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Am 28. Juli endete der Münchener Kommunistenprozess gegen 10 Linke aus der Türkei mit langjährigen Haftstrafen. Vorgeworfen wurde den Angeklagten dabei keine konkrete Straftat, sondern lediglich die Mitgliedschaft in der TKP/ML (Kommunistische Partei der Türkei/ML), die vom faschistischen Erdogan-Regime verfolgt wird. Wir trafen uns mit Süleyman Gürcan, Ko-Vorsitzuender der Konföderation der Arbeiter aus der Türkei in Europa (ATIK) und sprachen mit ihm über den Prozess.

In den vergangenen Jahren häuften sich Fälle staatlicher Verfolgung von türkischen Oppositionellen in Deutschland. Du hast den Prozess in München intensiv verfolgt, wie geht es den verurteilten Genoss*innen und wie bewertest Du den Ausgang des Prozesses?

Den Genoss*innen geht es sehr gut. So wie Müslüm Elma es am Anfang seiner letzten Rede vor Gericht gesagt hat: „Wir kommen aus einer Tradition des Widerstands“. Deswegen haben wir auch immer gesagt, wir kommen aus der Türkei und Kurdistan und dort gehören Tötungen, Massaker und Gefängnis zu unserer Geschichte. Ob es nun hier oder in der Türkei ist, Gefängnis macht uns nichts aus und wir leisten unseren Widerstand. Deutschland ist ein imperialistischer Staat. Die Türkei ist ein faschistischer. Ihre antikommunistische, konterrevolutionäre und gegen die Linke gerichtete Politik eint sie. Als Revolutionär rechnet man eben damit, in den Kerkern der Imperialisten und Faschisten zu landen, das gehört zu diesem Kampf dazu.

Deswegen haben unsere Genoss*innen auch vor Gericht von Anfang an zusammengehalten und gekämpft. Anfangs hatten wir etwas Sorge um Haydar B. Er ist etwas älter, im Gefängnis ist er 72 geworden. Auch der Hauptangeklagte Elma Müslüm war zuvor bereits 22 Jahre lang in der Türkei im Gefängnis, unter anderem im Gefängnis von Diyarbakir, in dem auf grauenvollste Art gefoltert wurde. Seine Gesundheit ist in Folge der Folter angeschlagen, umso mehr bereitete uns seine gesundheitliche Situation gerade im Kontext der aktuellen Pandemie und der verweigerten Haftentlassung Sorge. Zum Glück ist aber nichts passiert und es geht allen gesundheitlich gut.

Dieses Verfahren war ein Mammutprozess gegen die TKP/ML (Kommunitische Partei der Türkei/ Marxist-Leninist), weil sie seit Jahren zusammen mit der kurdischen Bewegung und anderen revolutionären Organisationen gegen den Faschismus in der Türkei kämpfen. Der Prozess wurde auch von Anfang an auf zwei Weisen begründet: Einmal, dass die TKP/ML eine kommunistische Partei ist, die eine Diktatur des Proletariats verteidigt. Und zum anderen wegen ihrer Zusammenarbeit mit der kurdischen Freiheitsbewegung. Deswegen ist dieser Prozess nicht nur gegen die TKP/ML, sondern gegen alle Kommunist*innen und insbesondere alle revolutionären Kräfte gerichtet, die in der Türkei den Kampf der kurdischen Bewegung unterstützen.

Der Prozess hat auch das Ziel, die Grundlage zu bieten, um vielleicht in Zukunft die TKP/ML zu verbieten oder die Unterstützung der TKP/ML durch Genoss*innen zu verhindern. Aber wir glauben nicht, dass sie das so einfach schaffen werden. Auch die letzten 5,5 Jahre also seit den Festnahmen im April 2015, haben gezeigt, dass es eine große Solidaritätskampagne gab. Auf internationaler Ebene wurde der Widerstand unterstützt, bis hin zu Aktionen in Brasilien oder auch in Mexiko, also weit über Europa hinaus. Aber auch hier waren viele aktiv auf der Straße, um den Widerstand der angeklagten Genoss*innen zu unterstützen.

Wenn ich mich nicht täusche ist die TKP/ML auf keiner Terrorliste, sie ist in Deutschland nicht verboten und den Angeklagten wurde auch keine einzige konkrete Straftat vorgeworfen. Ist der Prozess ein politisches Geschenk der BRD an die Türkei?

Ja, Du hast recht. Die TKP/ML ist außerhalb der Türkei nirgendwo verboten, sie steht auf keiner Terrorliste. Es gab auch keine konkreten Vorwürfe, die sich auf eine Veranstaltung oder Aktion bezogen hätten. Der einzige Vorwurf war, dass die Angeklagten zum Auslandskomitee der TKP/ML gehören würden. Ihre Aktivitäten umfassten aber nur Veranstaltungen zu Ibrahim Kaypakaya, Seminare, die in den Vereinen organisiert wurden und Demonstrationen. Wegen dem Terrorparagraphen 129 a/b aber können Personen, die angeblich Mitglied einer Organisation sind, die in einem anderen Land, Aktionen macht, allein wegen der angeblichen Mitgliedschaft verurteilt werden.

Das heißt, es gab keine direkten Vorwürfe an die Genoss*innen, sondern es wurde ihnen vorgeworfen, die Aktionen der TKP/ML und ihre Guerillaorganisation TIKKO in der Türkei zu unterstützen. Aber wie du gesagt hast, TKP/ML ist nirgendwo verboten. Und auch das Gericht hat Gutachter beauftragt, die selbst zu dem Schluss kamen, dass Vorwürfe, die Partei sei eine Terrororganisation, unhaltbar sind und dass es sich um eine Kommunistische Partei handelt. Die Zusammenarbeit des deutschen und türkischen Staates spielen in diesem Prozess eine große Rolle.

Die enge Kollaboration der Sicherheitskräfte und Nachrichtendienste der Türkei und Deutschlands hat ja eine lange Tradition. Wie bewertest Du die Rolle dieser historischen Beziehungen im Kontext der aktuellen Repression?

Schon Gesetze wie die Terrorparagraphen 129 a/b sind nichts Neues in Deutschland – die Tradition geht weit zurück bis zu den Sozialistengesetzen 1878 im Kaiserreich oder die Kommunistenprozesse 1852 in Köln. Ein Jahrhundert später dann das Verbot der KPD und die Berufsverbote. Das alles gehört zusammen, es ist eben ein weiterer, vor allem antikommunistischer Paragraph der Gesinnungsjustiz. Und die deutsche Staatsdoktrin ist seit Jahren antikommunistisch und antilinks, deswegen gab es auch immer solche Verfahren und Festnahmen. Aber mit der Kriminalisierung ausländischer Organisationen als „Terrororganisationen“, also der Erweiterung von 129a zu 129a/b, hat das eine neue Qualität bekommen.

Es hat zuerst 1993 mit einem großen Verfahren in Düsseldorf gegen die Arbeiterpartei Kurdistans PKK angefangen. Ähnlich wie heute bei der TKP/ML wurden auch damals zuerst Genoss*innen der PKK verurteilt und danach kam das PKK-Verbot. Ende der 90er gab es dann die Verfahren gegen DHKP-C und das anschließende Verbot. Zum Verfahren 1993 muss ich hinzufügen, dass damals Leute vom türkischen Geheimdienst MIT nach Deutschland eingeladen wurden, um Informationen zu teilen. Auch im Verfahren gegen die TKP/ML gab es solche Zusammenarbeit. Zudem ist klar, dass 129a/b politische Paragraphen sind, denn das Verfahren wurde erst durch eine Verfolgungsermächtigung aus dem Justizministerium möglich. Solche Entscheidungen von Ministerien sind politischer Natur, denn beiden Staaten haben eine enge Beziehung zueinander. Müslüm Elma sagte dazu passend in seiner letzten Ansprache vor Gericht: „Zeig mir deine Freunde und ich sage dir, wer du bist!“

Der deutsche und der türkische Staat sind seit Jahrzehnten eng verbündet. Deutschland stand im Hintergrund von fast jedem Massaker, das in der Türkei stattgefunden hat. Angefangen vom Genozid an den Armeniern, der unter deutscher Mittäterschaft stattfand. Beim Massaker an den Kurden 1938 in Dersim war das eingesetzte Giftgas aus Deutschland geliefert worden. Jenseits davon, dass die Türkei in beiden Weltkriegen Deutschland unterstützt hat, ist sie über Jahrzehnte hinweg, bis heute einer ihren größten Waffenkäufer. 2016 hab ich eine Recherche durchgeführt, dass mehr als 6000 deutsche Unternehmen in der Türkei aktiv sind. Das ist eine große Menge an Kapital, das nach Deutschland fließt, denn in der Türkei lässt sich mit billiger Arbeit viel Gewinn machen. Millionen Menschen arbeiten dort für deutsche Firmen, also gibt es neben den politischen Beziehungen auch eine tiefe wirtschaftliche Verbindung. Deshalb stören sich auch beide Länder daran, wenn es hier Proteste und Veröffentlichungen gibt. Und deshalb gibt es auch regelmäßigen Austausch zwischen den Sicherheitsbehörden. Jedes Quartal gibt es Sitzungen, in denen Informationen zu revolutionären Organisationen ausgetauscht werden.

Nach einer Kleinen Anfrage wurde Auskunft gegeben, dass es Mitte Mai 2014 in Deutschland ein Treffen von MIT und BKA im Rahmen dieser Quartalssitzungen gab, um über die TKP/ML zu sprechen. Dort wurden auch die späteren Festnahmen vorbereitet. Die Türkei hat tausende Seiten sogenanntes „Beweismaterial“ an deutsche Behörden geliefert. Auch durch den MIT illegal in Deutschland gesammelte Informationen wurden dabei verwendet. Dieser gesamte Prozess war eine gemeinsam vorbereitete Aktion.

Wie geht es jetzt für die Genoss*innen weiter?

Juristisch wird gegen das Urteil Revision eingelegt werden. Perspektivisch wird aber die Repression wahrscheinlich weitergehen und auch das, was sie „Nebenorganisationen“ der TKP/ML nennen, so wie ATIK und andere demokratische Massenorganisationen treffen. Wir hoffen es nicht, aber wir erwarten eine solche Entwicklung. Trotzdem werden wir unsere Arbeit weiterführen auch gegen diese Repressionen Öffentlichkeit zu schaffen. Während des Prozesses haben wir es geschafft, gute Öffentlichkeitsarbeit zu der Repression zu machen. Wie Müslüm Elma sagte, Widerstand ist ein Recht und dieses Recht in Anspruch zu nehmen ist kein Verbrechen! Deshalb werden wir auch weiterkämpfen.

Welche Folgen wird diese Repression haben und welche Handlungsmöglichkeiten gibt es für internationalistische und revolutionäre Kräfte, Solidarität zu zeigen? Die Repression ging ja früher gegen PKK und DHKP-C und jetzt TKP/ML.

Sie fangen mit den ausländischen revolutionären Kräften an, aber dann wird es auch vermehrt Repressionen gegen hiesige Organisationen geben, wie wir es bei G20 sehen konnten. Die ganze Bandbreite der Repression kam da zum Vorschein. Solange der Kampf weitergeht, wird es auch die Repressionen von staatlicher Seite geben. Was wir aber in diesem Prozess geschafft haben, ist, dass in mehreren Ländern sich viele Organisationen gegen die Repression zusammengetan haben. Das ist wichtig. Die internationale Solidarität ist in diesem Prozess praktisch geworden. Als am 15. April 2015 diese Festnahmen stattfanden gab es direkt Protestkundgebungen in mehreren Städten Europas, am darauffolgenden Samstag gab es eine Demonstration von 2500 Menschen in Frankfurt. Auch in Basel und Wien gab es Proteste. Später ein Jahr lang, jeden Monat, Kundgebungen vor den 10 verschiedenen Gefängnissen, in denen die Genossen inhaftiert waren! Wie schon gesagt, fanden weltweit Solidaritätsaktionen statt: in Brasilien, Mexiko, Nepal und Griechenland. Es gab ein Zusammenkommen von Marxisten-Leninisten bis Antifas, Soldaritätskommites, internationale Bündnisse und vieles mehr, die sich solidarisch erklärt haben. Perspektivisch sehen wir es so, dass diese gemeinsame Arbeit weiter gehen soll. Nicht nur zu diesem Prozess, sondern allgemein gegen Repression.

Als ATIK hat uns diese Solidarität die Aufgabe gegeben, diese Zusammenarbeit weiterzuführen. Müslüm Elma hat in seiner Rede, als er rauskam, mehrmals betont, dass wir alle zusammen gekämpft haben: „Ihr draußen und wir drinnen“ – und das ist unser gemeinsamer Sieg, denn alle inhaftierten Genossen haben gesagt, dass – obwohl sie keinen direkten Kontakt hatten – sie über die Anwälte von den Solidaritätsaktionen erfuhren und sich somit nie allein gefühlt haben.

Deshalb bedanken wir und bei allen Organisationen und Personen die uns unterstützt haben und führen unseren gemeinsamen Kampf weiter!

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Der Paragraph 129 des Strafgesetzbuches sowie der 129a sind als Gesinnungs- und Schnüffelparagraph bekannt, die von Staatsanwaltschaften und Polizei gern genutzt werden, um linke Gruppierungen zu kriminalisieren, unter Druck zu setzen und ihre Strukturen auszukundschaften. Der Vorwurf der „Bildung einer kriminellen Vereinigung“ oder „terroristischen Vereinigung“ lässt umfangreiche Ermittlungsmethoden zu. In Hamburg hat es größere Aktionen gegen Links unter diesem Label länger nicht gegeben – das hat sich am Anfang dieser Woche schlagartig geändert.

Am frühen Montagmorgen schlugen Hamburgs Staatsanwaltschaft und Polizei gegen jene Gruppe radikaler Linke zu, die sie schon lange im Fadenkreuz haben: den Roten Aufbau Hamburg (RAHH). Es war der größte Schlag gegen eine linke Gruppe in der BRD seit Jahren. Mehr als 200 Polizisten hatte die Staatsmacht aufgeboten, um insgesamt 28 Objekte zu durchsuchen. Einrichtungen der Gruppe, hauptsächlich aber Wohnungen vermeintlicher Aktivist*innen der Gruppe, fast alle in Hamburg, dazu je ein Objekt im westfälischen Siegen sowie in Tornesch und Stelle im Hamburger Umland. Durchsucht wurde auch der Info- und Kulturladen des RAHH „Lüttje Lüüd“ (plattdeutsch für: kleine Leute) im Hamburger Stadtteil Veddel.

In dürren Worten erklärten die Polizei Hamburg und die Generalstaatsanwaltschaft der Stadt in einer gemeinsamen Pressemitteilung, „nach umfangreicher Ermittlungsarbeit“ seien 28 Durchsuchungbeschlüsse vollstreckt worden, „umfangreiche Beweismittel“ sicher gestellt worden. Bereits seit 2019 ermittele der Staatsschutz des Landeskriminalamts gegen 22 Mitglieder des Roten Aufbau „wegen des Verdachts der Bildung einer kriminellen Vereinigung“. Eine ähnlich große Aktion gegen Links gab es in Hamburg wohl zuletzt im Mai 2007. Damals durchsuchten rund 300 Polizisten 14 Objekte in Hamburg, darunter die Rote Flora und den Malersaal des Schauspielhauses. Die Generalbundesanwaltschaft führte die Ermittlungen. Die Razzien richteten sich gegen 18 namentlich bekannte Personen der linksautonomen Szene, auf Grundlage des Paragraphen 129a. Den Beschuldigten wurde eine Serie von Brandanschlägen vorgeworfen.

