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Heute zum Aktionstag Rondenbarg wollen wir als Hamburger Betroffene das Wort ergreifen. Vor dem Hintergrund, dass der Prozess in dieser Woche beginnt, wollen wir euch alle zur bundesweiten Demonstration am 5.12. um 16 Uhr am Hamburger Hauptbahnhof einladen, mit uns gemeinsam auf die Straße zu gehen und eine Gegenöffentlichkeit herzustellen.
Vom Hamburger Betroffenen Kollektiv Rondenbarg

Aber Was passiert(e) ?

Am Morgen des 7. Juli 2017 machten sich ca. 200 Aktivist*innen auf, um den G20-Gipfel in Hamburg zu stören. Am Rondenbarg schließlich wurden sie von der Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit „Blumberg“ aus Brandenburg aufgerieben. Ohne Vorwarnung überrannten sie die Demonstration. Es gab zahlreiche Verletzte durch direkte Polizeigewalt, aber auch Schwerverletzte mit offenen Brüchen. Diese waren in Panik über einen Zaun geflohen, welcher vermutlich durch die Last, aber auch durch das Einwirken der Polizist*innen, zusammenbrach. Die, die nicht ins Krankenhaus mussten, wurden in die Gefangensammelstelle nach Harburg und in die umliegenden Knäste gebracht. Jetzt startet am 3.12 der erste Gruppenprozess rund um den Rondenbarg-Komplex.

Fünf Jugendlichen soll der Prozess gemacht werden. Insgesamt beläuft sich die Zahl der Angeklagten auf über 80 Personen. Der Prozess wird nicht öffentlich geführt, angeblich zum Schutz der damals noch Minderjährigen. Nach unserer Einschätzung handelt es sich aber auch um einen Testlauf der Anklage. Die Vorwürfe der „Bildung einer bewaffneten Gruppe“, des „gemeinschaftlichen besonders schweren Landesfriedensbruch“, der „gefährlichen Körperverletzung“, „Sachbeschädigung“ und des „Angriffs auf Vollstreckungsbeamt*innen“ sollen in ihrer Robustheit vor Gericht getestet werden. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit werden die Polizei, die Staatsanwaltschaft und die politisch Verantwortlichen versuchen, die Demonstration zu entpolitisieren und ihre Lügengeschichten zu verkaufen. Der damalige hamburger Bügermeister und Heute SPD-Chef Olaf Scholz legte die politische Linie bereits 2017 fest: „Polizeigewalt hat es nicht gegeben“.

Wieso der Prozess besonders ist

Dieser Prozess ist deswegen so besonders, weil keinem der Angeklagten eine konkrete Straftat vorgeworfen wird. Lediglich die Teilnahme an einer Demonstration, aus der heraus angeblich Straftaten erfolgten, soll für eine Verurteilung ausreichen. Eine Verurteilung der Genoss*innen hätte nicht nur Auswirkungen auf weitere Betroffene des Rondenbargs. Vielmehr würde es sich um einen Warnschuss für die gesamte Bewegungslinke in Deutschland bedeuten. Allein die Teilnahme an einer kämpferischen Demonstration würde zur Gefahr der individuellen Lebensplanung werden. Unter dem drohenden Hammer der Klassenjustiz würden sich viele radikale Linke von ihrer berechtigten Straßenmilitanz entfernen und die Jugend nicht zu einer finden.

Das langfristige Repressionsziel des Staates ist offensichtlich: Durch androhende Repression soll die radikale Bewegungslinke zahm gemacht werden. Die Folge wäre eine Entpolitisierung von Demonstrationen. Durch das Recht zweifelsfrei geschützt wäre dann nur die Teilnahme an einer Demonstration, die möglichst niemand mitbekommt und im Konsens mit dem Staat, seiner Polizei und dem Kapital abläuft. Es entstünde Ungewissheit und Angst vor der Illegalisierung der Teilnahme an Demonstrationen aus denen heraus mutmaßlich Straftaten erfolgen. Antagonistische Positionen und gegenkulturelle Bewegungen die eine Überwindung der Krise des Status-Quo artikulieren, würden umfassender als bisher kriminalisiert werden. Wir verstehen eine wahrscheinliche Verurteilung als vorbeugende Formation des Staates auf die näherkommenden Einschläge der Wirtschafts- und Finanzkrisen, sowie der ökologischen Katastrophe. Der Staat formiert sich gegen den sozialen Widerstand. Die wahrscheinliche Verschärfung der Rechtsprechung ist dabei neben den in den Bundesländern verschärften Polizeigesetzen ein Symptom der rechten Entwicklung der letzten Jahre.

Was wir jetzt brauchen

Wir als Betroffene brauchen in erster Linie Solidarität. Solidarität ist eine Waffe um uns als Antifaschist*innen und Antikapitalist*innen vor Angriffen des bürgerlichen Staates zu schützen. Solidarität ist aber mehr als das. Solidarität ist auch eine Absage an eine sich immer weiter vereinzelnde Gesellschaft. Der Neoliberalismus verbannt uns in abgeschottete Existenzen und versucht uns losgelöst von unseren sozialen Kontakten in verlassene Einsiedler*innen umzukehren. Unter den historischen Bedingungen einer Pandemie ist das besonders spürbar. Deswegen sollten wir nicht bei der politischen Zusammenarbeit gegen Repression stehen bleiben, sondern viel weiter gehen. Solidarität ist das Gegenteil der vereinzelten, neoliberalen Lebensweise. Denn Solidarität ist Verwirklichung dessen was wir als Linke wollen: Zusammenhalt und Gemeinschaft, ansonsten vereinzelter Gleicher.

Der gemeinsame solidarische Kampf und das zusammenstehen mit Genoss*innen verschiedener linker Strömung kann dabei völlig neue Bündnisse und Kräfte entfesseln. Die revolutionäre Kraft der Solidarität liegt genau hier. Deswegen brauchen nicht nur wir als Betroffene von Repression Solidarität, sondern die deutsche Linke insgesamt braucht Spektren übergreifende solidarische Strukturen um eine wirksame Gegenmacht gegen die Krisen des Status-Quo zu bilden. Fangen wir an über unseren eigenen kleinen Tellerrand zu schauen und begreifen wir die aktuellen Angriffe auf die radikale Linke, seien es die §129a Verfahren gegen den Roten Aufbau, die antifaschistischen Genoss*innen in Haft oder die bisherigen G20-Prozesse, als einen Angriff auf die gesamte politische Linke. Wer gesellschaftlichen Fortschritt will, wird unweigerlich irgendwann mit der Staatsmacht konfrontiert werden, da hilft es ungemein, wenn man auf eine gesamte Bewegung zählen kann!

# Titelbild: gemeinschaftlich.noblogs.org

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Was ist die Verabredung zu einem Verbrechen, die auf einer Bank getroffen wird, gegen die Verabredung zu einem Verbrechen, die in einer Bank getroffen wird?! Diese leichte Abwandlung eines bekannten Zitats lässt sich als Kommentar zu dem Urteil lesen, das die Große Strafkammer 15 des Hamburger Landgerichts am 5. November im so genannten Parkbank-Prozess verhängte. Wie zu erwarten war, verknackte die Kammer die „Drei von der Parkbank“ zu Haftstrafen – natürlich ohne Bewährung, denn es handelte sich bei den Angeklagten ja um „böse Linke“. Also gab es mal eben 22, 20 und 19 Monate Haft für die beiden Genossen und die Genossin und zwar im Grunde genommen für nichts.

Sie wurden nicht für etwas verurteilt, das sie getan haben. Sie haben niemanden angegriffen und verletzt, niemanden betrogen, nichts beschädigt. Sie wurden für etwas bestraft, dass sie angeblich vorgehabt haben – für die „Verabredung zu einem Verbrechen“ gemäß Paragraph 30 Strafgesetzbuch, wie es im Juristendeutsch heißt. Eine Verabredung, die, um den Eingangssatz leicht zu korrigieren, nach Überzeugung der Kammer nicht auf der Bank getroffen, sondern bereits lange vorher. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass die drei vorhatten, gemeinsam mit einer vierten, unbekannt gebliebenen Person Brände an vier Orten zu legen.

„Drei von der Parkbank“ klingt lustig, nach einem alten Film mit Heinz Rühmann, ist tatsächlich aber die Überschrift zu einer juristischen Farce, die selbst in dem an Absurditäten reichen Reigen der G-20-Prozesse noch negativ herausragt. Wer es noch nicht wusste: Als „Drei von der Parkbank“ oder Parkbankcrew sind drei Anarchist*innen überregional bekannt geworden, nachdem sie vor eineinhalb Jahren von einer Parkbank in Hamburg weg festgenommen worden waren. Ein Handstreich der Polizei, der eine Welle der Solidarität in der radikalen Linken der gesamten BRD und des Auslands auslöste, die bis heute nicht abgeebbt ist.

Wir erinnern uns. Es war eine Sommernacht im Juli 2019, die Nacht vom 7. auf den 8. Juli. Genau zwei Jahre nachdem sich in Hamburg die globale Regierungsmafia getroffen hatten, um unter der harmlosen klingenden Überschrift „G20-Gipfel“ neue Verbrechen zur Auspressung der Welt zu verabreden. In einer Grünanlage im Hamburger Stadtteil Eimsbüttel saßen in dieser Nacht zwei Männer und eine Frau auf einer Parkbank, als Zivilfahnder der Polizei über sie herfielen. Die Drei hatten, wenn man der Polizei glauben will, diverse Materialien dabei: Handschuhe, Feuerzeuge, Grillanzünder und mit Benzin gefüllte PET-Flaschen. Später kam heraus: Einer der Genossen war bereits seit Monaten von der Polizei observiert worden – ohne richterliche Anordnung, nur auf Geheiß des Hamburger Polizeipräsidenten.

Die Lohnschreiber der bürgerlichen Presse kriegten sich gar nicht mehr ein vor Begeisterung über diese Festnahmen. Ein „Riesenerfolg“ sei das für die Ermittlungsbehörden delirierte die Hamburger Morgenpost. Einer der Festgenommenen sei „tief verwurzelt“ in der autonomen Szene und „auch international bestens vernetzt“. Das Hamburger Abendblatt jubelte, dem Staatsschutz sei offenbar „ein spektakulärer Schlag gegen die linksextremistische Szene gelungen“. Bei der Polizei sei man „sichtlich stolz“ auf den Ermittlungserfolg. Die Polizei selbst fabulierte öffentlich von einem „Stich ins Herz der linksexstremistischen Szene“. Die beiden Männer kamen natürlich sofort in Untersuchungshaft, wo man sie bis zum Ende des Prozesses schmoren ließ. Die Genossin wurde erstaunlicherweise auf freien Fuß gesetzt.

Eine große Rolle spielte bei den Ermittlungen und im Prozess ein Zettel, der angeblich ebenfalls bei den Dreien gefunden wurde. Darauf standen vier Adressen, die alle mit den Profitgeiern von der Wohnungswirtschaft zu tun hatten: die der Geschäftsstelle des Immobilienriesen Vonovia, dann ein Ort, an dem regelmäßig Dienstfahrzeuge des Konzerns abgestellt waren, ein Büro des Luxusmaklers Großmann & Berger und die Wohnadresse von Bausenatorin Dorothee Stapelfeldt (SPD). Sogar die Kammervorsitzende Sandra Paust-Schlote wunderte sich in der Urteilsbegründung darüber, dass man als Gedächtnisstütze bei einer solchen Aktion noch einen solchen Zettel benötigt – den Verdacht, dass die Ermittler diesen Zettel angefertigt und den Angeklagten untergeschoben haben, verwarf sie aber.

Polizei und Staatsanwaltschaft versuchten vor und im Verfahren geradezu fanatisch, den Angeklagten nachzuweisen, dass sie Leib und Leben von Menschen gefährden oder diese Gefährdung zumindest billigend in Kauf nehmen wollten, dass sie Wohnhäuser anzünden wollten. Das wäre nämlich eine schwere Brandstiftung gewesen, was ein höheres Strafmaß bedeutet hätte. In seinem Plädoyer hetzte Oberstaatsanwalt Ralf Schakau in übelster Weise gegen die Angeklagten. Sie seien „menschenverachtende Terroristen, denen jedes Mittel recht ist und die den moralischen Kompass verloren haben“. Er plädierte auf „Verabredung zu einer schweren Brandstiftung“ und forderte dreieinhalb Jahre Haft für den Genossen, der für den Haupttäter gehalten wurde, und jeweils drei Jahre für Ingmar S. und eine junge Frau.

Dass Polizei und Anklage vor fast nichts zurückschreckten, um ihre wilden Konstrukte durchzusetzen, zeigt die Affäre um einen Gutachter. Und zwar hatte die Generalstaatsanwaltschaft kurz vor Anklageerhebung das Büro des Brandermittlers Sebastian Herrgesell aus dem sachsen-anhaltinischen Schönebeck mit einem Gutachten beauftragt. Auf deren Homepage heißt es: „Mit Herz und Sachverstand analysieren unsere sachverständigen Brandursachenermittler komplexe und scheinbar unklare Ausgangssituationen, um die Frage nach dem Warum eines Schadens zweifelsfrei zu klären.“

Das von diesem Büro erstellte Gutachten stützte die Anklage in allen Punkten. Im Prozess stellte sich heraus, warum das so ist. Wie die Verteidigung herausfand, ist Herrgesell auf vielfältige Weise mit der Polizei verbandelt und offenbar rechtem Gedankengut nicht abgeneigt. Nachzulesen ist dies auf der von Unterstützern der Parkbankcrew betriebenen Seite parkbanksolidarity.blackblock.org. Bei einer Recherche sei herausgekommen, heißt es da, dass so gut wie alle Mitarbeiter*innen des Büros eine Karriere bei der Polizei hinter sich haben. Dann habe sich Herrgesell auf seinem privaten Facebook-Account über „südländisch aussehende, arabisch sprechende und messerstechende Täter“ geäußert und fragwürdige Posts anderer User gelikt. All das war am Ende sogar der Generalstaatsanwaltschaft zu viel, so dass der Gutachter einhellig abgelehnt wurde.

Die Kammervorsitzende spielte das Spiel der Anklage, den drei Angeklagten eine schwere Brandstiftung anzudichten, immerhin nicht mit und signalisierte schon im Verfahren, dass die Kammer nicht von schwerer Brandstiftung ausgehe. In der Urteilsbegründung verwarf sie in fast spöttischem Tonfall die abwegigen Hypothesen des Oberstaatsanwalts, der bei einem der in Frage kommenden Gebäude einen auf der Rückseite liegenden Lichtschacht als Ziel für eine Brandlegung ausgemacht hatte. Paust-Schlote führte aus, die Angeklagten hätten außer dem Dienstwagen von Vonovia wohl Gegenstände vor den Häusern anzünden wollen, also etwa Mülltonnen oder Barrikaden. Sie verwies darauf, dass es Konsens unter „Linksextremisten“ sei, Unbeteiligte bei ihren Aktionen nicht zu gefährden.

Hanebüchen war die Urteilsbegründung aber insgesamt dennoch. Paust-Schlote erging sich eingangs ausführlich in Beteuerungen, das Ganze sei kein politisches Verfahren, es ginge nicht um „Feindstrafrecht“, nicht um die Anschauungen der Angeklagten. Dann geißelte sie die Genoss*innen aber als „tiefverwurzelt“ in einer „rechtsfeindlichen Gesinnung“, wobei sie abenteuerliche Belege anführte, etwa Abbildungen, die bei einer Durchsuchung der Wohnung der angeklagten Genossin auf deren PC sichergestellt worden waren. Da habe sich etwa ein Foto stürzender Polizeibeamte angefunden, das mit Aufschrift „Feste feiern, wenn sie fallen“ versehen war. Auf einem anderen Foto von 2008 seien die beiden männlichen Angeklagten zu sehen, wie sie in Amsterdam mit einem Banner posierten, auf dem die Aufschrift stand: „Don’t be a tourist, be a terrorist!“. Dies zeige doch, wie lange und wie tief die Angeklagten in der „linksextremistischen Szene“ verwurzelt seien, so die Richterin. Auch dass es seit der Festnahme der „Drei von der Parkbank“ im ganzen Land eine Menge „Resonanzstraftaten“ gegeben habe, kreidete Paust-Schlote ihnen an. Alles in allem sei ihnen keine „günstige Sozialprognose“ zuzugestehen, deshalb sei eine Bewährung nicht in Frage gekommen.

Nach der Urteilsverkündung gab es dennoch Jubel im Gerichtssaal, denn die Haftbefehle gegen die beiden Genossen wurden aufgehoben. Sie müssten allerdings, wenn das Urteil rechtskräftig wird, noch für einige Monate in den Knast, nämlich für die, die über die 16 bereits in U-Haft verbrachten Monate hinausgehen. Die Genossin müsste dann sogar die gesamte Strafe absitzen, da sie nicht in U-Haft genommen worden war.

Natürlich war der Parkbank-Prozess Teil der Rachejustiz nach dem G-20-Gipfel in Hamburg, die mit dem Anfang Dezember beginnenden Rondenbarg-Prozess ihren Höhepunkt finden wird. Wie absurd der Aufwand ist, mit dem Polizei, Anklage und Gericht in diesem Fall wieder einmal gegen Linke vorgegangen sind, und wie grotesk die Strafen sind, lässt sich vor allem daran erkennen, wer oder was mit erheblich weniger Verve oder auch gar nicht von Polizei und Jusitz verfolgt wird. Dazu nur ein Beispiel.

Am 17. Oktober hat ein AfD-Symphatisant am Rande einer Veranstaltung der Partei mit deren Chef Jörg Meuthen im schleswig-holsteinischen Henstedt-Ulzburg mit einem schweren Pick-up gezielt drei Demonstrant*innen angefahren und verletzt (lower class magazine berichtete). Die Polizei schrieb in ihrer ersten Mitteilung von einem Unfall, der 19 Jahre alte Fahrer wurde nicht einmal festgenommen. Nach einer „Befragung“ im Revier durfte er nach Hause. Das Hamburger Abendblatt schrieb einige Tage später, der Staatsschutz gehe davon aus, er habe die Demonstrant*innen nur „erschrecken wollen“.

Der rechte Attentäter, der drei Menschen verletzt und schwere Verletzungen oder gar ihren Tod in Kauf genommen hat, dürfte vor Gericht mit einer Ermahnung und ein paar Sozialauflagen davon kommen. Die „Drei von der Parkbank“ sind dagegen zu Haftstrafen von über einem Jahr verknackt worden, das lediglich dafür, dass sie angeblich planten, etwas zu tun – nämlich SACHEN zu beschädigen, in Brand zu setzen. Den besten Kommentar zu dieser Justizfarce hat die Parkbankcrew selbst in einer Erklärung abgegeben, der am Tag nach dem Urteil veröffentlicht worden ist. Ein Absatz, dem nichts hinzuzufügen ist, sei hier zitiert:

„Das Schweigen in diesem Prozess ist uns nicht immer leicht gefallen angesichts der arroganten, zynischen Frechheiten, mit denen wir das ganze Verfahren über konfrontiert waren. Uns ist allerdings wichtig darauf hinzuweisen, dass wir es hier keineswegs mit aus dem Rahmen fallenden Tabubrüchen zu tun haben. U-Haft als Maßnahme zur Kooperationserpressung, Durchwinken illegaler Ermittlungsmaßnahmen … ganz normaler Alltag im Justizsystem. Wir sehen keine Perspektive darin, solche Zustände zu Skandalisieren – wir glauben nicht an die Möglichkeit einer „fairen“ Justiz. Womit wir nicht meinen, dass es unsinnig ist, diese Symptome einer, immer im Interesse der herrschenden Ordnung wirkenden, Institution zu benennen. Wir schlagen auch nicht vor, sich im Zynismus dieser Institution gegenüber einzurichten.

Viel wichtiger finden wir aber, der Repression gegenüber einen aktiven, selbstbewussten und selbstbestimmten Umgang zu finden. Von ihnen haben wir nix zu erwarten, von uns selbst und den Menschen, mit denen wir kämpfen dafür umso mehr!“

# Titelbild: © r-mediabase, Demo am Vorabend der Urteilsverkündung

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Es gibt ein Foto, auf dem ist ein türkischer Soldat einer Spezialeinheit zu sehen. Aus seinem Mund hängt lässig eine Zigarette, sein Kopf ist an den Seiten kahlgeschoren, das verbliebene Haupthaar ist akkurat frisiert. Sein Blick zeigt ungetrübten Stolz, er streckt den rechten Arm in die Kamera, der die Trophäe zur Schau stellt. Aus dem rechten Arm baumelt ein Menschenkopf, unsauber am Hals abgesägt. Der Menschenkopf sieht stoisch nach unten. Weil der Menschenkopf irgendwann einmal zu einem kurdischen Menschen gehört hat, ist für die Soldaten klar: Hier wurde ein Terrorist gefangen.

Das Bild ist keine Fiktion. Es ist ein Screenshot aus einem Video, das irgendwann nach 2017 in Sirnak, einer Region im kurdischen Südosten der Türkei aufgenommen wurde. Und es ist das Bild, an das ich beim Lesen von Cemile Sahins neuem Roman „Alle Hunde sterben“ eigentlich auf jeder der 237 Druckseiten denken musste.

Sahins Buch ist aufgebaut wie eine Netflix-Serie, aber wie eine der guten, Black Mirror etwa. Es spielt in einem Hochhaus im Westen der Türkei, das 17 Stockwerke hat. Aber eigentlich spielt es in den Köpfen der neun Menschen, die in neun Episoden ihre Geschichten erzählen. Die neun Geschichten handeln aber alle von einer Geschichte und diese Geschichte ist ihrerseits keine Fiktion, sondern sie wird überall auf der Welt jeden Tag wieder und wieder aufgeführt: „Ich schleiche durch die Wohnung mit zwei Paar Socken, und ich verstehe: hinter der Tür kommt ein Zimmer, und hinter einem Zimmer kommt eine Wand. Und vor der Wand hängt eine Fahne, und wenn wir ihre Fahne sehen, wissen wir, in welchem Land wir sind. Wir sind in diesem Land. Und wenn uns ein Soldat hier sieht, dann packt er uns und stellt uns vor ihre Fahne.“

Wenn einer nicht vor der Fahne stehen will, weil die Fahne ihm und seinen Nachbarn, seinen Eltern, Tanten, Onkeln, Kindern, Großeltern und Freunden schon bis zum Ersticken in den Mund gestopft wurde, beginnt die Story. Es gibt dann Terroristen. Und weil diejenigen, die die Fahne aufgehangen haben, es nicht dulden können, dass es Terroristen gibt, gibt es Soldaten, Polizisten, Sondereinheiten, Spitzel. Deren Aufgabe ist es, alle zu fangen, die nicht Terroristen sind, sondern sein könnten. Also ziehen sie los und gehen ihrem Beruf als Helden der Nation nach. Für diesen Beruf haben sie Werkzeuge wie jeder Handwerker: Stricke, Fäuste, Gewehre, Pistolen, eine Ratte.

