldung, bzw. dem Stuss der Polizei“gewerkschaft“ GdP, besteht, keine Falschmeldung wie die eingangs beschriebenen ist. Schließlich wurde die Polizei offensichtlich angeschrien und verfolgt, schließlich wurde ja – beide Seiten kommen zu Wort – der Tweet der Potse zitiert. Aber wenn Statements, wie das vom Jugendclub Potse zitiert werden, passiert dies unter der Prämisse, dass erst einmal die Behauptungen der Polizei widerlegt werden müssen.

Ohne Einordnung und Ergänzung durch Infos, wie dem uns zugespielte Video oder die Nachfrage bei Leuten vor Ort, Pressemitteilungen von linken Kollektiven, wie der Roten Insel usw., wird dann im Endeffekt wegen der „Privilegierung“ der Polizei als Quelle am Ende die halbe Wahrheit und zwar die der Polizei verbreitet. Denn diese hat darüber hinaus wegen Ihrer zunehmend professionellen Pressearbeit und dem traditionell guten Draht zu bürgerlicher Presse wie Tagesspiegel, rbb, dpa oder reaktionären Hetzern wie der BZ (die alle Artikel zum Vorfall am Sonntag veröffentlichten) sowieso einen Vorsprung in Reichweite, Schnelligkeit und Kontakten, den auch social media nicht ausgleichen können. So wird am Ende immer Polizeigewalt legitimiert, weil die Logik der Polizei immer mehr Gewicht bekommt, als die Erfahrungen und Einschätzungen von Menschen, die Polizeigewalt erfahren oder sie beobachten und sich immer erst durch das Dickicht an gesponnenen Halbwahrheiten durchschlagen müssen, bevor sie gesehen oder gehört werden.

Deswegen dokumentieren wir unten stehend die Pressemitteilung der Roten Insel zu den Geschehnissen am Sonntag, wer wissen will, was die Polizei zu der ganzen Sache sagt, kann die bürgerliche Presse lesen. Der Tweet zum Türknauf des Todes übrigens wurde erst gelöscht, als zwei Kollektivmitglieder des Friedel54 Kollektivs dagegen klagten.

# Titelbild: Polizist schlägt gefesselten Festgenommenen, Quelle: privat

Pressemitteilung: Brutaler Polizei-Übergriff bei linkem Straßenfest

Am 08. August 2021 kam es in der Nähe des „Rote Insel“-Festes unter dem Motto “Kiezkultur von unten” zu Angriffen der Berliner Polizei. Gegen 17 Uhr verfolgten mehrere Polizeikräfte eine Person, die sich in der Nähe der Kundgebung aufhielt und warfen diese auf einem Spielplatz in der Mansteinstraße brutal zu Boden. Dabei drückten sie deren Gesicht in den Sand und knieten mit mehreren Beamten auf dem Kopf und dem oberen Halsbereich. Zudem schlugen sie auf die wehrlose Person ein. Kinder, die kurz zuvor noch dort gespielt hatten, rannten verängstigt mit ihren Eltern vom Spielplatz. Laut eines der festnehmenden Beamten erfolgte die Maßnahme wegen eines vermeintlich geklebten Stickers auf einem Straßenschild. Schnell solidarisierten sich zahlreiche Menschen mit der am Boden liegenden Person. Es kam zu verbalen Auseinandersetzungen, die von den Polizeikräften mit Schlägen, Tritten und Pfefferspray beantwortet wurden. Auf diese Weise trugen die Beamt:innen massiv zur Eskalation der Situation bei. Besonders der laut Presseberichten später verletzte Beamte schlug laut Augenzeug:innenberichten zuvor willkürlich auf Personen mit der Faust ein. Auf jetzt veröffentlichten Videos ist zu sehen, wie eine der festgenommenen Personen im Polizeifahrzeug vom Beamten mit der Nummer 11331 mehrfach ohne Grund mit dem Kopf gegen Seitenscheibe und Sitz geschlagen wird. Eine andere festgenommene Person berichtet laut Jugendzentrum Potse von Tritten gegen ihren Kopf im Einsatzfahrzeug. Während die festnehmenden Kräfte kurzzeitig den Bereich verließen, verblieben andere Beamte ohne Probleme auf dem Straßenfest. Nach dem Zwischenfall wurde die bis dahin ebenfalls ruhige Kundgebung ohne weitere Vorkommnisse fortgeführt. Im späteren Verlauf wurde eine dritte Person festgenommen und von der Polizei kriminalisiert.