Bei den Razzien am Montag dieser Woche waren auch mit Maschinenpistolen bewaffnete Beamte von Sondereinsatzkommandos (SEK) dabei. Sicher ist sicher, denn Linke bunkern ja bekanntlich jede Menge Waffen und haufenweise Sprengstoff daheim… Auch Halil Simsek, bekanntester Aktivist der Gruppe, bekam im Morgengrauen Besuch von Spezialisten. Schwer bewaffnete SEK-Beamte traten bei ihm die Tür ein. Seine sämtlichen Geräte wie Handy und PC seien mitgenommen worden. Für Simsek nichts Neues. Bereits kurz vor dem G-20-Gipfel im Sommer 2017 und dann noch mal im Dezember des Jahres stürmte die Polizei seine Wohnung. Unter dem Pseudonym „Deniz Ergün“ war Simsek Sprecher des Bündnisses „G 20 entern“ und des Camps im Volkspark.

Noch am Montagabend demonstrierten etwa 600 Linke spektrenübergreifend gegen diesen neuen Akt der Repression. In ersten Kommentaren in den sozialen Netzwerken wurde darauf hingewiesen, dass die Razzien sich gegen den Roten Aufbau richteten, aber alle Linken gemeint seien. In einer Erklärung auf ihrer Homepage warf die Gruppe der Staatsanwaltschaft vor, „ein „Konstrukt aus mehreren Tatkomplexen“ zu konstruieren, „die begründen sollen, dass wir eine kriminelle oder terroristische Vereinigung gebildet hätten“.

Welcher Paragraph zum Tragen komme, sei „immer noch nicht klar, weil die Behörden sich widersprechen“. Man gehe aber aktuell von einem § 129a-Verfahren aus, also „Bildung einer terroristischen Vereinigung“. Die Angriffe auf den Roten Aufbau zeige, „dass die Klassenjustiz im Dunkeln tappt und nun uns, die öffentlich wahrnehmbarste Struktur der radikalen G-20-Proteste, für alles verantwortlich machen will“.

Welt-Reporter Dennis Fengler, der vermutlich ein Feldbett in der Hamburger Polizeipressestelle hat, so gut wie seine Verbindungen zu den Sicherheitsbehörden sind, wusste am Montag zu berichten, der Rote Aufbau werde von den Behörden mit „zahlreichen Straftaten in Verbindung gebracht“. Welche das genau sein sollen, wurde nicht verraten. Nur dass es unter anderem um einen Brandanschlag am 23. September 2016 im Hamburger Norden geht. Damals brannten zwei Privatwagen des Polizeidirektors Enno Treumann, die im Carport vor dem Haus des Beamten abgestellt waren. Treumann war damals Chef der „Taskforce Drogen“, die seit April 2016 migrantische Kleindealer auf St. Pauli, im Schanzenviertel und in St. Georg jagte. Anfang Juni 2020 wärmte Hamburgs Polizei den Fall im ZDF-Magazin „Aktenzeichen XY… ungelöst“ auf und suggerierte eine Beteiligung Simseks an der Tat, ohne ihn namentlich zu nennen.

Zu dem Vorwurf, für diese Brandstiftung verantwortlich zu sein, werden den Beschuldigten wohl auch noch angebliche Straftaten bei der Demonstration im Industriegebiet Rondenbarg am ersten Tag des G-20-Gipfels, dem 7. Juli 2017, vorgeworfen. Damals zerschlug die berüchtigte brandenburgische Einheit „Blumberg“ der Bundespolizei einen Aufzug brutal, verletzte etwa ein Dutzend Demonstranten teilweise schwer. Auch Halil Simsek trug damals Verletzungen davon. Er gehört zu den über 80 Teilnehmern des Aufzugs, die demnächst für das pure Mitlaufen bei der Demo vor Gericht gestellt werden sollen. Es ist nicht ganz abwegig, dass die Razzien jetzt quasi als Vorspiel zu diesem grotesken Monsterverfahren dienen sollen.

In der Erklärung des RAHH heißt es weiter, die Hinzuziehung der SEKs bei den aktuellen Hausdurchsuchungen stelle „einen besonderen Versuch dar, uns und unser Umfeld einzuschüchtern“. MPs seien „eine besondere Qualität der Repression“. Die Gruppe dankte den Teilnehmer*innen der Spontandemonstration im Schanzenviertel: „dies gibt uns Kraft in dunklen Zeiten“, so heißt es wörtlich. Besonders wichtig sei gewesen, „dass spektrenübergreifend aufgerufen wurde, denn wir begreifen den Angriff auf uns als den Versuch die gesamte radikale Linke zu kriminalisieren“. Deswegen bedanke man sich auch für „die große Solidarität und Grüße aus den anderen Städten“.

Man werde „nicht einfach das Feld räumen“. „Wir sind KommunistInnen und werden uns niemals den Herrschenden beugen, es ist unsere Pflicht uns und unsere Geschichte zu verteidigen“, so der Rote Aufbau. Die Repression treffe „willkürlich auch Personen, die uns zugeordnet werden“. Allen Betroffenen werde empfohlen, politische StrafanwältInnen zu nehmen, da diese die Gesamtsituation im Blick behalten.

Anja Sommerfeld, Mitglied im Bundesvorstand der Roten Hilfe, bezeichnete die Razzien als „die größten Angriffe der letzten Jahre auf organisierte linke Strukturen“. Nur zwei Tage nachdem Neonazis die Stufen des Reichstages erklimmen konnten, ohne nennenswert daran gehindert worden zu sein, hätten die Repressionsbehörden nichts Besseres zu tun, als eine aktive linke Gruppe zu kriminalisieren. Als Begründung werde einmal mehr „der Gesinnungs- und Strukturermittlungsparagraf 129 angeführt“. Es handele sich offenkundig um einen gezielten Einschüchterungsversuch gegen die gesamte linke Bewegung. Die Rote Hilfe rufe alle Linken auf, sich gegen diese Provokation öffentlich zu positionieren.

Jetzt ist Solidarität gefragt!

# Titelbild: indymedia, CC-BY-SA 3.0 Solidemo mit dem Roten Aufbau in Magdeburg

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Unter der Führung des britischen Geheimdienstes gehen derzeit Polizeibehörden in Irland und Schottland gegen die radikale republikanische Partei Saoradh vor. Der Historiker und Irland-Kenner Dieter Reinisch hat mit Aktivisten der Partei gesprochen. Wir veröffentlichen eine übersetzte und aktualisierte Version eines ursprünglich auf Englisch erschienen Artikels zu der Repressionswelle.

Am Dienstag, den 18. August, verhaftete die nordirische Polizei PSNI, assistiert durch die südirische Polizei An Garda Síochána neun führende Mitglieder der radikalen irisch-republikanischen Partei Saoradh (Befreiung). Die Verhaftungen standen in Verbindung mit diversen Hausdurchsuchungen bei Saoradh-Mitgliedern in Derry, East Tyrone und North Armagh.

Im Süden Irlands durchsuchte die Gardaí die Häuser von sechs Republikanern in Dublin, Cork, Kerry und Laois. Die meisten, die durch die Hausdurchsuchungen und Verhaftungen betroffen waren, sind ehemalige republikanische Gefangene. Alle neun festgenommenen Mitglieder, sieben Männer und zwei Frauen zwischen 26 und 50, werden immer noch in der Musgrave Serious Crime Suite in Belfast verhört. Im Süden gab es keine Verhaftungen.

BBC Nordirland berichtete, dass der britische Geheimdienst MI5 die Operation Arbacia führt. In einer Erklärung vom Freitag informierte die PSNI, dass die Operation weiterlaufe. Am Donnerstag wurden die vier Büros von Saoradh in Derry, Newry, Belfast und Dungannon durchsucht. Am Freitag Morgen wurde in Schottland ein zehntes Parteimitglied nach einer Hausdurchsuchung in Glasgow festgenommen. Alle zehn werden nach britischen Anti-Terrorgesetzen festgehalten und bleiben in Untersuchungshaft.

Diese große, grenzüberschreitende Operation gegen die republikanische Partei Saoradh ist eine der bedeutensten Operationen gegen republikanische Aktivisten in den vergangenen Jahren. Über Monate hat der Geheimdienst seine Überwachung von Saoradh-Aktivisten besonders in Derry und Strabane verstärkt. Die Hausdurchsuchungen und Verhaftungen in Schottland und beiden Teilen Irlands weisen darauf hin, dass die Operation zum Ziel hat, Saoradh zu zerschlagen.

Die Operation fokussiert sich hauptssächlich auf Führungspersonen einer legalen politischen Partei in Nordirland. Zur selben Zeit gab eine Sprecherin von An Garda Síochána an, dass es „keine Pläne gibt, Verhaftungen [in der Republik Irland] durchzuführen“. Erklärungen der Geheimdienste sprechen davon. dass sich die Operation gegen die Aktivitäten der so genannten „Neuen IRA“ oder „IRA“ richteten. Die Festnahme der politischen Aktivisten unter Anti-Terror-Gesetzen bei einer Operation gegen die „Neue IRA“ zielen darauf ab, angebliche Beweise für die sich überschneidene Mitgliedschaft zwischen der legalen Partei Saoradh und der verbotenen paramilitärischen IRA zu etablieren. Sollte dieser Versuch der Geheimdienste erfolgreich sein, dürfte er das Vorspiel für das Verbot von Saoradh werden.

In einer Erklärung betonte Pressesprecher Padd Gallagher aus Derry, dass es sich bei Saoradh um eine legale politische Partei handelt: „Seit der Gründung von Saoradh haben die Regierungen des britischen Staats und des Freistaats [Republik Irland] eine breite Palette drakonischer Maßnahmen genutzt, um die Partei zu unterdrücken. In dem sie auf Parteimitglieder, ihre Familien und Unterstützer gezielt haben, haben die Unterdrücker versucht, die Partei mit Schickanen zur Auflösung zu zwingen. Die vom MI5 geführte Operation, zu der die Internierung verschiedener Mitglieder in Derry, Tyrone und Armagh gehörte sowie weitere Durchsuchungen in Dublin, Cork und Kerry, ist ein weiteres Beispiel für Attacken und den sinnlosen Versuch, das Wachstum unserer Partei zu stoppen.“

Schikane gegen ehemalige Gefangene

Alex McCrory, ein bekannter republikanischer Aktivist und ehemaliger politischer Gefangener aus Belfast sagt: „Dieses Niveau grenzübergreifender Koordination und Kooperation ist beispiellos in den vergangenen Jahren. Zweifellos wird dies befördert durch die Ernennung von Drew Harris [Anmerkung: Drew Harris ist ein ehemaliger Polizeibeamter, der von der PSNI in Nordirland zur Polizei der Republik Irland gewechselt hat] zu einem führenden Polizisten der 26 Counties [Republik Irland]. Harris mag die Uniform des Freistaats angezogen haben, aber im Herzen ist er ein britischer Polizist. In diesem Fall hat er sich ein Bein ausgerissen, um seinem voherigen Arbeitgeber zu assistieren.“

Saoradh hat seit dem Start der Operation am Dienstag zwei Erklärungen herausgegeben und Dee Fennell aus Belfast sprach während der Durchsuchungen der PSNI im Belfaster Büro auf UTV [TV-Sender].

Während die Aufmerksamkeit der Medien sich vor allem auf die Entwicklung in Nordirland richtete, habe ich mit eine Repräsentanten von Saoradh in Dublin über die Situation südlich der Grenze gesprochen. Der Aktivist ist ein einflussreiches Mitglied der Partei, möchte aber anonym bleiben: „Wenn mein Name heute in den Medien auftaucht, steht mein Haus auf der Durchsuchungsliste für morgen früh.“ In Dublin wurden bereits zwei Häuser von Parteiaktivisten durchsucht. „Die Operation war ein Angriff auf ehemalige Gefangene. Ausschließlich ehemalige Gefangene wurden herausgesucht, aber es wurde nichts gefunden. Das ist einfach ein Belästigen von [ehemaligen] Gefangenen, wie es das schon seit Jahren gibt.“

Spenden für Gefangene, die in den Hochsicherheitsgefängnissen Maghaberry [Nordirland] und Portlaise [Republik Irland] einsitzen, werden von der „Irish Republican Prisoners’ Dependents’ Association „(IRPWA) gesammelt. Aktuell gibt es rund 30 Gefangene in Portlaoise, um die sich die IRPWA kümmert. „Ein kürzlich entlassender Gefangener hat durch die andauernden Belästigungen durch die Gardaí Special Branch [politische Polizei] seinen Job verloren“.

Besonders empört war mein Gesprächspartner über die Art und Weise der Durchsuchungen: „Durchgeführt wurden die Durchsuchungen von der bewaffnenten Emergency Response Unit. Das betroffene Saoradh-Mitglied hat eine Partnerin mit schweren Rückenproblemen. Sie schaute aus dem Fenster und sah, dass die ganze Straße mit bewaffneten Polizisten voll war. Sie stellten große Lampen um das Haus. Sie wusste sofort, was los war.“

In den letzten Jahren hatte ich immer wieder Treffen mit dem Saoradh-Mitglied, dessen Haus in Crumlin durchsucht wurde. Einige dieser Treffen mussten immer wieder verschoben werden, aufgrund der Gesundheitsprobleme und Krankenhaustermine seiner Partnerin. „Trotz der schweren Gesundheitsprobleme wurde die Partnerin des Saoradh Mitglieds angegriffen und zu Boden gebracht. Das war um fünf Uhr morgens. Aufgrund des Lärms kamen die Nachbarn auf die Straße. Alles was sie mit diesen Durchsuchungen erreichen ist, dass sie der Community schaden. Einige der Nachbarn haben sich gegen die Durchsuchungen ausgesprochen und protestiert.“

Ich habe ihn gefragt, warum er glaubt, dass Saoradh in dieser Woche angegriffen wurde:

„Sie wollen die Stellung unserer Aktivisten in der Community beschädigen. Sie machen sich Sorgen, dass Saoradh mit der Community-Arbeit Erfolg hat, deswegen wollen sie Saoradh von der Community entfremden“.

In den Monaten vor dem Ausbruch der Pandemie hat sich Saoradh zunehmend sozialen Problemen wie der irlandweiten Hauskrise zugewandt. In den letzten Wochen hatte Saoradh in Belfast und Dublin gemeinsam mit anderen Sozialisten und irischen Antifaaktivisten Rechte konfrontiert.

Der Journalist John Mooney hat vor kurzem eine Quelle aus der Polizei in der Times zitiert, die erzählte, dass Republikaner „junge Menschen für eine Vielzahl von politischen Themen wie Globalisierung und Antikapitalismus anziehen. Die Menschen, die ihnen beitreten sind nicht nur traditionelle Republikaner sondern eher linke Aktivisten“.

„Aber es gibt noch andere Gründe für diese Operation“, erklärt der Saoradh-Repräsentant:

„Es ist eine PR-Lehrstunde der Polizei, so dass sie sagen können, sie tun etwas gegen die „Dissidenten“. Wir sind mitten in einer Pandemie, die zu einer Rezession führen wird und das ist ihr Weg, den Politikern zu sagen, dass sie mehr Geld brauchen.“

Dann lenkt er die Aufmerksamkeit auf einen anderen Punkt, der regeläßig von Saoradh hervorgehoben wird – Irland als globales Steuerparadies für multinationale Konzerne: „Wir hatten 2008 eine massive Finanzkrise. Banker und Immobilienentwickler haben das Geld der Steuerzahler aus dem Fenster geworfen. Korruption und Kriminalität gab es jahrelang. Wie viele Banken wurden durchsucht? Wie viele Häuser der Top-Bankmanager wurden durchsucht? Wie viele von ihnen wurden für ihre kriminellen Aktivitäten, die zur aktuellen sozialen Krise geführt haben, verurteilt? Keiner, absolut niemand.“

Als ich zur nächsten Frage kommen will, insistiert er:

„Das war eine lang geplante, gut koordinierte Operation. Für so eine Operation brauchst Du Hunderte beteiligte. Wir hören regelmäßig von der Regierung, dass es keine Ressourcen gibt, um anti-soziales Verhalten und Drogen zu bekämpfen. Aber es finden sich über 100 Polizisten, um morgens um 5 die Türen politischer Aktivisten einzutreten“.