Mit den Werkzeugen bearbeiten sie die Gegenstände ihres Handwerkes, die Menschen, von denen sie wissen, sie sind Terroristen. Nur sind diese Gegenstände eben keine Gegenstände, sondern Menschen, also geht in ihnen etwas vor. Was aber in ihnen vorgeht, ist für die Außenstehenden oft egal: Für diejenigen, die die Fahne aufgehangen haben sowieso, es sind ja Terroristen; für die Soldaten, Polizisten, Sondereinheiten und Spitzel auch, es sind ja Terroristen; für die Handelspartner des Landes, in dem die Terroristen aufgehangen, zu Tode gequält, erschlagen und in den Wahnsinn getrieben werden auch, weil die Fahne verspricht lukrative Geschäfte; für die Urlauber, die in das Land fahren, in dem die Fahne hängt auch, denn sie machen ja nicht in dem 17-stöckigen Hochhaus Urlaub, sondern in einem hübschen Hotel, in dem es keine Terroristen gibt.

Cemile Sahin hat versucht, die Verheerungen einzufangen, die das Foltern, Bespitzeln, Erschießen und Erniedrigen in denjenigen auslöst, an denen es angewandt wird. Was macht es aus jemandem, wenn sein Großvater mit dünnen Seilen, mit denen man Schaden anrichten kann, an einen Baum gefesselt und abgeknallt wurde wie ein Hund? Was macht es mit Familien, die auseinandergerissen werden, und bei denen die einen nicht wissen, wo die anderen sind? Was macht es mit einem, die Gebeine der toten Mutter in einem Plastiksack herumzuschleppen? Und was kann noch aus jemandem werden, der gezwungen wurde, eine Ratte zu fressen?

„Alle Hunde sterben“ spielt in einem Land, das zu einem Knast geworden ist. Einem Land, in dem nicht nur der wirkliche Knast oder das 17-stöckige Hochhaus, in dem niemand aus freien Stücken lebt, ein Knast sind, sondern jeder Milimeter seines Territoriums. „Die Zukunft ist klein, und das Gefängnis ist groß“, sagt eine der Protagonist*innen.

Ein solches Land muss paranoid sein. „Denn jeder Anzug könnte zu einem Spitzel gehören, da jeder Anzug auf einem Spitzel sitzt. Und jeder Spitzel ist ein Mann im Anzug, der womöglich aus einem Auto gestiegen ist.“ Wo die Spitzel sind, sind die Soldaten nicht weit. Und die kommen dann nachts und treten Türen ein, aber man ist natürlich auch tagsüber nicht sicher, denn wer nachts kommt, kann auch tagsüber kommen. Die Soldaten in dem Roman sind wie eine Plage. Sie fallen ein und zerstören. Sie zerstören Häuser, Dörfer, Gräber, Menschen.

Das zu lesen, ist beklemmend. Es ist eine Qual und was anderes als eine Qual könnte es sein? Es ist eine Qual vor allem deshalb, weil man sich eben nicht daraus retten kann, indem man sich sagt: Es ist ja nur ein Roman. Weil es halt nicht nur ein Roman ist, sondern all das wirklich passiert. Der Nationalismus existiert wirklich, der Faschismus existiert wirklich, seine Soldaten existieren wirklich und die Menschen, die als Terroristen zu Freiwild erklärt werden, existieren auch wirklich.

Insofern ist Sahins Buch nicht einfach eine kunstvoll gemachte Erzählung. Es ist wirklich gute Literatur, aber nicht aus den Gründen, die im bürgerlichen Feuilleton angeführt werden, der immer so tut, als sei Literatur eine Art Rotwein, den man schwenkt, an ihm riecht, den Gaumen runterschüttet und danach sagt: Ah, das hat der Winzer aber vorzüglich gemacht, ich nehme drei Kisten. Die eigentliche Pointe des Buches liegt jenseits der Druckseiten in der Wirklichkeit. Denn das Buch stellt die unausgesprochene Frage: Was hast DU eigentlich getan, damit das aufhört?

#Titelbild: Zehra Dogan; Bildquelle: ANFenglish

Cemile Sahin / Alle Hunde Sterben / Aufbau Verlag / 239 Seiten / 20,00 €

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Die Verdrängung selbstverwalteter Freiräume in Berlin geht weiter. Nach der brutal durchgesetzten Räumung der Kiezkneipe Syndikat im August diesen Jahres soll am 9. Oktober das seit 30 Jahren existierende anarcha-queer-feministische Hausprojekt Liebig 34 verschwinden.

Das Lower Class Magazine sprach mit Laura vom Kollektiv des Hauses über staatliche und mediale Repressionen, Verteidigungsstrategien und die Zukunftsaussichten des Kollektivs und bedrohter Projekte.

Kannst du kurz umreissen, wie sich die „rechtliche“ Situation des Hausprojektes Liebig 34 darstellt und was das Räumungsurteil vom 3. Juni diesen Jahres eigentlich bedeutet?

Laura: Der Unternehmer Gijora Padovicz hat im Jahr 2008 beim Erwerb des Hauses einen Gewerbevertrag mit dem Raduga e.V. abgeschlossen. Dieser Verein hatte dann zehn Jahre lang das Haus angemietet – mit einem Gewerbevertrag wohlgemerkt, nicht mit einem Mietvertrag. Nach dem Auslaufen dieses Vertrages ist der Mittendrin e.V. als Untermieter in die Räume gegangen. Das Räumungsurteil vom 3. Juli 2020 ist jedoch gegen den Raduga e.V. ausgesprochen worden, welcher seit zwei Jahren gar nicht mehr in den Räumen ist. Weder unsere gerichtliche Anfechtung gegen den Gewerbevertrag, noch die Tatsache, dass es gegen den aktuellen Mieter Mittendrin e.V. gar keinen Räumungstitel gibt, haben Landgericht und Bullen davon abgebracht, diese illegale Räumung jetzt vorzubereiten und mit allen Mitteln durchführen zu wollen.

Ihr habt euch mit anderen bedrohten Projekten wie der Meuterei, der Potse und der Kiezkneipe Syndikat in der Interkiezionalen zusammengeschlossen. Der „Sommer der Räumungen“ stand allen bevor, nun ist das Syndikat geräumt worden, Potse und Meute erwarten nahezu täglich ihren Räumungstermin. Wie hat sich dieser Sommer für euch angefühlt? Hattet ihr als Projekt oder die Bewohner*innen mit besonderen Repressionen zu kämpfen?

Dieser „Sommer der Räumungen“ bedeutete zunächst für uns und die Bewohner*innen und Aktivist*innen der bedrohten Projekte, dass auf allen Ebenen einfach unglaublich viel zu tun war und immer noch ist. Einerseits weil wir unsere Projekte und Freiräume verteidigen müssen, andererseits weil auch generell eine große Repressionswelle auf autonome Strukturen und die ihnen solidarischen Menschen losgerollt ist in diesem Jahr, zuletzt ja mit diesen konstruierten §129er-Verfahren. Das hat sich bei uns im alltäglichen Leben noch verschärft geäußert, da wir ja in einem „Gefahrengebiet“ leben. Wir sind Nachbar*innen der Rigaer 94 und werden medial immer wieder als „Symbolprojekte der linken Szene“ dargestellt. Bullen, die hier durch die Straßen fahren und einzelne Bewohner*innen schikanieren und nerven, sind leider ganz normal. Was uns eher beschäftigt, ist die mediale Hetze, die seit einiger Zeit auf Hochtouren läuft. Neben regelmäßigen Artikeln in der BZ gab es zuletzt im rbb-Magazin Kontraste einen schlimmen Beitrag von u.a. Jo Goll, der ja schon seit Jahren gegen die Projekte in der Rigaer Straße hetzt. Dort ist zum Beispiel von „Funktionär*innen“ und „Vereinschefs“ der Liebig 34 die Rede, welche dann im Beitrag an den Pranger und bloß gestellt werden.

Gestern saßen wir zusammen und haben wieder gedacht: Wöchentlich kommen neue Stories von rechten Strukturen bei den (Berliner) Bullen ans Licht und die Stadt Berlin, die sich mit seiner LGBTQ-Freundlichkeit international vermarktet, hat nichts besseres zu tun, als ein queer-feministisches Hausprojekt zu räumen. Völlig absurd!

Gentrifizierung, hohe Mieten und Verdrängung emanzipatorischer Räume sind seit Jahren zentrale Themen in Berlin. Vom rot-rot-grünen Senat ist für Mieter*innen und Bewohner*innen keine Unterstützung zu erwarten, der Ausverkauf der Stadt und ihre Umwandlung zugunsten kapitalistischer Interessen geht ungehindert weiter. Wie beurteilst du die Chancen der häufig auf Verteidigung und Widerstand fokussierten Kämpfe und Strategien der Mieter*innen und der bedrohten Projekte? Sollte vielleicht mehr versucht werden, offensiv stadtpolitische Alternativen aufzuzeigen und zu etablieren?

Natürlich ist es perspektivisch wichtig aus der Defensive zu kommen und auch wir diskutieren immer wieder Wege, wie wir in die Offensive gelangen, wie wir angreifen und den Begriff der Solidarität mit Leben füllen können und es dabei auch schaffen, dass die Verantwortlichen für diese Zustände zur Rechenschaft gezogen werden.

Ich denke, das Spannende an der Liebig 34 als anarcha-queer-feministischem Hausprojekt ist, dass wir nicht nur ein Ort sind, der verteidigt werden muss, sondern auch ein Ort, in dem schon ein Stück weit Ideen von einer befreiten Gesellschaft wirklich gelebt werden. Wir sind ein Haus, in dem Menschen leben, die sonst nicht zu den Gewinner*innen in diesem System zählen und von patriarchalen Strukturen in ihrem Alltag betroffen sind. Hier können sie gemeinsam Ideen entwickeln, sich organisieren und sich politische Handlungsfähigkeit aneignen. Das heisst: Wir sind natürlich in der Verteidigung aber wir haben dabei auch schon immer versucht, etwas Positives zu erschaffen.

Wie blickt ihr als queer-feministisches Projekt auf Erreichtes zurück und vor allem: wie kann oder muss es für euch weitergehen?

Ich glaube, wir haben nicht nur als Hausprojekt, sondern auch als Feminist*innen in den letzten Jahren schon sehr viel geschafft. Superviele feministische Diskurse sind – auch in autonomen Kreisen – sehr wichtig geworden, einige antifeministische Akteur*innen konnten entlarvt und zur Rechenschaft gezogen werden und viele der an uns gerichteten Solidaritätsbekundungen kommen mittlerweile von autonomen FLINT*-Gruppen. Ich denke, wir haben dazu beigetragen und werden das auch in Zukunft tun, dass innerhalb der gesellschaftlichen feministischen Debatten und Bewegungen auch ein Feminismus diskutiert wird, der nicht auf Kuschelkurs mit kapitalistischen Zwängen und Standards geht, sondern sich eben ganz klar antipatriarchal und antikapitalistisch positioniert und in den Angriff geht. Davon ausgehend glauben wir daran, dass ein Antigentrifizierungskampf auch ein antipatriarchaler sein kann und muss.

Und wie geht es für euer Kollektiv weiter, sollte die Räumung am 9. Oktober wie von den staatlichen Schergen geplant ablaufen?

Wir werden definitiv weiter als Kollektiv bestehen und arbeiten. Zunächst müssen wir jedoch unsere ganze Energie und Kraft der kommenden Woche und der Verteidigung unseres Freiraumes widmen.

Die Räumung des Syndikats wurde zuletzt mit äußerster Brutalität und einem massiven Aufgebot an Cops durchgesetzt. Der Schillerkiez in Neukölln wurde zur „Sicherheitszone“ erklärt und weiträumig abgesperrt, solidarische Anwohner*innen wurden schikaniert und drangsaliert. Wie wollt ihr mit dem zu erwartenden Bullenwahnsinn umgehen und der geplanten Räumung etwas entgegensetzen?

Wir versuchen, da realistisch zu bleiben mit unseren Einschätzungen. Es steht ja bereits fest, dass zwei Tage zuvor hier eine „rote Zone“ eingerichtet wird, die den ähnlichen Bereich umfasst wie bei der Räumung der Liebig 14. In diesen Bereich zu kommen ist praktisch unmöglich. Natürlich haben wir uns schon Gedanken gemacht, alternative Strategien entwickelt und rufen zu dezentralen Aktionen auf, sowohl am Tag selbst aber auch davor und danach.

Am Abend des 9.10. wird es eine Demo der Interkiezionale geben, die hoffentlich kraftvoll auf die Räumung antwortet. Ansonsten versuchen wir auch schon vorher Druck aufzubauen: es gab am Sonntag ein kulturelles Event auf dem Dorfplatz, Dienstag halten wir eine Pressekonferenz ab, abends wirds eine Nachbar*innendemo geben, jeden Abend versuchen wir, eine Küfa zu stellen – es ist jetzt eigentlich jeden Tag viel Programm.

Im Gegenzug sind die Bullen ja auch schon an die Kindergärten und Schulen hier im Kiez herangetreten mit der „Empfehlung“, diese mindestens am 9. und auch schon die Tage davor dicht zu machen. Wir rechnen damit, das die Maßnahmen auch noch anziehen werden, obwohl es die letzte Zeit vergleichsweise ruhig war. Aber spätestens ab Donnerstagmorgen mit Absperrung der „roten Zone“ wird der Kiez und seine Anwohner*innen mit Platzverweisen und Kontrollen schikaniert werden. Deshalb wollen wir alle solidarischen Menschen auch erst in der Nacht von Donnerstag auf Freitag final mobilisieren um die Räumung zum Desaster zu machen!

# Titelbild: Liebig34

Mehr Infos:

http://liebig34.blogsport.de/
https://defendliebig34.noblogs.org/
https://interkiezionale.noblogs.org

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In Slowenien finden seit Ende April Großdemonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen der Regierung statt. Das LCM sprach mit Ramona, Anarchistin aus Ljubljana. Im ersten Teil des Interviews ging es darum, wie die Proteste entstanden sind und was die Leute auf die Straße treibt. Im zweiten Teil geht es um Verschwörungstheoretiker*innen, die gelebte Solidarität während der Aktionen und was es bedeutet über Monate hinweg an Massenprotesten beteiligt zu sein.

Die deutschen Corona-Proteste werden von Faschisten und Verschwörungstheoretikern dominiert. Spielt dies auch bei den Protesten in Slowenien eine Rolle?

Du erinnerst dich sicher noch daran, was 2013 in der Ukraine passiert ist. Mir und vielen Leuten hier sind die Worte eines Genossen in Erinnerung geblieben: „Wir waren nicht die Ersten auf dem Platz. Und weil wir später nicht zahlreich genug waren und uns nicht voll in diesem Kampf wiedererkannten, konnten andere – einschließlich der Faschisten und Nationalisten -die Oberhand gewinnen.“ Ich denke, das ist eine Lektion an die man sich erinnern sollte. Natürlich gibt es Kämpfe in denen wir uns nicht wiederfinden können, in denen die Kräfte gegen unsere Ideen einfach zu stark sind. Aber es gibt Kämpfe die wir beginnen können. Und diese Protestwelle wurde von einer Front von Antiautoritären, Anarchisten und Antifaschisten initiiert. Deswegen mussten alle anderen für einen Raum kämpfen den wir bereits mit unseren Ideen, mit unseren Botschaften, mit unseren Slogans, mit unseren Transparenten, mit unseren Leuten bewohnten. Deswegen sind sie einfach irrelevant. Denn das, was die Menschen zum Kampf gegen die autoritären Maße des Staates inspirierte, wurde von dieser Art antifaschistischer, antiautoritärer Botschaften beherrscht. All die Impfgegner und die Leute die sich mit diesen Verschwörungstheorien beschäftigen, wie z.B. das Virus sei nicht real und so weiter, hatten einfach keinen Boden auf dem sie operieren konnten. Sie wurden von Anfang an ausgegrenzt. Natürlich sind sie präsent, aber wir sprechen hier von einem so unbedeutenden Prozentsatz an Menschen, dass es sehr schwer vorstellbar wäre, dass sie entweder den öffentlichen Raum oder das öffentliche Bild der Proteste übernehmen könnten. Und dies ist eine weitere Lektion die wir lernen müssen: Manchmal kann man sich Kämpfen nicht entziehen, auch wenn sie uns nicht so wichtig sind. Also nehmen wir anderen Menschen die sonst auf die Straße gehen würden einfach die Luft zum Atmen .

Wie ging der Protest dann weiter?

Was die ersten Monate der Proteste wirklich prägte, war die Struktur die auf den Straßen geschaffen wurde und sich als wirklich produktiv erwies. Die antiautoritären und anarchistischen Initiativen schlossen sich zu einem antikapitalistischen Block zusammen. Bald schlossen sich ihnen ein Block von Kulturschaffenden und der Umweltblock an. Diese verschiedenen Blöcke unterstützten sich gegenseitig und waren in der Lage, verschiedene Themen gleichzeitig, von unten und ohne politische Parteien, anzugehen.

Das war sehr interessant und wichtig, als die Repression wirklich begann. Denn nach zwei Wochen begann die Polizei mit einer anderen Art der Repression, die wir vorher noch nicht gesehen hatten. Wir sind daran gewöhnt, dass die Robocops bei Riots da sind. Aber die Menge der Polizei die auf den Straßen anwesend war, war bei unseren Demonstrationen beispiellos. Es erinnerte uns an Gipfeltreffen; das Stadtzentrum war komplett blockiert. Besetzte Häuser wurden ständig überwacht, die Polizei versuchte zu verhindern, dass Menschen zu den Demonstrationen kommen. Sie nahmen bekannte Aktivisten ins Visier um sie daran zu hindern, sich den Protesten anzuschließen und stoppten wahllos Leute die sie für verdächtig hielten. Und nicht die gewöhnliche Polizei. Wir sprechen hier von Robocops, weit abseits der Proteste, was vorher nicht der Fall war. Eine große Anzahl von Menschen wurde von der Polizei schikaniert, angehalten und durchsucht. All das machte die Leute wütend und beunruhigte sie.

Der „schwarze Block“ – der, wie wir in den USA und anderswo gesehen haben als „Antifa“ bezeichnet wurde, wurde sehr schnell zum Staatsfeind erklärt. In der fünften Woche der Proteste gab es einen Konflikt zwischen dem schwarzen Block und der Polizei. Interessant war zu diesem Zeitpunkt, dass als dieser Konflikt ausbrach, andere Leute nicht zurückwichen. Denn zu diesem Zeitpunkt war klar, dass es die Anarchisten waren, dass es die Antifaschisten und Antiautoritäre waren, die von Anfang an dabei waren. Die Menschen kannten ihre Agenda und ihre Propaganda und kannten sie auch aus früheren Kämpfen. Sie wurden also nicht als das fremde Element der Proteste gesehen, wie wir es sonst oft in dieser Debatte „Gewalt gegen keine Gewalt“ sehen. Die Menschen schützten Menschen, die Schwarz trugen. Es ging so weit, und das ist wegen der drei Blöcke die ich vorhin erwähnt habe relevant, dass bei der nächsten Demonstration alle drei Blöcke erklärten, dass der Dresscode der Demonstration schwarz ist. Die Menschen haben sich also massiv schwarz gekleidet, um ihre Solidarität mit dem schwarzen Block zu bekunden, der zu dieser Zeit nicht nur von der Polizei, sondern auch von der rechtsextremen Presse und der Regierung auf Twitter usw. angegriffen wurde.

Dann fing langsam der Sommer an. Und es wurde klar, dass die Regierung zunächst einmal darin versagt hatte, uns zu unterdrücken. Denn je mehr die Polizei in die Proteste eingriff, desto wütender wurden die Menschen und desto mehr Menschen kamen. Und dann gelang es ihnen nicht, uns zu spalten, denn die alte Trennung zwischen den guten, friedlichen Demonstranten und den schlechten, ungezogenen und gewalttätigen Demonstranten scheiterte ebenfalls. Dann begannen sie mit der dritten Option: Sie mobilisierten eine kleine Anzahl organisierter Neonazi-Gruppen von Blood&Honour und anderen, die – und das wurde in der Vergangenheit nachgewiesen – eine Verbindung zu der Partei haben, die gerade an der Regierung ist. Und wieder sind sie gescheitert. Weil sie durch die schiere Zahl der Menschen und auch durch die antifaschistische Haltung der Leute vertrieben wurden. Als all diese also Dinge scheiterten, hat die Regierung glaube ich einfach damit begonnen darauf zu warten, dass die Menschen müde werden.

Werdet ihr müde?

Wir müssen uns daran gewöhnen, dass wir als der aktivere Teil der sozialen Bewegung herausfinden müssen, wie wir unsere Widerstandskraft sowohl gegenüber Repression als auch gegenüber Erschöpfung erhöhen können. Wir müssen uns überlegen, wie wir ständig mobilisiert sein können. Als soziale Bewegung müssen wir uns der Herausforderung stellen. Wir haben erkannt, dass wir andere Wege finden müssen, um sowohl füreinander zu sorgen als auch gemeinsam gefährlich zu sein. Denn die Regierungen, der Kapitalismus und andere Systeme der Unterdrückung werden einfach nicht aufhören. Und wir nähern uns mehr oder weniger der Tatsache, dass der historische Kompromiss mit der Arbeiterklasse, der zumindest in Europa zu einem Wohlfahrtsstaat geführt hat, vorbei ist. Und dass die einzige Option für die Fortsetzung eines Wohlfahrtsstaates in der Illusion besteht, dass dies nur noch für eine kleine, abgeschottete Gemeinschaft meist weißer, gebildeter und privilegierter Menschen im Westen auf Kosten aller, die sich außerhalb der europäischen Grenzen aufhalten, möglich ist.

Es wird immer mehr Spaltungen in der Gesellschaft geben, wir sind mit dem globalen Trend zur extremen Rechten konfrontiert. Und das alles sind Herausforderungen, die unsere Aufmerksamkeit und unsere Organisierung erfordern. Wir können also nicht einfach von ein paar Wochen oder ein paar Monaten des Protests müde werden, wir müssen neue Wege finden, um die politischen Konflikte zu erhalten. Denn es besteht die Gefahr, dass jeder Protest der lange andauert, zum Ritual wird, dass er sich wiederholt und es an politischem Konflikt mangelt. Es ist schwierig, Konflikte so lange zu führen, besonders in kleineren Ecken wie Ljubljana wo immerdie gleichen Leute gegen die gleichen Polizisten protestieren. Das sind alles sehr realistische Herausforderungen, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen. Aber als Anarchisten ist es wichtig, dass wir Teil dieser Versuche ,zu zeigen was es bedeutet zu kämpfen, sind. Denn die Situation mit Covid wird nicht verschwinden, und je mehr wir mit ihr konfrontiert werden, desto entbehrlicher wird unser Leben. Denn das Kapital wird sich einen weiteren Lockdown nicht mehr leisten können, was bedeutet, dass wir sterben werden. Und in Momenten wie diesem ist es umso wichtiger, neue Verbindungen auf der Straße zu knüpfen; neue Verbindungen zwischen Bewegungen, neue Verbindungen zwischen Initiativen. Und zu versuchen, eine verlässliche, selbstorganisierte Struktur gegenseitiger Hilfe zu schaffen und gleichzeitig dafür zu sorgen, dass die Staaten in Schach gehalten werden, mit dem was sie unter dem Vorwand dieser Covid-Krise tun.