Zu der Eskalation der Polizeigewalt sagt Anna Schönberg, Sprecherin des Organisationskreises des “Rote Insel”-Fests: „Es ist entsetzlich mit welcher Gewalt die Berliner Polizei selbst auf einem Kinderspielplatz gegen Personen wegen einer vermeintlichen Ordnungswidrigkeit vorgeht. Das widerspricht jeglicher Verhältismäßigkeit. Und jetzt wird versucht, die Tatsachen zu verdrehen. Berlin hat kein Problem mit Gewalt gegen die Polizei, sondern ein Polizeiproblem. Jeder Angriff am Sonntag ging von den Polizeikräften aus, die danach noch wehrlose Gefangene vermutlich aus Rache misshandelten. Es scheint inzwischen eine regelrechte Taktik zu sein, linke Veranstaltungen unter fadenscheinigen Gründen zu zerschlagen und deren Teilnehmende zu drangsalieren. Die gleiche 11. Hundertschaft hat schon am 05. Juni friedliche Menschen bei den Protesten gegen den AfD-Landesparteitag ins Krankenhaus geprügelt.“

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Vor 20 Jahren haben wir uns mit hunderttausenden Menschen aus der ganzen Welt in Genua getroffen. Wir haben den selbsternannten Repräsentanten des globalen Nordens, den politischen Vertretern der acht reichsten Industrienationen und der multinationalen Konzerne, die sie vertreten – den sogenannten „G8“ – unser „NEIN!“ entgegen geschleudert. Unser „NEIN!“ zu ihrer Plastikwelt, die jegliches Allgemeingut zu Ware macht, an der Menschen nur noch als Produzent*innen des Reichtums für einige Wenige teilnehmen dürfen. Unser „NEIN!“ zu ihrer patriarchalen Welt, auf der nur ein kleiner Teil der Bevölkerung das Recht auf Ernährung, Bildung, körperliche wie psychische Unversehrtheit hat. Unser „NEIN!“ zur tödlichen Logik des Kapitalismus.

Wir, die wir uns in Genua trafen, waren geeint durch die Hoffnung und die Entschlossenheit für eine andere Welt zu kämpfen. Wir waren inspiriert von den Stimmen der zapatistischen Befreiungsbewegung aus dem lakadonischem Urwald, die 1994 „Eine andere Welt ist möglich!“ ausrief. Wir waren inspiriert von den Protesten in Seattle, Göteborg und Prag, waren Teil der Weltsozialforen und unserer jeweiligen lokalen, sozialen Kämpfe.

Wir erinnern uns an die Aufbruchstimmung, das Gefühl von Hoffnung und unseren starken Willen, ein Zeichen der Solidarität zu setzen, welches in den Ländern des globalen Südens gehört wird. Gehört von denen, die vom Profit der neuen modernen Marktwirtschaft ausgeschlossen werden. Unser „NEIN!“ war unser Statement, dass das, was hier geplant wird, nicht in unserem Namen geschieht.

Heute schauen wir auf die ersten 20 Jahre des neuen Jahrtausends zurück. Eine Zeit, von der die Generationen, die vor uns soziale Kämpfe geführt haben, hofften, dass die Menschheit reif genug wäre, ein Leben in Freiheit, Würde, sozialer und ökologischer Gerechtigkeit zu leben. Wir erlebten den Beginn des neuen Jahrtausends mitten in einem rasanten globalpolitischen, industriellen, technologischen und geopolitisch-militärischen Wandel.

Eine Zeit im Umbruch, von der wir wussten, dass sie eine Fortführung der Ausbeutung armer Länder mit modernsten Mitteln, der Plünderung und Verwüstung der Erde in nie da gewesenem Ausmaße, eine Profitmaximierung für die ohnehin schon wohlhabenden Teile der Welt bedeuten wird. Eine Zeit, von der sie sagten, dass sie das „Ende der Geschichte“ sei, dass sich global die freie Marktwirtschaftsordnung und der Wettbewerb durchsetzen werden. Die Zeit des globalen Neoliberalismus, den sie uns als Allheilmittel gegen Armut, Krankheit und Krisen in der Welt verkaufen wollten.

Zu alldem haben wir kollektiv „NEIN!“ gesagt. Wir, die Bewegung der neuen globalen außerparlamentarischen Opposition, die zwar kein gemeinsam definiertes Ziel, aber ein gemeinsames Gefühl einte: „Es muss jetzt etwas passieren!“.

Die Antwort der Herrschenden in Genua folgte ihrer eigenen brutalen Logik: Auf die Köpfe, die sie nicht gewinnen konnten, schlugen sie ein, die lauten Stimmen für eine andere Welt sollten zum Schweigen gebracht, die wachsende „Bewegung der Bewegungen“ zerschlagen werden. Carlo wurde erschossen. Tausende wurden verletzt, Hunderte verhaftet und Dutzende gefoltert. In der Bolzaneto-Kaserne, in der Diaz-Schule, auf den Polizeistationen und im Gefängnis Marrassi
Das haben wir nicht vergessen – und auch nach 20 Jahren nicht vergeben.

Wir leben mit der Erinnerung an diese Tage in den Straßen von Genua und denken dabei nicht nur an die Menschenjagden der Carabinieri, die Angst und die Ohnmacht und Ihre entfesselte Gewalt. Wir leben mit der Erinnerung an die Tage der Folter und der tristen Wochen in den Gefängnissen Pontedecimo und Marassi und denken dabei an Freundschaft und Solidarität. Wir leben mit der Erinnerung an die Demütigung und die Schmerzen, die sie uns zugefügt haben und denken dabei an die Schönheit entschlossener Menschen in Bewegung.