Die Durchsuchungen werden uns entschlossener machen“

Saoradh wurde offiziell im Herbst 2016 in Newry gegründet. Das Ziel war der Aufbau einer irlandweiten, radikalen republikanischen Alternativen zum Karfreitagsabkommen und Sinn Fein. Einige der führenden Mitglieder sind erfahrene Republikaner, die während des Konflikts in Nordirland in der provisorischen IRA und Sinn Fein aktiv waren. Hinzu kam eine junge Generation von Republikanern, zumeist aus der städtischen Arbeiterklasse, die von Jugendarbeitslosigkeit und sozialen Problemen betroffen sind und im aktuellen politischen Abkommen keine Perspektive sehen.

Schon Anfang 2016 organisierten einige, die später Saoradh mit aufgebaut haben, einen Gedenkmarsch für die 100-Jahrfeier des Aufstands von 1916. Bis zu 4000 Menschen liefen hinter 50 Männern und Frauen in paramilitärischen Uniformen durch das ländliche Coalisland in der Grafschaft Tyrone. Der Hauptredner der Veranstaltung war der frühere republikanische Gefangene Davy Jordan, der später erster Vorsitzende der Partei wurde. Ihm folgte Brian Kenna aus Dublin aber auch Jordan ist nach wie vor im Parteivorstand von Saoradh.

Die Pandemie hat Saoradh gezwungen, ihre Gedenkmärsche in diesem Jahr abzusagen, aber an Ostern im vergangenen Jahr nahmen immer noch bis zu 1000 Menschen an ihrer nationalen Osterveranstaltung in Dublin teil.

Wie werden die aktuellen Hausdurchsuchungen und Verhaftungen die Arbeit von Saoradh beeinflussen?

„Ich glaube nicht, dass diese Durchsuchungen einen Einfluss auf Dublin haben werden. Sie werden unsere Mitglieder entschlossener machen. Ja, diese Zeiten sind beunruhigend. Es ist immer beunruhigend, wenn der Staat so heftig eine politische Gruppe angreift. Aber es wird uns entschlossener machen, unsere Botschaft zu verbreiten.“

Er fährt fort: „Durchsuchungen haben zwei Ziele. Das erste ist, unsere Aktivisten von der Community zu entfremden. Wenn die Menschen solche heftigen Durchsuchungen sehen, denken sie: Oh mein Gott, was haben die bloß getan? Sie müssen etwas getan haben, wenn ihnen so etwas passiert. Der zweite Grund ist, dass sie Menschen davon abhalten wollen, uns beizutreten. Wenn Leute von den Durchsuchungen hören, werden einige uns nicht beitreten.“

Dann spricht er über die Konsequenzen für den Norden Irlands:

„Offensichtlich sind die Festnahmen in den sechs Grafschaften [Bezeichnung für Nordirland] deutlich beunruhigender, weil die Verhafteten immer noch in Haft sind und die Geheimdienste möglicherweise Anklagepunkte erfinden. Das würde bedeuten, dass sie die Festgenommenen für bis zu zwei Jahre aus politischen Aktivitäten rausnehmen. Das ist besorgniserregend.“

Auch wenn es eine nüchternere und wahrscheinlich ehrlichere Bewertung ist, spiegelt sie doch wieder, was auch Paddy Gallagher aus Derry sagt: „Je mehr Widerstand Saoradh leistet, um so größer wird der ausgeübte Druck. Aber je mehr Druck ausgeübt wird, um so mehr wird Saoradh Widerstand leisten.“

Dennoch: mit der Festnahme von zehn führenden Mitglieder von Saoradh hängt die Bedrohung durch Anklagen über der Partei. Falls einige der Mitglieder aus dem Parteivorstand aufgrund von Antiterror-Gesetzen angeklagt werden, wird sich zeigen ob und wie Saoradh sich von so einem Schlag erholen kann.

Repressionswelle geht weiter

Seit der Entstehung des Interviews haben sich die Befürchtungen bewahrheitet. Mittlerweile wurden fünf Männer und zwei Frauen der insgesamt zehn Festgenommenen angeklagt. Der verhaftete Saoradh-Aktivist aus Schottland wurde entlassen. Den Angeklagten wird eine ganze Reihe von Straftaten vorgeworfen. Die Hauptanklagepunkte sind IRA-Mitgliedschaft, Waffen- und Sprengstoffbesitz und Planung von Terroranschlägen. Vermutlich werden auch die zwei anderen Festgenommenen noch angeklagt.

Am vergangenen Samstag wurde zudem ein 62-jähriger, in Schottland lebender, Palästinenser verhaftet. Er hatte im November 2019 am Parteitag von Saoradh in der nordirischen Stadt Newry eine Grußadresse aus Palästina verlesen. Ihm wird vorgeworfen, dass er Kontakte zwischen palästinensischen Organisationen und der Neuen IRA aufgebaut haben soll.

Seit dem Wochenende ist bekannt, dass ein Teil der Ermittlungen auf einen Spitzel zurückzuführen ist, der seit mehreren Jahren in Saoradh und der Neuen IRA aktiv war und ursprünglich aus Schottland stammt. Seit vergangenen November war er in der nationalen Leitung der Partei. Er hatte in der Vergangenheit zwei Treffen in angemieteten Ferienhäusern organisiert. Nach Ansicht des Geheimdienstes handelt es sich um Treffen der Armeeführung der Neuen IRA. Hierauf basieren die Anklagen gegen die Festgenommenen Saoradh-Aktivisten. Dem Geheimdienst liegen nach eigener Aussage mehrere Stunden Audio- und Videomaterial der Treffen vor. Das Haus der Spitzel wurde schon am vergangenen Mittwoch von Mitarbeitern des britischen Geheimdienstes ausgeräumt und er soll sich in einem Zeugenschutzprogramm befinden.

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In Magedeburg steht der Nazi Stephan Balliet wegen des Anschlags vom 9. Oktober 2019 in Halle vor Gericht, in Frankfurt am Main zeitgleich der Nazi Stephan Ernst, der Anfang Juni 2019 den hessischen CDU-Politiker Walter Lübcke erschoss. In Hanau tötete vor einem halben Jahr der Nazi Tobias Rathjen neun Menschen aus rassistischen Motiven. Faschistische Terroristen ziehen eine Blutspur durchs Land. Die Öffentlichkeit debattiert währenddessen über rechte Netzwerke in Polizei und Bundeswehr, über zunehmende Polizeigewalt und Racial Profiling. Dass all das Leuten nicht gefällt, die seit Jahren die Gefahr von links beschwören und vor allem nach dem G-20-Gipfel im Juli 2017 in Hamburg Oberwasser hatten, liegt auf der Hand.

Regelmäßig versuchen Polizeibehörden, die beiden großen Polizeigewerkschaften und die Verfassungsschutzämter im Verein mit ihnen verbundenen Konzernmedien, das Thema „linke Gewalt“ – gern wird auch von „linkem Terror“ gesprochen – wieder auf die Agenda zu setzen. Einen neuen Versuch dieser Art konnte man Anfang August beobachten. Das Nachrichtenmagazin Spiegel berichtete von einem „vertraulichen Lagebild“ des Bundeskriminalamtes, das vor einer zunehmenden Gewaltbereitschaft von „Linksextremisten“ gegen politische Gegner warne.

In der Analyse sei von einer „neuen Qualität“ die Rede. Autonome trieben ihre Aktionen so „kompromisslos“ voran, dass in Einzelfällen auch „von einem bedingten Tötungsvorsatz“ auszugehen sein dürfte. Insbesondere die Leipziger Szene, die neben Berlin und Hamburg als Hochburg gelte, radikalisiere sich immer mehr. Offensichtlich wärmt der Spiegel diese Schauermärchen jetzt im Halb-Jahres-Abstand auf. Bereits Anfang Februar fabulierten die Lohnschreiber aus Hamburg unter der Dachzeile „Linksextreme Gewalt in Deutschland“, für die „militante Linke“ seien Angriffe auf Menschen wie in Leipzig und Hamburg „kein Tabu mehr“. Nachsatz: „Die Politik wirkt hilflos.“

Die „neue Qualität der Gewalt“ wird, wie Christoph Kleine von der Interventionistischen Linken in Hamburg in junge Welt süffisant bemerkte, „alle paar Monate neu entdeckt“. Das habe nichts mit der Realität zu tun, sondern sei „ganz einfach rechte Stimmungsmache“. Zur Unterfütterung der gewagten These vom „bedingten Tötungsvorsatz“ wird vom BKA laut Spiegel unter anderem der Überfall von rund 20 Angreifern auf drei Vertreter der neofaschistischen Arbeitnehmervertretung „Zentrum Automobil“ im Mai in Stuttgart erwähnt. Einer der Überfallenen soll dabei so schwer verletzt worden sein, dass er nach Angaben von Medien bleibende Schäden davon tragen werde. Inzwischen sind linke Aktivisten als tatverdächtig festgenommen worden. Selbst wenn dieser Angriff tatsächlich von Linken ausgeführt wurde, wäre das ein Ausnahmefall und aus solchen Fällen eine zunehmende Gewaltbereitschaft Linker abzuleiten, ist reine Kaffeesatzleserei.

Vor allem aber ist es grotesk, ausgerechnet in dieser Zeit, in der rechte Terroristen Angst und Schrecken verbreiten, das Thema „linke Gewalt“ hochzuziehen. Ulla Jelpke, innenpolitische Sprecherin der Linke-Fraktion im Bundestag, hat das in junge Welt zutreffend eingeordnet. Das Lagebild des BKA scheine ein „durchschaubares Ablenkungsmanöver“ zu sein. Während „faschistische Zellen bis hinein in Spezialeinheiten der Bundeswehr und Polizei auffliegen“, Waffen gebunkert und Todeslisten angelegt würden, schwadroniere das BKA von einer zunehmenden Gewaltbereitschaft von Linken. Angesichts der Tatsache, dass etwa das „Massaker“ an den Besuchern von Shisha-Bars in Hanau gerade mal ein halbes Jahr zurückliege, sei es absurd, wenn die Behörden von einem „bedingten Tötungsvorsatz“ Linker sprächen. „Nazis töten – und zwar nicht nur mit ‚bedingtem Vorsatz‘ sondern kaltblütig und gezielt“, sagte die Linke-Politikerin.

Völlig ins Absurde kippte übrigens der Focus ab, das reaktionäre Magazin für die ganz Schlichten. Im Gefolge des Spiegel fantasierte das Blatt, die „linksextremische Antifa“ bereite sich nach Kenntnis von Sicherheitsbehörden auf „Angriffe gegen Polizisten, politische Gegner und vermeintliche Rechtsextremisten“ vor. Bei „der Antifa und ihren 50 regionalen Unterstützergruppen“ gebe es eine „Professionalisierung der Gewaltausübung“. Laut Berliner Verfassungsschutz seien „gezielte Tötungen“ denkbar. Westlichen Nachrichtendiensten lägen Hinweise vor, dass deutsche „Antifa-Mitglieder“ bei der kurdischen YPG in Syrien ein Kampftraining absolvierten. Blöder geht es wirklich kaum! Ulla Jelpke gab dem Focus in junge Welt kostenlos Nachhilfeunterricht: „Es ist kein Geheimnis, dass auch deutsche Antifaschisten heute in Nordsyrien in den Reihen der kurdischen YPG aktiv sind. Der Kampf gegen den IS und andere Dschihadisten ist ein Teil des weltweiten antifaschistischen Kampfes.“

Durchaus aufschlussreich an der ganzen Sache ist auch, dass BKA, Verfassungsschutz und Konzernmedien en passant das auch von US-Präsident Donald Trump fleißig gepflegte Narrativ von „der Antifa“ als homogener Organisation mit bösen Absichten verbreiteten. Diesen Mythos will man offenbar weiter nach Kräften befördern.

Übrigens schwadronieren auch die Polizeigewerkschaften regelmäßig über die Gewalt von links, der die „Kollegen auf der Straße“ zunehmend ausgesetzt seien. Dabei bemüht sich die Gewerkschaft der Polizei (GdP) offenbar immer mehr, mit der reaktionären kleinen Schwester, der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG) in puncto Hetze gegen Links gleichzuziehen. Das Berliner Schundblatt BZ war nur zu gern bereit, bei der Berichterstattung über die Räumung der Kiezkneipe Syndikat in Neukölln Anfang August eine Tirade des Berliner GdP-Vize Stephan Kelm abzudrucken. „Die militante, linksautonome Szene geht zurzeit offensiv und strukturiert gegen meine Kollegen bei Demos und Protesten vor“, fabulierte der Mann und beklagte die Verletzung eines Beamten bei den Auseinandersetzungen in Neukölln. Da werde sogar „der Tod von Menschen in Kauf genommen“. Und: „Wir haben es mit Personengruppen zu tun, die ohne jedes Zögern auch Molotow-Cocktails werfen würden.“

Vielleicht sollte dem Herrn mal jemand erklären, dass Molotow-Cocktails bereits länger in Gebrauch sind, und das durchaus auch bei Straßenschlachten. Und dass für die Eskalation auf der Straße nicht Autonome oder andere Linke verantwortlich sind, sondern erstens die Polizei, die immer mehr aufrüstet und immer brutaler vorgeht, und zweitens die kapitalistische Ausbeutung und Ausgrenzung, die bei immer mehr Menschen nichts als Wut und Hass erzeugt. Dabei gibt es natürlich auch Verletzte, auf beiden Seiten. „Wir sind der Prellbock auf der Straße“, klagte der Herr Kelm noch. Jawohl, da hat er recht! Aber das ist noch nicht die Schuld der radikalen Linken. Die Herrschenden verheizen Euch, liebe Leute in Uniform! Also: Augen auf bei der Berufswahl.

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Am 30.06.1994 wurde kurdische Aktivist Halim Dener im Alter von 16 Jahren von einem deutschen Polizisten beim Plakatieren ermordet. Knapp 26 Jahre nach seinem Tod gibt die Kampagne Halim Dener ein Buch über ihn heraus. Wir veröffentlichen vorab die Einleitung zu Halim Dener – Gefoltert. Geflüchtet. Verboten. Erschossen. Die Vorstellung des Buches findet am Freitag, 24.Juli 2020 um 16 Uhr auf den Halim-Dener-Platz (30451 Hannover) statt.

Der Name Halim Dener ist heute für viele kurdische Aktivist*innen, aber auch viele deutsche Linke kein unbekannter. Mit dem Schicksal des geflohenen kurdischen Jugendlichen, der in Deutschland Schutz suchte, und stattdessen am 30.06.1994 den Tod durch die Kugel aus der Waffe eines deutschen Polizisten fand, verbinden sich verschiedene politische Entwicklungslinien und Konflikte. Dazu gehört zuvorderst der Konflikt zwischen der kurdischen Freiheitsbewegung und einem faschistisch agierenden türkischen Staatsapparat, der in seinem Krieg gegen Kurdistan und in der Repression kurdischer Aktivist*innen seit Jahrzehnten durch die deutschen Behörden und deutsche Waffen unterstützt wird. Dazu gehört aber auch die Geschichte von Flucht nach Deutschland, in diesem Fall eines unbegleiteten Minderjährigen, der sich allein von Kurdistan bis nach Hannover durchschlug, nachdem türkisches Militär seinen Heimatort angegriffen und ihn und ihm Nahestehende gefoltert hatte. Halims Geschichte endet mit dem Schuss eines deutschen Polizisten, der ihn in den Rücken trifft und wenig später zu seinem Tod führt. Er wurde so zu einem von vielen Opfern rassistischer Polizeigewalt – einem von vielen Todesfällen, die von der deutschen Justiz nie befriedigend aufgeklärt wurden. Halim Dener wurde nur 16 Jahre alt. Er wurde nicht vergessen.