Versucht ihr mehr Menschen zu organisieren? Oder passiert es schon, dass sich Menschen bestehenden Organisationen anschliessen?

Mit jedem Augenblick werden neue Menschen mobilisiert. Es ist der beste Weg, Menschen in Strukturen zu mobilisieren, aber natürlich müssen diese Strukturen auch vorhanden sein. In Ljubljana sind wir sehr privilegiert, da wir zwei Squats haben die Orte der Organisation radikalen Denkens und radikaler Praxis sind, nicht nur jetzt, sondern generell. Ich denke, es ist wichtig, diese Strukturen zu erhalten und viel mehr autoritäre Strukturen wie z.B. politische Parteien aus diesen Protesten herauszuhalten. Natürlich haben sie einen großen Appetit, die Früchte unserer Arbeit zu ernten. Aber wir haben es geschafft, dass dies Proteste keine Sachefür politische Parteien sind.t

Davon abgesehen zeigen wir in der Praxis, wie wir uns eine andere Art von Kollektivität vorstellen können. Was bedeutet es eine selbstorganisierte Nahrungsmittelversorgung und -produktion zu haben, was bedeutet es ein Zuhause zu haben, für das man keine Miete zahlen muss, was bedeutet es andere Strukturen zu haben, um unsere emotionalen Bedürfnisse zu befriedigen, die normalerweise etwas sind, bei dem sich die Menschen entweder auf den Staat oder das Kapital oder die patriarchale Institution Familie verlassen, um sie zu befriedigen. Das sind Herausforderungen mit denen wir alle fertig werden müssen.

Und sie werden in Zeiten der Mobilisierung oft vergessen. Denn während einer Mobilisierung liegt der Fokus auf den Straßen. Aber wir müssen lernen, dasswenn wir Squats verlieren, wenn wir in der Bewegung Orte verlieren, bei denen es sich anfühlt, als sei ihre Aufrechterhaltung eine Zeitverschwendung oder eine sehr konfliktfreie oder nicht radikale Art, Politik zu machen; wenn es also zu einer Situation kommt, wie wir sie jetzt gerade haben, dann wird einem erst klar wie wichtig diese Strukturen sind. Und ich spreche über alles, von besetzen Häusern über öffentliche Küchen bis hin zu unabhängigen Medien. All das. Denn mit dieser Infrastruktur können wir den Menschen tatsächlich zeigen, was es bedeutet sich anders zu organisieren, so dass sie sich inspirieren lassen und es selbst tun oder sich bestehenden Strukturen anschließen können. Ohne diese Strukturen wäre es jetzt kompliziert oder unmöglich, das Tempo und die Intensität beizubehalten, die wir gerade erleben. Um ehrlich zu sein, es wäre unmöglich. Es ist also klar, warum der Staat manchmal ein viel größeres Interesse daran hat uns aufzuhalten und unsere Projekte und unsere Infrastruktur zu zerstören, als dass wir Interesse haben sie aufrecht zu erhalten und pflegen. Aber in Zeiten, in denen wir nicht über eine so hohe Mobilisierung verfügen, ist es wichtig an der Erhaltung und Öffnung neuer Strukturen zu arbeiten, denn siespielen eine wichtige Rolle, wenn es heiß wird.

# Titelbild: Črt Piksi, Demo in Ljubljana

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Kriminelle Vereinigungen gibt es hierzulande zuhauf. Da wären zum Beispiel VW, DFB, ADAC und Wirecard, um nur einige wenige zu nennen, die zuletzt mit mafiösen Machenschaften aufgefallen sind. Hier und da wird sogar gegen die Verantwortlichen ermittelt, aber dass etwa beim früheren VW-Boss Martin Winterkorn SEK-Polizisten mit Maschinenpistolen im Anschlag die Tür eingetreten haben, ist bisher nicht bekannt geworden. Wer dagegen die Welt, die offenbar von derartigen Verbrecherorganisationen beherrscht wird, verändern will, der bekommt frühmorgens Besuch von schwer bewaffneten Kommandos – wie Aktivist*innen der Gruppe Roter Aufbau Hamburg am 31. August.

Tatsächlich sind die Razzien gegen 22 Beschuldigte nach Informationen des Lower Class Magazine von der Staatsanwaltschaft Hamburg mit dem Paragraphen 129 begründet worden, also dem Vorwurf der „Bildung einer kriminellen Vereinigung“, und nicht dem 129a, der sich gegen die „Bildung einer terroristischen Vereinigung“ richtet. Der erste Absatz des Paragraphen 129 lautet: „Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer eine Vereinigung gründet oder sich an einer Vereinigung als Mitglied beteiligt, deren Zweck oder Tätigkeit auf die Begehung von Straftaten gerichtet ist, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren bedroht sind.“

Um diesen Vorwurf zu untermauern bezieht sich die Staatsanwaltschaft in den Beschlüssen für die Durchsuchungen auf angebliche Straftaten der 22 Aktivist*innen. Dabei geht es einmal um den Brandanschlag auf zwei Privatfahrzeuge des Hamburger Polizeidirektors Enno Treumann am 23. September 2016 vor dessen Haus im Norden der Stadt. Zum zweiten wird einem Teil der 22 Beschuldigten vorgeworfen, bei der Demonstration im Industriegebiet Rondenbarg am ersten Tag des G-20-Gipfels am 7. Juli 2017 dabei gewesen zu sein. Über 80 Teilnehmer*innen des Aufzugs sollen demnächst für das Mitlaufen bei der Demo vor Gericht gestellt werden. Darüber hinaus sollen Aktivist*innen bei Demonstrationen zu Gewalt aufgerufen haben. Auch Aktionen gegen Faschist*innen sind den Ermittler*innen offenbar ein Dorn im Auge.

Ob das Material, welches die Staatsanwaltschaft gesammelt hat, für eine Anklage nach dem Paragraphen 129 StGB überhaupt reichen wird, ist dem Vernehmen nach noch völlig unklar. Das hängt offenbar auch davon ab, was die Staatsanwaltschaft noch an Informationen in der Hinterhand hat. Polizei und Justiz gehen in diesem Fall wie so oft nach der Devise vor: Erstmal gucken, was wir bei den Razzien finden und dann sehen wir mal, was daraus gebastelt wird. Der Paragraph 129 resp. der 129a des Strafgesetzbuches gilt nicht umsonst als Schnüffelparagraph.

Im dritten Absatz des Paragraphen 129 heißt es, dass der oben zitierte Absatz 1 nicht anzuwenden ist, „wenn die Begehung von Straftaten nur ein Zweck oder eine Tätigkeit von untergeordneter Bedeutung ist“. Das ist beim Roten Aufbau erkennbar der Fall. Selbst wenn die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft sich bewahrheiten würden, wäre die Gruppe immer noch keine Vereinigung, deren Zweck auf die Begehung von Straftaten ausgerichtet ist. Sondern die betreffenden Taten wären Mittel zum Zweck, der beim Roten Aufbau tatsächlich im Zentrum steht: die Überwindung eines menschenverachtenden Systems, das über Leichen geht. Abgesehen davon wären militante Aktionen, vorausgesetzt es hat solche gegeben, nur ein vermutlich kleiner Teil der Aktivitäten des Roten Aufbau. Viel mehr Raum nimmt die politische Bildungsarbeit ein, Verbreitung von Erklärungen und Öffentlichkeitsarbeit, Demonstrationen et cetera pp. Im Kulturladen der Gruppe „Lüttje Lüüd“ (plattdeutsch für „kleine Leute“) macht man offene Stadtteilarbeit, veranstaltet Vorträge und mehr. All dies ist nicht strafbar – oder eben doch, wenn die Überschrift dieser Aktivitäten ist, dass man eine gerechte Gesellschaftsordnung anstrebt.

Es ist offensichtlich: Die Razzien und das Ermittlungsverfahren dienen den Repressionsbehörden vor allem dazu, eine Gruppe, die seit über zehn Jahren eine gute Aufbauarbeit leistet und in der sich hauptsächlich junge Menschen für eine andere Welt einsetzen, zu stigmatisieren und unter Druck zu setzen. In der Öffentlichkeit soll der Rote Aufbau als klandestine Truppe vermummter „Chaoten“ hingestellt werden, um potentielle Anhänger der Gruppe abzuschrecken.

Damit wird auch die gesamte radikale Linke unter Generalverdacht gestellt.

Eine kraftvolle Antwort ist nötig! Am morgigen Sonnabend ist die Gelegenheit dazu, wenn der Rote Aufbau zu einer Demonstration unter der Überschrift „Standhalten gegen Repressionswelle & Klassenjustiz – gegen § 129/a/b“ mobilisiert, um 18 Uhr auf der Reeperbahn.

Im Aufruf zur Demo heißt es: „Der Wunsch nach einer anderen Welt treibt uns an und wird immer stärker sein als ihre Repression, wenn wir als linke Bewegung es schaffen trotz all unserer Differenzen zu verstehen, dass aktuell nicht nur eine Gruppe im Fokus steht, sondern die gesamte linke Praxis und weite Teile der Bewegung. Es ist Zeit aus seiner spezifischen linken Blase auszubrechen und zu verstehen, dass wir die ersten sind, aber wenn wir uns nicht zusammen dagegen wehren, wohl nicht die Letzten sein werden, die sie mit solchen Vorwürfen kriminalisieren. Unsere Solidarität wird ihrer Repressionswelle standhalten.“

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Am 28. Juli endete der Münchener Kommunistenprozess gegen 10 Linke aus der Türkei mit langjährigen Haftstrafen. Vorgeworfen wurde den Angeklagten dabei keine konkrete Straftat, sondern lediglich die Mitgliedschaft in der TKP/ML (Kommunistische Partei der Türkei/ML), die vom faschistischen Erdogan-Regime verfolgt wird. Wir trafen uns mit Süleyman Gürcan, Ko-Vorsitzuender der Konföderation der Arbeiter aus der Türkei in Europa (ATIK) und sprachen mit ihm über den Prozess.

In den vergangenen Jahren häuften sich Fälle staatlicher Verfolgung von türkischen Oppositionellen in Deutschland. Du hast den Prozess in München intensiv verfolgt, wie geht es den verurteilten Genoss*innen und wie bewertest Du den Ausgang des Prozesses?

Den Genoss*innen geht es sehr gut. So wie Müslüm Elma es am Anfang seiner letzten Rede vor Gericht gesagt hat: „Wir kommen aus einer Tradition des Widerstands“. Deswegen haben wir auch immer gesagt, wir kommen aus der Türkei und Kurdistan und dort gehören Tötungen, Massaker und Gefängnis zu unserer Geschichte. Ob es nun hier oder in der Türkei ist, Gefängnis macht uns nichts aus und wir leisten unseren Widerstand. Deutschland ist ein imperialistischer Staat. Die Türkei ist ein faschistischer. Ihre antikommunistische, konterrevolutionäre und gegen die Linke gerichtete Politik eint sie. Als Revolutionär rechnet man eben damit, in den Kerkern der Imperialisten und Faschisten zu landen, das gehört zu diesem Kampf dazu.

Deswegen haben unsere Genoss*innen auch vor Gericht von Anfang an zusammengehalten und gekämpft. Anfangs hatten wir etwas Sorge um Haydar B. Er ist etwas älter, im Gefängnis ist er 72 geworden. Auch der Hauptangeklagte Elma Müslüm war zuvor bereits 22 Jahre lang in der Türkei im Gefängnis, unter anderem im Gefängnis von Diyarbakir, in dem auf grauenvollste Art gefoltert wurde. Seine Gesundheit ist in Folge der Folter angeschlagen, umso mehr bereitete uns seine gesundheitliche Situation gerade im Kontext der aktuellen Pandemie und der verweigerten Haftentlassung Sorge. Zum Glück ist aber nichts passiert und es geht allen gesundheitlich gut.

Dieses Verfahren war ein Mammutprozess gegen die TKP/ML (Kommunitische Partei der Türkei/ Marxist-Leninist), weil sie seit Jahren zusammen mit der kurdischen Bewegung und anderen revolutionären Organisationen gegen den Faschismus in der Türkei kämpfen. Der Prozess wurde auch von Anfang an auf zwei Weisen begründet: Einmal, dass die TKP/ML eine kommunistische Partei ist, die eine Diktatur des Proletariats verteidigt. Und zum anderen wegen ihrer Zusammenarbeit mit der kurdischen Freiheitsbewegung. Deswegen ist dieser Prozess nicht nur gegen die TKP/ML, sondern gegen alle Kommunist*innen und insbesondere alle revolutionären Kräfte gerichtet, die in der Türkei den Kampf der kurdischen Bewegung unterstützen.

Der Prozess hat auch das Ziel, die Grundlage zu bieten, um vielleicht in Zukunft die TKP/ML zu verbieten oder die Unterstützung der TKP/ML durch Genoss*innen zu verhindern. Aber wir glauben nicht, dass sie das so einfach schaffen werden. Auch die letzten 5,5 Jahre also seit den Festnahmen im April 2015, haben gezeigt, dass es eine große Solidaritätskampagne gab. Auf internationaler Ebene wurde der Widerstand unterstützt, bis hin zu Aktionen in Brasilien oder auch in Mexiko, also weit über Europa hinaus. Aber auch hier waren viele aktiv auf der Straße, um den Widerstand der angeklagten Genoss*innen zu unterstützen.

Wenn ich mich nicht täusche ist die TKP/ML auf keiner Terrorliste, sie ist in Deutschland nicht verboten und den Angeklagten wurde auch keine einzige konkrete Straftat vorgeworfen. Ist der Prozess ein politisches Geschenk der BRD an die Türkei?

Ja, Du hast recht. Die TKP/ML ist außerhalb der Türkei nirgendwo verboten, sie steht auf keiner Terrorliste. Es gab auch keine konkreten Vorwürfe, die sich auf eine Veranstaltung oder Aktion bezogen hätten. Der einzige Vorwurf war, dass die Angeklagten zum Auslandskomitee der TKP/ML gehören würden. Ihre Aktivitäten umfassten aber nur Veranstaltungen zu Ibrahim Kaypakaya, Seminare, die in den Vereinen organisiert wurden und Demonstrationen. Wegen dem Terrorparagraphen 129 a/b aber können Personen, die angeblich Mitglied einer Organisation sind, die in einem anderen Land, Aktionen macht, allein wegen der angeblichen Mitgliedschaft verurteilt werden.

Das heißt, es gab keine direkten Vorwürfe an die Genoss*innen, sondern es wurde ihnen vorgeworfen, die Aktionen der TKP/ML und ihre Guerillaorganisation TIKKO in der Türkei zu unterstützen. Aber wie du gesagt hast, TKP/ML ist nirgendwo verboten. Und auch das Gericht hat Gutachter beauftragt, die selbst zu dem Schluss kamen, dass Vorwürfe, die Partei sei eine Terrororganisation, unhaltbar sind und dass es sich um eine Kommunistische Partei handelt. Die Zusammenarbeit des deutschen und türkischen Staates spielen in diesem Prozess eine große Rolle.

Die enge Kollaboration der Sicherheitskräfte und Nachrichtendienste der Türkei und Deutschlands hat ja eine lange Tradition. Wie bewertest Du die Rolle dieser historischen Beziehungen im Kontext der aktuellen Repression?

Schon Gesetze wie die Terrorparagraphen 129 a/b sind nichts Neues in Deutschland – die Tradition geht weit zurück bis zu den Sozialistengesetzen 1878 im Kaiserreich oder die Kommunistenprozesse 1852 in Köln. Ein Jahrhundert später dann das Verbot der KPD und die Berufsverbote. Das alles gehört zusammen, es ist eben ein weiterer, vor allem antikommunistischer Paragraph der Gesinnungsjustiz. Und die deutsche Staatsdoktrin ist seit Jahren antikommunistisch und antilinks, deswegen gab es auch immer solche Verfahren und Festnahmen. Aber mit der Kriminalisierung ausländischer Organisationen als „Terrororganisationen“, also der Erweiterung von 129a zu 129a/b, hat das eine neue Qualität bekommen.

Es hat zuerst 1993 mit einem großen Verfahren in Düsseldorf gegen die Arbeiterpartei Kurdistans PKK angefangen. Ähnlich wie heute bei der TKP/ML wurden auch damals zuerst Genoss*innen der PKK verurteilt und danach kam das PKK-Verbot. Ende der 90er gab es dann die Verfahren gegen DHKP-C und das anschließende Verbot. Zum Verfahren 1993 muss ich hinzufügen, dass damals Leute vom türkischen Geheimdienst MIT nach Deutschland eingeladen wurden, um Informationen zu teilen. Auch im Verfahren gegen die TKP/ML gab es solche Zusammenarbeit. Zudem ist klar, dass 129a/b politische Paragraphen sind, denn das Verfahren wurde erst durch eine Verfolgungsermächtigung aus dem Justizministerium möglich. Solche Entscheidungen von Ministerien sind politischer Natur, denn beiden Staaten haben eine enge Beziehung zueinander. Müslüm Elma sagte dazu passend in seiner letzten Ansprache vor Gericht: „Zeig mir deine Freunde und ich sage dir, wer du bist!“

Der deutsche und der türkische Staat sind seit Jahrzehnten eng verbündet. Deutschland stand im Hintergrund von fast jedem Massaker, das in der Türkei stattgefunden hat. Angefangen vom Genozid an den Armeniern, der unter deutscher Mittäterschaft stattfand. Beim Massaker an den Kurden 1938 in Dersim war das eingesetzte Giftgas aus Deutschland geliefert worden. Jenseits davon, dass die Türkei in beiden Weltkriegen Deutschland unterstützt hat, ist sie über Jahrzehnte hinweg, bis heute einer ihren größten Waffenkäufer. 2016 hab ich eine Recherche durchgeführt, dass mehr als 6000 deutsche Unternehmen in der Türkei aktiv sind. Das ist eine große Menge an Kapital, das nach Deutschland fließt, denn in der Türkei lässt sich mit billiger Arbeit viel Gewinn machen. Millionen Menschen arbeiten dort für deutsche Firmen, also gibt es neben den politischen Beziehungen auch eine tiefe wirtschaftliche Verbindung. Deshalb stören sich auch beide Länder daran, wenn es hier Proteste und Veröffentlichungen gibt. Und deshalb gibt es auch regelmäßigen Austausch zwischen den Sicherheitsbehörden. Jedes Quartal gibt es Sitzungen, in denen Informationen zu revolutionären Organisationen ausgetauscht werden.

Nach einer Kleinen Anfrage wurde Auskunft gegeben, dass es Mitte Mai 2014 in Deutschland ein Treffen von MIT und BKA im Rahmen dieser Quartalssitzungen gab, um über die TKP/ML zu sprechen. Dort wurden auch die späteren Festnahmen vorbereitet. Die Türkei hat tausende Seiten sogenanntes „Beweismaterial“ an deutsche Behörden geliefert. Auch durch den MIT illegal in Deutschland gesammelte Informationen wurden dabei verwendet. Dieser gesamte Prozess war eine gemeinsam vorbereitete Aktion.

Wie geht es jetzt für die Genoss*innen weiter?

Juristisch wird gegen das Urteil Revision eingelegt werden. Perspektivisch wird aber die Repression wahrscheinlich weitergehen und auch das, was sie „Nebenorganisationen“ der TKP/ML nennen, so wie ATIK und andere demokratische Massenorganisationen treffen. Wir hoffen es nicht, aber wir erwarten eine solche Entwicklung. Trotzdem werden wir unsere Arbeit weiterführen auch gegen diese Repressionen Öffentlichkeit zu schaffen. Während des Prozesses haben wir es geschafft, gute Öffentlichkeitsarbeit zu der Repression zu machen. Wie Müslüm Elma sagte, Widerstand ist ein Recht und dieses Recht in Anspruch zu nehmen ist kein Verbrechen! Deshalb werden wir auch weiterkämpfen.

Welche Folgen wird diese Repression haben und welche Handlungsmöglichkeiten gibt es für internationalistische und revolutionäre Kräfte, Solidarität zu zeigen? Die Repression ging ja früher gegen PKK und DHKP-C und jetzt TKP/ML.

Sie fangen mit den ausländischen revolutionären Kräften an, aber dann wird es auch vermehrt Repressionen gegen hiesige Organisationen geben, wie wir es bei G20 sehen konnten. Die ganze Bandbreite der Repression kam da zum Vorschein. Solange der Kampf weitergeht, wird es auch die Repressionen von staatlicher Seite geben. Was wir aber in diesem Prozess geschafft haben, ist, dass in mehreren Ländern sich viele Organisationen gegen die Repression zusammengetan haben. Das ist wichtig. Die internationale Solidarität ist in diesem Prozess praktisch geworden. Als am 15. April 2015 diese Festnahmen stattfanden gab es direkt Protestkundgebungen in mehreren Städten Europas, am darauffolgenden Samstag gab es eine Demonstration von 2500 Menschen in Frankfurt. Auch in Basel und Wien gab es Proteste. Später ein Jahr lang, jeden Monat, Kundgebungen vor den 10 verschiedenen Gefängnissen, in denen die Genossen inhaftiert waren! Wie schon gesagt, fanden weltweit Solidaritätsaktionen statt: in Brasilien, Mexiko, Nepal und Griechenland. Es gab ein Zusammenkommen von Marxisten-Leninisten bis Antifas, Soldaritätskommites, internationale Bündnisse und vieles mehr, die sich solidarisch erklärt haben. Perspektivisch sehen wir es so, dass diese gemeinsame Arbeit weiter gehen soll. Nicht nur zu diesem Prozess, sondern allgemein gegen Repression.

Als ATIK hat uns diese Solidarität die Aufgabe gegeben, diese Zusammenarbeit weiterzuführen. Müslüm Elma hat in seiner Rede, als er rauskam, mehrmals betont, dass wir alle zusammen gekämpft haben: „Ihr draußen und wir drinnen“ – und das ist unser gemeinsamer Sieg, denn alle inhaftierten Genossen haben gesagt, dass – obwohl sie keinen direkten Kontakt hatten – sie über die Anwälte von den Solidaritätsaktionen erfuhren und sich somit nie allein gefühlt haben.