Wir haben in den letzten 20 Jahren viele Herrscher*innen kommen und gehen gesehen, konservative Regierungen, die für autoritäre Rollbacks sorgten und ihre sogenannten Oppositionen, die Hoffnungen weckten und nach einem schnellen Strohfeuer nur Glut und Asche hinterließen. Wir haben die Finanzkrisen gesehen, ausgelöst durch skrupellose Trader, die an den Roulette-Tischen der Börsen ihr Spiel nach den Regeln des freien Marktes auf Kosten der Allgemeinheit zocken. Wir haben das Kommen und Gehen der Wunschkandidaten der Märkte gesehen, ihr Handeln und ihr Wirken, das Erstarken neuer rechter Bewegungen, angeführt von Horrorclowns, die soziale, feministische und progressive Ansätze bekämpfen. Rund um den Globus befanden sich Menschen im Aufstand gegen ihre Regierungen, ihre Niederlagen hatten oft noch mehr Staatsterror, Bürgerkriege und totalitäre Regime zu Folge.

Wir erleben aber auch, das progressive und feministische Gesellschaftsmodelle zukunftsfähig sein können, wenn sie ausgebaut, diskutiert, hinterfragt, verteidigt werden und internationale Solidarität erfahren. Wir grüßen von hier aus die permanente Revolution in Rojava, die in Nordsyrien eine basisdemokratische, säkulare Gesellschaft erschafft und natürlich die zapatistischen Compas aus Mexico, die derzeit als Träger*innen des Virus der Rebellion die sieben Kontinente bereisen.

Wir grüßen die Aktivist*innen, die in diesen Zeiten das Richtige tun und Menschen, die sich auf ihrer Flucht vor Hunger, Krieg und Perspektivlosigkeit auf den Weg nach Europa machen, im Mittelmeer vor dem Ertrinken retten. Wir grüßen die jungen Menschen, die rund um den Globus für Klimagerechtigkeit demonstrieren. Wir grüßen die Aufständischen in Chile, die das Vorzeigeland des Neoliberalismus erschüttern. Wir grüßen die Menschen, die in ihrer Region der Erde für eine menschenwürdige, gerechte Zukunft kämpfen.

Das, was im Sommer 2001 schlecht war, ist heute noch beschissener. Wir leben inmitten einer weltweiten Pandemie und dem Beginn einer Klimakatastrophe, deren Auswirkungen wir nur erahnen können. Die Hauptleidtragenden sind diejenigen, die am Wenigsten zur Ausbeutung des Planeten beigetragen haben und nun den Folgen ungeschützt ausgeliefert sind.

In atemberaubender Geschwindigkeit funktionieren weltweite Produktions-, Liefer- und Handelsketten, abgesichert durch miese Abkommen, die den Industrienationen Überfluss, Ressourcen und gigantische Profite garantieren und den Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas Hunger, Armut und Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen bescheren. Die, deren Medien-Show wir im Sommer 2001 in Genua verhindern wollten, hinterlassen eine Spur der Verwüstung, die Teile unseres Planeten schon jetzt unbewohnbar macht. Die Bilder, die wir in den Nachrichten sehen, erzeugen ein Schleudertrauma. Unsere Hoffnung, dass sich dieses System selber zu Fall bringen würde, erfüllte sich bislang leider nicht. Wir sehen eine Minderheit habsüchtiger, korrupter Krimineller, die dem Rest der Menschheit und der ganzen Erde den Krieg erklärt hat. Außer unserem „NEIN!“ haben wir ihnen auch heute nichts zu sagen. Wir wollten nicht als NGO anerkannt werden, wollten keine Vorschläge zur Verbesserung der WTO des IWF, der G8 und der G20 machen. Wir halten das gesamte Weltwirtschaftssystem für ungerecht und für nicht reformierbar und sagen „NEIN!“ zu ihren Grenzen, ihrer Gewalt, ihrer Macht, ihren Patenten, ihren Abkommen, ihrer Arroganz, ihrem Überfluss und ihrem Müll. „NEIN!“ zu ihrem falschen Verständnis von Wohlstand, Kultur und Freiheit.

War vor 20 Jahren unser „NEIN!“ richtig, so ist es das heute erst recht!

Sie sagen uns, daß es sich bei der Globalisierung um einen unvermeidlichen Prozess handle, der wie die Schwerkraft wirke. Darauf antworten wir: Dann müssen wir eben die Gesetze der Schwerkraft außer Kraft setzen.“
Subcomandante Marcos / Chiapas

Es lebe die Rebellion, die „NEIN!“ sagt!
Es lebe das Leben!
Tod dem Tod!

# Text: Alex – Malavida Music und Sven – Disorder Rebel Store
# Titelbild: seven_resist, CC BY-NC-SA 2.0, Carlo-Giuliani-Park in Berlin

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Tamil*innen und Muslim*innen haben am 3. Februar einen friedlichen fünftägigen Marsch von Tamil Eelams südlicher Grenze Pottuvil, Amparai zur nördlichsten Spitze Pollikandi, Point Pedro mobilisiert, um die schlimme Situation von Tamil*innen und Muslim*innen zu thematisieren, die sich nun weiterhin unter der Präsidentschaft Gotabaya Rajapaksa und seinem Bruder, dem Premier- und Finanzminister Mahinda Rajapaksa verschärft. Dieser 459 km lange Marsch führte durch alle acht Distrikte des Tamil Eelams im Nordosten, die das tamilische Heimatland ausmachen. Der Protestmarsch fiel mit dem Unabhängigkeitstag Sri Lankas zusammen. Dieser wurde von der sri- lankisch-singhalesischen Regierung mit großen Feierlichkeiten begrüßt, unter anderem mit einerMilitärparade und Ansprachen des wegen Kriegsverbrechen angeklagten Präsidenten Gotabaya Rajapaksa.