Knapp 20 Jahre nach seinem Tod, im Jahr 2013, gründete sich eine Kampagne mit dem Ziel, in der Stadt Hannover endlich eine angemessene Aufklärung und Erinnerung an den Todesfall und seine Ursachen einzufordern. Diverse Organisationen aus Hannover und darüber hinaus schlossen sich zusammen, um das Gedenken an Halim Dener in die Öffentlichkeit zu tragen. Doch es ging immer um mehr als die Trauer. Es ging auch darum, die politischen Linien und Kämpfe, die sich mit Halims Schicksal verbinden, offensiv zum Thema zu machen und den politischen Status Quo, der sich auch 20 Jahre nach Halims Tod in vielen Punkten nicht verändert hat, anzugreifen. Die Waffenlieferungen an die Türkei, der Umgang mit Geflüchteten, Repression gegen die kurdische Freiheitsbewegung, der PKK-Verbot, rassistische Gewalt und Behördenwillkür – noch immer deutsche Zustände.

Im Jahr 2019, nach dem 25. Jahrestag von Halim Deners Tod, ist es für uns als Kampagne Zeit innezuhalten. 5 Jahre lang haben wir informiert, debattiert, demonstriert und gekämpft. Wir haben auf verschiedenen Ebenen und verschiedenen Wegen versucht, Einfluss auf die Stadt Hannover und die Stadtöffentlichkeit zu nehmen, und sind für die Veränderung der beschriebenen Zustände mit aller Vehemenz und anhaltendem Engagement eingetreten. Längst nicht alle Ziele, die sich mit unserem Kampf verbanden, haben wir erreicht. Auch deswegen scheint es uns an der Zeit, gemeinsam nachzudenken. Diese Broschüre ist ein Ergebnis dieses gemeinsamen Prozesses. Sie dient als Selbstverständigung, weil wir Revue passieren lassen, was seit Halims Tod geschehen ist und uns vor Augen führen, in welchem Zusammenhang sein persönliches Schicksal steht. Und weil wir zurückblicken auf fünf Jahre Kampagnenarbeit, deren Erfolge und Rückschläge. Diese Broschüre entstand aber nicht nur für uns, sie richtet sich auch nach außen. Sie dient – wie auch die anderen Aktivitäten der Kampagne – dazu, Halims Geschichte weiter bekannt zu machen, in dem wir sie erstmals umfassend publizistisch aufarbeiten. Nicht zuletzt dokumentieren und reflektieren wir hier auch unseren politischen Kampf mit dem Ziel, all denjenigen, die ähnliche Gedanken und Motive haben, mahnendes Beispiel und inspirierendes Vorbild zugleich zu sein. Viele Erfahrungen müssen im politischen Aktivismus immer wieder von neuen gemacht werden, und trotzdem können wir voneinander und von unseren vergangenen Kämpfen lernen – das ist unsere Überzeugung.

Aufbau

Diese Broschüre besteht aus zwei Teilen, von denen der erste sich mit der Geschichte Halim Deners und seines Todes, sowie den Verhältnissen und Ereignissen in den 1990er Jahren beschäftigt. Die hier versammelten Beiträge befassen sich mit der historischen und aktuellen Situation in Kurdistan, die Grund für Halims Flucht im Jahr 1994 waren. Ein zweiter Beitrag beleuchtet die Situation von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, zu denen auch Halim einst gehörte. Neben den Gefahren auf der Flucht selbst geht es auch um die Rahmenbedingungen in Deutschland und deren Verschlechterung in den letzten Jahren. Über die Repression der kurdischen Bewegung in Deutschland, namentlich das erlassene PKK-Verbot, informiert ein weiterer Artikel. Die überregionalen politischen Proteste, die der Tod Halims bereits 1994 auslöste, und die ersten Initiativen für ein Gedenken und Erinnern, die lang vor der Kampagne Halim Dener entstanden, werden in einem eigenen Beitrag beleuchtet. Den Abschluss des ersten Teils bilden zwei Prozessberichte zum Gerichtsprozess gegen den Polizeibeamten, der Halim 1994 erschoss. In diesen historischen Dokumenten beschreiben Rolf Gössner, der als Anwalt der Nebenklage Halims Familie vertrat, sowie eine anonyme Beobachterin den teils absurd anmutenden Prozessverlauf und ihre Eindrücke vom Geschehen rund um das Verfahren.

Der zweite Teil der Broschüre widmet sich den Aktivitäten und Ereignissen rund um die Kampagne Halim Dener seit 2013. Der erste Beitrag präsentiert Überlegungen zu einer Erinnerungskultur rund um das Schicksal Halim Deners, wobei sowohl kritische Bestandsaufnahme als auch politische Vision Platz finden. Zur Einschätzung der Medienberichterstattung zum Fall Halim Dener findet sich als zweiter Beitrag ein Interview mit dem Sozialwissenschaftler Christian …, der sich in einer Abschlussarbeit mit der Erinnerungskultur zu Halim Dener beschäftigte. Es folgt ein Interview mit einem Aktivsten der Kampagne Halim Dener, in dem die Erfahrungen in der Zusammenarbeit zwischen kurdischer Freiheitsbewegung und deutscher Linker geht, die während der Arbeit in der Kampagne gesammelt wurden. Diese Zusammenarbeit wurde von den deutschen Behörden offenbar äußerst skeptisch beäugt, in einem eigenen Beitrag informieren wir über die diversen Repressionsversuche gegen die Kampagne (und ihr Scheitern). Einen eigenen Beitrag widmen wir ebenfalls einer der einflussreichsten – wenn auch letztlich bisher erfolglosen – politischen Initiativen der Kampagne, dem Kampf um die Benennung eines Platzes in Hannover nach Halim Dener. Den Abschluss dieses Bandes bildet ein Text über die Entstehung und Aktivitäten der Kampagne von 2014 bis 2019, den wir mit einer vorläufigen Bilanz und einem Ausblick beenden.

Dank

Unser Dank gilt allen Gruppen und Aktivst*innen, die Teil der Kampagne Halim Dener waren oder diese in den letzten Jahren unterstützt haben.

Für die Mitarbeit und Unterstützung dieser Broschüre möchten wir uns insbesondere bedanken bei der Roten Hilfe für die umfassende finanzielle und logistische Hilfe, bei Jochen Steiding für ein hervorragendes Layout, sowie bei Rolf Gössner, dem Flüchtlingsrat Niedersachsen, Christian Hinrichs und Wolfgang Struwe für die hier veröffentlichten Textbeiträge.

# Halim Dener – Gefoltert. Geflüchtet. Verboten. Erschossen | Verlag gegen den Strom, München | 226 Seiten | 10 €

# Titelbild: Kampagne Halim Dener

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Der Sommer der (versuchten) Räumungen in Berlin hat begonnen. Überraschenderweise nicht mit dem lange angekündigten und juristisch vorbereiteten Angriff auf die Liebig34 oder das Syndikat, sondern einer versuchten Teilräumung der Rigaer Str. 94, des Lieblingsfeindes der law and order-Fraktion in Presse, Polizei und Apparat,.

Am vergangenen Donnerstag, den 8. Juli, rückten frühmorgens 200 Polizist*innen, begleitet von Springerjournalist*innen, an, um zwei Durchsuchungsbeschlüsse zu vollstrecken. Vorwand waren zum einen der Vorwurf, eine Polizistin mit einem Laserpointer geblendet und „verletzt“ zu haben, zum anderen Urkundenfälschung. Soweit so lächerlich. Doch es blieb nicht bei diesen Durchsuchungen.

Die Polizei brachte nämlich nicht nur sensationdurstige Reaktionäre mit Presseausweis mit, sondern auch den selbsterklärten Hausverwalter Thorsten Luschnat, zusammen mit Securities und Bauarbeitern. Diese machten sich nach Absprachen mit den anwesenden Polizist*innen daran Donnerstags und Freitag, Bewohner*innen zu bedrohen, Löcher in Wände zu schlagen und zu versuchen, Wohnungen im Haus zu räumen.

Das ist bemerkenswert, denn bisherige Räumungsersuchen wurden von der Justiz abgeschmettert, weil nicht einmal nachgewiesen ist, ob die Eigentümer des Gebäudes überhaupt prozessfähig sind. Mit anderen Worten: Der Räumungsversuch war komplett illegal, nicht juristisch legitimiert. Das hinderte die Bauarbeiter allerdings nicht daran zu versuchen Wohnungstüren mit einem Vorschlaghammer einzuschlagen, wohlgemerkt unter Anwesenheit der Polizei.

Die geltenden Gesetze dienen der Aufrechterhaltung der bestehenden Eigentumsordnung. Juristisch abgesichert sollen in Berlin kollektive Räume, wie die Liebig34, das Syndikat oder die Meuterei geräumt werden. Von den über 5000 Zwangsräumungen, die jedes Jahr in Berlin beantragt werden, ganz zu schweigen. Doch wenn es auf legalem Wege nicht geht, wird eben wortwörtlich der Vorschlaghammer ausgepackt.

Diese Polizeiaktion zeigt, dass „Recht und Ordnung“ im Zweifel nicht gelten, wenn es gegen erklärte Feinde geht. Dann wird auf dieses Recht und diese Ordnung so offensichtlich geschissen, dass selbst Liberalen dämmern müsste, dass da irgendwas faul ist.

Das war wohl auch der Pressestelle der Polizei klar, die per Twitter erklärte, es gebe keinen Polizeieinsatz – während ihre Beamt*innen in der Rigaer94 den Überfall der Hausverwaltung deckten. Mit ihrem verzweifelten Täuschungsmanöver versuchte sie zu verhindern, dass sich Leute gegen diesen Einbruch solidarisieren und Nothilfe leisten.

Damit hat die Berliner Polizei einmal mehr unter Beweis gestellt, dass sie selbst den Ansprüchen, die das bürgerliche Recht an sie stellt, nicht gerecht wird. Die Rigaer94 ist ihr ein Dorn im Auge, und wenn es auf legalem Wege nicht geht, wird eben mafiamäßig mit windigen Immobilenverwaltern kooperiert, um gegen widerständige Strukturen vorzugehen.

Der Angriff ist für‘s erste vorbei, nach einer Solidemo hin zur Rigaer94 haben sich auch die bis dahin postierten Securities verzogen. Eine Frage aber bleibt: Wenn sich die Polizei nicht an die sowieso zu ihren Gunsten geschriebenen Regeln hält, warum sollten wir es dann tun?

# Titelbild: Kim Winkler, Polizei und Securities vor der Rigaer Str. 94

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Genau drei Jahre nach den Protesten gegen den G20-Gipfel gerät die Repressionsmaschinerie gegen Gipfelgegner*innen richtig ins Rollen. Die Woche begann mit einem Urteil und schon am kommenden Freitag soll das Urteil im Elbchausseeprozess gefällt werden. Unser Kolumnist Kristian Stemmler fasst die Absurdität des ganzen Prozederes zusammen.

Gefühl für Timing kann man Hamburgs Justiz nicht absprechen. Ausgerechnet an diesem Montag, am dritten Jahrestag der „Welcome to hell“-Demonstration am Hafenrand, die einen Tag vor dem Beginn des G-20-Gipfels 2017 in der Hansestadt stattfand, sprach das Amtsgericht Altona ein Urteil in einem Prozess, in dem es um einen Vorfall am Rande dieser Demo ging. In diesem Verfahren spiegelt sich die ganze Absurdität, die die polizeiliche und juristische Aufarbeitung des Gipfels auszeichnet. War der groteske Aufmarsch von 33.000 Polizeibeamt*innen zum Schutz von Despot*innen und der Führer*innen kapitalistischer Großmächte, die sich am 7. und 8. Juli 2017 an der Elbe trafen, schon ein Skandal, so setzten Hamburgs Polizei und Justiz in den Monaten danach noch einen drauf.

Von 157 Verfahren gegen beim Gipfel eingesetzte Polizist*innen sind 120 eingestellt worden. Kein*e einzige*r Polizist*in wurde angeklagt. Das hat die Antwort des Hamburger Senats auf eine Anfrage der Linksfraktion in der Bürgerschaft ergeben. Bei einem Drittel der Verfahren wird die Einstellung damit begründet, der Einsatz von Gewalt sei „gerechtfertigt“ gewesen. Und dabei geht es nicht um mehr oder weniger unsanfte Festnahmen, sondern um massive Schläge auf den Kopf und ins Gesicht oder das sinnlose Zusammenprügeln von am Boden liegenden Demonstrant*innen. Die 157 Verfahren sind dabei ohnehin nur die Spitze des Eisbergs. Die Mehrzahl der Schläger*innen in Uniform ist sowieso nicht angezeigt worden – einfach weil den Opfern schon vorher klar war, dass solche Anzeigen zu nichts als Gegenanzeigen führen.

Aber halt! Zwei Polizisten mussten sich im Kontext von G 20 vor Gericht verantworten. Der eine war in der Gefangenensammelstelle im Hamburger Süden mit einem Kollegen über die Frage in Streit geraten, ob es erlaubt sei, dort Pfefferspray mit sich zu führen. Er fügte seinem „Opfer“ eine Bänderdehnung im kleinen Finger zu! Dafür gab es einen Strafbefehl, den er nicht akzeptierte. Der zweite Polizeibeamte, der in Sachen G 20 vor Gericht landete, war der Angeklagte im eingangs erwähnten Prozess vor dem Amtsgericht Altona.

Er ist aber keiner von denen, die am 6. Juli 2017 wie die Furien – den Schlagstock schwingend und Pfefferspray versprühend – die Spitze des Aufzugs attackierten, der sich auf der Hafenstraße formiert hatte. Keiner von denen, die auf Beobachter*innen einprügelten, auf Jugendliche, Senior*innen. Auch keiner aus der Einsatzleitung, die mit der Entscheidung, die „Welcome to hell“-Demo zu zerschlagen, hunderte Menschen, die zwischen Häuserwänden und einer Flutschutzmauer eingeklemmt waren, in unmittelbare Lebensgefahr brachten.

Der Angeklagte vor dem Amtsgericht Altona war ein Polizist aus München, der mit einer Bekannten freie Tage in Hamburg verbrachte, und das Toben seiner Kolleg*innen von einer Fußgängerbrücke aus verfolgte. Wer damals dabei war, wird gut verstehen, warum in den Beiden die Wut hochkochte angesichts der Prügelorgie am Hafenrand. Sie warfen beide je eine nicht voll gefüllte Bierdose in Richtung eines Trupps von Polizist*innen, die aber niemanden trafen. Das fand die Staatsanwaltschaft nicht gerechtfertigt, denn der Mann war ja nicht im Dienst.