Deshalb bedanken wir und bei allen Organisationen und Personen die uns unterstützt haben und führen unseren gemeinsamen Kampf weiter!

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Der Paragraph 129 des Strafgesetzbuches sowie der 129a sind als Gesinnungs- und Schnüffelparagraph bekannt, die von Staatsanwaltschaften und Polizei gern genutzt werden, um linke Gruppierungen zu kriminalisieren, unter Druck zu setzen und ihre Strukturen auszukundschaften. Der Vorwurf der „Bildung einer kriminellen Vereinigung“ oder „terroristischen Vereinigung“ lässt umfangreiche Ermittlungsmethoden zu. In Hamburg hat es größere Aktionen gegen Links unter diesem Label länger nicht gegeben – das hat sich am Anfang dieser Woche schlagartig geändert.

Am frühen Montagmorgen schlugen Hamburgs Staatsanwaltschaft und Polizei gegen jene Gruppe radikaler Linke zu, die sie schon lange im Fadenkreuz haben: den Roten Aufbau Hamburg (RAHH). Es war der größte Schlag gegen eine linke Gruppe in der BRD seit Jahren. Mehr als 200 Polizisten hatte die Staatsmacht aufgeboten, um insgesamt 28 Objekte zu durchsuchen. Einrichtungen der Gruppe, hauptsächlich aber Wohnungen vermeintlicher Aktivist*innen der Gruppe, fast alle in Hamburg, dazu je ein Objekt im westfälischen Siegen sowie in Tornesch und Stelle im Hamburger Umland. Durchsucht wurde auch der Info- und Kulturladen des RAHH „Lüttje Lüüd“ (plattdeutsch für: kleine Leute) im Hamburger Stadtteil Veddel.

In dürren Worten erklärten die Polizei Hamburg und die Generalstaatsanwaltschaft der Stadt in einer gemeinsamen Pressemitteilung, „nach umfangreicher Ermittlungsarbeit“ seien 28 Durchsuchungbeschlüsse vollstreckt worden, „umfangreiche Beweismittel“ sicher gestellt worden. Bereits seit 2019 ermittele der Staatsschutz des Landeskriminalamts gegen 22 Mitglieder des Roten Aufbau „wegen des Verdachts der Bildung einer kriminellen Vereinigung“. Eine ähnlich große Aktion gegen Links gab es in Hamburg wohl zuletzt im Mai 2007. Damals durchsuchten rund 300 Polizisten 14 Objekte in Hamburg, darunter die Rote Flora und den Malersaal des Schauspielhauses. Die Generalbundesanwaltschaft führte die Ermittlungen. Die Razzien richteten sich gegen 18 namentlich bekannte Personen der linksautonomen Szene, auf Grundlage des Paragraphen 129a. Den Beschuldigten wurde eine Serie von Brandanschlägen vorgeworfen.

Bei den Razzien am Montag dieser Woche waren auch mit Maschinenpistolen bewaffnete Beamte von Sondereinsatzkommandos (SEK) dabei. Sicher ist sicher, denn Linke bunkern ja bekanntlich jede Menge Waffen und haufenweise Sprengstoff daheim… Auch Halil Simsek, bekanntester Aktivist der Gruppe, bekam im Morgengrauen Besuch von Spezialisten. Schwer bewaffnete SEK-Beamte traten bei ihm die Tür ein. Seine sämtlichen Geräte wie Handy und PC seien mitgenommen worden. Für Simsek nichts Neues. Bereits kurz vor dem G-20-Gipfel im Sommer 2017 und dann noch mal im Dezember des Jahres stürmte die Polizei seine Wohnung. Unter dem Pseudonym „Deniz Ergün“ war Simsek Sprecher des Bündnisses „G 20 entern“ und des Camps im Volkspark.

Noch am Montagabend demonstrierten etwa 600 Linke spektrenübergreifend gegen diesen neuen Akt der Repression. In ersten Kommentaren in den sozialen Netzwerken wurde darauf hingewiesen, dass die Razzien sich gegen den Roten Aufbau richteten, aber alle Linken gemeint seien. In einer Erklärung auf ihrer Homepage warf die Gruppe der Staatsanwaltschaft vor, „ein „Konstrukt aus mehreren Tatkomplexen“ zu konstruieren, „die begründen sollen, dass wir eine kriminelle oder terroristische Vereinigung gebildet hätten“.

Welcher Paragraph zum Tragen komme, sei „immer noch nicht klar, weil die Behörden sich widersprechen“. Man gehe aber aktuell von einem § 129a-Verfahren aus, also „Bildung einer terroristischen Vereinigung“. Die Angriffe auf den Roten Aufbau zeige, „dass die Klassenjustiz im Dunkeln tappt und nun uns, die öffentlich wahrnehmbarste Struktur der radikalen G-20-Proteste, für alles verantwortlich machen will“.

Welt-Reporter Dennis Fengler, der vermutlich ein Feldbett in der Hamburger Polizeipressestelle hat, so gut wie seine Verbindungen zu den Sicherheitsbehörden sind, wusste am Montag zu berichten, der Rote Aufbau werde von den Behörden mit „zahlreichen Straftaten in Verbindung gebracht“. Welche das genau sein sollen, wurde nicht verraten. Nur dass es unter anderem um einen Brandanschlag am 23. September 2016 im Hamburger Norden geht. Damals brannten zwei Privatwagen des Polizeidirektors Enno Treumann, die im Carport vor dem Haus des Beamten abgestellt waren. Treumann war damals Chef der „Taskforce Drogen“, die seit April 2016 migrantische Kleindealer auf St. Pauli, im Schanzenviertel und in St. Georg jagte. Anfang Juni 2020 wärmte Hamburgs Polizei den Fall im ZDF-Magazin „Aktenzeichen XY… ungelöst“ auf und suggerierte eine Beteiligung Simseks an der Tat, ohne ihn namentlich zu nennen.

Zu dem Vorwurf, für diese Brandstiftung verantwortlich zu sein, werden den Beschuldigten wohl auch noch angebliche Straftaten bei der Demonstration im Industriegebiet Rondenbarg am ersten Tag des G-20-Gipfels, dem 7. Juli 2017, vorgeworfen. Damals zerschlug die berüchtigte brandenburgische Einheit „Blumberg“ der Bundespolizei einen Aufzug brutal, verletzte etwa ein Dutzend Demonstranten teilweise schwer. Auch Halil Simsek trug damals Verletzungen davon. Er gehört zu den über 80 Teilnehmern des Aufzugs, die demnächst für das pure Mitlaufen bei der Demo vor Gericht gestellt werden sollen. Es ist nicht ganz abwegig, dass die Razzien jetzt quasi als Vorspiel zu diesem grotesken Monsterverfahren dienen sollen.

In der Erklärung des RAHH heißt es weiter, die Hinzuziehung der SEKs bei den aktuellen Hausdurchsuchungen stelle „einen besonderen Versuch dar, uns und unser Umfeld einzuschüchtern“. MPs seien „eine besondere Qualität der Repression“. Die Gruppe dankte den Teilnehmer*innen der Spontandemonstration im Schanzenviertel: „dies gibt uns Kraft in dunklen Zeiten“, so heißt es wörtlich. Besonders wichtig sei gewesen, „dass spektrenübergreifend aufgerufen wurde, denn wir begreifen den Angriff auf uns als den Versuch die gesamte radikale Linke zu kriminalisieren“. Deswegen bedanke man sich auch für „die große Solidarität und Grüße aus den anderen Städten“.

Man werde „nicht einfach das Feld räumen“. „Wir sind KommunistInnen und werden uns niemals den Herrschenden beugen, es ist unsere Pflicht uns und unsere Geschichte zu verteidigen“, so der Rote Aufbau. Die Repression treffe „willkürlich auch Personen, die uns zugeordnet werden“. Allen Betroffenen werde empfohlen, politische StrafanwältInnen zu nehmen, da diese die Gesamtsituation im Blick behalten.

Anja Sommerfeld, Mitglied im Bundesvorstand der Roten Hilfe, bezeichnete die Razzien als „die größten Angriffe der letzten Jahre auf organisierte linke Strukturen“. Nur zwei Tage nachdem Neonazis die Stufen des Reichstages erklimmen konnten, ohne nennenswert daran gehindert worden zu sein, hätten die Repressionsbehörden nichts Besseres zu tun, als eine aktive linke Gruppe zu kriminalisieren. Als Begründung werde einmal mehr „der Gesinnungs- und Strukturermittlungsparagraf 129 angeführt“. Es handele sich offenkundig um einen gezielten Einschüchterungsversuch gegen die gesamte linke Bewegung. Die Rote Hilfe rufe alle Linken auf, sich gegen diese Provokation öffentlich zu positionieren.

Jetzt ist Solidarität gefragt!

# Titelbild: indymedia, CC-BY-SA 3.0 Solidemo mit dem Roten Aufbau in Magdeburg

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Unter der Führung des britischen Geheimdienstes gehen derzeit Polizeibehörden in Irland und Schottland gegen die radikale republikanische Partei Saoradh vor. Der Historiker und Irland-Kenner Dieter Reinisch hat mit Aktivisten der Partei gesprochen. Wir veröffentlichen eine übersetzte und aktualisierte Version eines ursprünglich auf Englisch erschienen Artikels zu der Repressionswelle.

Am Dienstag, den 18. August, verhaftete die nordirische Polizei PSNI, assistiert durch die südirische Polizei An Garda Síochána neun führende Mitglieder der radikalen irisch-republikanischen Partei Saoradh (Befreiung). Die Verhaftungen standen in Verbindung mit diversen Hausdurchsuchungen bei Saoradh-Mitgliedern in Derry, East Tyrone und North Armagh.

Im Süden Irlands durchsuchte die Gardaí die Häuser von sechs Republikanern in Dublin, Cork, Kerry und Laois. Die meisten, die durch die Hausdurchsuchungen und Verhaftungen betroffen waren, sind ehemalige republikanische Gefangene. Alle neun festgenommenen Mitglieder, sieben Männer und zwei Frauen zwischen 26 und 50, werden immer noch in der Musgrave Serious Crime Suite in Belfast verhört. Im Süden gab es keine Verhaftungen.

BBC Nordirland berichtete, dass der britische Geheimdienst MI5 die Operation Arbacia führt. In einer Erklärung vom Freitag informierte die PSNI, dass die Operation weiterlaufe. Am Donnerstag wurden die vier Büros von Saoradh in Derry, Newry, Belfast und Dungannon durchsucht. Am Freitag Morgen wurde in Schottland ein zehntes Parteimitglied nach einer Hausdurchsuchung in Glasgow festgenommen. Alle zehn werden nach britischen Anti-Terrorgesetzen festgehalten und bleiben in Untersuchungshaft.

Diese große, grenzüberschreitende Operation gegen die republikanische Partei Saoradh ist eine der bedeutensten Operationen gegen republikanische Aktivisten in den vergangenen Jahren. Über Monate hat der Geheimdienst seine Überwachung von Saoradh-Aktivisten besonders in Derry und Strabane verstärkt. Die Hausdurchsuchungen und Verhaftungen in Schottland und beiden Teilen Irlands weisen darauf hin, dass die Operation zum Ziel hat, Saoradh zu zerschlagen.

Die Operation fokussiert sich hauptssächlich auf Führungspersonen einer legalen politischen Partei in Nordirland. Zur selben Zeit gab eine Sprecherin von An Garda Síochána an, dass es „keine Pläne gibt, Verhaftungen [in der Republik Irland] durchzuführen“. Erklärungen der Geheimdienste sprechen davon. dass sich die Operation gegen die Aktivitäten der so genannten „Neuen IRA“ oder „IRA“ richteten. Die Festnahme der politischen Aktivisten unter Anti-Terror-Gesetzen bei einer Operation gegen die „Neue IRA“ zielen darauf ab, angebliche Beweise für die sich überschneidene Mitgliedschaft zwischen der legalen Partei Saoradh und der verbotenen paramilitärischen IRA zu etablieren. Sollte dieser Versuch der Geheimdienste erfolgreich sein, dürfte er das Vorspiel für das Verbot von Saoradh werden.

In einer Erklärung betonte Pressesprecher Padd Gallagher aus Derry, dass es sich bei Saoradh um eine legale politische Partei handelt: „Seit der Gründung von Saoradh haben die Regierungen des britischen Staats und des Freistaats [Republik Irland] eine breite Palette drakonischer Maßnahmen genutzt, um die Partei zu unterdrücken. In dem sie auf Parteimitglieder, ihre Familien und Unterstützer gezielt haben, haben die Unterdrücker versucht, die Partei mit Schickanen zur Auflösung zu zwingen. Die vom MI5 geführte Operation, zu der die Internierung verschiedener Mitglieder in Derry, Tyrone und Armagh gehörte sowie weitere Durchsuchungen in Dublin, Cork und Kerry, ist ein weiteres Beispiel für Attacken und den sinnlosen Versuch, das Wachstum unserer Partei zu stoppen.“

Schikane gegen ehemalige Gefangene

Alex McCrory, ein bekannter republikanischer Aktivist und ehemaliger politischer Gefangener aus Belfast sagt: „Dieses Niveau grenzübergreifender Koordination und Kooperation ist beispiellos in den vergangenen Jahren. Zweifellos wird dies befördert durch die Ernennung von Drew Harris [Anmerkung: Drew Harris ist ein ehemaliger Polizeibeamter, der von der PSNI in Nordirland zur Polizei der Republik Irland gewechselt hat] zu einem führenden Polizisten der 26 Counties [Republik Irland]. Harris mag die Uniform des Freistaats angezogen haben, aber im Herzen ist er ein britischer Polizist. In diesem Fall hat er sich ein Bein ausgerissen, um seinem voherigen Arbeitgeber zu assistieren.“

Saoradh hat seit dem Start der Operation am Dienstag zwei Erklärungen herausgegeben und Dee Fennell aus Belfast sprach während der Durchsuchungen der PSNI im Belfaster Büro auf UTV [TV-Sender].

Während die Aufmerksamkeit der Medien sich vor allem auf die Entwicklung in Nordirland richtete, habe ich mit eine Repräsentanten von Saoradh in Dublin über die Situation südlich der Grenze gesprochen. Der Aktivist ist ein einflussreiches Mitglied der Partei, möchte aber anonym bleiben: „Wenn mein Name heute in den Medien auftaucht, steht mein Haus auf der Durchsuchungsliste für morgen früh.“ In Dublin wurden bereits zwei Häuser von Parteiaktivisten durchsucht. „Die Operation war ein Angriff auf ehemalige Gefangene. Ausschließlich ehemalige Gefangene wurden herausgesucht, aber es wurde nichts gefunden. Das ist einfach ein Belästigen von [ehemaligen] Gefangenen, wie es das schon seit Jahren gibt.“

Spenden für Gefangene, die in den Hochsicherheitsgefängnissen Maghaberry [Nordirland] und Portlaise [Republik Irland] einsitzen, werden von der „Irish Republican Prisoners’ Dependents’ Association „(IRPWA) gesammelt. Aktuell gibt es rund 30 Gefangene in Portlaoise, um die sich die IRPWA kümmert. „Ein kürzlich entlassender Gefangener hat durch die andauernden Belästigungen durch die Gardaí Special Branch [politische Polizei] seinen Job verloren“.

Besonders empört war mein Gesprächspartner über die Art und Weise der Durchsuchungen: „Durchgeführt wurden die Durchsuchungen von der bewaffnenten Emergency Response Unit. Das betroffene Saoradh-Mitglied hat eine Partnerin mit schweren Rückenproblemen. Sie schaute aus dem Fenster und sah, dass die ganze Straße mit bewaffneten Polizisten voll war. Sie stellten große Lampen um das Haus. Sie wusste sofort, was los war.“

In den letzten Jahren hatte ich immer wieder Treffen mit dem Saoradh-Mitglied, dessen Haus in Crumlin durchsucht wurde. Einige dieser Treffen mussten immer wieder verschoben werden, aufgrund der Gesundheitsprobleme und Krankenhaustermine seiner Partnerin. „Trotz der schweren Gesundheitsprobleme wurde die Partnerin des Saoradh Mitglieds angegriffen und zu Boden gebracht. Das war um fünf Uhr morgens. Aufgrund des Lärms kamen die Nachbarn auf die Straße. Alles was sie mit diesen Durchsuchungen erreichen ist, dass sie der Community schaden. Einige der Nachbarn haben sich gegen die Durchsuchungen ausgesprochen und protestiert.“

Ich habe ihn gefragt, warum er glaubt, dass Saoradh in dieser Woche angegriffen wurde:

„Sie wollen die Stellung unserer Aktivisten in der Community beschädigen. Sie machen sich Sorgen, dass Saoradh mit der Community-Arbeit Erfolg hat, deswegen wollen sie Saoradh von der Community entfremden“.

In den Monaten vor dem Ausbruch der Pandemie hat sich Saoradh zunehmend sozialen Problemen wie der irlandweiten Hauskrise zugewandt. In den letzten Wochen hatte Saoradh in Belfast und Dublin gemeinsam mit anderen Sozialisten und irischen Antifaaktivisten Rechte konfrontiert.

Der Journalist John Mooney hat vor kurzem eine Quelle aus der Polizei in der Times zitiert, die erzählte, dass Republikaner „junge Menschen für eine Vielzahl von politischen Themen wie Globalisierung und Antikapitalismus anziehen. Die Menschen, die ihnen beitreten sind nicht nur traditionelle Republikaner sondern eher linke Aktivisten“.

„Aber es gibt noch andere Gründe für diese Operation“, erklärt der Saoradh-Repräsentant:

„Es ist eine PR-Lehrstunde der Polizei, so dass sie sagen können, sie tun etwas gegen die „Dissidenten“. Wir sind mitten in einer Pandemie, die zu einer Rezession führen wird und das ist ihr Weg, den Politikern zu sagen, dass sie mehr Geld brauchen.“

Dann lenkt er die Aufmerksamkeit auf einen anderen Punkt, der regeläßig von Saoradh hervorgehoben wird – Irland als globales Steuerparadies für multinationale Konzerne: „Wir hatten 2008 eine massive Finanzkrise. Banker und Immobilienentwickler haben das Geld der Steuerzahler aus dem Fenster geworfen. Korruption und Kriminalität gab es jahrelang. Wie viele Banken wurden durchsucht? Wie viele Häuser der Top-Bankmanager wurden durchsucht? Wie viele von ihnen wurden für ihre kriminellen Aktivitäten, die zur aktuellen sozialen Krise geführt haben, verurteilt? Keiner, absolut niemand.“

Als ich zur nächsten Frage kommen will, insistiert er:

„Das war eine lang geplante, gut koordinierte Operation. Für so eine Operation brauchst Du Hunderte beteiligte. Wir hören regelmäßig von der Regierung, dass es keine Ressourcen gibt, um anti-soziales Verhalten und Drogen zu bekämpfen. Aber es finden sich über 100 Polizisten, um morgens um 5 die Türen politischer Aktivisten einzutreten“.

Die Durchsuchungen werden uns entschlossener machen“

Saoradh wurde offiziell im Herbst 2016 in Newry gegründet. Das Ziel war der Aufbau einer irlandweiten, radikalen republikanischen Alternativen zum Karfreitagsabkommen und Sinn Fein. Einige der führenden Mitglieder sind erfahrene Republikaner, die während des Konflikts in Nordirland in der provisorischen IRA und Sinn Fein aktiv waren. Hinzu kam eine junge Generation von Republikanern, zumeist aus der städtischen Arbeiterklasse, die von Jugendarbeitslosigkeit und sozialen Problemen betroffen sind und im aktuellen politischen Abkommen keine Perspektive sehen.

Schon Anfang 2016 organisierten einige, die später Saoradh mit aufgebaut haben, einen Gedenkmarsch für die 100-Jahrfeier des Aufstands von 1916. Bis zu 4000 Menschen liefen hinter 50 Männern und Frauen in paramilitärischen Uniformen durch das ländliche Coalisland in der Grafschaft Tyrone. Der Hauptredner der Veranstaltung war der frühere republikanische Gefangene Davy Jordan, der später erster Vorsitzende der Partei wurde. Ihm folgte Brian Kenna aus Dublin aber auch Jordan ist nach wie vor im Parteivorstand von Saoradh.

Die Pandemie hat Saoradh gezwungen, ihre Gedenkmärsche in diesem Jahr abzusagen, aber an Ostern im vergangenen Jahr nahmen immer noch bis zu 1000 Menschen an ihrer nationalen Osterveranstaltung in Dublin teil.

Wie werden die aktuellen Hausdurchsuchungen und Verhaftungen die Arbeit von Saoradh beeinflussen?

„Ich glaube nicht, dass diese Durchsuchungen einen Einfluss auf Dublin haben werden. Sie werden unsere Mitglieder entschlossener machen. Ja, diese Zeiten sind beunruhigend. Es ist immer beunruhigend, wenn der Staat so heftig eine politische Gruppe angreift. Aber es wird uns entschlossener machen, unsere Botschaft zu verbreiten.“

Er fährt fort: „Durchsuchungen haben zwei Ziele. Das erste ist, unsere Aktivisten von der Community zu entfremden. Wenn die Menschen solche heftigen Durchsuchungen sehen, denken sie: Oh mein Gott, was haben die bloß getan? Sie müssen etwas getan haben, wenn ihnen so etwas passiert. Der zweite Grund ist, dass sie Menschen davon abhalten wollen, uns beizutreten. Wenn Leute von den Durchsuchungen hören, werden einige uns nicht beitreten.“

Dann spricht er über die Konsequenzen für den Norden Irlands:

„Offensichtlich sind die Festnahmen in den sechs Grafschaften [Bezeichnung für Nordirland] deutlich beunruhigender, weil die Verhafteten immer noch in Haft sind und die Geheimdienste möglicherweise Anklagepunkte erfinden. Das würde bedeuten, dass sie die Festgenommenen für bis zu zwei Jahre aus politischen Aktivitäten rausnehmen. Das ist besorgniserregend.“

Auch wenn es eine nüchternere und wahrscheinlich ehrlichere Bewertung ist, spiegelt sie doch wieder, was auch Paddy Gallagher aus Derry sagt: „Je mehr Widerstand Saoradh leistet, um so größer wird der ausgeübte Druck. Aber je mehr Druck ausgeübt wird, um so mehr wird Saoradh Widerstand leisten.“

Dennoch: mit der Festnahme von zehn führenden Mitglieder von Saoradh hängt die Bedrohung durch Anklagen über der Partei. Falls einige der Mitglieder aus dem Parteivorstand aufgrund von Antiterror-Gesetzen angeklagt werden, wird sich zeigen ob und wie Saoradh sich von so einem Schlag erholen kann.