Unterstützt wurde der Protest von mehreren zivilgesellschaftlichen Organisationen, darunter prominente tamilische und muslimische Politiker und eine Vielzahl von religiösen Führer*innen. Dazu gehören zahlreiche Abgeordnete der Tamil National Alliance (TNA).

Zentrale Forderungen des Marsches richteten sich an die UN und die internationale Gemeinschaft, die den Ungerechtigkeiten und den strukturellen sowie institutionellen Genozid an Tamil*innen Beachtung schenken und aktiv für Gerechtigkeit und Verantwortlichkeit für Tamil*innen sorgen soll.

Es wurden insgesamt 10 Hauptforderungen formuliert.

1. Beendigung von Landraub und Sinhalisierung

2. Beendigung der militärischen Besetzung des tamilischen Homelands

3. Beendigung der gezielten Verfolgung von Journalist*innen und Aktivist*innen der Zivilgesellschaft

4. Schutz der Rechte tamilischer Bäuer*innen

5. Schutz des Rechts der Tamil*innen, ihrer Kriegstoten zu gedenken

6. Abschaffung des Gesetzes zur Verhinderung von Terrorismus

7. Beendet die Zwangsverbrennungen

8. Freilassung tamilischer politischer Gefangener

9. Antworten für die Familien der Verschwundenen geben

10. Erhöhung der Löhne der tamilischen Plantagenarbeiter

Mit den tamilischen Nationalfarben – rote und gelbe Streifen – sowie schwarzen Fahnen im Gedenken an die Vermissten und Verschwundenen während des Bürgerkrieges protestierten viele gegen diese kontinuierliche Gewalt. Trotz Einschüchterungen und Bedrohungen der sri-lankischen Sicherheitskräfte, die auch einstweilige Verfügungen gegen den Protest erwirkten, den Marsch versuchten aufzulösen und mit Straßensperren und Legung von Schienen auf den Straßen den Protestmarsch versuchten zu stören und zu sabotierten, ließen sich Demonstrant*innen nicht davon abhalten und konnten am 7. Februar trotz derartiger Unterbrechungen und Sabotagen ihren Zielort erreichen.

Einem Demonstranten zufolge, der zu Tamil Guardian sprach: “Die Nägel haben unsere Reifen beschädigt und wir sind auf der Straße und können unsere Proteste nicht fortsetzen. Der Polizeiwagen vor uns, der zur Sicherheit bereitgestellt wurde, scheint in keiner Weise zu helfen. Vorhin, während unseres Protestmarsches, haben Leute Steine auf den Bus geworfen. Sie versuchten, die Autos [der Demonstranten] mit Benzinkanistern in Brand zu setzen und entkamen nur knapp dem Tod. Wir fordern alle Menschenrechtsorganisationen auf, diese Taten zu verurteilen! Wir werden diese abwehren und weiter protestieren.”

Srilankische Gerichte im Nordosten – Jaffna, Point Pedro, Mannar, Batticaloa und Vavuniya – versuchten Demonstrationsverbote zu verhängen. Dabei wurde eine Vielzahl von Gründen genannt, wie Verstoß gegen COVID-19-Richtlinien oder öffentliche Belästigung. In Batticaloa wurde wegen Förderung von kommunaler Disharmonie ein Demonstrationsverbot versucht zu verhängen.

Das Gericht in Batticaloa erklärte, dass diese Proteste ein Versuch seien, „den UNHRC zum Handeln gegen Sri Lanka anzustiften” und „die Menschen gegen die srilankische Regierung aufzubringen.” Zudem versuchte die srilankische Polizei mit Petitionen die Proteste zu stoppen, doch die Magistrate von Chavakachcheri und Mallakam wiesen diese zurück mit der Begründung, dass Menschen das Recht auf Rede- und Versammlungsfreiheit besitzen.

Der Protestmarsch ging durch zahlreiche Städte, dessen Orte geprägt sind von Repressalien und srilankisch-singhalesischem Genozid an Tamil*innen. Insgesamt zeigten Familien im Nordosten Sri Lankas Solidarität mit den Demonstrant*innen, die immer noch nach ihren während des srilankischen Bürgerkrieges verschwundenen Geliebten suchen und eine Antwort auf die Frage nach dem Verbleib der vermissten Angehörigen von der srilankischen Regierung fordern. Sie gingen in den Hungerstreik.

Als Reaktion auf die Feierlichkeiten des Unabhängigkeitstages hissten Familien von spurlos Verschwundenen schwarze Fahnen in Mullaitivu. Sie fordern die internationale Gemeinschaft auf, Gerechtigkeit und Rechenschaft für die Opfer und Überlebenden des Bürgerkrieges und des Tamil Genozides sicherzustellen. So haben in Vavuniya ebenfalls Familien von Verschwundenen mit schwarzen Fahnen und Kleidung vor dem alten Busbahnhof demonstriert. In Jaffna fand ein ähnlicher Protest statt, begleitet von Einschüchterungen und Bedrohungen der Polizei, denen die Demonstrant*innen jedoch trotzten.