Offenbar ist sogar dem Richter in diesem Verfahren klar geworden, wie grotesk die Anklage und das ganze Verfahren ist. Er sprach den Angeklagten, der den Dienst inzwischen quittiert hat, am Montag frei. Da hatte er mehr Glück als die Aktivist*innen, die für Würfe, die niemanden verletzt haben, Knaststrafen kassiert haben. Aber drei Jahren nach dem G20-Gipfel ist ja mit dem Rachefeldzug gegen Gipfelgegner*innen noch lange nicht Schluss. Am Freitag wird das Landgericht Hamburg die fünf Angeklagten im „Elbchaussee-Prozess“ wahrscheinlich für nichts verknacken – dafür dass sie am 7. Juli 2017 bei einem Aufzug mitgelaufen sind, der für Glasbruch gesorgt hat.

Und danach geht es erst richtig los. Im Rondenbarg-Verfahren sollen sage und schreibe 86 Demonstrant*innen vor Gericht gestellt werden, nur dafür, dass sie beim Aufzug im Industriegebiet Rondenbarg im Hamburger Westen am Morgen des 7. Juli 2017 dabei waren. Die Staatsanwaltschaft meint, dass jeder gewusst haben muss, dass die Demo von Anfang an auf Gewalt ausgelegt gewesen sei. Und jeder habe auch mitbekommen, dass Bushaltestellen zerlegt worden seien. Dieses Verfahren ist ein Frontalangriff aufs Versammlungsrecht. Sollte die Staatsanwaltschaft mit ihrer kruden Rechtsauffassung durchkommen, stünde künftig jeder, der auf eine Demo geht, mit einem Bein im Knast. Wirft am Ende des Aufzugs jemand einen Stein, hast du Pech gehabt, wenn du vorn stehst und nicht gleich das Weite suchst. Wer keinen Stein wirft, ist auch schuldig oder wie heißt es in der Bibel noch mal?

# Titelbild: Willi Effenberger, Polizisten versprühen großzügig Pfefferspray, nachdem sie die „welcome to hell“-Demo auseinander geprügelt haben

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Seit mehr als hundert Tagen stehen die Chilen*innen gegen jenes neoliberale System auf, das ihr Leben seit Jahrzehnten prekarisiert hat. Trotz aller Bemühungen der Regierung, die Proteste zum Schweigen zu bringen, ist der Wille, mit jenem Gesellschaftsmodell zu brechen, das Ungleichheit, Unrecht und die Misshandlung der Arbeiter*innenklasse verewigt, so groß wie am ersten Tag des Aufstandes.

Bis zum 30.1.2020 starben im Zuge der Proteste 31 Menschen; 3.746 wurden verwundet; 427 erlitten Verletzungen an den Augen und 268 wurden durch Tränengaskanister verletzt. 418 Fälle von Folter und 192 Fälle von sexualisierter Gewalt durch die Polizei wurden dokumentiert. Die Repression wird ausgeführt von den Agenten des Staates, die totale Straflosigkeit genießen. Mehr als lächerliche Urteile gibt es für ihre Verbrechen nicht. So muss Muricio Carillo, der kriminelle Bulle, der den Demonstranten Oscar Perez am 20. Dezember mit seinem Polizeitruck überfuhr, sich einmal mi Monat zum Unterschreiben melden – bis die 150 Tage der Ermittlung des Falles abgeschlossen sind. Carlos Martinez, der Cop, der am 28. Januar einen Fußballfan überfuhr und tötete, muss sich einmal im Monat für 90 Tage zum Unterschreiben melden.

I

Ganz anders sieht die Sache aus, wenn es um die Bestrafung der Kämpfer*innen der sozialen Revolte geht. Den meisten von ihnen droht schon im Vorfeld eines eventuellen Prozesses Haft. Diese Untersuchungshaft wird länger und länger, die Ausrede lautet stets, dass man mehr Zeit brauche, um richtig ermitteln zu können. Im Normalfall sollte der Gewahrsam nicht länger als 45 Tage dauern – dochsind die Behörden nicht willens das einzuhalten. Die Untersuchungshaft wird ausgedehnt, oft monatelang. In einigen Fällen könnten es Jahre der Einkerkerung ohne Prozess werden, wie das in der Vergangenheit in verschiedenen Fällen politischer Gefangener des Mapuche-Widerstands war.

Im Knast und rund um die Ingewahrsamnahmen gibt es eine große Anzahl von Unregelmäßigkeiten. Vielen Demonstrant*innen wurden von der Polizei gefälschte Beweise untergeschoben. Eines der Opfer dieser Praxis ist Diego Ulloa, ein Student, der in den Demonstrationen die Aufgabe übernahm, Tränengas mit einer Mischung aus Wasser und Backpulver unschädlich zu machen. Am 3. Dezember wurde er verhaftet. Er leistete keinen Widerstand und wurde dennoch brutal zusammengeschlagen. Ihm wird vorgeworfen, Molotow-Cocktails transportiert zu haben. Die Cops schoben ihm „Beweise“ unter, nutzten auch seinen Wasserkanister, der zum Neutralisieren der Tränengasgranaten diente, als Beweis.

Oder Nicolas Ríos, der am 10. Januar von Zivilpolizisten entführt wurde. Seine Verhaftung erinnert an die dunkelsten Jahre der Diktatur. Während er dasaß und rauchte, sprangen fünf Männer aus einem Transporter, schlugen ihn zusammen und verschleppten ihn. Wer weiß, ob er je wieder aufgetaucht wäre, hätten nicht Passant*innen die Szene gefilmt und somit die Identifizierung des Kennzeichens ermöglicht. Auch Nicolas Ríos wird das Werfen von Brandsätzen vorgeworfen. Sie testeten ihn auf chemische Spuren – das Resultat war negativ. Auf dem Video, das die Cops der Verhaftung zu Grunde legten, kann man unmöglich erkennen, wer geworfen hat. Und dennoch, die zuständige Richterin ließ ihn in Haft, schwieg über die offenkundige Rechtswidrigkeit seiner Verhaftung, verweigerte ihm, überhaupt gehört zu werden und untersagte seinen Eltern den Zutritt zum Verfahren.

Es gibt tausende Fälle wie diese beiden.

II

Wie reagierte der Staat auf die Proteste von Millionen? Er rührte jenes Modell, das die Privilegien der Eliten garantiert nicht an. Kein Gesetz wurde erlassen, das diese Privilegien abschafft oder auch nur beschneidet. Dagegen wurden sehr effizient neue Gesetze verabschiedet, die Protest kriminalisieren.

Nach Kontroversen im Kongress und im Zusammenspiel mit der parlamentarischen Opposition, die sich – mit Ausnahme einiger weniger Fälle – auf die Seite der Regierung schlug, wurden Gesetze gegen „Plünderungen“ und gegen den „Barrikadenbau“ durchgesetzt. Ein Vermummungsverbote durchläuft derzeit das Gesetzgebungsverfahren. Das einzige Ziel dieser Gesetze ist es, die soziale Bewegung zu bestrafen und längere Haftstrafen für die Aktivist*innen zu ermöglichen.

III

Die Situation der Gefangenen wird zudem unsichtbar gemacht. Informationen und Möglichkeiten zu ihrer Unterstützung finden sich nur in den sozialen Medien. Als Antwort auf diese Lage wurde die „Coordinadora 18 de octubre“ gegründet, ein Zusammenschluss von Familienmitgliedern, Freund*innen der Gefangenen und Freiwilligen sowie Aktivist*innen und Organisationen. Sie gewährleisten Unterstützung und versuchen, Orientierung zu geben. Vom 18. Oktober 2019 bis zum heutigen Tag wurden 23.400 Personen zumindest kurzfristig festgenommen; mehr als 2500 verblieben im Knast, sie warten auf ihren Prozess. Ohne klare Vorstellung, wie lange das dauern wird.

Maria Rivera ist die Koordinatorin der Defensoria Popular Penal, einer Gruppe von Anwält*innen, die sich der Verteidigung der Kämpfer*innen der Revolte und der Kriminalisierten verschrieben hat. Sie verlangen keine Gebühren von ihren Mandant*innen. Seit dem 18. Oktober, erzählt Maria Rivera, habe sich ihre Arbeit verdoppelt. Sie haben viele Jugendliche der „primera linea“, der ersten Reihe der Demonstrationen verteidigt, die nicht nur ihre Freiheit, sondern auch ihre körperliche Unversehrtheit zur Verteidigung des Aufstandes in die Waagschale werfen.

„Die Gerichte haben gezeigt, dass sie am liebsten alle sozialen Kämpfer*innen einsperren wollen“, so Maria Rivera. „Wir haben einige schrecklich symbolische Fälle. Zwei Teenager, beide 16 Jahre alte und ohne Vorstrafen, Kevin Uribe und Mauricio Soto, befinden sich in Vorbeugehaft in einem Jugendknast. Das Berufungsgericht, der höchste Gerichtshof, alle zuständigen Instanzen haben verweigert, die Untersuchungshaft umzuwandeln, etwa in Hausarrest. Es gab Richter, die die Auffassung vertraten, dass die beiden auch zu Hause auf das Verfahren warten könnten, aber die höheren Gerichte lehnten ab.“

Die politischen Gefangenen der Revolte seien auf verschiedene Gefängnisse verteilt, aber gerade Module 14 des Knasts Santagio-1 sei vollgestopft mit Protestierenden, so Rivera. Verwaltet wird diese Strafanstalt von dem multinationalen Unternehmen SODEXO, einem Konzern, der in zahllose Skandale verwickelt war, wegen prekärer Arbeitsbedingungen, genauso wie den Bedingungen für die Gefangenen in seinen Knästen. „Einige von den Gefangenen waren verwundet, als sie festgenommen wurden und haben keine angemessene Versorgung im Gefängnis erhalten“, erzählt Rivera. Der chilenische Staat zahlt SODEXO monatlich 700.000 pesos, umgerechnet etwa 850 Euro, pro Gefangenen. Wo auch immer dieses Geld hinfließt, in das Wohlbefinden der Eingesperrten fließt es nicht.

Einmal in der Woche können Angehörige oder Freund*innen zum Gefängnis gehen und ein Paket für eine*n Gefangene*n abgeben. Meistens Basisgüter, Toilettenartikel oder Nahrung, die eigentlich von der Betreiberfirma zur Verfügung gestellt werden sollten. Die Prozedur ist eine einzige Schikane und dauert drei, vier Stunden. Dasselbe gilt für den Besuchstag. Man wartet stundenlang, die Durchsuchungen können, abhängig von der Laune der Wärter*innen, kurz, lang oder erniedrigend ausfallen. Dennoch kommen Woche für Woche Familienmitglieder, Freund*innen und Freiwillige, die sich diesem Mechanismus unterziehen, der zeigt, was der Knast ist: ein Klassenmechanismus, der die Armen kriminalisiert und die schlimmsten Werte der verrotteten neoliberalen Gesellschaft reproduziert.

Und dennoch lohnt sich der Besuch bei den gefangenen Kämpfer*innen, wie Maria Rivera betont: „Trotz alledem haben sie nichts von ihrer Stärke verloren. Wenn ich sie besuche, berührt mich das sehr. Und ich schöpfe Hoffnung, weil ich weiß, das wird nicht für immer andauern. Sie werden rauskommen und in den Kampf zurückkehren. Denn sie wissen ganz genau, dass das System bis an die Grundfesten verändert werden muss.“

# Titelbild: frentefotográfico

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Am 04. und 05.02.2020 findet in Berliner Congress Center (bcc) am Alexanderplatz der 23. Europäische Polizeikongress statt – allerdings nicht ohne Widerstand. Vom 01.02-02.02.20 wird der Gegenkongress „Entsichern“ und am 31.01.20 eine Demonstration gegen den Polizeikongress stattfinden. Wir sprachen mit zwei Organisator*innen über den Polizeikongress und aktuelle staatliche Entwicklungen, die Motivation für eine Gegendemonstration und einen Gegenkongress und über Perspektiven, welche über die Demo und den Kongress hinausgehen.

Der Europäische Polizeikongress findet jährlich statt, ist aber vielen gar nicht bekannt. Könnt ihr erklären, was dort genau passiert?

Z.: Auf dem Europäischen Polizeikongress trifft sich das ‚Who is Who‘ der reaktionärsten Bereiche der Gesellschaft: der Verfassungsschutz, die Waffenlobby, Forensiker*innen, Grenzsicherungsfirmen, Mitglieder des Bundestages und die Polizei. Sie alle tauschen sich über neue Sicherheitskonzepte aus, planen die Investition in digitalisierte Überwachung, den Ausbau des europäischen Grenzregimes oder auch die Begründung neuer Waffen und Zugriffsrechte der Behörden. Hier legen Sicherheitsindustrie, Politiker*innen und Polizei-Behörden die Weichen ihrer engen Zusammenarbeit.

Schon im letzten Jahr wurde gegen den Kongress eine Demonstration und einige Veranstaltungen organisiert, dieses Jahr soll zusätzlich noch der Gegenkongress „Entsichern“ stattfinden. Welche Ziele verfolgt ihr mit der Demo und dem Kongress?

Z.: Nachdem es einige Jahre vergleichsweise ruhig war, was die Proteste gegen den jährlich stattfinden Europäischen Polizeikongress anging, konnte gegen das Treffen mit der Demonstration und den Veranstaltungen im vergangenen Jahr Protest wieder sichtbar und anschlussfähig gemacht werden. Daran wollen wir mit der Demonstration und dem Kongress in diesem Jahr anknüpfen.

Beide Veranstaltungen, also Demonstration und Kongress, sollen dabei ein Zeichen setzen gegen das widerwärtige Treffen. Die Demonstration dient u.a. als gemeinsamer Start in das Kongresswochenende. Mit der Demonstration können wir unsere Kritik an dem reaktionären Treffen und den bestehenden Verhältnissen sichtbar machen und unsere Wut darüber auf die Straßen tragen. Dadurch, dass die Demonstration aber nicht für sich allein steht, sondern im Entsichern Kongress mündet, kann die aktive Politik auf der Straße mit konkreten Inhalten verknüpft werden. Mit dem Kongress soll dann ein zweitägiger Raum für Informationen, Diskussionen, Vernetzung und Austausch geschaffen werden.

G.: Unser Anspruch ist also allen Vorran eine stärkere Zusammenarbeit der Strukturen, die eigentlich inhaltlich aber auch praktisch miteinander zu tun haben, sich aber in dieser Großstadt nicht vernetzen oder gemeinsam Perspektiven erarbeiten. Das wollen wir mit der Demonstration und dem Entsichern Kongress versuchen zu ändern. Es geht uns also vor allem auch darum, Solidarität praktisch werden zu lassen. Denn es kann schlicht und ergreifend nicht sein, dass dieses Treffen aus Waffenlobbyist*innen, reaktionären Gewerkschafter*innen, Geheimdiensten Europas usw, nicht auf Widerstand stößt. Vieles, mit dem wir in den letzten Jahren zu kämpfen hatten und in den kommenden zu kämpfen haben werden, wird genau dort beschlossen!

Mit was haben wir denn zu kämpfen, was wird uns in der Zukunft noch beschäftigen?

G.: Auf dem Polizeikongress werden sie u.a. darüber sprechen, wie die digitale Kontrolle, zum Beispiel durch eine elektronische Strafakte, die Auswertung von Massendaten durch Künstliche Intelligenz oder digitale Spuren, ausgebaut werden kann, wie Grenzen noch mehr abgeschottet werden, wie die Polizei noch mehr aufrüsten kann. Der Rahmen, innerhalb dessen diskutiert wird, ist auch gesetzt: „Parallelgesellschaften, Clans, Rechtsextremismus und -terrorismus sowie illegale Handelsplattformen im Darknet“, so schreiben sie selbst auf ihrer Homepage. Zum einen geht es also um die digitale Kontrolle unserer Alltags, zum anderen um den Ausbau des faschistischen autoritären Staates. Und damit haben wir schon seit Jahren zu kämpfen und werden es auch weiterhin müssen.