Repressionswelle geht weiter

Seit der Entstehung des Interviews haben sich die Befürchtungen bewahrheitet. Mittlerweile wurden fünf Männer und zwei Frauen der insgesamt zehn Festgenommenen angeklagt. Der verhaftete Saoradh-Aktivist aus Schottland wurde entlassen. Den Angeklagten wird eine ganze Reihe von Straftaten vorgeworfen. Die Hauptanklagepunkte sind IRA-Mitgliedschaft, Waffen- und Sprengstoffbesitz und Planung von Terroranschlägen. Vermutlich werden auch die zwei anderen Festgenommenen noch angeklagt.

Am vergangenen Samstag wurde zudem ein 62-jähriger, in Schottland lebender, Palästinenser verhaftet. Er hatte im November 2019 am Parteitag von Saoradh in der nordirischen Stadt Newry eine Grußadresse aus Palästina verlesen. Ihm wird vorgeworfen, dass er Kontakte zwischen palästinensischen Organisationen und der Neuen IRA aufgebaut haben soll.

Seit dem Wochenende ist bekannt, dass ein Teil der Ermittlungen auf einen Spitzel zurückzuführen ist, der seit mehreren Jahren in Saoradh und der Neuen IRA aktiv war und ursprünglich aus Schottland stammt. Seit vergangenen November war er in der nationalen Leitung der Partei. Er hatte in der Vergangenheit zwei Treffen in angemieteten Ferienhäusern organisiert. Nach Ansicht des Geheimdienstes handelt es sich um Treffen der Armeeführung der Neuen IRA. Hierauf basieren die Anklagen gegen die Festgenommenen Saoradh-Aktivisten. Dem Geheimdienst liegen nach eigener Aussage mehrere Stunden Audio- und Videomaterial der Treffen vor. Das Haus der Spitzel wurde schon am vergangenen Mittwoch von Mitarbeitern des britischen Geheimdienstes ausgeräumt und er soll sich in einem Zeugenschutzprogramm befinden.

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In Magedeburg steht der Nazi Stephan Balliet wegen des Anschlags vom 9. Oktober 2019 in Halle vor Gericht, in Frankfurt am Main zeitgleich der Nazi Stephan Ernst, der Anfang Juni 2019 den hessischen CDU-Politiker Walter Lübcke erschoss. In Hanau tötete vor einem halben Jahr der Nazi Tobias Rathjen neun Menschen aus rassistischen Motiven. Faschistische Terroristen ziehen eine Blutspur durchs Land. Die Öffentlichkeit debattiert währenddessen über rechte Netzwerke in Polizei und Bundeswehr, über zunehmende Polizeigewalt und Racial Profiling. Dass all das Leuten nicht gefällt, die seit Jahren die Gefahr von links beschwören und vor allem nach dem G-20-Gipfel im Juli 2017 in Hamburg Oberwasser hatten, liegt auf der Hand.

Regelmäßig versuchen Polizeibehörden, die beiden großen Polizeigewerkschaften und die Verfassungsschutzämter im Verein mit ihnen verbundenen Konzernmedien, das Thema „linke Gewalt“ – gern wird auch von „linkem Terror“ gesprochen – wieder auf die Agenda zu setzen. Einen neuen Versuch dieser Art konnte man Anfang August beobachten. Das Nachrichtenmagazin Spiegel berichtete von einem „vertraulichen Lagebild“ des Bundeskriminalamtes, das vor einer zunehmenden Gewaltbereitschaft von „Linksextremisten“ gegen politische Gegner warne.

In der Analyse sei von einer „neuen Qualität“ die Rede. Autonome trieben ihre Aktionen so „kompromisslos“ voran, dass in Einzelfällen auch „von einem bedingten Tötungsvorsatz“ auszugehen sein dürfte. Insbesondere die Leipziger Szene, die neben Berlin und Hamburg als Hochburg gelte, radikalisiere sich immer mehr. Offensichtlich wärmt der Spiegel diese Schauermärchen jetzt im Halb-Jahres-Abstand auf. Bereits Anfang Februar fabulierten die Lohnschreiber aus Hamburg unter der Dachzeile „Linksextreme Gewalt in Deutschland“, für die „militante Linke“ seien Angriffe auf Menschen wie in Leipzig und Hamburg „kein Tabu mehr“. Nachsatz: „Die Politik wirkt hilflos.“

Die „neue Qualität der Gewalt“ wird, wie Christoph Kleine von der Interventionistischen Linken in Hamburg in junge Welt süffisant bemerkte, „alle paar Monate neu entdeckt“. Das habe nichts mit der Realität zu tun, sondern sei „ganz einfach rechte Stimmungsmache“. Zur Unterfütterung der gewagten These vom „bedingten Tötungsvorsatz“ wird vom BKA laut Spiegel unter anderem der Überfall von rund 20 Angreifern auf drei Vertreter der neofaschistischen Arbeitnehmervertretung „Zentrum Automobil“ im Mai in Stuttgart erwähnt. Einer der Überfallenen soll dabei so schwer verletzt worden sein, dass er nach Angaben von Medien bleibende Schäden davon tragen werde. Inzwischen sind linke Aktivisten als tatverdächtig festgenommen worden. Selbst wenn dieser Angriff tatsächlich von Linken ausgeführt wurde, wäre das ein Ausnahmefall und aus solchen Fällen eine zunehmende Gewaltbereitschaft Linker abzuleiten, ist reine Kaffeesatzleserei.

Vor allem aber ist es grotesk, ausgerechnet in dieser Zeit, in der rechte Terroristen Angst und Schrecken verbreiten, das Thema „linke Gewalt“ hochzuziehen. Ulla Jelpke, innenpolitische Sprecherin der Linke-Fraktion im Bundestag, hat das in junge Welt zutreffend eingeordnet. Das Lagebild des BKA scheine ein „durchschaubares Ablenkungsmanöver“ zu sein. Während „faschistische Zellen bis hinein in Spezialeinheiten der Bundeswehr und Polizei auffliegen“, Waffen gebunkert und Todeslisten angelegt würden, schwadroniere das BKA von einer zunehmenden Gewaltbereitschaft von Linken. Angesichts der Tatsache, dass etwa das „Massaker“ an den Besuchern von Shisha-Bars in Hanau gerade mal ein halbes Jahr zurückliege, sei es absurd, wenn die Behörden von einem „bedingten Tötungsvorsatz“ Linker sprächen. „Nazis töten – und zwar nicht nur mit ‚bedingtem Vorsatz‘ sondern kaltblütig und gezielt“, sagte die Linke-Politikerin.

Völlig ins Absurde kippte übrigens der Focus ab, das reaktionäre Magazin für die ganz Schlichten. Im Gefolge des Spiegel fantasierte das Blatt, die „linksextremische Antifa“ bereite sich nach Kenntnis von Sicherheitsbehörden auf „Angriffe gegen Polizisten, politische Gegner und vermeintliche Rechtsextremisten“ vor. Bei „der Antifa und ihren 50 regionalen Unterstützergruppen“ gebe es eine „Professionalisierung der Gewaltausübung“. Laut Berliner Verfassungsschutz seien „gezielte Tötungen“ denkbar. Westlichen Nachrichtendiensten lägen Hinweise vor, dass deutsche „Antifa-Mitglieder“ bei der kurdischen YPG in Syrien ein Kampftraining absolvierten. Blöder geht es wirklich kaum! Ulla Jelpke gab dem Focus in junge Welt kostenlos Nachhilfeunterricht: „Es ist kein Geheimnis, dass auch deutsche Antifaschisten heute in Nordsyrien in den Reihen der kurdischen YPG aktiv sind. Der Kampf gegen den IS und andere Dschihadisten ist ein Teil des weltweiten antifaschistischen Kampfes.“

Durchaus aufschlussreich an der ganzen Sache ist auch, dass BKA, Verfassungsschutz und Konzernmedien en passant das auch von US-Präsident Donald Trump fleißig gepflegte Narrativ von „der Antifa“ als homogener Organisation mit bösen Absichten verbreiteten. Diesen Mythos will man offenbar weiter nach Kräften befördern.

Übrigens schwadronieren auch die Polizeigewerkschaften regelmäßig über die Gewalt von links, der die „Kollegen auf der Straße“ zunehmend ausgesetzt seien. Dabei bemüht sich die Gewerkschaft der Polizei (GdP) offenbar immer mehr, mit der reaktionären kleinen Schwester, der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG) in puncto Hetze gegen Links gleichzuziehen. Das Berliner Schundblatt BZ war nur zu gern bereit, bei der Berichterstattung über die Räumung der Kiezkneipe Syndikat in Neukölln Anfang August eine Tirade des Berliner GdP-Vize Stephan Kelm abzudrucken. „Die militante, linksautonome Szene geht zurzeit offensiv und strukturiert gegen meine Kollegen bei Demos und Protesten vor“, fabulierte der Mann und beklagte die Verletzung eines Beamten bei den Auseinandersetzungen in Neukölln. Da werde sogar „der Tod von Menschen in Kauf genommen“. Und: „Wir haben es mit Personengruppen zu tun, die ohne jedes Zögern auch Molotow-Cocktails werfen würden.“

Vielleicht sollte dem Herrn mal jemand erklären, dass Molotow-Cocktails bereits länger in Gebrauch sind, und das durchaus auch bei Straßenschlachten. Und dass für die Eskalation auf der Straße nicht Autonome oder andere Linke verantwortlich sind, sondern erstens die Polizei, die immer mehr aufrüstet und immer brutaler vorgeht, und zweitens die kapitalistische Ausbeutung und Ausgrenzung, die bei immer mehr Menschen nichts als Wut und Hass erzeugt. Dabei gibt es natürlich auch Verletzte, auf beiden Seiten. „Wir sind der Prellbock auf der Straße“, klagte der Herr Kelm noch. Jawohl, da hat er recht! Aber das ist noch nicht die Schuld der radikalen Linken. Die Herrschenden verheizen Euch, liebe Leute in Uniform! Also: Augen auf bei der Berufswahl.

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Am 30.06.1994 wurde kurdische Aktivist Halim Dener im Alter von 16 Jahren von einem deutschen Polizisten beim Plakatieren ermordet. Knapp 26 Jahre nach seinem Tod gibt die Kampagne Halim Dener ein Buch über ihn heraus. Wir veröffentlichen vorab die Einleitung zu Halim Dener – Gefoltert. Geflüchtet. Verboten. Erschossen. Die Vorstellung des Buches findet am Freitag, 24.Juli 2020 um 16 Uhr auf den Halim-Dener-Platz (30451 Hannover) statt.

Der Name Halim Dener ist heute für viele kurdische Aktivist*innen, aber auch viele deutsche Linke kein unbekannter. Mit dem Schicksal des geflohenen kurdischen Jugendlichen, der in Deutschland Schutz suchte, und stattdessen am 30.06.1994 den Tod durch die Kugel aus der Waffe eines deutschen Polizisten fand, verbinden sich verschiedene politische Entwicklungslinien und Konflikte. Dazu gehört zuvorderst der Konflikt zwischen der kurdischen Freiheitsbewegung und einem faschistisch agierenden türkischen Staatsapparat, der in seinem Krieg gegen Kurdistan und in der Repression kurdischer Aktivist*innen seit Jahrzehnten durch die deutschen Behörden und deutsche Waffen unterstützt wird. Dazu gehört aber auch die Geschichte von Flucht nach Deutschland, in diesem Fall eines unbegleiteten Minderjährigen, der sich allein von Kurdistan bis nach Hannover durchschlug, nachdem türkisches Militär seinen Heimatort angegriffen und ihn und ihm Nahestehende gefoltert hatte. Halims Geschichte endet mit dem Schuss eines deutschen Polizisten, der ihn in den Rücken trifft und wenig später zu seinem Tod führt. Er wurde so zu einem von vielen Opfern rassistischer Polizeigewalt – einem von vielen Todesfällen, die von der deutschen Justiz nie befriedigend aufgeklärt wurden. Halim Dener wurde nur 16 Jahre alt. Er wurde nicht vergessen.

Knapp 20 Jahre nach seinem Tod, im Jahr 2013, gründete sich eine Kampagne mit dem Ziel, in der Stadt Hannover endlich eine angemessene Aufklärung und Erinnerung an den Todesfall und seine Ursachen einzufordern. Diverse Organisationen aus Hannover und darüber hinaus schlossen sich zusammen, um das Gedenken an Halim Dener in die Öffentlichkeit zu tragen. Doch es ging immer um mehr als die Trauer. Es ging auch darum, die politischen Linien und Kämpfe, die sich mit Halims Schicksal verbinden, offensiv zum Thema zu machen und den politischen Status Quo, der sich auch 20 Jahre nach Halims Tod in vielen Punkten nicht verändert hat, anzugreifen. Die Waffenlieferungen an die Türkei, der Umgang mit Geflüchteten, Repression gegen die kurdische Freiheitsbewegung, der PKK-Verbot, rassistische Gewalt und Behördenwillkür – noch immer deutsche Zustände.

Im Jahr 2019, nach dem 25. Jahrestag von Halim Deners Tod, ist es für uns als Kampagne Zeit innezuhalten. 5 Jahre lang haben wir informiert, debattiert, demonstriert und gekämpft. Wir haben auf verschiedenen Ebenen und verschiedenen Wegen versucht, Einfluss auf die Stadt Hannover und die Stadtöffentlichkeit zu nehmen, und sind für die Veränderung der beschriebenen Zustände mit aller Vehemenz und anhaltendem Engagement eingetreten. Längst nicht alle Ziele, die sich mit unserem Kampf verbanden, haben wir erreicht. Auch deswegen scheint es uns an der Zeit, gemeinsam nachzudenken. Diese Broschüre ist ein Ergebnis dieses gemeinsamen Prozesses. Sie dient als Selbstverständigung, weil wir Revue passieren lassen, was seit Halims Tod geschehen ist und uns vor Augen führen, in welchem Zusammenhang sein persönliches Schicksal steht. Und weil wir zurückblicken auf fünf Jahre Kampagnenarbeit, deren Erfolge und Rückschläge. Diese Broschüre entstand aber nicht nur für uns, sie richtet sich auch nach außen. Sie dient – wie auch die anderen Aktivitäten der Kampagne – dazu, Halims Geschichte weiter bekannt zu machen, in dem wir sie erstmals umfassend publizistisch aufarbeiten. Nicht zuletzt dokumentieren und reflektieren wir hier auch unseren politischen Kampf mit dem Ziel, all denjenigen, die ähnliche Gedanken und Motive haben, mahnendes Beispiel und inspirierendes Vorbild zugleich zu sein. Viele Erfahrungen müssen im politischen Aktivismus immer wieder von neuen gemacht werden, und trotzdem können wir voneinander und von unseren vergangenen Kämpfen lernen – das ist unsere Überzeugung.

Aufbau

Diese Broschüre besteht aus zwei Teilen, von denen der erste sich mit der Geschichte Halim Deners und seines Todes, sowie den Verhältnissen und Ereignissen in den 1990er Jahren beschäftigt. Die hier versammelten Beiträge befassen sich mit der historischen und aktuellen Situation in Kurdistan, die Grund für Halims Flucht im Jahr 1994 waren. Ein zweiter Beitrag beleuchtet die Situation von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, zu denen auch Halim einst gehörte. Neben den Gefahren auf der Flucht selbst geht es auch um die Rahmenbedingungen in Deutschland und deren Verschlechterung in den letzten Jahren. Über die Repression der kurdischen Bewegung in Deutschland, namentlich das erlassene PKK-Verbot, informiert ein weiterer Artikel. Die überregionalen politischen Proteste, die der Tod Halims bereits 1994 auslöste, und die ersten Initiativen für ein Gedenken und Erinnern, die lang vor der Kampagne Halim Dener entstanden, werden in einem eigenen Beitrag beleuchtet. Den Abschluss des ersten Teils bilden zwei Prozessberichte zum Gerichtsprozess gegen den Polizeibeamten, der Halim 1994 erschoss. In diesen historischen Dokumenten beschreiben Rolf Gössner, der als Anwalt der Nebenklage Halims Familie vertrat, sowie eine anonyme Beobachterin den teils absurd anmutenden Prozessverlauf und ihre Eindrücke vom Geschehen rund um das Verfahren.

Der zweite Teil der Broschüre widmet sich den Aktivitäten und Ereignissen rund um die Kampagne Halim Dener seit 2013. Der erste Beitrag präsentiert Überlegungen zu einer Erinnerungskultur rund um das Schicksal Halim Deners, wobei sowohl kritische Bestandsaufnahme als auch politische Vision Platz finden. Zur Einschätzung der Medienberichterstattung zum Fall Halim Dener findet sich als zweiter Beitrag ein Interview mit dem Sozialwissenschaftler Christian …, der sich in einer Abschlussarbeit mit der Erinnerungskultur zu Halim Dener beschäftigte. Es folgt ein Interview mit einem Aktivsten der Kampagne Halim Dener, in dem die Erfahrungen in der Zusammenarbeit zwischen kurdischer Freiheitsbewegung und deutscher Linker geht, die während der Arbeit in der Kampagne gesammelt wurden. Diese Zusammenarbeit wurde von den deutschen Behörden offenbar äußerst skeptisch beäugt, in einem eigenen Beitrag informieren wir über die diversen Repressionsversuche gegen die Kampagne (und ihr Scheitern). Einen eigenen Beitrag widmen wir ebenfalls einer der einflussreichsten – wenn auch letztlich bisher erfolglosen – politischen Initiativen der Kampagne, dem Kampf um die Benennung eines Platzes in Hannover nach Halim Dener. Den Abschluss dieses Bandes bildet ein Text über die Entstehung und Aktivitäten der Kampagne von 2014 bis 2019, den wir mit einer vorläufigen Bilanz und einem Ausblick beenden.

Dank

Unser Dank gilt allen Gruppen und Aktivst*innen, die Teil der Kampagne Halim Dener waren oder diese in den letzten Jahren unterstützt haben.

Für die Mitarbeit und Unterstützung dieser Broschüre möchten wir uns insbesondere bedanken bei der Roten Hilfe für die umfassende finanzielle und logistische Hilfe, bei Jochen Steiding für ein hervorragendes Layout, sowie bei Rolf Gössner, dem Flüchtlingsrat Niedersachsen, Christian Hinrichs und Wolfgang Struwe für die hier veröffentlichten Textbeiträge.

# Halim Dener – Gefoltert. Geflüchtet. Verboten. Erschossen | Verlag gegen den Strom, München | 226 Seiten | 10 €

# Titelbild: Kampagne Halim Dener

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Der Sommer der (versuchten) Räumungen in Berlin hat begonnen. Überraschenderweise nicht mit dem lange angekündigten und juristisch vorbereiteten Angriff auf die Liebig34 oder das Syndikat, sondern einer versuchten Teilräumung der Rigaer Str. 94, des Lieblingsfeindes der law and order-Fraktion in Presse, Polizei und Apparat,.

Am vergangenen Donnerstag, den 8. Juli, rückten frühmorgens 200 Polizist*innen, begleitet von Springerjournalist*innen, an, um zwei Durchsuchungsbeschlüsse zu vollstrecken. Vorwand waren zum einen der Vorwurf, eine Polizistin mit einem Laserpointer geblendet und „verletzt“ zu haben, zum anderen Urkundenfälschung. Soweit so lächerlich. Doch es blieb nicht bei diesen Durchsuchungen.

Die Polizei brachte nämlich nicht nur sensationdurstige Reaktionäre mit Presseausweis mit, sondern auch den selbsterklärten Hausverwalter Thorsten Luschnat, zusammen mit Securities und Bauarbeitern. Diese machten sich nach Absprachen mit den anwesenden Polizist*innen daran Donnerstags und Freitag, Bewohner*innen zu bedrohen, Löcher in Wände zu schlagen und zu versuchen, Wohnungen im Haus zu räumen.

Das ist bemerkenswert, denn bisherige Räumungsersuchen wurden von der Justiz abgeschmettert, weil nicht einmal nachgewiesen ist, ob die Eigentümer des Gebäudes überhaupt prozessfähig sind. Mit anderen Worten: Der Räumungsversuch war komplett illegal, nicht juristisch legitimiert. Das hinderte die Bauarbeiter allerdings nicht daran zu versuchen Wohnungstüren mit einem Vorschlaghammer einzuschlagen, wohlgemerkt unter Anwesenheit der Polizei.

Die geltenden Gesetze dienen der Aufrechterhaltung der bestehenden Eigentumsordnung. Juristisch abgesichert sollen in Berlin kollektive Räume, wie die Liebig34, das Syndikat oder die Meuterei geräumt werden. Von den über 5000 Zwangsräumungen, die jedes Jahr in Berlin beantragt werden, ganz zu schweigen. Doch wenn es auf legalem Wege nicht geht, wird eben wortwörtlich der Vorschlaghammer ausgepackt.

Diese Polizeiaktion zeigt, dass „Recht und Ordnung“ im Zweifel nicht gelten, wenn es gegen erklärte Feinde geht. Dann wird auf dieses Recht und diese Ordnung so offensichtlich geschissen, dass selbst Liberalen dämmern müsste, dass da irgendwas faul ist.

Das war wohl auch der Pressestelle der Polizei klar, die per Twitter erklärte, es gebe keinen Polizeieinsatz – während ihre Beamt*innen in der Rigaer94 den Überfall der Hausverwaltung deckten. Mit ihrem verzweifelten Täuschungsmanöver versuchte sie zu verhindern, dass sich Leute gegen diesen Einbruch solidarisieren und Nothilfe leisten.

Damit hat die Berliner Polizei einmal mehr unter Beweis gestellt, dass sie selbst den Ansprüchen, die das bürgerliche Recht an sie stellt, nicht gerecht wird. Die Rigaer94 ist ihr ein Dorn im Auge, und wenn es auf legalem Wege nicht geht, wird eben mafiamäßig mit windigen Immobilenverwaltern kooperiert, um gegen widerständige Strukturen vorzugehen.

Der Angriff ist für‘s erste vorbei, nach einer Solidemo hin zur Rigaer94 haben sich auch die bis dahin postierten Securities verzogen. Eine Frage aber bleibt: Wenn sich die Polizei nicht an die sowieso zu ihren Gunsten geschriebenen Regeln hält, warum sollten wir es dann tun?

# Titelbild: Kim Winkler, Polizei und Securities vor der Rigaer Str. 94

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Genau drei Jahre nach den Protesten gegen den G20-Gipfel gerät die Repressionsmaschinerie gegen Gipfelgegner*innen richtig ins Rollen. Die Woche begann mit einem Urteil und schon am kommenden Freitag soll das Urteil im Elbchausseeprozess gefällt werden. Unser Kolumnist Kristian Stemmler fasst die Absurdität des ganzen Prozederes zusammen.