Auf Druck von srilankischen Autoritäten wurde im Zusammenhang mit dem fünftägigen Marsch auf Instagram die hashtags #eelam und #tamileelam entfernt. Diese Entscheidung von Instagram unterstützt den völkermordenden Staat Sri Lanka und die kontinuierliche Diskriminierung und Unterdrückung von Tamil*innen. Tamil Eelam ist das traditionelle Heimatland von Tamil*innen in Sri Lanka. Diese hashtags verstoßen nicht gegen die Richtlinien Instagrams. Tamil Eelam ist nicht gewaltvoll, sondern der srilankisch-singhalesische Staat betreibt weiterhin einen strukturellen und institutionellen Genozid an Tamil*innen. Nicht nur Instagram sondern auch Spotify, der weltgrößte Musik Streaming Dienstleiter hat angefangen Lieder zu Tamil Eelam zu entfernen. Nach großer Empörung funktionieren nach wenigen Tagen die hashtags #tamileelam #eelam auf Instagram wieder. Diese Entfernung von hashtags wird jedoch nicht das letzte Mal bleiben, da Instagram regelmäßig hashtags zu Tamil Eelam entfernt.

Der Protestmarsch von Pottuvil nach Pollikandi ist der größte tamilische Protest seit dem Ende des bewaffneten Konflikts im Nordosten. Die internationalen Akteur*innen trieben die Versöhnung zwar etwas voran doch ihre eigentlichen Absichten sind, ihre eigenen geopolitischen Interessen zu sichern.

# Titelbild: Symbolbild Protest gegen die Offensive Sri Lankas gegen die Tamil Tigers, 2009
Fraser in Flickr (Tamil protests in Newcastle City Centre, 2009), CC BY-NC 2.0

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Vier Monate in Athen – so könnte eine Podcast-Folge von Reise-Bloggern heißen. Arash Dosthossein sitzt jedoch auf ungewisse Zeit in Athen fest. Deutsche Behörden lassen ihn trotz gültigem Aufenthaltsrecht in Deutschland nicht zurück reisen.

Seit acht Jahren lebt Arash Dosthossein nun schon in Deutschland. Das sind acht Jahre des Kampfes auf Anerkennung des Asylrechts, acht Jahre des Kampfes gegen Einschränkungen bei der Wahl seines Wohnortes, seiner Bewegungsfreiheit, seines Arbeitsrechtes. Unermüdlich geht er seit 2012 mit tausenden zur Flucht Gezwungenen für diese grundlegenden Rechte auf die Straße und nimmt immer wieder Repression in Kauf.

Als er sich im August 2020 entscheidet für drei Wochen nach Griechenland zu reisen, will er zur Ruhe kommen. Sonne, Meer, Strand – Frappé. Aber er will sich auch mit politischen Kontakten treffen. Seine Fiktionsbescheinigung, ein von der Ausländerbehörde ausgestelltes Ausweisdokument, erlaubt ihm das. Doch kaum ist er in Athen, wird ihm seine Geldbörse gestohlen. Mit all seinen Dokumenten. Was nun folgt, ist für deutsche Bürger:innen undenkbar. Zunächst wird ihm der Zutritt zur deutschen Botschaft verweigert. Erst als eine Person mit deutschem Pass vor der Tür der Botschaft in Athen steht, kann Dosthossein Kontakt mit der Behörde aufnehmen. Die deutsche Botschaft und die Ausländerbehörde in München verweigern ihm ein ums andere Mal die Ausstellung neuer Papiere. Woche für Woche wird er in der Ipsilantou-Straße 10 vorstellig, Woche für Woche wird ihm gesagt, dass es noch dauere und man auf die Überprüfung aus München warte.

In München heißt es wiederum, man müsse den Vorgang prüfen und wegen Corona ginge es nicht schneller. „Natürlich steckt dahinter der verlängerte Arm der deutschen Repressionsbehörden. In verwackelten Polizeivideos können mich die Behörden in Deutschland vor Gericht angeblich identifizieren. Jetzt tun sie so, als ob sie mich nicht kennen.“ , erzählt Dosthossein. Diese Hinhaltetaktik läuft nun schon vier Monate lang. In dieser Zeit hat er seine Wohnung in München und seinen Unterstützungsanspruch nach dem Sozialgesetz verloren. In Athen muss er sich eine Wohnung suchen und ist seitdem auf Spenden aus dem Bekanntenkreis angewiesen. In Griechenland kann er sich nicht anmelden. Sein Antrag auf Asyl hat Dosthossein in Deutschland gestellt, hier ist er auch zum ersten Mal auf europäischem Boden registriert worden. Deutschland ist somit nach europäischem Recht dazu verpflichtet sein Asylrecht umzusetzen.

Und wie kann es anders sein: Arash Dosthossein ist kein Einzelfall. In den Parks von Athen treffen sich Menschen mit ähnlichen Geschichten. Asylsuchende mit deutschem Aufenthaltsstatus auf Familien- oder Freund*innenbesuch oder einfach im Urlaub, ohne Papiere, weil diese geklaut oder verloren wurden. Für Monate von der deutschen Botschaft in die Warteschleife gesetzt. Eine Warteschleife, die die hart erarbeitete Existenz in Deutschland zerbrechen lässt und ein Leben auf einer Athener Parkbank bedeutet.