Z.: Um konkrete Beispiele zu nennen: die Politiker*innen und Behörden haben zum Beispiel Angst, dass ihre schmutzigen Waffendeals und ihre blutige Außenpolitik auf sie zurückfällt, deswegen sind sie interessiert an einer undurchdringbaren Festung Europa. Damit müssen wir uns heute und in Zukunft auseinandersetzen. Um Solidarität zwischen den Menschen zu verhindern, wird ein eh in der Gesellschaft vorhandener Rassismus, Sexismus und Klassismus befördert und angefacht. Gleichzeitig werden reaktionäre Gruppen und Zusammenhänge wie der NSU gefördert und jegliche Beweise vernichtet. Dies sind keine Einzelfälle, wie gerne dargestellt wird und deswegen ist es noch einmal wichtiger, diese Entwicklung ernst zu nehmen und sich dagegen zu wehren.

G.: Und auch, wenn in ihrem offiziellen Programm dazu nichts zu finden ist, sind es auch die Momente der Unkontrollierbarkeit, wie bei den Protesten gegen den G20, welche den Staat und seinen Repressionsorganen schwer zu schaffen machen. Ihre Antwort darauf ist eine möglichst breite Repression, um den Widerstand in „gut“ und „böse“ zu spalten. Über allem steht die totale Überwachung und der Gedanke, durch präventive Maßnahmen die Menschen in Angst und Schrecken zu versetzen und so jegliche widerständige Aktionen im Keim zu ersticken. Was uns also auch konkret beschäftigen sollte, zeigt u.a. die vorherrschende Repression auf, denn sie ist ein Spiegelbild dafür, an welchen Punkten sich der Staat angreifbar fühlt und mit welchen Mitteln er sich dann versucht zu verteidigen. Mit diesen Mittel sollten wir uns ebenfalls auseinandersetzen. Antirepressionsarbeit darf aber kein Teilbereichskampf darstellen. Um die Isolation und Vereinzelung, die der Staat damit erreichen will, zu durchbrechen, müssen wir gemeinsame Strategien entwickeln.

Ihr habt jetzt schon einige Themen gesetzt. Inwiefern soll die Demonstration und der Entsichern Kongress daran anknüpfen?

G.: Dass die Demonstration dieses Jahr in Neukölln stattfindet, liegt u.a. auch an den wöchentlichen Razzien in Shisha Bars, Spätis und Läden im Kiez, sprich der Repression und Stigmatisierung der Menschen, die damit konfrontiert sind. Neukölln ist zur Zeit ein Beispiel von vielen, wenn es um die Zusammenhänge von strukturellen und institutionellen Rassismus, die Rolle von staatlichen Funktionär*innen, Gentrifizierung und Repression geht.

Z.: Genau auf diesen Zusammenhang soll dann auf dem Entsichern Kongress noch einmal vertieft eingegangen werden. Der Kongress wird eine Gegenposition zum Europäischen Polizeikongress einnehmen, weiterhin aber auch aktuelle Diskurse aus der radikalen Linken vertiefen. Wir haben uns deshalb entschieden, Themenschwerpunkte zu wählen, die auf dem Polizeikongress vorkommen – zum Beispiel die fortschreitende Digitalisierung und Überwachung der Gesellschaft, die Grenzsicherheit sowie die Militarisierung der Repressionsorgane. Die Bekämpfung emanzipatorischer Bewegungen spielt in diesem Jahr laut Programm, wie schon erwähnt, keine wirklich große Rolle auf dem Kongress. Dennoch findet sie tagtäglich statt, sei es durch angebliche Verstöße gegen das Vereinsgesetz, was überwiegend kurdische und türkische Linke betrifft, die Einstufung als Gefährder*innen, Strukturverfahren wie nach dem G20 oder die Einführung und Umsetzung der neuen Polizeiaufgabengesetze, beispielsweise der § 113 „Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte“.

G.: Und zusätzlich wird es auch noch einen praktischen Teil geben, bei dem Workshops zum Thema Computer und Smartphone- Sicherheit, Aussageverweigerung sowie Deals und Einlassungen angeboten werden. Es wird möglich sein, eine persönliche Datenabfrage bei sämtlichen Behörden vor Ort zu erstellen und auszudrucken.

Welche langfristige Perspektive seht ihr in der Organisierung der Demonstration und im Entsichern Kongress?

G.: Es geht das ganze Jahr darum, handlungsfähige Strukturen aufzubauen, solidarisch miteinander umzugehen und gemeinsame Strategien entwickeln. Der Kongress und die Demo sind nur zwei Handlungsvorschläge, sich gegen diesen Staat und seinen Verteidiger*innen zu organisieren.

Z.: Natürlich wird nicht alles sofort klappen, was wir uns vorgenommen haben und viele Dinge können womöglich verbessert werden. Wir wünschen uns, dass dieses Wochenende ein Auftakt, zu mehr Solidarität untereinander ist. Demonstration und Kongress können dafür ein erster Schritt sein, aber es darf nicht bei diesen 3 Tagen im Jahr bleiben! Der Kampf gegen Repression und die Solidarität untereinander müssen wieder vermehrt in unseren Alltag eingebunden werden. Deswegen soll dies ein Appell sein, sich mehr aufeinander zu beziehen, sich gegenseitig ernst zunehmen, zuzuhören und voneinander zu lernen!

# alle Informationen zur Demonstration und zum Entsichern Kongress sind hier zu finden und bei Twitter

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Seit dem 17. Oktober ist die chilenische Bevölkerung im offenen Aufstand gegen den Neoliberalismus und die Regierung. Eine der zentralen Forderungen der Bewegung ist eine neue Verfassung, da die aktuelle noch aus der Militärdiktatur stammt. Die Regierung antwortet auf die Proteste mit brutaler Repression: 23 Menschen wurden bereits getötet, mehr als 350 haben durch Geschosse ein Auge verloren, es gibt tausende Verletzte, zuletzt, weil die Polizei Natronlauge in das Wasser der Wasserwerfer mischte. Aber weder die Repression, noch Befriedungsversuche, wie die Ankündigung eines Referendums im April 2020 über eine neue Verfassung, noch kleine Sozialreformen, haben dazu geführt, dass die Proteste aufhören. Die Chilen*innen haben es satt ausgebeutet zu werden.

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Pünktlich zum derzeitigen vom türkischen Machthaber Recep Tayyip Erdogan in Nordsyrien geführten Krieg gegen das selbstverwaltete Rojava zeigen deutsche Behörden, was sie dem Diktator aus Ankara noch anzubieten haben: die Kriminlisierung und Verfolgung der kurdischen Freiheitsbewegung.

Am 25.10.2019 begann in Berlin Schöneberg der Prozess gegen eine feministische kurdische Politikerin, angeklagt wegen angeblicher Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland nach § 129b, konkret der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK).

Die ganze Nummer wirkt wie abgesprochen – als würde das BKA seine Verfolgung von Kurd*innen hierzulande direkt an die Bedürfnisse der AKP-Diktatur anpassen.

Getroffen hat es Yildiz Aktaş, eine 51jährige kurdische Aktivistin, welche schon in der Türkei und auch in Deutschland gegen Gewalt an Frauen und Mädchen und für deren Recht auf Selbstbestimmung, Bildung und finanzielle Unabhängigkeit kämpfte. Dass sie den türkischen Repressionsbehörden deswegen ein Dorn im Auge war und ist, liegt auf der Hand. Deswegen wurde sie stetig verfolgt, saß das erste Mal mit 12 Jahren im Knast in Dyarbakir und wurde gefoltert. 2012 entschied sie sich deswegen, die Türkei zu verlassen und floh nach Deutschland. Sie erhielt Asyl, lebt seitdem in der BRD und führt die Kämpfe, welche sie in der Türkei führte, hier weiter.

Yildiz wurde wegen Mitgliedschaft in der PKK angeklagt. Seit 1993 ist für die PKK in der BRD ein Betätigungsverbot verhängt. Jede*r, der*die innerhalb der PKK aktiv ist, macht sich dementsprechend nach deutschen Recht strafbar. Zusätzlich wird die PKK auf der EU-Terrorliste geführt. Die Grundlage für die Kriminalisierung von PKK-Aktivist*innen ist dementsprechend schon lange gegeben. Die Verfolgung betrifft vor allem angebliche Führungskader der PKK. Sie erstreckt sich aber beispielsweise auch auf Demonstrationen, wenn übermotivierte Bullen kurdische Aktivist*innen mit PKK Fahnen angreifen, verprügeln und manchmal auch in Knäste stecken. Der Prozessauftakt gegen Yildiz untermauerte diese Verfolgung und Kriminalisierung noch einmal mit einer anderen Intensität.

Am ersten Prozesstag beantragten die Verteidiger*innen eine Unterbrechung des Verfahrens. „Die Begründung hierfür liegt im ihrem an das Bundesjustizministerium gerichteten Brief, in dem sie darlegen, warum dieses die sogenannte Verfolgungsermächtigung gegen Yildiz zurücknehmen sollte. Erst diese Ermächtigung erlaubt es den Behörden, in solch einem 129b-Verfahren umfassend zu ermitteln, zu überwachen und zu verfolgen. Gegen die PKK gibt es eine generelle Verfolgungsermächtigung, in Yildiz´ Fall wurde noch eine ‚Einzelverfolgungsermächtigung` ausgestellt. Die Begründung der Verteidiger*innen bezieht sich auch auf den aktuellen Angriffskrieg der Türkei gegen die selbstverwalteten Gebiete in Nordost-Syrien (Rojava), sowie auf die Menschenrechtslage in der Türkei.“, so die Soligruppe von Yildiz. Die Beweisaufnahme solle „bis zur Entscheidung des Bundesjustizministeriums darüber, ob die von ihm erteilte Verfolgungsermächtigung gegen angebliche Führungskader der PKK, noch angemessen und politisch haltbar sei, unterbrochen werden“.

Reaktion des Gerichtes am 29.10.19? Antrag abgelehnt! Begründung: es wäre wohl unklar, ob solch ein Antrag gegen die Einzelverfolgungsermächtigung gegen Yildiz Erfolg haben könnte. Und bevor eine Entscheidung des Bundesjustizministeriums abgewartet wird, heißt es dann im Gerichtssaal: weitermachen mit der Verfolgung! Das bedeutet, dass der Prozess mindestens bis zur Entscheidung des Bundesjustizministeriums mit der gängigen antikurdischen und pro-türkisch-faschistischen Haltung geführt wird.

Das zeigte sich dann am zweiten Prozesstag auch insofern, als kaum ein Wort über türkische und IS-Angriffe auf Gebiete der Kurd*innen und insbesondere Rojava fällt. Geladen ist Michaela Müller, Kriminalhauptkommissarin des BKA – eine alte Bekannte aus PKK-Prozessen.

Hier ist sie seit 1994 angestellt, seit 2008 für „politisch motivierte ausländische Kriminalität“ und deswegen auch für die Verfolgung vermeintlicher Mitglieder der PKK zuständig. 2012 – 2017 erstellte sie wohl eine Chronologie über die PKK, wobei sie wohl „Anschläge und Aktionen“ dokumentierte. Ihre selbsternannte „Recherche“ bezog sich dabei fast ausschließlich auf die Internetseite der HPG (Verteidigungskärfte der PKK). Von der Struktur der kurdischen Bewegung habe sie, selbstredend, keine Ahnung. Sie würde lediglich Anschläge zählen. Im Endeffekt kann man sich ihre Arbeit nach ihren Aussagen so vorstellen, dass sie 2013-2017 vorm Computer saß, Bekenner*innenschreiben las, übersetzen ließ und mit der Maus auf einer Homepage hoch und runter scrollte.

In dem dreistündigen Prozess wird dann ausschließlich von „Angriffen“ von Kurd*innen gesprochen. Zwar wird erwähnt, dass es in der Zeit von 2013-2017 auch „Gefechte“ gab, diese würden im Prozess aber wohl nicht einbezogen werden. Bei den sogenannten „Gefechten“ handelt es sich wohl um türkische Angriffe, bei welchen „sich die HPG verteidigte“ , so Müller.

Schon die Ablehnung des Antrages der Verteidigung durch das Gericht stand symbolisch für die deutsche Unterstützung und Legitimation des von Erdogan geführtes Krieges gegen die Kurd*innen, der Sprech der BKA Angestellten Müller verdeutlicht diese noch einmal mehr. Zur Erinnerung: im gesamten Zeitraum von 2013-2017 griffen der Islamische Staat und die Türkei immer wieder gezielt kurdische Gebiete an, um einen gemeinsamen Genozid an den Kurd*innen zu begehen. Inwiefern dementsprechend ein angeblicher „Angriff der Kurd*innen“ auch eine „Verteidigung gegen den Faschismus“ darstellt, wird natürlich nicht diskutiert. Im Gegenteil: durch die juristische Verdreherei eines realen Krieges wird Erdogan geschützt, kurdische Strukturen kriminalisiert.

Um natürlich aber auch die Hexenjagd nicht zu vergessen, fragt die Staatsanwaltschaft gezielt danach, ob sich Frauengruppen der HPG in der Zeit von 2013-2017 auch zu Anschlägen bekannt haben, was Müller bejaht.

Die gezielte faschistische Prozessführung seitens Richter, BKA-Beamtin und Staatsanwaltschaft gegen kurdische Frauengruppen der PKK wird dann schlussendlich mit der Aussage Müllers getoppt, dass laut ihrer Recherche die HPG mehr Verletzte und Getötete vorweisen könne als die türkische Regierung. Logisch ist das allemal: nach der Türkei wird ja auch nicht gefahndet, die Mordzahlen in ihrer Verantwortung also auch nicht gezählt.

Auch am vierten Prozesstag wurde ein Zeuge des BKA vernommen, Kriminalhauptkommisar Herr Becker. Er hat sich wohl jahrelang durch die Strukturakten der PKK gewühlt, aber auch er scheint „erstaunlich wenig Hintergrundwissen zu haben“, so die Soligruppe in einer Pressemitteilung. Von 2003 bis 2018 „schien er eigentlich nur zu wissen, wann sich welche Organisation wie umbenannt hatte und wie sie strukturiert war. In dem gesamten Zeitraum hat er sich weder mit der inhaltlichen Ausrichtung der Arbeiterpartei Kurdistans, PKK, (Stichwort Paradigmenwechsel) noch mit der politischen Einordnung in die Situation vor Ort beschäftigt.“ Bei der Frage, wer den Anschlag von Suruç 2015 verübt hat, überlegt er zunächst länger und antwortet dann nicht konkret mit den Verantwortlichen, sondern mit: „Die PKK vermutete eine Komplizenschaft der Türkei mit dem IS.“ Weiterhin sagen ihm die Begriffe „Zwangsumsiedlungen“ und „Verschwindenlassen“ nichts.

Und so wird auch an diesem Prozesstag verleugnet, dass die Türkei in Zusammenarbeit mit dem IS einen Krieg gegen die Kurd*innen führt, wieder wird die PKK verantwortlich für alles Übel gemacht.

Die Verleugnung eines von der Türkei geführten Krieges und gleichzeitiges absolutes Desinteresse für Betroffene, wie zum Beispiel Yildiz Aktaş, charakterisieren das gesamte Verfahren. Am dritten Prozesstag wird von den Verteidiger*innen der Angeklagten der erste Teil ihrer Prozesserklärung vorgelesen. In dieser schildert sie ihre Lebensgeschichte, welche „von Gewalt und Folter, Kriminalisierung als Kurdin und Unterdrückung als Frau durch die Familie geprägt ist – sowie von feministischen Kämpfen und Solidarität durch andere Frauen“, fasst die Soli-Gruppe zusammen. Was die Prozessbeobachter*innen berührt, erschüttert und bei ihnen Gänsehaut auslöst, lässt das Gericht offensichtlich eiskalt. „Die Richter*innen blicken zu Yildiz, schauen weg, schauen in die Luft, machen sich Notizen. Die Situation wirkt grotesk.“, so die Soligruppe.