Gefühl für Timing kann man Hamburgs Justiz nicht absprechen. Ausgerechnet an diesem Montag, am dritten Jahrestag der „Welcome to hell“-Demonstration am Hafenrand, die einen Tag vor dem Beginn des G-20-Gipfels 2017 in der Hansestadt stattfand, sprach das Amtsgericht Altona ein Urteil in einem Prozess, in dem es um einen Vorfall am Rande dieser Demo ging. In diesem Verfahren spiegelt sich die ganze Absurdität, die die polizeiliche und juristische Aufarbeitung des Gipfels auszeichnet. War der groteske Aufmarsch von 33.000 Polizeibeamt*innen zum Schutz von Despot*innen und der Führer*innen kapitalistischer Großmächte, die sich am 7. und 8. Juli 2017 an der Elbe trafen, schon ein Skandal, so setzten Hamburgs Polizei und Justiz in den Monaten danach noch einen drauf.

Von 157 Verfahren gegen beim Gipfel eingesetzte Polizist*innen sind 120 eingestellt worden. Kein*e einzige*r Polizist*in wurde angeklagt. Das hat die Antwort des Hamburger Senats auf eine Anfrage der Linksfraktion in der Bürgerschaft ergeben. Bei einem Drittel der Verfahren wird die Einstellung damit begründet, der Einsatz von Gewalt sei „gerechtfertigt“ gewesen. Und dabei geht es nicht um mehr oder weniger unsanfte Festnahmen, sondern um massive Schläge auf den Kopf und ins Gesicht oder das sinnlose Zusammenprügeln von am Boden liegenden Demonstrant*innen. Die 157 Verfahren sind dabei ohnehin nur die Spitze des Eisbergs. Die Mehrzahl der Schläger*innen in Uniform ist sowieso nicht angezeigt worden – einfach weil den Opfern schon vorher klar war, dass solche Anzeigen zu nichts als Gegenanzeigen führen.

Aber halt! Zwei Polizisten mussten sich im Kontext von G 20 vor Gericht verantworten. Der eine war in der Gefangenensammelstelle im Hamburger Süden mit einem Kollegen über die Frage in Streit geraten, ob es erlaubt sei, dort Pfefferspray mit sich zu führen. Er fügte seinem „Opfer“ eine Bänderdehnung im kleinen Finger zu! Dafür gab es einen Strafbefehl, den er nicht akzeptierte. Der zweite Polizeibeamte, der in Sachen G 20 vor Gericht landete, war der Angeklagte im eingangs erwähnten Prozess vor dem Amtsgericht Altona.

Er ist aber keiner von denen, die am 6. Juli 2017 wie die Furien – den Schlagstock schwingend und Pfefferspray versprühend – die Spitze des Aufzugs attackierten, der sich auf der Hafenstraße formiert hatte. Keiner von denen, die auf Beobachter*innen einprügelten, auf Jugendliche, Senior*innen. Auch keiner aus der Einsatzleitung, die mit der Entscheidung, die „Welcome to hell“-Demo zu zerschlagen, hunderte Menschen, die zwischen Häuserwänden und einer Flutschutzmauer eingeklemmt waren, in unmittelbare Lebensgefahr brachten.

Der Angeklagte vor dem Amtsgericht Altona war ein Polizist aus München, der mit einer Bekannten freie Tage in Hamburg verbrachte, und das Toben seiner Kolleg*innen von einer Fußgängerbrücke aus verfolgte. Wer damals dabei war, wird gut verstehen, warum in den Beiden die Wut hochkochte angesichts der Prügelorgie am Hafenrand. Sie warfen beide je eine nicht voll gefüllte Bierdose in Richtung eines Trupps von Polizist*innen, die aber niemanden trafen. Das fand die Staatsanwaltschaft nicht gerechtfertigt, denn der Mann war ja nicht im Dienst.

Offenbar ist sogar dem Richter in diesem Verfahren klar geworden, wie grotesk die Anklage und das ganze Verfahren ist. Er sprach den Angeklagten, der den Dienst inzwischen quittiert hat, am Montag frei. Da hatte er mehr Glück als die Aktivist*innen, die für Würfe, die niemanden verletzt haben, Knaststrafen kassiert haben. Aber drei Jahren nach dem G20-Gipfel ist ja mit dem Rachefeldzug gegen Gipfelgegner*innen noch lange nicht Schluss. Am Freitag wird das Landgericht Hamburg die fünf Angeklagten im „Elbchaussee-Prozess“ wahrscheinlich für nichts verknacken – dafür dass sie am 7. Juli 2017 bei einem Aufzug mitgelaufen sind, der für Glasbruch gesorgt hat.

Und danach geht es erst richtig los. Im Rondenbarg-Verfahren sollen sage und schreibe 86 Demonstrant*innen vor Gericht gestellt werden, nur dafür, dass sie beim Aufzug im Industriegebiet Rondenbarg im Hamburger Westen am Morgen des 7. Juli 2017 dabei waren. Die Staatsanwaltschaft meint, dass jeder gewusst haben muss, dass die Demo von Anfang an auf Gewalt ausgelegt gewesen sei. Und jeder habe auch mitbekommen, dass Bushaltestellen zerlegt worden seien. Dieses Verfahren ist ein Frontalangriff aufs Versammlungsrecht. Sollte die Staatsanwaltschaft mit ihrer kruden Rechtsauffassung durchkommen, stünde künftig jeder, der auf eine Demo geht, mit einem Bein im Knast. Wirft am Ende des Aufzugs jemand einen Stein, hast du Pech gehabt, wenn du vorn stehst und nicht gleich das Weite suchst. Wer keinen Stein wirft, ist auch schuldig oder wie heißt es in der Bibel noch mal?

# Titelbild: Willi Effenberger, Polizisten versprühen großzügig Pfefferspray, nachdem sie die „welcome to hell“-Demo auseinander geprügelt haben

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Seit mehr als hundert Tagen stehen die Chilen*innen gegen jenes neoliberale System auf, das ihr Leben seit Jahrzehnten prekarisiert hat. Trotz aller Bemühungen der Regierung, die Proteste zum Schweigen zu bringen, ist der Wille, mit jenem Gesellschaftsmodell zu brechen, das Ungleichheit, Unrecht und die Misshandlung der Arbeiter*innenklasse verewigt, so groß wie am ersten Tag des Aufstandes.

Bis zum 30.1.2020 starben im Zuge der Proteste 31 Menschen; 3.746 wurden verwundet; 427 erlitten Verletzungen an den Augen und 268 wurden durch Tränengaskanister verletzt. 418 Fälle von Folter und 192 Fälle von sexualisierter Gewalt durch die Polizei wurden dokumentiert. Die Repression wird ausgeführt von den Agenten des Staates, die totale Straflosigkeit genießen. Mehr als lächerliche Urteile gibt es für ihre Verbrechen nicht. So muss Muricio Carillo, der kriminelle Bulle, der den Demonstranten Oscar Perez am 20. Dezember mit seinem Polizeitruck überfuhr, sich einmal mi Monat zum Unterschreiben melden – bis die 150 Tage der Ermittlung des Falles abgeschlossen sind. Carlos Martinez, der Cop, der am 28. Januar einen Fußballfan überfuhr und tötete, muss sich einmal im Monat für 90 Tage zum Unterschreiben melden.

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Ganz anders sieht die Sache aus, wenn es um die Bestrafung der Kämpfer*innen der sozialen Revolte geht. Den meisten von ihnen droht schon im Vorfeld eines eventuellen Prozesses Haft. Diese Untersuchungshaft wird länger und länger, die Ausrede lautet stets, dass man mehr Zeit brauche, um richtig ermitteln zu können. Im Normalfall sollte der Gewahrsam nicht länger als 45 Tage dauern – dochsind die Behörden nicht willens das einzuhalten. Die Untersuchungshaft wird ausgedehnt, oft monatelang. In einigen Fällen könnten es Jahre der Einkerkerung ohne Prozess werden, wie das in der Vergangenheit in verschiedenen Fällen politischer Gefangener des Mapuche-Widerstands war.

Im Knast und rund um die Ingewahrsamnahmen gibt es eine große Anzahl von Unregelmäßigkeiten. Vielen Demonstrant*innen wurden von der Polizei gefälschte Beweise untergeschoben. Eines der Opfer dieser Praxis ist Diego Ulloa, ein Student, der in den Demonstrationen die Aufgabe übernahm, Tränengas mit einer Mischung aus Wasser und Backpulver unschädlich zu machen. Am 3. Dezember wurde er verhaftet. Er leistete keinen Widerstand und wurde dennoch brutal zusammengeschlagen. Ihm wird vorgeworfen, Molotow-Cocktails transportiert zu haben. Die Cops schoben ihm „Beweise“ unter, nutzten auch seinen Wasserkanister, der zum Neutralisieren der Tränengasgranaten diente, als Beweis.

Oder Nicolas Ríos, der am 10. Januar von Zivilpolizisten entführt wurde. Seine Verhaftung erinnert an die dunkelsten Jahre der Diktatur. Während er dasaß und rauchte, sprangen fünf Männer aus einem Transporter, schlugen ihn zusammen und verschleppten ihn. Wer weiß, ob er je wieder aufgetaucht wäre, hätten nicht Passant*innen die Szene gefilmt und somit die Identifizierung des Kennzeichens ermöglicht. Auch Nicolas Ríos wird das Werfen von Brandsätzen vorgeworfen. Sie testeten ihn auf chemische Spuren – das Resultat war negativ. Auf dem Video, das die Cops der Verhaftung zu Grunde legten, kann man unmöglich erkennen, wer geworfen hat. Und dennoch, die zuständige Richterin ließ ihn in Haft, schwieg über die offenkundige Rechtswidrigkeit seiner Verhaftung, verweigerte ihm, überhaupt gehört zu werden und untersagte seinen Eltern den Zutritt zum Verfahren.

Es gibt tausende Fälle wie diese beiden.

II

Wie reagierte der Staat auf die Proteste von Millionen? Er rührte jenes Modell, das die Privilegien der Eliten garantiert nicht an. Kein Gesetz wurde erlassen, das diese Privilegien abschafft oder auch nur beschneidet. Dagegen wurden sehr effizient neue Gesetze verabschiedet, die Protest kriminalisieren.

Nach Kontroversen im Kongress und im Zusammenspiel mit der parlamentarischen Opposition, die sich – mit Ausnahme einiger weniger Fälle – auf die Seite der Regierung schlug, wurden Gesetze gegen „Plünderungen“ und gegen den „Barrikadenbau“ durchgesetzt. Ein Vermummungsverbote durchläuft derzeit das Gesetzgebungsverfahren. Das einzige Ziel dieser Gesetze ist es, die soziale Bewegung zu bestrafen und längere Haftstrafen für die Aktivist*innen zu ermöglichen.

III

Die Situation der Gefangenen wird zudem unsichtbar gemacht. Informationen und Möglichkeiten zu ihrer Unterstützung finden sich nur in den sozialen Medien. Als Antwort auf diese Lage wurde die „Coordinadora 18 de octubre“ gegründet, ein Zusammenschluss von Familienmitgliedern, Freund*innen der Gefangenen und Freiwilligen sowie Aktivist*innen und Organisationen. Sie gewährleisten Unterstützung und versuchen, Orientierung zu geben. Vom 18. Oktober 2019 bis zum heutigen Tag wurden 23.400 Personen zumindest kurzfristig festgenommen; mehr als 2500 verblieben im Knast, sie warten auf ihren Prozess. Ohne klare Vorstellung, wie lange das dauern wird.

Maria Rivera ist die Koordinatorin der Defensoria Popular Penal, einer Gruppe von Anwält*innen, die sich der Verteidigung der Kämpfer*innen der Revolte und der Kriminalisierten verschrieben hat. Sie verlangen keine Gebühren von ihren Mandant*innen. Seit dem 18. Oktober, erzählt Maria Rivera, habe sich ihre Arbeit verdoppelt. Sie haben viele Jugendliche der „primera linea“, der ersten Reihe der Demonstrationen verteidigt, die nicht nur ihre Freiheit, sondern auch ihre körperliche Unversehrtheit zur Verteidigung des Aufstandes in die Waagschale werfen.

„Die Gerichte haben gezeigt, dass sie am liebsten alle sozialen Kämpfer*innen einsperren wollen“, so Maria Rivera. „Wir haben einige schrecklich symbolische Fälle. Zwei Teenager, beide 16 Jahre alte und ohne Vorstrafen, Kevin Uribe und Mauricio Soto, befinden sich in Vorbeugehaft in einem Jugendknast. Das Berufungsgericht, der höchste Gerichtshof, alle zuständigen Instanzen haben verweigert, die Untersuchungshaft umzuwandeln, etwa in Hausarrest. Es gab Richter, die die Auffassung vertraten, dass die beiden auch zu Hause auf das Verfahren warten könnten, aber die höheren Gerichte lehnten ab.“

Die politischen Gefangenen der Revolte seien auf verschiedene Gefängnisse verteilt, aber gerade Module 14 des Knasts Santagio-1 sei vollgestopft mit Protestierenden, so Rivera. Verwaltet wird diese Strafanstalt von dem multinationalen Unternehmen SODEXO, einem Konzern, der in zahllose Skandale verwickelt war, wegen prekärer Arbeitsbedingungen, genauso wie den Bedingungen für die Gefangenen in seinen Knästen. „Einige von den Gefangenen waren verwundet, als sie festgenommen wurden und haben keine angemessene Versorgung im Gefängnis erhalten“, erzählt Rivera. Der chilenische Staat zahlt SODEXO monatlich 700.000 pesos, umgerechnet etwa 850 Euro, pro Gefangenen. Wo auch immer dieses Geld hinfließt, in das Wohlbefinden der Eingesperrten fließt es nicht.

Einmal in der Woche können Angehörige oder Freund*innen zum Gefängnis gehen und ein Paket für eine*n Gefangene*n abgeben. Meistens Basisgüter, Toilettenartikel oder Nahrung, die eigentlich von der Betreiberfirma zur Verfügung gestellt werden sollten. Die Prozedur ist eine einzige Schikane und dauert drei, vier Stunden. Dasselbe gilt für den Besuchstag. Man wartet stundenlang, die Durchsuchungen können, abhängig von der Laune der Wärter*innen, kurz, lang oder erniedrigend ausfallen. Dennoch kommen Woche für Woche Familienmitglieder, Freund*innen und Freiwillige, die sich diesem Mechanismus unterziehen, der zeigt, was der Knast ist: ein Klassenmechanismus, der die Armen kriminalisiert und die schlimmsten Werte der verrotteten neoliberalen Gesellschaft reproduziert.

Und dennoch lohnt sich der Besuch bei den gefangenen Kämpfer*innen, wie Maria Rivera betont: „Trotz alledem haben sie nichts von ihrer Stärke verloren. Wenn ich sie besuche, berührt mich das sehr. Und ich schöpfe Hoffnung, weil ich weiß, das wird nicht für immer andauern. Sie werden rauskommen und in den Kampf zurückkehren. Denn sie wissen ganz genau, dass das System bis an die Grundfesten verändert werden muss.“

# Titelbild: frentefotográfico

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Am 04. und 05.02.2020 findet in Berliner Congress Center (bcc) am Alexanderplatz der 23. Europäische Polizeikongress statt – allerdings nicht ohne Widerstand. Vom 01.02-02.02.20 wird der Gegenkongress „Entsichern“ und am 31.01.20 eine Demonstration gegen den Polizeikongress stattfinden. Wir sprachen mit zwei Organisator*innen über den Polizeikongress und aktuelle staatliche Entwicklungen, die Motivation für eine Gegendemonstration und einen Gegenkongress und über Perspektiven, welche über die Demo und den Kongress hinausgehen.

Der Europäische Polizeikongress findet jährlich statt, ist aber vielen gar nicht bekannt. Könnt ihr erklären, was dort genau passiert?

Z.: Auf dem Europäischen Polizeikongress trifft sich das ‚Who is Who‘ der reaktionärsten Bereiche der Gesellschaft: der Verfassungsschutz, die Waffenlobby, Forensiker*innen, Grenzsicherungsfirmen, Mitglieder des Bundestages und die Polizei. Sie alle tauschen sich über neue Sicherheitskonzepte aus, planen die Investition in digitalisierte Überwachung, den Ausbau des europäischen Grenzregimes oder auch die Begründung neuer Waffen und Zugriffsrechte der Behörden. Hier legen Sicherheitsindustrie, Politiker*innen und Polizei-Behörden die Weichen ihrer engen Zusammenarbeit.

Schon im letzten Jahr wurde gegen den Kongress eine Demonstration und einige Veranstaltungen organisiert, dieses Jahr soll zusätzlich noch der Gegenkongress „Entsichern“ stattfinden. Welche Ziele verfolgt ihr mit der Demo und dem Kongress?

Z.: Nachdem es einige Jahre vergleichsweise ruhig war, was die Proteste gegen den jährlich stattfinden Europäischen Polizeikongress anging, konnte gegen das Treffen mit der Demonstration und den Veranstaltungen im vergangenen Jahr Protest wieder sichtbar und anschlussfähig gemacht werden. Daran wollen wir mit der Demonstration und dem Kongress in diesem Jahr anknüpfen.

Beide Veranstaltungen, also Demonstration und Kongress, sollen dabei ein Zeichen setzen gegen das widerwärtige Treffen. Die Demonstration dient u.a. als gemeinsamer Start in das Kongresswochenende. Mit der Demonstration können wir unsere Kritik an dem reaktionären Treffen und den bestehenden Verhältnissen sichtbar machen und unsere Wut darüber auf die Straßen tragen. Dadurch, dass die Demonstration aber nicht für sich allein steht, sondern im Entsichern Kongress mündet, kann die aktive Politik auf der Straße mit konkreten Inhalten verknüpft werden. Mit dem Kongress soll dann ein zweitägiger Raum für Informationen, Diskussionen, Vernetzung und Austausch geschaffen werden.

G.: Unser Anspruch ist also allen Vorran eine stärkere Zusammenarbeit der Strukturen, die eigentlich inhaltlich aber auch praktisch miteinander zu tun haben, sich aber in dieser Großstadt nicht vernetzen oder gemeinsam Perspektiven erarbeiten. Das wollen wir mit der Demonstration und dem Entsichern Kongress versuchen zu ändern. Es geht uns also vor allem auch darum, Solidarität praktisch werden zu lassen. Denn es kann schlicht und ergreifend nicht sein, dass dieses Treffen aus Waffenlobbyist*innen, reaktionären Gewerkschafter*innen, Geheimdiensten Europas usw, nicht auf Widerstand stößt. Vieles, mit dem wir in den letzten Jahren zu kämpfen hatten und in den kommenden zu kämpfen haben werden, wird genau dort beschlossen!

Mit was haben wir denn zu kämpfen, was wird uns in der Zukunft noch beschäftigen?

G.: Auf dem Polizeikongress werden sie u.a. darüber sprechen, wie die digitale Kontrolle, zum Beispiel durch eine elektronische Strafakte, die Auswertung von Massendaten durch Künstliche Intelligenz oder digitale Spuren, ausgebaut werden kann, wie Grenzen noch mehr abgeschottet werden, wie die Polizei noch mehr aufrüsten kann. Der Rahmen, innerhalb dessen diskutiert wird, ist auch gesetzt: „Parallelgesellschaften, Clans, Rechtsextremismus und -terrorismus sowie illegale Handelsplattformen im Darknet“, so schreiben sie selbst auf ihrer Homepage. Zum einen geht es also um die digitale Kontrolle unserer Alltags, zum anderen um den Ausbau des faschistischen autoritären Staates. Und damit haben wir schon seit Jahren zu kämpfen und werden es auch weiterhin müssen.

Z.: Um konkrete Beispiele zu nennen: die Politiker*innen und Behörden haben zum Beispiel Angst, dass ihre schmutzigen Waffendeals und ihre blutige Außenpolitik auf sie zurückfällt, deswegen sind sie interessiert an einer undurchdringbaren Festung Europa. Damit müssen wir uns heute und in Zukunft auseinandersetzen. Um Solidarität zwischen den Menschen zu verhindern, wird ein eh in der Gesellschaft vorhandener Rassismus, Sexismus und Klassismus befördert und angefacht. Gleichzeitig werden reaktionäre Gruppen und Zusammenhänge wie der NSU gefördert und jegliche Beweise vernichtet. Dies sind keine Einzelfälle, wie gerne dargestellt wird und deswegen ist es noch einmal wichtiger, diese Entwicklung ernst zu nehmen und sich dagegen zu wehren.

G.: Und auch, wenn in ihrem offiziellen Programm dazu nichts zu finden ist, sind es auch die Momente der Unkontrollierbarkeit, wie bei den Protesten gegen den G20, welche den Staat und seinen Repressionsorganen schwer zu schaffen machen. Ihre Antwort darauf ist eine möglichst breite Repression, um den Widerstand in „gut“ und „böse“ zu spalten. Über allem steht die totale Überwachung und der Gedanke, durch präventive Maßnahmen die Menschen in Angst und Schrecken zu versetzen und so jegliche widerständige Aktionen im Keim zu ersticken. Was uns also auch konkret beschäftigen sollte, zeigt u.a. die vorherrschende Repression auf, denn sie ist ein Spiegelbild dafür, an welchen Punkten sich der Staat angreifbar fühlt und mit welchen Mitteln er sich dann versucht zu verteidigen. Mit diesen Mittel sollten wir uns ebenfalls auseinandersetzen. Antirepressionsarbeit darf aber kein Teilbereichskampf darstellen. Um die Isolation und Vereinzelung, die der Staat damit erreichen will, zu durchbrechen, müssen wir gemeinsame Strategien entwickeln.

Ihr habt jetzt schon einige Themen gesetzt. Inwiefern soll die Demonstration und der Entsichern Kongress daran anknüpfen?

G.: Dass die Demonstration dieses Jahr in Neukölln stattfindet, liegt u.a. auch an den wöchentlichen Razzien in Shisha Bars, Spätis und Läden im Kiez, sprich der Repression und Stigmatisierung der Menschen, die damit konfrontiert sind. Neukölln ist zur Zeit ein Beispiel von vielen, wenn es um die Zusammenhänge von strukturellen und institutionellen Rassismus, die Rolle von staatlichen Funktionär*innen, Gentrifizierung und Repression geht.

Z.: Genau auf diesen Zusammenhang soll dann auf dem Entsichern Kongress noch einmal vertieft eingegangen werden. Der Kongress wird eine Gegenposition zum Europäischen Polizeikongress einnehmen, weiterhin aber auch aktuelle Diskurse aus der radikalen Linken vertiefen. Wir haben uns deshalb entschieden, Themenschwerpunkte zu wählen, die auf dem Polizeikongress vorkommen – zum Beispiel die fortschreitende Digitalisierung und Überwachung der Gesellschaft, die Grenzsicherheit sowie die Militarisierung der Repressionsorgane. Die Bekämpfung emanzipatorischer Bewegungen spielt in diesem Jahr laut Programm, wie schon erwähnt, keine wirklich große Rolle auf dem Kongress. Dennoch findet sie tagtäglich statt, sei es durch angebliche Verstöße gegen das Vereinsgesetz, was überwiegend kurdische und türkische Linke betrifft, die Einstufung als Gefährder*innen, Strukturverfahren wie nach dem G20 oder die Einführung und Umsetzung der neuen Polizeiaufgabengesetze, beispielsweise der § 113 „Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte“.