Wie wir ja alle spätestens seit der Finanzkrise wissen, sind es die griechischen Behörden, die inkompetent und arbeitsscheu sind – nicht die deutschen. Wie kann es also sein, dass eine deutsche Behörde innerhalb von vier Monaten daran scheitert, einen Drucker zu bedienen, einen Umschlag zu frankieren und diesen zur Post zu bringen? Greift der Fachkräftemangel schon so weit um sich? Wohl kaum. Struktureller Rassismus ist die erste Erklärung, die einem dazu einfällt. Nicht-Deutschen wird es um ein Vielfaches schwerer gemacht, ihre Rechte, für die sich der bürgerliche Staat ja weltweit verbürgt, wahrzunehmen und zu bekommen.

Es gibt zahlreiche Beispiele für Diskriminierung durch einzelne Beamte oder Angestellte, sei es beim Jobcenter, in der Verwaltung oder in der Ausländerbehörde. Die deutsche und europäische Gesetzgebung trägt hierzu ihr Übriges dazu bei. Auch wenn Rassismus nicht allein ökonomisch begründet werden kann, ist die Ökonomie des Rassismus ein Schlüssel zum Verständnis hinter solchen Vorgängen. Seit Jahrzehnten können wir in Deutschland beobachten, wie der Abbau staatlicher Infrastruktur nach und nach voranschreitet. Gerade im öffentlichen Dienst sind mehrere Millionen Stellen wegrationalisiert worden. Deutsche Ämter und damit der öffentliche Dienst sind seit Jahren chronisch unterbesetzt.

Nicht umsonst versuchten die Angestellten im öffentlichen Dienst in der diesjährigen Tarifrunde das Thema der katastrophalen Personalsituation zur Diskussion zu stellen. Aber weder die Gewerkschaftsführung noch die regierende SPD unterstützte die Kolleg:innen bei Forderungen zur Behebung des Personalmangels. Im Gegenteil: das Münchner SPD-Regierung strich direkt nach Abschluss der Verhandlungen gleich mal 1000 Stellen bei der Stadt. Die (Teil-)Privatisierung der Arbeits- und Sozialämter sowie die Austeritätspolitik der „schwarzen Null“ haben dazu geführt, dass die soziale Infrastruktur von Kommunen, Bund und Ländern einem Spardiktat unterliegt. Das wirkt sich bis an die Schreibtische der einzelnen Angestellten aus. Der Sparzwang wird umso aggressiver gegenüber Asylsuchenden und nicht-Deutschen Staatsbürger*innen durchgesetzt. Sei es durch bürokratische Diskriminierung, Lagerpflicht oder Abschiebungen.

Wenn also Arash Dosthossein seit Monaten keine Papiere erhält, die ihm zustehen, er sein Wohngeld und Sozialleistungen dadurch verliert, dann spart sich der deutsche Staat Sozialausgaben. Wenn die Münchner Stadtregierung tausende Stellen streicht, spart sie sich Gehälter, die dazu nötig wären, in Zeiten der Krise die dringend notwendige Infrastruktur aufrecht zu erhalten. Allein in München gibt es zehntausende Anträge auf Sozialwohnungen. Diese werden durch weniger Mitarbeiter*innen nicht schneller behandelt werden können. Und durch Corona droht noch mehr Menschen der Weg in die Armut. Die Verschlankung des Staates, besonders im sozialen Bereich, eröffnet der Privatisierung Tür und Tor. Es ermöglicht die Rekapitalisierung staatlicher Infrastruktur. Diese Rekapitalisierung ist für die deutsche Wirtschaft im Speziellen, für das europäische Kapital im Allgemeinen, von entscheidender Bedeutung, um im globalen Wettstreit nicht weiter an Boden zu verlieren. Für die Arbeiter:innen in Deutschland bedeutet das einen graduellen Rückschritt in die Zeiten vor den Revolutionen des 20. Jahrhunderts.

Der Fall von Arash Dosthossein kann daher nicht als Einzelfall betrachtet werden, sondern muss im Gesamtkontext der derzeitigen Entwicklung verstanden werden. Um der generellen Entwicklung etwas entgegen zu setzen, braucht es strategische Diskussionen. Die Unterstützung und die Politisierung der Auseinandersetzungen im öffentlichen Dienst, sei es beim Nahverkehr, in den Krankenhäusern oder an den Universitäten, stellt dabei einen zentralen Punkt dar. Ein Kampf für mehr Personal und gegen Privatisierungen kann zu einem Kampf gegen Rassismus und Sozialabbau werden. Die aktuelle Situation von Arash Dosthossein verlangt aber auch nach kurzfristiger Unterstützung: die Kampagne „Grenzenlose Solidarität mit Arash“ hat daher zu Spenden aufgerufen. Unter folgendem Link kann man ihn unterstützen:

Grenzenlose Solidarität mit Arash | betterplace.me
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Vier Wochen lang belagerten die Cops die Felder und den Wald um das Dorf Dannenrod, bis sie die Schneise für die zukünftige Autobahn A49 gerodet hatten. Bisweilen schaffte es die hessische Polizei dabei, mehrere Aktivist_innen pro Woche mit teilweise schweren Verletzungen ins Krankenhaus zu befördern. Drum herum: Viele leichte Verletzungen, unnötige Schmerzgriffe, Tasereinsätze in mehr als 20 Meter Höhe, unzählige Angriffe auf die Pressefreiheit, willkürliche Festnahme einer Sanitäterin inklusive Brechen ihres Armes – das wäre unter anderen Umständen übrigens ein Kriegsverbrechen – durch die Beamt_innen, eine kirchliche Beobachterin wird ohne ersichtlichen Anlass von einer BFE angegriffen, ständig werden Bäume nur wenige Meter neben besetzten Traversen gefällt und so die Besetzenden in Lebensgefahr gebracht. Bei Protestaktionen werden Teilnehmende und Journalist_innen von Einsatzkräften massiv beleidigt, auch lachend geschlagen und zu Boden geworfen. Einem Menschen auf einem Tripod wird “Wenn du fällst, bist du selber Schuld!”, zugerufen, während das Kletter-SEK sich am Sicherungsseil zu schaffen macht. Ein paar Tage zuvor spielten bereits einige BFEler mit einer Säge an einer anderen nur wenige Meter entfernten Tripodsicherung herum. Die Liste ließe sich noch eine ganze Weile fortsetzen, und neben den Vorgängen im Wald selbst dürfen auch die Folterbedingungen, unter denen Unterstützende in der Untersuchungshaft festgehalten wurden und werden, nicht unerwähnt bleiben.

Exakt das, was von den hochmilitarisierten Riotcops dieses Staates zu erwarten ist? Ja klar, auch. Aber bei aller Desillusioniertheit über das alltägliche Verhalten der Staatsgewalt sollte nicht ausgeblendet werden, dass so etwas nicht nur passiert, weil die Funktion “Polizist_in” logischerweise von Waffengewalt nicht abgeneigten Menschen ausgeführt wird, sondern es sich insbesondere im Rahmen einer solchen Großprotestaktion um eine bewusste Brutalitätsstrategie handelt.

Die Verstöße der Polizist_innen gegen Versammlungs- und Presserechte sowie simpelste Grundlagen zwischenmenschlicher Ethik wurden vielfach dokumentiert und veröffentlicht. Dass die Einsatzleitung nicht davon weiß, welche ihrer Einheiten wann wo wie eskaliert hat, kann getrost ausgeschlossen werden. Des Weiteren fanden in den Wochen der Räumung mehrmals deutlich beobachtbare Wechsel des Aggressionslevels der eingesetzten Beamt_innen statt. So agierten sie beispielsweise in den ersten Tagen oder auch der ersten Dezemberwoche der Räumungs- und Rodungsarbeiten – also in Zeiträumen mit viel Aufmerksamkeit durch Tagespresse und sonstige Öffentlichkeit – spürbar vorsichtiger, kommunikativer und weit weniger eskalativ als in der Zeit zwischen diesen Punkten, vor allem in der Hauptphase des Einsatzes Ende November.

Da passierte dann der überwiegende Teil der oben beschriebenen Polizeibrutalität. Auch kamen dort vermehrt die für ihr besonders gewalttätiges Verhalten bekannten BFEs 38, 58 und 68 zum Einsatz und machten ihrem Ruf alle Ehre. Dem bekannten Demospruch entsprechend zogen sie wie gut ausgestattete Hooligans durch den Wald, zerschlugen auf dem Boden zurückgelassene Strukturen von Sitzmöglichkeit bis Pizzaofen, lauerten in der Nacht umherlaufenden Personen auf und pfeffersprayten aus etwas kindergartenhafter Bosheit heraus das Klopapier. Gegen Ende der Räumung sieht man diese Einheiten kaum noch, und auch sonst schlagen die Cops einen weit weniger aggressiven Ton gegenüber Aktivist_innen und Unterstützenden an. Offensichtlich war es also möglich, das Verhalten der Polizeitruppen zu regulieren, und folglich muss die wochenlange Inkaufnahme von teils Menschenleben gefährdenden Grausamkeiten durch die Einsatzkräfte als strategisches Mittel der Einsatzplanung gelesen werden.

Ziel von solchen durch nichts zu rechtfertigenden Brutalitätsaktionen ist es, Menschen durch Angst mundtot zu machen; das zeigt ein Blick auf die Geschichte jeder beliebigen linken Bewegung. Für eine solche Strategie findet die Polizei hier im Wald das perfekte Kampffeld, denn er stellt einen von der Öffentlichkeit praktisch komplett abgeschirmten Raum dar. Zu groß ist das Konfliktgebiet, zu langsam der Informationsfluss, um auch mit doppelt und dreifach so viel Presse jeden Vorfall adäquat dokumentieren zu können.

Die Cops wissen um solche öffentlichkeitsfernen Räume und setzen sie als strategisches Mittel ein, um mit möglichst weitreichender Willkür agieren zu können. Das trifft auf den Wald genauso zu wie auf den Bus, der regelmäßig Aktivist_innen zu Mahnwachen und Demonstrationen fuhr. Letzterer konnte keine Tour machen, ohne begründungslos aus dem Verkehr gezogen zu werden. Aber in einem Bus gibt es halt keine neugierigen Zuschauenden, die die Polizei bei ihrem Verhalten kontrollieren könnten – und im Wald auch nicht. Dort schufen sie sich diese Situation, indem sie die Presse von den Orten des Geschehens so weit weghielten, dass Beobachtung der Ereignisse im Detail unmöglich war. Zeitweise war es praktisch unmöglich, sich ohne polizeiliche Pressebegleitung durch den Wald zu bewegen – betreutes Berichten sozusagen.