Während Yildiz über die Grausamkeiten des Putschregimes, über ihre Inhaftierungen, Gewalterfahrungen, Folterungen und die feudal-patriarchale Gesellschaft in der Türkei der 1980er sowie der darauffolgenden Jahre bis zu ihrer Flucht nach Deutschland spricht, muss es den Beobachter*innen grotesk vorkommen, dass ausgerechnet sie die Angeklagte im Raum ist. „Für uns drängt sich die Frage auf: Wer sind hier eigentlich die Terrorist*innen, wer wird so bezeichnet und warum?, so die Soligruppe.

# Solidaritätsaktionen für Yildiz werden immer noch von viel zu wenigen Aktivist*innen besucht und getragen. Informiert euch hier über den Fortgang des Prozesses und Termine: https://freiheit-yildiz.com/

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Der Aufstand in Chile geht seit Samstag unvermindert weiter. Militär und Polizei gehen brutal gegen die protestierende Bevölkerung vor. Doch die Bevölerung trotzt der Polizeigewalt: Allein gestern, Dienstag, waren allein in der Hauptstadt Santiago mehr als 100.000 Menschen auf der Straße. Chris Ko hat für’s lcm ein Interview mit Camilo González, der aktiv in der Studierendenbewegung in Valparaíso ist, geführt und mit ihm über die Hintergründe des Protests gesprochen

In den letzten Tagen überschlugen sich die Ereignisse. Was ist da gerade los in Chile?

Was gerade in Chile passiert, ist der größte Aufstand seit dem Ende der Diktatur vor 30 Jahren. Der Neoliberalismus ist während der „Demokratie“ noch stärker geworden. Und jetzt haben wir hier die krassesten Ausschreitungen und sie werden auch nicht nur von Studierenden getragen.

Am Anfang sah es ja tatsächlich so aus, als wenn vor allem Schüler_innen und Studierende protestiert haben. Hat sich das jetzt auf andere Gruppen ausgeweitet, z.b. die ganzen verarmten und diskriminierten Migrant_innen aus Venezuela oder Haiti?

Ja, alles hat damit angefangen, dass die Regierung die Ticketpreise für die U-Bahn um 30 Chilenische Pesos (weniger als 5 Eurocent) erhöhen wollte. Das klingt vielleicht erst mal nicht nach viel, aber das Leben in Chile ist sowieso schon sehr teuer, die Löhne gering. Deshalb fingen die Studierenden an über die Drehkreuze zu springen und die Polizei ist dann dagegen vorgegangen. Daraufhin gab es Aufrufe, massenhaft ohne Ticket zu fahren, die Situation heizte sich auf und am Freitag begannen die Leute in den U-Bahn-Stationen zu randalieren. In kurzer Zeit entwickelte sich dies zu einem Aufstand, in dessen Verlauf viele Stationen angezündet und zerstört wurden. Samstag waren dann wirklich viele Leute auf den Straßen. Hauptsächlich junge Menschen, aber auch mehr und mehr ältere. Es gab weiter Ausschreitungen und auch Plünderungen von Supermärkten, Shopping Malls, Banken, Autohäuser etc. Tatsächlich haben ein paar Migrant_innen an friedlichen Demonstrationen in Santiago teilgenommen, aber diese Revolte speist sich vor allem aus der lang angestauten Wut in der chilenischen Gesellschaft: Der Sozialpakt ist gründlich delegitimiert.

Studierende wären von den neuen Ticketpreisen gar nicht betroffen gewesen. Warum seid ihr trotzdem bei den Protesten ganz vorne mit dabei?

Es stimmt, dass Studierende nicht betroffen wären, aber die Erhöhung war auch nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Wie gesagt, die Unzufriedenheit im neoliberalen Chile ist groß. Nicht nur die Wirtschaft, alle Lebensbereiche sind prekär. Diese neoliberale Logik, dass um jeden Preis Profite erhöht und Kosten gesenkt werden müssen, ist fester Bestandteil des sozialen Lebens geworden. Überall herrscht ein extremer Individualismus. Studierende und Schüler_innen können sich noch organisieren und Bildungsproteste haben hier ja auch eine starke Tradition, vor allem in den öffentlichen Universitäten und Schulen. Aber Arbeiter_innen haben kaum noch Möglichkeit dazu, weil es in Chile kaum Sicherheit für die Arbeiter_innenklasse gibt.

Die Regierung hat die Erhöhung bereits zurückgezogen, aber die Proteste sind mit einem Generalstreik am Montag weiter gegangen. Was erwartest du für die nächste Zeit?

Der Generalstreik wurde nicht vom größten Gewerkschaftsverband, der CUT (Central unitaria de trabajadores), unterstützt. Die Gewerkschaft der Hafenarbeiter_innen und Bergbaugewerkschaften aus dem Norden haben dazu aufgerufen. Aber davon ab ist es kein richtiger Generalstreik.
Meiner Meinung nach waren die Proteste am Wochenende vor allem von zwei Gruppen getragen:
Die politischen Protestierenden und das randalierende „Lumpenproletariat“ (in Chile wird tatsächlich auch von „Lumpen“ in den Medien gesprochen, haha). Diese Trennung soll nur den unterschiedlichen Grad der politischen Beweggründe und des Austauschs mit der Community deutlich machen.
Erstere haben geplündert und die Beute geteilt, so Robin Hood mäßig, während die Menschen die besonders arm und prekär leben, einfach oft die Möglichkeit etwas umsonst zu bekommen genutzt haben. Das umfasst sowohl Dinge des alltäglichen Bedarfs wie Klopapier, als auch Alkohol oder große Fernseher. Frei nach dem Motto: „Wenn andere das können, kann ich das auch!“.
In jedem Fall sind beide aber Ausdruck der Wut gegen die staatliche Autorität und insbesondere die Polizei.
Ein anderer wichtiger Punkt ist, dass es keine Anführer_innen in den Demonstrationen gibt. Auch haben politische Parteien nichts zu sagen. Die linken Parteien haben generell kein politisches Projekt, mit dem sie die zwei oben erwähnten Gruppen ansprechen können.

Was sind die weiteren Forderungen, nachdem die Preiserhöhungen verhindert wurden?

Weitere Forderungen haben sich noch nicht richtig herauskristallisiert. Da die Bewegung keine Anführer_innen hat, steht erst mal die Ablehnung der Regierung im Mittelpunkt. Die Oppositionsparteien haben keine politische Strategie, aber am Montag hat die Hafenarbeitergewerkschaft angefangen zu streiken, ebenso die Arbeiter_innen von Minera Escondida, der größten Kupfermine in Chile. In erster Linie tun sie das, damit die Armee wieder abgezogen wird.
Meiner Meinung nach, ist es aber wirklich Zeit, dass die Arbeiter_innen in den Gewerkschaften endlich ihre Rolle übernehmen und damit anfangen die Arbeiter_innenklasse auf die Straße zu bringen.
Dass nach der Erklärung des Ausnahmezustandes, die Armee auf die Straßen geschickt wurde erinnert natürlich an die sehr bekannten Bilder vom Putsch 1973 und der darauf folgenden Militärdiktatur. Nichtsdestotrotz gehen die Menschen auf die Straße. Was für Gefühle und Reaktionen erzeugt diese Situation in der Bevölkerung? Gibt es Konfrontationen zwischen Armee und Demonstrant_innen?
Für ältere Menschen ist es eine krasse Erfahrung, dass wieder Panzer über die Straßen rollen. Der Sound von Helikoptern über der Stadt und die Arme wieder in den Städten patrouillieren zu sehen, hat natürlich eine gewaltvolle, symbolische Aufladung. Aber für die Jüngeren, die die Diktatur nicht mehr aktiv mitbekommen haben, geht es um etwas anderes. Insbesondere für die, die bei der Schüler_innenbewegung 2006 und bei den Bildungsprotesten 2011, wo wir gestreikt und die Unis für fünf Monate besetzt haben, dabei waren. Und jetzt haben wir diese Situation. Es ist wie eine Spirale des politischen Konflikts, aber wir warten immer noch darauf, dass sich diejenigen einmischen, die am meisten unter der Diktatur gelitten haben: die Arbeiter_innenklasse.

Es wird immer wieder skandiert, dass die Diktatur noch andauert. Inwiefern beeinflusst sie das Land noch immer?

Die Diktatur ist präsent, weil wir immer noch unter der Verfassung von 1980 leben. Im Zuge dessen wurden viele Teile der produktiven Sektoren in Chile privatisiert. Das betrifft vor allem die Gesundheitsversorgung und das Bildungssystem, aber auch Bodenschätze und sogar das Trinkwasser. Auch untersteht die Armee nicht den zivilen Gerichten. Deshalb gibt es immer noch keine Gerechtigkeit für die zahlreichen Verbrechen, die unter der Diktatur stattfanden. Armee und Polizei haben in dieser Zeit gefoltert, gemordet und mehr als 1200 Menschen verschwinden lassen. Bis heute ist oft nicht klar, wo ihre Körper sind und was genau mit ihnen passiert ist. Die wenigen Soldaten die verurteilt worden sind, sitzen ihre Strafen in speziellen Gefängnissen ab und genießen dort viele Privilegien.
Während Angehörige der Armee eine vergleichsweise hohe Pension vom Staat erhalten, erhalten Rentner_innen bloß einen kleinen, miserablen Betrag aus dem privatisierten Rentensystem … Scheiss auf die Armee!

Du hast schon die letzte große Protestwelle in Chile, die Bildungsstreiks 2011/2012, angesprochen. Damals war auch der rechte Politiker Sebastián Piñera Präsident. Durch die damalige Weigerung der Regierung mit den Studierenden zu sprechen und die brutale Repression, hat er einen immensen Beliebtheitsverlust in der Bevölkerung einstecken müssen. Nun werden wieder Rücktrittsforderungen laut. Wie konnte er überhaupt wieder Präsident werden?

Piñera wurde hauptsächlich aus zwei Gründen gewählt: In seiner ersten Amtszeit, hat er zusammen mit den Medien eine Erzählung entwickelt, dass mit dem anderen (mitte-“links“ und auch neoliberalen) Kandidaten, Chile wirtschaftlich zu einem zweiten Venezuela werden würde. Die Leute fingen sogar an von „Chilezuela“ zu sprechen. Bemerkenswerterweise waren dann aber die Warteschlangen in den Geschäften in der Mitte der Amtszeit von Piñera am längsten.
In seiner zweiten Amtszeit hat er mehr Jobs und höhere Löhne versprochen. Die Kultur dieses Landes ist so neoliberal geprägt, dass sich viele Leute weniger von sozialen Rechten oder öffentlicher Gesundheitsversorgung und Bildung angesprochen fühlen, dafür aber umso mehr von einem hohen Gehalt. Bei der starken alltäglichen Konkurrenz und den vergleichsweise geringen persönlichen finanziellen Ressourcen vieler Chilen_innen, hat dieser Wahlkampf leider gut funktioniert.

Scheinbar fand der Aufstand vor allem in Chiles Hauptstadt Santiago und in ein paar größeren Städten statt. Wie sieht es gerade im Rest des Landes aus?

Die Demonstrationen haben in Santiago begonnen und sind schnell auch hier nach Valparaíso und nach Concepción übergeschwappt. Dies waren auch die ersten Regionen wo der Ausnahmezustand und damit einhergehende Ausgangssperren verhängt wurden. Danach breitete sich der Aufstand von Norden nach Süden aus. Überall gibt es große Riots und Plünderungen, sogar im eher dünn besiedelten Süden Chiles.

In jüngerer Zeit gab es öfter Aufstände gegen neoliberale Regierungen in Lateinamerika. Jetzt in Chile, davor in Ecuador, Haiti, Puerto Rico oder auch letztes Jahr in Argentinien. Was denkst du warum passiert das gerade? Meinst du, wir könnten noch sowas wie einen lateinamerikanischen Frühling erleben?

Ich denke, man kann sagen, dass der Kapitalismus der Grund für all das Unbehagen ist. Wenn ich sehe, wie Menschen Supermärkte plündern, dann ist das für mich Klassenkampf. Auch wenn es in erster Linie darum geht, Sachen umsonst zu bekommen. Denn hier kommt es durchaus vor, dass Menschen Rechnungen über umgerechnet 15 Euro für ganz normale Artikel des täglichen Bedarfs in zwölf Raten abstottern müssen. Das ist super brutal. Oder wenn ein 75-jähriger Arbeiter als Wachmann schuften muss, weil seine kümmerliche Rente nicht ausreicht, um zu leben. Wenn du in die müden Gesichter der Menschen schaust, dann merkst du, dass die Wut nicht bloß aus der Erhöhung der Ticketpreise resultiert. Die Ausbeutung ist riesig.
In den letzten Jahren wurden Länder wie Argentinien oder Ecuador wieder deutlich neoliberaler und wir konnten sehen, wie zerstörerisch das ist. Viele sind gerade nostalgisch und wünschen sich die Zeit der progressiven Regierungen in Lateinamerika zurück. Sie verkennen dabei aber, dass es auch in dieser Zeit kein ernsthaftes Interesse gab, den Kapitalismus zu überwinden und die Autonomie der Bevölkerung zu stärken. Stattdessen verfestigte sich die Abhängigkeit von Rohstoffen und der Führungsanspruch von Präsidenten.
Jetzt gerade gibt es keine Anführer_innen im Aufstand. Ich denke, die Menschen sollten in ihre eigene Kraft vertrauen. Ich würde mich freuen, wenn sich die verschiedenen nationalen Kämpfe verbinden würden, aber um wirklich zu gewinnen, müssen wir zuerst das neoliberale Denken aus unseren Köpfen und Herzen drängen.

#Titelbild: Nachdem das Militär aus nächster Nähe auf eine Demo in Santiago schoss, haute ein Demonstrant einem Soldaten ins Gesicht. frentefotografico

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„Nee, das haben wir nicht und bestellen geht auch nicht.“ Die Antworten gleichen sich bei allen Buchläden, die man anruft. Es geht um das Buch „Jenseits von Staat, Macht und Gewalt“ von Abdullah Öcalan, das für lange Zeit nicht verfügbar war. Nicht einmal der Versandriese und dystopische Megakonzern Amazon, wo man sonst vom Müsliriegel bis zum Astronauten-Katzen-Transportrucksack sämtliche Konsumbedürfnisse befriedigen kann, führte das Buch in seinem Sortiment. Grund dafür ist eine Zensurmaßnahme, die so gar nicht in das ganz aktuell selbstgegebene Bild der Rechtsstaatlichkeit passen will, das mit der Kampagne „Wir sind Rechtsstaat“ die Plakatwände der deutschen Innenstädte flutet.

Am 12. Februar 2019 wurde die Räume des Mezopotamien-Verlags, bei dem unter anderem „Jenseits von Staat, Macht und Gewalt“ erschien, von der Polizei durchsucht. Grund dafür war, dass laut Innenministerium der Verlag als „Teilorganisation der 1993 in Deutschland verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verboten und aufgelöst“ werde. Sämtliche Bücher, die noch gelagert waren, wurden beschlagnahmt. Die bis dahin nur in diesem Verlag veröffentlichten Bücher waren nicht mehr verfügbar, auch wenn sie inhaltlich zu keinem Zeitpunkt in irgendeiner Form rechtlich beanstandet worden waren.