G.: Und zusätzlich wird es auch noch einen praktischen Teil geben, bei dem Workshops zum Thema Computer und Smartphone- Sicherheit, Aussageverweigerung sowie Deals und Einlassungen angeboten werden. Es wird möglich sein, eine persönliche Datenabfrage bei sämtlichen Behörden vor Ort zu erstellen und auszudrucken.

Welche langfristige Perspektive seht ihr in der Organisierung der Demonstration und im Entsichern Kongress?

G.: Es geht das ganze Jahr darum, handlungsfähige Strukturen aufzubauen, solidarisch miteinander umzugehen und gemeinsame Strategien entwickeln. Der Kongress und die Demo sind nur zwei Handlungsvorschläge, sich gegen diesen Staat und seinen Verteidiger*innen zu organisieren.

Z.: Natürlich wird nicht alles sofort klappen, was wir uns vorgenommen haben und viele Dinge können womöglich verbessert werden. Wir wünschen uns, dass dieses Wochenende ein Auftakt, zu mehr Solidarität untereinander ist. Demonstration und Kongress können dafür ein erster Schritt sein, aber es darf nicht bei diesen 3 Tagen im Jahr bleiben! Der Kampf gegen Repression und die Solidarität untereinander müssen wieder vermehrt in unseren Alltag eingebunden werden. Deswegen soll dies ein Appell sein, sich mehr aufeinander zu beziehen, sich gegenseitig ernst zunehmen, zuzuhören und voneinander zu lernen!

# alle Informationen zur Demonstration und zum Entsichern Kongress sind hier zu finden und bei Twitter

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Seit dem 17. Oktober ist die chilenische Bevölkerung im offenen Aufstand gegen den Neoliberalismus und die Regierung. Eine der zentralen Forderungen der Bewegung ist eine neue Verfassung, da die aktuelle noch aus der Militärdiktatur stammt. Die Regierung antwortet auf die Proteste mit brutaler Repression: 23 Menschen wurden bereits getötet, mehr als 350 haben durch Geschosse ein Auge verloren, es gibt tausende Verletzte, zuletzt, weil die Polizei Natronlauge in das Wasser der Wasserwerfer mischte. Aber weder die Repression, noch Befriedungsversuche, wie die Ankündigung eines Referendums im April 2020 über eine neue Verfassung, noch kleine Sozialreformen, haben dazu geführt, dass die Proteste aufhören. Die Chilen*innen haben es satt ausgebeutet zu werden.

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Pünktlich zum derzeitigen vom türkischen Machthaber Recep Tayyip Erdogan in Nordsyrien geführten Krieg gegen das selbstverwaltete Rojava zeigen deutsche Behörden, was sie dem Diktator aus Ankara noch anzubieten haben: die Kriminlisierung und Verfolgung der kurdischen Freiheitsbewegung.

Am 25.10.2019 begann in Berlin Schöneberg der Prozess gegen eine feministische kurdische Politikerin, angeklagt wegen angeblicher Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland nach § 129b, konkret der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK).

Die ganze Nummer wirkt wie abgesprochen – als würde das BKA seine Verfolgung von Kurd*innen hierzulande direkt an die Bedürfnisse der AKP-Diktatur anpassen.

Getroffen hat es Yildiz Aktaş, eine 51jährige kurdische Aktivistin, welche schon in der Türkei und auch in Deutschland gegen Gewalt an Frauen und Mädchen und für deren Recht auf Selbstbestimmung, Bildung und finanzielle Unabhängigkeit kämpfte. Dass sie den türkischen Repressionsbehörden deswegen ein Dorn im Auge war und ist, liegt auf der Hand. Deswegen wurde sie stetig verfolgt, saß das erste Mal mit 12 Jahren im Knast in Dyarbakir und wurde gefoltert. 2012 entschied sie sich deswegen, die Türkei zu verlassen und floh nach Deutschland. Sie erhielt Asyl, lebt seitdem in der BRD und führt die Kämpfe, welche sie in der Türkei führte, hier weiter.

Yildiz wurde wegen Mitgliedschaft in der PKK angeklagt. Seit 1993 ist für die PKK in der BRD ein Betätigungsverbot verhängt. Jede*r, der*die innerhalb der PKK aktiv ist, macht sich dementsprechend nach deutschen Recht strafbar. Zusätzlich wird die PKK auf der EU-Terrorliste geführt. Die Grundlage für die Kriminalisierung von PKK-Aktivist*innen ist dementsprechend schon lange gegeben. Die Verfolgung betrifft vor allem angebliche Führungskader der PKK. Sie erstreckt sich aber beispielsweise auch auf Demonstrationen, wenn übermotivierte Bullen kurdische Aktivist*innen mit PKK Fahnen angreifen, verprügeln und manchmal auch in Knäste stecken. Der Prozessauftakt gegen Yildiz untermauerte diese Verfolgung und Kriminalisierung noch einmal mit einer anderen Intensität.

Am ersten Prozesstag beantragten die Verteidiger*innen eine Unterbrechung des Verfahrens. „Die Begründung hierfür liegt im ihrem an das Bundesjustizministerium gerichteten Brief, in dem sie darlegen, warum dieses die sogenannte Verfolgungsermächtigung gegen Yildiz zurücknehmen sollte. Erst diese Ermächtigung erlaubt es den Behörden, in solch einem 129b-Verfahren umfassend zu ermitteln, zu überwachen und zu verfolgen. Gegen die PKK gibt es eine generelle Verfolgungsermächtigung, in Yildiz´ Fall wurde noch eine ‚Einzelverfolgungsermächtigung` ausgestellt. Die Begründung der Verteidiger*innen bezieht sich auch auf den aktuellen Angriffskrieg der Türkei gegen die selbstverwalteten Gebiete in Nordost-Syrien (Rojava), sowie auf die Menschenrechtslage in der Türkei.“, so die Soligruppe von Yildiz. Die Beweisaufnahme solle „bis zur Entscheidung des Bundesjustizministeriums darüber, ob die von ihm erteilte Verfolgungsermächtigung gegen angebliche Führungskader der PKK, noch angemessen und politisch haltbar sei, unterbrochen werden“.

Reaktion des Gerichtes am 29.10.19? Antrag abgelehnt! Begründung: es wäre wohl unklar, ob solch ein Antrag gegen die Einzelverfolgungsermächtigung gegen Yildiz Erfolg haben könnte. Und bevor eine Entscheidung des Bundesjustizministeriums abgewartet wird, heißt es dann im Gerichtssaal: weitermachen mit der Verfolgung! Das bedeutet, dass der Prozess mindestens bis zur Entscheidung des Bundesjustizministeriums mit der gängigen antikurdischen und pro-türkisch-faschistischen Haltung geführt wird.

Das zeigte sich dann am zweiten Prozesstag auch insofern, als kaum ein Wort über türkische und IS-Angriffe auf Gebiete der Kurd*innen und insbesondere Rojava fällt. Geladen ist Michaela Müller, Kriminalhauptkommissarin des BKA – eine alte Bekannte aus PKK-Prozessen.

Hier ist sie seit 1994 angestellt, seit 2008 für „politisch motivierte ausländische Kriminalität“ und deswegen auch für die Verfolgung vermeintlicher Mitglieder der PKK zuständig. 2012 – 2017 erstellte sie wohl eine Chronologie über die PKK, wobei sie wohl „Anschläge und Aktionen“ dokumentierte. Ihre selbsternannte „Recherche“ bezog sich dabei fast ausschließlich auf die Internetseite der HPG (Verteidigungskärfte der PKK). Von der Struktur der kurdischen Bewegung habe sie, selbstredend, keine Ahnung. Sie würde lediglich Anschläge zählen. Im Endeffekt kann man sich ihre Arbeit nach ihren Aussagen so vorstellen, dass sie 2013-2017 vorm Computer saß, Bekenner*innenschreiben las, übersetzen ließ und mit der Maus auf einer Homepage hoch und runter scrollte.

In dem dreistündigen Prozess wird dann ausschließlich von „Angriffen“ von Kurd*innen gesprochen. Zwar wird erwähnt, dass es in der Zeit von 2013-2017 auch „Gefechte“ gab, diese würden im Prozess aber wohl nicht einbezogen werden. Bei den sogenannten „Gefechten“ handelt es sich wohl um türkische Angriffe, bei welchen „sich die HPG verteidigte“ , so Müller.

Schon die Ablehnung des Antrages der Verteidigung durch das Gericht stand symbolisch für die deutsche Unterstützung und Legitimation des von Erdogan geführtes Krieges gegen die Kurd*innen, der Sprech der BKA Angestellten Müller verdeutlicht diese noch einmal mehr. Zur Erinnerung: im gesamten Zeitraum von 2013-2017 griffen der Islamische Staat und die Türkei immer wieder gezielt kurdische Gebiete an, um einen gemeinsamen Genozid an den Kurd*innen zu begehen. Inwiefern dementsprechend ein angeblicher „Angriff der Kurd*innen“ auch eine „Verteidigung gegen den Faschismus“ darstellt, wird natürlich nicht diskutiert. Im Gegenteil: durch die juristische Verdreherei eines realen Krieges wird Erdogan geschützt, kurdische Strukturen kriminalisiert.

Um natürlich aber auch die Hexenjagd nicht zu vergessen, fragt die Staatsanwaltschaft gezielt danach, ob sich Frauengruppen der HPG in der Zeit von 2013-2017 auch zu Anschlägen bekannt haben, was Müller bejaht.

Die gezielte faschistische Prozessführung seitens Richter, BKA-Beamtin und Staatsanwaltschaft gegen kurdische Frauengruppen der PKK wird dann schlussendlich mit der Aussage Müllers getoppt, dass laut ihrer Recherche die HPG mehr Verletzte und Getötete vorweisen könne als die türkische Regierung. Logisch ist das allemal: nach der Türkei wird ja auch nicht gefahndet, die Mordzahlen in ihrer Verantwortung also auch nicht gezählt.

Auch am vierten Prozesstag wurde ein Zeuge des BKA vernommen, Kriminalhauptkommisar Herr Becker. Er hat sich wohl jahrelang durch die Strukturakten der PKK gewühlt, aber auch er scheint „erstaunlich wenig Hintergrundwissen zu haben“, so die Soligruppe in einer Pressemitteilung. Von 2003 bis 2018 „schien er eigentlich nur zu wissen, wann sich welche Organisation wie umbenannt hatte und wie sie strukturiert war. In dem gesamten Zeitraum hat er sich weder mit der inhaltlichen Ausrichtung der Arbeiterpartei Kurdistans, PKK, (Stichwort Paradigmenwechsel) noch mit der politischen Einordnung in die Situation vor Ort beschäftigt.“ Bei der Frage, wer den Anschlag von Suruç 2015 verübt hat, überlegt er zunächst länger und antwortet dann nicht konkret mit den Verantwortlichen, sondern mit: „Die PKK vermutete eine Komplizenschaft der Türkei mit dem IS.“ Weiterhin sagen ihm die Begriffe „Zwangsumsiedlungen“ und „Verschwindenlassen“ nichts.

Und so wird auch an diesem Prozesstag verleugnet, dass die Türkei in Zusammenarbeit mit dem IS einen Krieg gegen die Kurd*innen führt, wieder wird die PKK verantwortlich für alles Übel gemacht.

Die Verleugnung eines von der Türkei geführten Krieges und gleichzeitiges absolutes Desinteresse für Betroffene, wie zum Beispiel Yildiz Aktaş, charakterisieren das gesamte Verfahren. Am dritten Prozesstag wird von den Verteidiger*innen der Angeklagten der erste Teil ihrer Prozesserklärung vorgelesen. In dieser schildert sie ihre Lebensgeschichte, welche „von Gewalt und Folter, Kriminalisierung als Kurdin und Unterdrückung als Frau durch die Familie geprägt ist – sowie von feministischen Kämpfen und Solidarität durch andere Frauen“, fasst die Soli-Gruppe zusammen. Was die Prozessbeobachter*innen berührt, erschüttert und bei ihnen Gänsehaut auslöst, lässt das Gericht offensichtlich eiskalt. „Die Richter*innen blicken zu Yildiz, schauen weg, schauen in die Luft, machen sich Notizen. Die Situation wirkt grotesk.“, so die Soligruppe.

Während Yildiz über die Grausamkeiten des Putschregimes, über ihre Inhaftierungen, Gewalterfahrungen, Folterungen und die feudal-patriarchale Gesellschaft in der Türkei der 1980er sowie der darauffolgenden Jahre bis zu ihrer Flucht nach Deutschland spricht, muss es den Beobachter*innen grotesk vorkommen, dass ausgerechnet sie die Angeklagte im Raum ist. „Für uns drängt sich die Frage auf: Wer sind hier eigentlich die Terrorist*innen, wer wird so bezeichnet und warum?, so die Soligruppe.

# Solidaritätsaktionen für Yildiz werden immer noch von viel zu wenigen Aktivist*innen besucht und getragen. Informiert euch hier über den Fortgang des Prozesses und Termine: https://freiheit-yildiz.com/

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Der Aufstand in Chile geht seit Samstag unvermindert weiter. Militär und Polizei gehen brutal gegen die protestierende Bevölkerung vor. Doch die Bevölerung trotzt der Polizeigewalt: Allein gestern, Dienstag, waren allein in der Hauptstadt Santiago mehr als 100.000 Menschen auf der Straße. Chris Ko hat für’s lcm ein Interview mit Camilo González, der aktiv in der Studierendenbewegung in Valparaíso ist, geführt und mit ihm über die Hintergründe des Protests gesprochen

In den letzten Tagen überschlugen sich die Ereignisse. Was ist da gerade los in Chile?

Was gerade in Chile passiert, ist der größte Aufstand seit dem Ende der Diktatur vor 30 Jahren. Der Neoliberalismus ist während der „Demokratie“ noch stärker geworden. Und jetzt haben wir hier die krassesten Ausschreitungen und sie werden auch nicht nur von Studierenden getragen.

Am Anfang sah es ja tatsächlich so aus, als wenn vor allem Schüler_innen und Studierende protestiert haben. Hat sich das jetzt auf andere Gruppen ausgeweitet, z.b. die ganzen verarmten und diskriminierten Migrant_innen aus Venezuela oder Haiti?

Ja, alles hat damit angefangen, dass die Regierung die Ticketpreise für die U-Bahn um 30 Chilenische Pesos (weniger als 5 Eurocent) erhöhen wollte. Das klingt vielleicht erst mal nicht nach viel, aber das Leben in Chile ist sowieso schon sehr teuer, die Löhne gering. Deshalb fingen die Studierenden an über die Drehkreuze zu springen und die Polizei ist dann dagegen vorgegangen. Daraufhin gab es Aufrufe, massenhaft ohne Ticket zu fahren, die Situation heizte sich auf und am Freitag begannen die Leute in den U-Bahn-Stationen zu randalieren. In kurzer Zeit entwickelte sich dies zu einem Aufstand, in dessen Verlauf viele Stationen angezündet und zerstört wurden. Samstag waren dann wirklich viele Leute auf den Straßen. Hauptsächlich junge Menschen, aber auch mehr und mehr ältere. Es gab weiter Ausschreitungen und auch Plünderungen von Supermärkten, Shopping Malls, Banken, Autohäuser etc. Tatsächlich haben ein paar Migrant_innen an friedlichen Demonstrationen in Santiago teilgenommen, aber diese Revolte speist sich vor allem aus der lang angestauten Wut in der chilenischen Gesellschaft: Der Sozialpakt ist gründlich delegitimiert.

Studierende wären von den neuen Ticketpreisen gar nicht betroffen gewesen. Warum seid ihr trotzdem bei den Protesten ganz vorne mit dabei?

Es stimmt, dass Studierende nicht betroffen wären, aber die Erhöhung war auch nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Wie gesagt, die Unzufriedenheit im neoliberalen Chile ist groß. Nicht nur die Wirtschaft, alle Lebensbereiche sind prekär. Diese neoliberale Logik, dass um jeden Preis Profite erhöht und Kosten gesenkt werden müssen, ist fester Bestandteil des sozialen Lebens geworden. Überall herrscht ein extremer Individualismus. Studierende und Schüler_innen können sich noch organisieren und Bildungsproteste haben hier ja auch eine starke Tradition, vor allem in den öffentlichen Universitäten und Schulen. Aber Arbeiter_innen haben kaum noch Möglichkeit dazu, weil es in Chile kaum Sicherheit für die Arbeiter_innenklasse gibt.

Die Regierung hat die Erhöhung bereits zurückgezogen, aber die Proteste sind mit einem Generalstreik am Montag weiter gegangen. Was erwartest du für die nächste Zeit?

Der Generalstreik wurde nicht vom größten Gewerkschaftsverband, der CUT (Central unitaria de trabajadores), unterstützt. Die Gewerkschaft der Hafenarbeiter_innen und Bergbaugewerkschaften aus dem Norden haben dazu aufgerufen. Aber davon ab ist es kein richtiger Generalstreik.
Meiner Meinung nach waren die Proteste am Wochenende vor allem von zwei Gruppen getragen:
Die politischen Protestierenden und das randalierende „Lumpenproletariat“ (in Chile wird tatsächlich auch von „Lumpen“ in den Medien gesprochen, haha). Diese Trennung soll nur den unterschiedlichen Grad der politischen Beweggründe und des Austauschs mit der Community deutlich machen.
Erstere haben geplündert und die Beute geteilt, so Robin Hood mäßig, während die Menschen die besonders arm und prekär leben, einfach oft die Möglichkeit etwas umsonst zu bekommen genutzt haben. Das umfasst sowohl Dinge des alltäglichen Bedarfs wie Klopapier, als auch Alkohol oder große Fernseher. Frei nach dem Motto: „Wenn andere das können, kann ich das auch!“.
In jedem Fall sind beide aber Ausdruck der Wut gegen die staatliche Autorität und insbesondere die Polizei.
Ein anderer wichtiger Punkt ist, dass es keine Anführer_innen in den Demonstrationen gibt. Auch haben politische Parteien nichts zu sagen. Die linken Parteien haben generell kein politisches Projekt, mit dem sie die zwei oben erwähnten Gruppen ansprechen können.

Was sind die weiteren Forderungen, nachdem die Preiserhöhungen verhindert wurden?

Weitere Forderungen haben sich noch nicht richtig herauskristallisiert. Da die Bewegung keine Anführer_innen hat, steht erst mal die Ablehnung der Regierung im Mittelpunkt. Die Oppositionsparteien haben keine politische Strategie, aber am Montag hat die Hafenarbeitergewerkschaft angefangen zu streiken, ebenso die Arbeiter_innen von Minera Escondida, der größten Kupfermine in Chile. In erster Linie tun sie das, damit die Armee wieder abgezogen wird.
Meiner Meinung nach, ist es aber wirklich Zeit, dass die Arbeiter_innen in den Gewerkschaften endlich ihre Rolle übernehmen und damit anfangen die Arbeiter_innenklasse auf die Straße zu bringen.
Dass nach der Erklärung des Ausnahmezustandes, die Armee auf die Straßen geschickt wurde erinnert natürlich an die sehr bekannten Bilder vom Putsch 1973 und der darauf folgenden Militärdiktatur. Nichtsdestotrotz gehen die Menschen auf die Straße. Was für Gefühle und Reaktionen erzeugt diese Situation in der Bevölkerung? Gibt es Konfrontationen zwischen Armee und Demonstrant_innen?
Für ältere Menschen ist es eine krasse Erfahrung, dass wieder Panzer über die Straßen rollen. Der Sound von Helikoptern über der Stadt und die Arme wieder in den Städten patrouillieren zu sehen, hat natürlich eine gewaltvolle, symbolische Aufladung. Aber für die Jüngeren, die die Diktatur nicht mehr aktiv mitbekommen haben, geht es um etwas anderes. Insbesondere für die, die bei der Schüler_innenbewegung 2006 und bei den Bildungsprotesten 2011, wo wir gestreikt und die Unis für fünf Monate besetzt haben, dabei waren. Und jetzt haben wir diese Situation. Es ist wie eine Spirale des politischen Konflikts, aber wir warten immer noch darauf, dass sich diejenigen einmischen, die am meisten unter der Diktatur gelitten haben: die Arbeiter_innenklasse.

Es wird immer wieder skandiert, dass die Diktatur noch andauert. Inwiefern beeinflusst sie das Land noch immer?

Die Diktatur ist präsent, weil wir immer noch unter der Verfassung von 1980 leben. Im Zuge dessen wurden viele Teile der produktiven Sektoren in Chile privatisiert. Das betrifft vor allem die Gesundheitsversorgung und das Bildungssystem, aber auch Bodenschätze und sogar das Trinkwasser. Auch untersteht die Armee nicht den zivilen Gerichten. Deshalb gibt es immer noch keine Gerechtigkeit für die zahlreichen Verbrechen, die unter der Diktatur stattfanden. Armee und Polizei haben in dieser Zeit gefoltert, gemordet und mehr als 1200 Menschen verschwinden lassen. Bis heute ist oft nicht klar, wo ihre Körper sind und was genau mit ihnen passiert ist. Die wenigen Soldaten die verurteilt worden sind, sitzen ihre Strafen in speziellen Gefängnissen ab und genießen dort viele Privilegien.
Während Angehörige der Armee eine vergleichsweise hohe Pension vom Staat erhalten, erhalten Rentner_innen bloß einen kleinen, miserablen Betrag aus dem privatisierten Rentensystem … Scheiss auf die Armee!

Du hast schon die letzte große Protestwelle in Chile, die Bildungsstreiks 2011/2012, angesprochen. Damals war auch der rechte Politiker Sebastián Piñera Präsident. Durch die damalige Weigerung der Regierung mit den Studierenden zu sprechen und die brutale Repression, hat er einen immensen Beliebtheitsverlust in der Bevölkerung einstecken müssen. Nun werden wieder Rücktrittsforderungen laut. Wie konnte er überhaupt wieder Präsident werden?

Piñera wurde hauptsächlich aus zwei Gründen gewählt: In seiner ersten Amtszeit, hat er zusammen mit den Medien eine Erzählung entwickelt, dass mit dem anderen (mitte-“links“ und auch neoliberalen) Kandidaten, Chile wirtschaftlich zu einem zweiten Venezuela werden würde. Die Leute fingen sogar an von „Chilezuela“ zu sprechen. Bemerkenswerterweise waren dann aber die Warteschlangen in den Geschäften in der Mitte der Amtszeit von Piñera am längsten.
In seiner zweiten Amtszeit hat er mehr Jobs und höhere Löhne versprochen. Die Kultur dieses Landes ist so neoliberal geprägt, dass sich viele Leute weniger von sozialen Rechten oder öffentlicher Gesundheitsversorgung und Bildung angesprochen fühlen, dafür aber umso mehr von einem hohen Gehalt. Bei der starken alltäglichen Konkurrenz und den vergleichsweise geringen persönlichen finanziellen Ressourcen vieler Chilen_innen, hat dieser Wahlkampf leider gut funktioniert.