Und so konstruierten sich die Cops Räume, in denen sie unbeobachtet und konsequenzbefreit Protestierende als “Stück Scheiße” bezeichnen konnten, während sie deren Leben durch mindestens bewusst fahrlässiges Verhalten gefährdeten. Solche verbale, physische und psychische Brutalität ist die Produktion einer Botschaft an die Menschen im Wald, ihre potentiellen Unterstützer_innen und allzu kritische Beobachter_innen/Journalist_innen: Die Cops können euch antun, was sie wollen; niemand wird sie aufhalten oder auch nur sehen; und auch ihr seid mögliches Ziel für die nächste Ladung Pfefferspray, den nächsten Schlagstockhieb oder die nächste Entführung in die GeSa. Am Ende bleiben die verstreuten Berichte der Betroffenen, vereinzelte Pressebilder und das diffuse Wissen aller, sich durch die von jedweder Negativkonsequenz für ihr Handeln befreiten Einsatzkräfte in dauerhafter, latenter Gefahr für Leben und Freiheit zu befinden.

Natürlich steht solches Verhalten im kompletten Bruch zum von der Propagandaabteilung der Polizei verbreiteten Erzählung eines besonnen, rücksichtsvoll, transparent-kommunikativ ausgeführten Einsatzes. Während sie in Pressekonferenzen innerhalb der Besetzung zum running-gag gewordene Sprüche wie “Sicherheit vor Schnelligkeit” vom Stapel ließen, gaben sich ihre Truppen an der tatsächlichen Frontlinie betont menschenverachtend und aggressiv. Wichtiger: Diese Strategie der eskalativen Grausamkeit folgte auf eine ausnehmend friedliche, kommunikative und für die Polizei ungefährliche Besetzung. Das grundlegende Kampfmittel der Aktivist_innen war das Besetzen von Bäumen und verschiedener Strukturen, die zwar mit einigem Aufwand, aber eben ohne Gefährdung für die ausführenden Cops geräumt werden mussten, bevor die Rodung fortgesetzt werden konnte. Jedes relevante Seil war markiert, und auch der dümmlichsten BFE dürfte klar sein, dass Leute, die in ihrem Baumhaus sitzend ohne Fluchtmöglichkeit auf die Räumung warten, aller Wahrscheinlichkeit nach keine Gehwegplatten herunterwerfen werden. Die Cops hätten ohne Probleme so agieren können, wie sie es so gerne über ihren Twitter-Account behaupten, und hätten ihr Einsatzziel dennoch erreicht. Sieht man sich aber ihr tatsächliches Verhalten an, sollte man meinen, tagtäglich würden Polizist_innen von Scharfschützenfeuer niedergestreckt, Wasserwerfer von panzerbrechender Munition zerlegt und ihr Logistikzentrum mit Raketen beschossen. Kurzer Realitätsabgleich: Die einzigen ernstzunehmenden Verletzungen gab es auf aktivistischer Seite und es war die Staatsgewalt, die nachts durch den Wald rannte und Jagd auf Menschen machte. Diese Dissonanz zwischen den tatsächlichen Einsatzbedingungen und dem Verhalten der Einsatzkräfte bestätigt die These von oben: Die Eskalationsstrategie ist bewusst; the cruelty is the point.

Diese unberechenbare Brutalität gegen die Menschen im Wald spiegelte auch das Vorgehen bei der Rodung der geplanten Autobahnschneise insgesamt: Auf der einen Seite wurden Aktivist_innen mit körperlicher und physischer Gewalt sowie hanebüchenen Straftatvorwürfen ausgebrannt, auf der anderen Seite wurde in den ersten Wochen des Einsatzes oft an drei Fronten gleichzeitig agiert, um Widerstand durch Überlastung zu unterbinden. Und bedauerlicherweise muss eingestanden werden, dass diese Strategie aufging: Schneller, als die meisten gedacht hätten, fraßen sich die Maschinen von Norden und Süden durch den Dannenröder Wald, zerrissen Baumhaus um Baumhaus und zerstörten in einigen Wochen, was in mehr als einem Jahr aufgebaut wurde. Was bleibt, ist ein riesiger Erfahrungsschatz, den vor allem ein großer Teil der Fridays-for-Future-Aktivist_innengeneration in dieser Schlacht um den Dannenröder Forst sammeln konnte. Und es wurde gezeigt, dass weder die eingespielten noch die neuen Aktivist_innen sich von der Kälte des Winters und einer Polizeiarmee, die bereitwillig ihre Leben bedroht, vom Kämpfen gegen die Klimakatastrophe und für eine lebenswerte Zukunft abbringen lassen werden. Man darf davon ausgehen, dass sie angemessene Antworten auf die alltäglichen Grausamkeiten der Staatsgewalt finden werden.

# Titelbild: Channoh Peepovicz, Wasserwerfereinsatz hinter Stacheldraht im Danni

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