Scheinbar fand der Aufstand vor allem in Chiles Hauptstadt Santiago und in ein paar größeren Städten statt. Wie sieht es gerade im Rest des Landes aus?

Die Demonstrationen haben in Santiago begonnen und sind schnell auch hier nach Valparaíso und nach Concepción übergeschwappt. Dies waren auch die ersten Regionen wo der Ausnahmezustand und damit einhergehende Ausgangssperren verhängt wurden. Danach breitete sich der Aufstand von Norden nach Süden aus. Überall gibt es große Riots und Plünderungen, sogar im eher dünn besiedelten Süden Chiles.

In jüngerer Zeit gab es öfter Aufstände gegen neoliberale Regierungen in Lateinamerika. Jetzt in Chile, davor in Ecuador, Haiti, Puerto Rico oder auch letztes Jahr in Argentinien. Was denkst du warum passiert das gerade? Meinst du, wir könnten noch sowas wie einen lateinamerikanischen Frühling erleben?

Ich denke, man kann sagen, dass der Kapitalismus der Grund für all das Unbehagen ist. Wenn ich sehe, wie Menschen Supermärkte plündern, dann ist das für mich Klassenkampf. Auch wenn es in erster Linie darum geht, Sachen umsonst zu bekommen. Denn hier kommt es durchaus vor, dass Menschen Rechnungen über umgerechnet 15 Euro für ganz normale Artikel des täglichen Bedarfs in zwölf Raten abstottern müssen. Das ist super brutal. Oder wenn ein 75-jähriger Arbeiter als Wachmann schuften muss, weil seine kümmerliche Rente nicht ausreicht, um zu leben. Wenn du in die müden Gesichter der Menschen schaust, dann merkst du, dass die Wut nicht bloß aus der Erhöhung der Ticketpreise resultiert. Die Ausbeutung ist riesig.
In den letzten Jahren wurden Länder wie Argentinien oder Ecuador wieder deutlich neoliberaler und wir konnten sehen, wie zerstörerisch das ist. Viele sind gerade nostalgisch und wünschen sich die Zeit der progressiven Regierungen in Lateinamerika zurück. Sie verkennen dabei aber, dass es auch in dieser Zeit kein ernsthaftes Interesse gab, den Kapitalismus zu überwinden und die Autonomie der Bevölkerung zu stärken. Stattdessen verfestigte sich die Abhängigkeit von Rohstoffen und der Führungsanspruch von Präsidenten.
Jetzt gerade gibt es keine Anführer_innen im Aufstand. Ich denke, die Menschen sollten in ihre eigene Kraft vertrauen. Ich würde mich freuen, wenn sich die verschiedenen nationalen Kämpfe verbinden würden, aber um wirklich zu gewinnen, müssen wir zuerst das neoliberale Denken aus unseren Köpfen und Herzen drängen.

#Titelbild: Nachdem das Militär aus nächster Nähe auf eine Demo in Santiago schoss, haute ein Demonstrant einem Soldaten ins Gesicht. frentefotografico

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„Nee, das haben wir nicht und bestellen geht auch nicht.“ Die Antworten gleichen sich bei allen Buchläden, die man anruft. Es geht um das Buch „Jenseits von Staat, Macht und Gewalt“ von Abdullah Öcalan, das für lange Zeit nicht verfügbar war. Nicht einmal der Versandriese und dystopische Megakonzern Amazon, wo man sonst vom Müsliriegel bis zum Astronauten-Katzen-Transportrucksack sämtliche Konsumbedürfnisse befriedigen kann, führte das Buch in seinem Sortiment. Grund dafür ist eine Zensurmaßnahme, die so gar nicht in das ganz aktuell selbstgegebene Bild der Rechtsstaatlichkeit passen will, das mit der Kampagne „Wir sind Rechtsstaat“ die Plakatwände der deutschen Innenstädte flutet.

Am 12. Februar 2019 wurde die Räume des Mezopotamien-Verlags, bei dem unter anderem „Jenseits von Staat, Macht und Gewalt“ erschien, von der Polizei durchsucht. Grund dafür war, dass laut Innenministerium der Verlag als „Teilorganisation der 1993 in Deutschland verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verboten und aufgelöst“ werde. Sämtliche Bücher, die noch gelagert waren, wurden beschlagnahmt. Die bis dahin nur in diesem Verlag veröffentlichten Bücher waren nicht mehr verfügbar, auch wenn sie inhaltlich zu keinem Zeitpunkt in irgendeiner Form rechtlich beanstandet worden waren.

Wenn von Zensur gesprochen wird, wird meistens auf China, die Türkei, Saudi-Arabien und andere autoritäre Staaten verwiesen. Und tatsächlich sind Veröffentlichungen in Deutschland nicht genehmigungspflichtig, sprich es gibt keine*n Zensor*in, der*die Bücher und Zeitschriften vor der Veröffentlichung durchliest und für die Regierung unliebsame Inhalte streicht oder deren Veröffentlichung untersagt. Zensur findet aber dennoch statt, allerdings rechtsstaatlich „sauber“, auf anderem Wege. Das Mittel der Wahl ist hierbei in den letzten Jahren das Vereinsverbot.

Dabei geht es, wie beim klassischen Zensieren um politisch nicht gewollte Inhalte. Der Mesopotamien-Verlag veröffentlichte nicht nur Texte von Abdullah Öcalan, sondern auch die Autobiografie der im Januar 2013 vom türkischen Geheimdienst ermordeten Sakine Cansız „Mein ganzes Leben war Kampf“, ein deutsch-kurdisches Wörterbuch, Kinderbücher, kurdische Gedichte und Texte zum demokratischen Konföderalismus, gegen den der türkische Staat zusammen mit Islamisten jeglicher Couleur gerade einen mörderischen Feldzug in Rojava führt. All diese Inhalte wurden durch das „Vereinsverbot“ unzugänglich gemacht, also über Umwege zensiert.

Das Ziel dabei ist offensichtlich: Die Solidarität mit dem basisdemokratischen Projekt in den verschiedenen Teilen Kurdistans soll erschwert werden. Die theoretischen und historischen Grundlagen und die politische Praxis, die den Versuch eine Gesellschaft jenseits von Staat, Macht und Gewalt zu organisieren, zeigen, sollen unsichtbar gemacht werden. Zum einen aus Tradition – man geht jetzt ja schon seit mehr als 20 Jahren gegen die kurdische Freiheitsbewegung vor –, oder um sich dem faschistischen Regime in Istanbul anzubiedern; zum anderen aber auch aus ganz handfesten eigenen Interessen. Jegliche Perspektive, die über die bestehenden Verhältnisse hinausweist muss aus einer bürgerlich-kapitalistischen Perspektive bekämpft und kriminalisiert werden. Die kurdische Bewegung, deren Inhalte – trotz sonst immer gerne hochgehaltener Meinungsfreiheit – hier zensiert werden, ist dabei aber nur ein Beispiel unter anderen.

Denn Zensur gegen linke Medien findet auch an anderen Stellen statt. Nach den Protesten gegen den G20-Gipfel in Hamburg wurde 2017 die Medienplattform linksunten.indymedia.org verboten. Mittel der Wahl war auch hier ein Vereinsverbot. Das Bundesinnenministerium erklärte linksunten.indymedia kurzerhand zum Verein, der sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung richte und startetet Strafverfahren gegen die vermeintlichen Betreiber*innen aus Freiburg. Presserechtlich wäre es unmöglich gegen linksunten vorzugehen, über die Behauptung, die PLattform sei ein Verein, wird der rechststaatliche Schein gewahrt, nach dem Motto „Wir verbieten keine Medien, wir gehen gegen einen kriminellen Verein vor“. Auch hier ist das Vereinsverbot offensichtlich nur Mittel zum Zweck, um ein linkes Medium zu zensieren und so zu verhindern, dass die Inhalte von der Plattform an die Öffentlichkeit gelangen und zu erreichen, dass der Widerstand gegen die Verhältnisse hier und anderswo unsichtbar bleibt.

Für‘s erste waren die Maßnahmen erfolgreich. Linksunten.indymedia.org ist nicht mehr zu erreichen, die Bücher die im Mezopotamien-Verlag erschienen waren, waren bis vor kurzem vergriffen. Für letztere allerdings hat sich eine solidarische Lösung gefunden. Die Verlage edition 8 aus Zürich, Mandelbaum aus Wien und der Unrast aus Münster haben mit der edition mezopotamya zumindest einen Teil der zensierten Bücher wieder zugänglich gemacht, das lower class magazine ist dabei eine*r von vielen Mitherausgeber*innen. Zwar konnten nicht alle im Mezopotamien-Verlag erschienen Bücher erneut veröffentlicht werden, aber zumindest kann so ein Teil der Ideen, gegen die sich Repression und Zensur richten wieder gelesen und auch im Buchhandel eures Vertrauens nachbestellt werden.

#Titelbild: Werbekampagne für den „Rechtsstaat“ aufgenommen in Berlin, privat

Wir dokumentieren hier einen Spendenaufruf für die edition mezopotamya:

*Gegen Zensur, für Publikationsfreiheit!*

*Spendenaufruf für die /Edition Mezopotamya/*

Für die Wiederveröffentlichung von beschlagnahmten (jedoch nicht verbotenen) Büchern sind wir auf solidarische Spenden angewiesen. Es geht um den von Bundesinnenminister Horst Seehofer verbotenen kurdischen *Mezopotamien Verlag*.

Am 12. Februar 2019 ist der Verlag, ebenso wie der benachbarte MIR Musikvertrieb verboten worden. Beiden wird unterstellt, Unterorganisationen der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) zu sein. Der Mezopotamien Verlag hat Bücher in verschiedenen Sprachen zu kurdischer Geschichte, zur kurdischen Frauenbewegung, die Schriften von Abdullah Öcalan sowie Romane, ein Sprachlehr- und ein Wörterbuch, Kinderbücher und vieles mehr veröffentlicht. Außerdem hat der Verlag Bücher auf Türkisch und Kurdisch aus anderen Verlagen vertrieben, darunter viele Klassi-ker der Weltliteratur.

Keines dieser Bücher des Mezopotamien Verlags ist in der Vergangenheit in Deutschland verboten oder auch nur in irgendeiner Weise beanstandet worden. Dennoch wurden sie tonnen-weise beschlagnahmt, ebenso die Bücher aus den anderen Verlagen – so dass sie für Buchhandel und Leser*innen nicht mehr erreichbar sind. Das werten wir als Zensur durch die Hintertür.

Die wichtigsten der deutschsprachigen Titel des Mezopotamien Verlags sind nun als Edition Mezopotamya von den drei Verlagen Unrast (D), Mandelbaum (A) und Edition 8 (CH) neu aufgelegt worden und damit für den Buchhandel wieder verfügbar. Finanziert werden muss das Projekt aus Spenden.

*Spendenkonto:*
Verein z. Förderung kurdischer Kultur e.V.
IBAN: DE78 4306 0967 1011 1214 00
BIC: GENODEM1GLS
Verwendungszweck: Edition Mezopotamya

Aus dem Buchverkauf rücklaufendes sowie ggf. überschüssiges Geld wird einem Solidaritätsfonds für die Prozesskosten des Mezopotamien Verlags und des MIR Musikvertriebs zur Verfügung gestellt. Denn die beiden Verlage unternehmen selbstverständlich rechtliche Schritte gegen ihr Verbot.

Eine Vorschau auf die wieder aufgelegtendeutschsprachigen Titel finden Sie als pdf-Datei unter: http://wck.me/13uF

/Unrast, Mandelbaum, Edition 8/
/International Initiative Edition, Antiquariat Walter Markov

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Drei Monate Knast wegen „Dokumenten der extremen Linken“?

Eigentlich wollten sie zusammen in den Camping-Urlaub fahren – nach Lekeitio im spanischen Baskenland. Doch statt der baskischen Kultur und antifaschistischen Widerstandsgeschichte lernen drei junge Nürnberger nun „die französischen Bräuche kennen“, wie die deutsch-französische Tageszeitung „eurojournalist„ mit bitterer Ironie anmerkte. Im Vorfeld des G7-Gipfels wurden sie in der Nähe von Biarritz aus dem Auto geholt und im Schnellverfahren zu 2, bzw. 3 Monaten Haft verurteilt. Verdächtig gemacht hatten sie sich durch das Mitführen von Boxsport-Equipment und schwarzen Kleidungsteilen, einer Motorrad-Sturmhaube, einem Notfallhämmerchen, das der Spiegel und andere deutsche Presseorgane sogleich zum Eispickel erhoben, sowie „Dokumenten der extremen Linken“.

Dies und die Tatsache, dass sie dem Tagungsort der Weltmächte zu nahe gekommen waren, reichte der französischen Justiz zu einer Verurteilung der drei wegen „Vorbereitung von Gewalttaten“. Zu den wenigen unmittelbaren Informationen über die Ereignisse – sie stammen unter anderem von dem Freiburger Radiojournalisten Luc, der selbst in kurzer Zeit zweimal inhaftiert und des Landes verwiesen wurde – gehört, dass Verhöre teilweise ohne richtigen Dolmetscher geführt wurden, ihnen Pflichtverteidiger zugeordnet wurden und den Anwälten des Legal Teams der Anti-G7-Proteste der Kontakt verwehrt wurde.

Die drei jungen Genossen wurden nach ihrer Verurteilung auf drei Gefängnisse aufgeteilt. Sie dürften Schwierigkeiten haben, sich mit anderen Gefangenen zu verständigen, da keiner von ihnen französisch spricht. Nicht einmal ihre Eltern durften die Inhaftierten telefonisch kontaktieren. In einem Fall dauerte es 10 Tage bis endlich ein Lebenszeichen per Post ankam, von einem anderen der Gefangenen haben die Angehörigen zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieser Zeilen noch immer keine Nachricht erhalten. Auch die deutsche Auslandsvertretung, an die sich die Eltern wandten, um wenigstens Informationen zu erhalten und ihren Söhnen Anwälte besorgen zu können, mauerte: Man könne nicht, dürfe nicht, bekomme von Frankreich keine Auskünfte.

Der Polizeistaat kennt keine Grenzen

Dabei ist grenzüberschreitende Behördenkooperation eigentlich gar nicht so schwierig. Mit großer Sicherheit ist davon auszugehen, dass die französische Polizei nach der Feststellung der Personalien sehr schnell Bescheid wusste, dass sie es bei den drei Nürnbergern mit „gefährlichen Staatsfeinden“ zu tun hatte.

Eine Bundestags-Anfrage der Linkspartei ergab nämlich wenig überraschend, dass die BRD im Vorfeld des Gipfels von BKA und Verfassungsschutz erarbeitete „Störerdateien“ an die französischen Behörden weitergegeben hatte. Um in einer solchen Liste zu landen, reicht es bereits, dass man „in Zusammenhang mit Großereignissen“ der Polizei aufgefallen ist oder aber „Kontakte zu ausländischen Aktivistinnen (unterhält), die bereits durch Gewaltstraftaten in Erscheinung getreten sind und zu denen zumindest geringfügige polizeiliche Erkenntnisse vorliegen.“ So heißt es in der Antwort des Bundesinnenministeriums auf die Anfrage des Abgeordneten Andrej Hunko.

Die „Drei von der Autobahn“, wie die Betroffenen von der inzwischen rege aktiven Nürnberger Solibewegung kurzerhand getauft wurden, sind nicht die Einzigen Opfer europaweiter behördlicher Zusammenarbeit. Dutzende dürften auf Grund dieser und ähnlicher Listen ausgewiesen worden sein. So auch der Journalist Luc, der sogar in Paris vor Gericht gegen seine Ausweisung Recht bekam, dann erneut nach Biarritz reiste, um sofort wieder festgesetzt zu werden. Bekannt ist, dass auch Spanien Frankreich bei der Verfolgung der G7-GegnerInnen unterstützt. Allein 500 Namen aus dem spanischen Baskenland stünden auf einer entsprechenden Liste, wurde dem baskischen Politiker Joseba Alvarez im Rahmen seiner Abschiebung aus Frankreich durch die Polizei mitgeteilt. Insgesamt wurden 164 G7-Gegner*innen im Rahmen der Proteste festgenommen, 23 Menschen werden angeklagt

Gesetze gegen soziale Bewegungen

Ein europäischer Polizeistaat zeigt hier nicht zum ersten Mal Konturen. Schon früher, z.B. im Rahmen des G20 in Hamburg, wurden über das europäische Polizeinetzwerk PWGT („Police Working Group on Terrorism“), das speziell zur Bekämpfung militanter linker Gruppen gegründet worden war, Informationen über Aktivist*innen übermittelt. Welche Gefahr für die Linke von solchen Strukturen ausgeht zeigt das Beispiel der drei Nürnberger nur einmal mehr und sehr deutlich: Als Beweis reichten hier Alltagsgegenstände im Kofferraum und die Zuordnung zur „extremen Linken“ durch einschlägiges Schriftmaterial.

Ein weiterer Ausbau europäischer polizeistaatlicher Strukturen und die Überführung bestehender Praxen von der informellen Ebene in formelle Institutionen ist nicht nur im Sinne eines Orban oder Macron. Letzterer ist zwar ein Scharfmacher, der für Grenzkontrollen und Grenzpolizei eintritt, das Asylgesetz verschärfte, bei seinem Antritt die neoliberalen „Arbeitsrechtsreformen“ im Gepäck hatte, und zuletzt das Loi Anti-Casseur, das „Anti-Randalierer-Gesetz“ gegen die sozialen Bewegungen, speziell gegen die Gelbwesten, in Stellung brachte. Diese Tendenz, der Polizei bereits bei bloßem Verdacht immer weiter reichende Handlungsmöglichkeiten zu gewähren ist aber kein rein französisches Phänomen. Denn auch das bayerische Polizeiaufgabengesetz, das der Rechten als Mustervorlage für Länderpolizeigesetze gilt, erlaubt der Polizei bei einer „drohenden Gefahr“ ohne konkreten Verdacht zu Zwangs- und Überwachungsmaßnahmen zu greifen.

Ziel des unerklärten Ausnahmezustands, der über Biarritz verhängt wurde, war offensichtlich Protest komplett zu unterdrücken. Dies schließt nahtlos daran an, wie die deutschen Repressionsorgane mit Hilfe der Medien beim G20 in Hamburg 2017 für die Weltöffentlichkeit Bürgerkriegszenen inszenierten. Zahlreiche Journalist*innen klagten auch in Biarritz über die Einschränkung ihrer Rechte. Führungsmitglieder der französischen Menschenrechtsliga, die als Beobachter*innen vor Ort waren, wurden laut einem Artikel des Onlinemagazins Telepolis, festgenommen. Ebenso wie die „Drei von der Autobahn“ werden sie „geplanter Gewalt“ beschuldigt. Man hatte Helme und Schutzbrillen bei ihnen gefunden.

Doch es muss noch mal gesagt werden: der Umbau des „demokratischen Rechtsstaats“ ist keine französische Spezialität. Auch in anderen europäischen Staaten werden die Befugnisse der Repressionsbehörden systematisch zu Lasten der Menschen ausgebaut. Neue Überwachungstechniken ergänzen die ausgeweiteten Befugnisse und ermöglichen dem Staat, seine Bürger bis ins Intimste zu überwachen. Dass es mit Rechtstaatlichkeit und Demokratie des bürgerlichen Staates nicht so weit her ist, ist keine neue schockierende Erkenntnis. In Frankreich gibt es seit langem als „Notverordnung“ den Paragraf 49-3, der es der Regierung erlaubt, Gesetze am Parlament vorbei zu erlassen. Mit dessen Hilfe hatte auch der „sozialistische“ Präsident Hollande das heftig umkämpfte Arbeitsmarktgesetz durchgepeitscht. In Deutschland haben wir eine lange Tradition über die Schaffung der Notstandsgesetze, die Einführung des §129a und anderer „Anti-Terrorgesetze“, den mittelalterlichen Landfriedensbruch-Paragrafen u.v.m. Die aktuelle Form bürgerlicher Herrschaft stellt also bereits eine Vielzahl von Instrumenten zur Verfügung, die ein Faschismus nicht erst erfinden müsste. Und der bürgerliche Staat setzt sie auch genau dafür ein wofür sie gedacht sind: Um soziale Bewegungen zu unterdrücken, die für Veränderung und gesellschaftlichen Fortschritt stehen und die Interessen des Kapitals gegen die der Mehrheit der Bevölkerung durchzusetzen.

Grenzenlos kämpfen und solidarisch sein

In den Gipfelprotesten fanden eine Vielzahl von sozialen Kämpfen ihren Ausdruck. Es sind Alltagskämpfe für höhere Löhne, bezahlbare Mieten, Bewegungsfreiheit für alle, ökologisches Wirtschaften und gegen rassistische und sexistische Diskriminierung. Der Ausnahmezustand, der in Biarritz herrschte und in dem Protest und Widerstand manchmal gar nicht mehr möglich schien, ist als Drohung selbstverständlich auch und nicht zuletzt gegen diese Alltagskämpfe gerichtet. Die europäische Ebene der Repression entspricht auch der zunehmenden Parallelität von sozialen- und Klassenkämpfen in Europa. Dem Bewusstsein der Linken für diese Tatsache fehlt es noch an schärfe.

Doch die aktuelle Erfahrung ist, dass die Solidarität mit den Betroffenen im Wortsinn grenzenlos ist. Nicht zum ersten Mal findet auch eine grenzüberschreitende Antirepressionsarbeit statt, und mit jedem Kampf lernen wir dazu.

#Organisierte Autonomie
#Titelbild: Willi Effenberger; Eine Stadt hinter Barrikaden.

Für die „Drei von der Autobahn“ hat die Rote Hilfe ein eigenes Spendenkonto eingerichtet:

Rote Hilfe RG Nbg, Fü, Er
GLS Bank
Kennwort autobahn
IBAN: DE85430609674007238359
BIC: GENODEM1GLS

Die Rote Hilfe ist gleichzeitig der Briefkasten für Post an die Genossen, denn die freuen sich sicher auf jedes Lebenszeichen von draußen und insbesondere auf eure guten Wünsche. Wir schicken jeden Brief weiter.

Bedenkt aber bitte die Portokosten. Ein Brief (<20g) international kostet 1,10 Euro – eine Postkarte 0,95 Euro, die ihr bitte in Briefmarken beilegt und ab geht die Post über

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