Wenn von Zensur gesprochen wird, wird meistens auf China, die Türkei, Saudi-Arabien und andere autoritäre Staaten verwiesen. Und tatsächlich sind Veröffentlichungen in Deutschland nicht genehmigungspflichtig, sprich es gibt keine*n Zensor*in, der*die Bücher und Zeitschriften vor der Veröffentlichung durchliest und für die Regierung unliebsame Inhalte streicht oder deren Veröffentlichung untersagt. Zensur findet aber dennoch statt, allerdings rechtsstaatlich „sauber“, auf anderem Wege. Das Mittel der Wahl ist hierbei in den letzten Jahren das Vereinsverbot.

Dabei geht es, wie beim klassischen Zensieren um politisch nicht gewollte Inhalte. Der Mesopotamien-Verlag veröffentlichte nicht nur Texte von Abdullah Öcalan, sondern auch die Autobiografie der im Januar 2013 vom türkischen Geheimdienst ermordeten Sakine Cansız „Mein ganzes Leben war Kampf“, ein deutsch-kurdisches Wörterbuch, Kinderbücher, kurdische Gedichte und Texte zum demokratischen Konföderalismus, gegen den der türkische Staat zusammen mit Islamisten jeglicher Couleur gerade einen mörderischen Feldzug in Rojava führt. All diese Inhalte wurden durch das „Vereinsverbot“ unzugänglich gemacht, also über Umwege zensiert.

Das Ziel dabei ist offensichtlich: Die Solidarität mit dem basisdemokratischen Projekt in den verschiedenen Teilen Kurdistans soll erschwert werden. Die theoretischen und historischen Grundlagen und die politische Praxis, die den Versuch eine Gesellschaft jenseits von Staat, Macht und Gewalt zu organisieren, zeigen, sollen unsichtbar gemacht werden. Zum einen aus Tradition – man geht jetzt ja schon seit mehr als 20 Jahren gegen die kurdische Freiheitsbewegung vor –, oder um sich dem faschistischen Regime in Istanbul anzubiedern; zum anderen aber auch aus ganz handfesten eigenen Interessen. Jegliche Perspektive, die über die bestehenden Verhältnisse hinausweist muss aus einer bürgerlich-kapitalistischen Perspektive bekämpft und kriminalisiert werden. Die kurdische Bewegung, deren Inhalte – trotz sonst immer gerne hochgehaltener Meinungsfreiheit – hier zensiert werden, ist dabei aber nur ein Beispiel unter anderen.

Denn Zensur gegen linke Medien findet auch an anderen Stellen statt. Nach den Protesten gegen den G20-Gipfel in Hamburg wurde 2017 die Medienplattform linksunten.indymedia.org verboten. Mittel der Wahl war auch hier ein Vereinsverbot. Das Bundesinnenministerium erklärte linksunten.indymedia kurzerhand zum Verein, der sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung richte und startetet Strafverfahren gegen die vermeintlichen Betreiber*innen aus Freiburg. Presserechtlich wäre es unmöglich gegen linksunten vorzugehen, über die Behauptung, die PLattform sei ein Verein, wird der rechststaatliche Schein gewahrt, nach dem Motto „Wir verbieten keine Medien, wir gehen gegen einen kriminellen Verein vor“. Auch hier ist das Vereinsverbot offensichtlich nur Mittel zum Zweck, um ein linkes Medium zu zensieren und so zu verhindern, dass die Inhalte von der Plattform an die Öffentlichkeit gelangen und zu erreichen, dass der Widerstand gegen die Verhältnisse hier und anderswo unsichtbar bleibt.

Für‘s erste waren die Maßnahmen erfolgreich. Linksunten.indymedia.org ist nicht mehr zu erreichen, die Bücher die im Mezopotamien-Verlag erschienen waren, waren bis vor kurzem vergriffen. Für letztere allerdings hat sich eine solidarische Lösung gefunden. Die Verlage edition 8 aus Zürich, Mandelbaum aus Wien und der Unrast aus Münster haben mit der edition mezopotamya zumindest einen Teil der zensierten Bücher wieder zugänglich gemacht, das lower class magazine ist dabei eine*r von vielen Mitherausgeber*innen. Zwar konnten nicht alle im Mezopotamien-Verlag erschienen Bücher erneut veröffentlicht werden, aber zumindest kann so ein Teil der Ideen, gegen die sich Repression und Zensur richten wieder gelesen und auch im Buchhandel eures Vertrauens nachbestellt werden.

#Titelbild: Werbekampagne für den „Rechtsstaat“ aufgenommen in Berlin, privat

Wir dokumentieren hier einen Spendenaufruf für die edition mezopotamya:

*Gegen Zensur, für Publikationsfreiheit!*

*Spendenaufruf für die /Edition Mezopotamya/*

Für die Wiederveröffentlichung von beschlagnahmten (jedoch nicht verbotenen) Büchern sind wir auf solidarische Spenden angewiesen. Es geht um den von Bundesinnenminister Horst Seehofer verbotenen kurdischen *Mezopotamien Verlag*.

Am 12. Februar 2019 ist der Verlag, ebenso wie der benachbarte MIR Musikvertrieb verboten worden. Beiden wird unterstellt, Unterorganisationen der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) zu sein. Der Mezopotamien Verlag hat Bücher in verschiedenen Sprachen zu kurdischer Geschichte, zur kurdischen Frauenbewegung, die Schriften von Abdullah Öcalan sowie Romane, ein Sprachlehr- und ein Wörterbuch, Kinderbücher und vieles mehr veröffentlicht. Außerdem hat der Verlag Bücher auf Türkisch und Kurdisch aus anderen Verlagen vertrieben, darunter viele Klassi-ker der Weltliteratur.

Keines dieser Bücher des Mezopotamien Verlags ist in der Vergangenheit in Deutschland verboten oder auch nur in irgendeiner Weise beanstandet worden. Dennoch wurden sie tonnen-weise beschlagnahmt, ebenso die Bücher aus den anderen Verlagen – so dass sie für Buchhandel und Leser*innen nicht mehr erreichbar sind. Das werten wir als Zensur durch die Hintertür.

Die wichtigsten der deutschsprachigen Titel des Mezopotamien Verlags sind nun als Edition Mezopotamya von den drei Verlagen Unrast (D), Mandelbaum (A) und Edition 8 (CH) neu aufgelegt worden und damit für den Buchhandel wieder verfügbar. Finanziert werden muss das Projekt aus Spenden.

*Spendenkonto:*
Verein z. Förderung kurdischer Kultur e.V.
IBAN: DE78 4306 0967 1011 1214 00
BIC: GENODEM1GLS
Verwendungszweck: Edition Mezopotamya

Aus dem Buchverkauf rücklaufendes sowie ggf. überschüssiges Geld wird einem Solidaritätsfonds für die Prozesskosten des Mezopotamien Verlags und des MIR Musikvertriebs zur Verfügung gestellt. Denn die beiden Verlage unternehmen selbstverständlich rechtliche Schritte gegen ihr Verbot.

Eine Vorschau auf die wieder aufgelegtendeutschsprachigen Titel finden Sie als pdf-Datei unter: http://wck.me/13uF

/Unrast, Mandelbaum, Edition 8/
/International Initiative Edition, Antiquariat Walter Markov

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Drei Monate Knast wegen „Dokumenten der extremen Linken“?

Eigentlich wollten sie zusammen in den Camping-Urlaub fahren – nach Lekeitio im spanischen Baskenland. Doch statt der baskischen Kultur und antifaschistischen Widerstandsgeschichte lernen drei junge Nürnberger nun „die französischen Bräuche kennen“, wie die deutsch-französische Tageszeitung „eurojournalist„ mit bitterer Ironie anmerkte. Im Vorfeld des G7-Gipfels wurden sie in der Nähe von Biarritz aus dem Auto geholt und im Schnellverfahren zu 2, bzw. 3 Monaten Haft verurteilt. Verdächtig gemacht hatten sie sich durch das Mitführen von Boxsport-Equipment und schwarzen Kleidungsteilen, einer Motorrad-Sturmhaube, einem Notfallhämmerchen, das der Spiegel und andere deutsche Presseorgane sogleich zum Eispickel erhoben, sowie „Dokumenten der extremen Linken“.

Dies und die Tatsache, dass sie dem Tagungsort der Weltmächte zu nahe gekommen waren, reichte der französischen Justiz zu einer Verurteilung der drei wegen „Vorbereitung von Gewalttaten“. Zu den wenigen unmittelbaren Informationen über die Ereignisse – sie stammen unter anderem von dem Freiburger Radiojournalisten Luc, der selbst in kurzer Zeit zweimal inhaftiert und des Landes verwiesen wurde – gehört, dass Verhöre teilweise ohne richtigen Dolmetscher geführt wurden, ihnen Pflichtverteidiger zugeordnet wurden und den Anwälten des Legal Teams der Anti-G7-Proteste der Kontakt verwehrt wurde.

Die drei jungen Genossen wurden nach ihrer Verurteilung auf drei Gefängnisse aufgeteilt. Sie dürften Schwierigkeiten haben, sich mit anderen Gefangenen zu verständigen, da keiner von ihnen französisch spricht. Nicht einmal ihre Eltern durften die Inhaftierten telefonisch kontaktieren. In einem Fall dauerte es 10 Tage bis endlich ein Lebenszeichen per Post ankam, von einem anderen der Gefangenen haben die Angehörigen zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieser Zeilen noch immer keine Nachricht erhalten. Auch die deutsche Auslandsvertretung, an die sich die Eltern wandten, um wenigstens Informationen zu erhalten und ihren Söhnen Anwälte besorgen zu können, mauerte: Man könne nicht, dürfe nicht, bekomme von Frankreich keine Auskünfte.

Der Polizeistaat kennt keine Grenzen

Dabei ist grenzüberschreitende Behördenkooperation eigentlich gar nicht so schwierig. Mit großer Sicherheit ist davon auszugehen, dass die französische Polizei nach der Feststellung der Personalien sehr schnell Bescheid wusste, dass sie es bei den drei Nürnbergern mit „gefährlichen Staatsfeinden“ zu tun hatte.

Eine Bundestags-Anfrage der Linkspartei ergab nämlich wenig überraschend, dass die BRD im Vorfeld des Gipfels von BKA und Verfassungsschutz erarbeitete „Störerdateien“ an die französischen Behörden weitergegeben hatte. Um in einer solchen Liste zu landen, reicht es bereits, dass man „in Zusammenhang mit Großereignissen“ der Polizei aufgefallen ist oder aber „Kontakte zu ausländischen Aktivistinnen (unterhält), die bereits durch Gewaltstraftaten in Erscheinung getreten sind und zu denen zumindest geringfügige polizeiliche Erkenntnisse vorliegen.“ So heißt es in der Antwort des Bundesinnenministeriums auf die Anfrage des Abgeordneten Andrej Hunko.

Die „Drei von der Autobahn“, wie die Betroffenen von der inzwischen rege aktiven Nürnberger Solibewegung kurzerhand getauft wurden, sind nicht die Einzigen Opfer europaweiter behördlicher Zusammenarbeit. Dutzende dürften auf Grund dieser und ähnlicher Listen ausgewiesen worden sein. So auch der Journalist Luc, der sogar in Paris vor Gericht gegen seine Ausweisung Recht bekam, dann erneut nach Biarritz reiste, um sofort wieder festgesetzt zu werden. Bekannt ist, dass auch Spanien Frankreich bei der Verfolgung der G7-GegnerInnen unterstützt. Allein 500 Namen aus dem spanischen Baskenland stünden auf einer entsprechenden Liste, wurde dem baskischen Politiker Joseba Alvarez im Rahmen seiner Abschiebung aus Frankreich durch die Polizei mitgeteilt. Insgesamt wurden 164 G7-Gegner*innen im Rahmen der Proteste festgenommen, 23 Menschen werden angeklagt

Gesetze gegen soziale Bewegungen

Ein europäischer Polizeistaat zeigt hier nicht zum ersten Mal Konturen. Schon früher, z.B. im Rahmen des G20 in Hamburg, wurden über das europäische Polizeinetzwerk PWGT („Police Working Group on Terrorism“), das speziell zur Bekämpfung militanter linker Gruppen gegründet worden war, Informationen über Aktivist*innen übermittelt. Welche Gefahr für die Linke von solchen Strukturen ausgeht zeigt das Beispiel der drei Nürnberger nur einmal mehr und sehr deutlich: Als Beweis reichten hier Alltagsgegenstände im Kofferraum und die Zuordnung zur „extremen Linken“ durch einschlägiges Schriftmaterial.

Ein weiterer Ausbau europäischer polizeistaatlicher Strukturen und die Überführung bestehender Praxen von der informellen Ebene in formelle Institutionen ist nicht nur im Sinne eines Orban oder Macron. Letzterer ist zwar ein Scharfmacher, der für Grenzkontrollen und Grenzpolizei eintritt, das Asylgesetz verschärfte, bei seinem Antritt die neoliberalen „Arbeitsrechtsreformen“ im Gepäck hatte, und zuletzt das Loi Anti-Casseur, das „Anti-Randalierer-Gesetz“ gegen die sozialen Bewegungen, speziell gegen die Gelbwesten, in Stellung brachte. Diese Tendenz, der Polizei bereits bei bloßem Verdacht immer weiter reichende Handlungsmöglichkeiten zu gewähren ist aber kein rein französisches Phänomen. Denn auch das bayerische Polizeiaufgabengesetz, das der Rechten als Mustervorlage für Länderpolizeigesetze gilt, erlaubt der Polizei bei einer „drohenden Gefahr“ ohne konkreten Verdacht zu Zwangs- und Überwachungsmaßnahmen zu greifen.

Ziel des unerklärten Ausnahmezustands, der über Biarritz verhängt wurde, war offensichtlich Protest komplett zu unterdrücken. Dies schließt nahtlos daran an, wie die deutschen Repressionsorgane mit Hilfe der Medien beim G20 in Hamburg 2017 für die Weltöffentlichkeit Bürgerkriegszenen inszenierten. Zahlreiche Journalist*innen klagten auch in Biarritz über die Einschränkung ihrer Rechte. Führungsmitglieder der französischen Menschenrechtsliga, die als Beobachter*innen vor Ort waren, wurden laut einem Artikel des Onlinemagazins Telepolis, festgenommen. Ebenso wie die „Drei von der Autobahn“ werden sie „geplanter Gewalt“ beschuldigt. Man hatte Helme und Schutzbrillen bei ihnen gefunden.

Doch es muss noch mal gesagt werden: der Umbau des „demokratischen Rechtsstaats“ ist keine französische Spezialität. Auch in anderen europäischen Staaten werden die Befugnisse der Repressionsbehörden systematisch zu Lasten der Menschen ausgebaut. Neue Überwachungstechniken ergänzen die ausgeweiteten Befugnisse und ermöglichen dem Staat, seine Bürger bis ins Intimste zu überwachen. Dass es mit Rechtstaatlichkeit und Demokratie des bürgerlichen Staates nicht so weit her ist, ist keine neue schockierende Erkenntnis. In Frankreich gibt es seit langem als „Notverordnung“ den Paragraf 49-3, der es der Regierung erlaubt, Gesetze am Parlament vorbei zu erlassen. Mit dessen Hilfe hatte auch der „sozialistische“ Präsident Hollande das heftig umkämpfte Arbeitsmarktgesetz durchgepeitscht. In Deutschland haben wir eine lange Tradition über die Schaffung der Notstandsgesetze, die Einführung des §129a und anderer „Anti-Terrorgesetze“, den mittelalterlichen Landfriedensbruch-Paragrafen u.v.m. Die aktuelle Form bürgerlicher Herrschaft stellt also bereits eine Vielzahl von Instrumenten zur Verfügung, die ein Faschismus nicht erst erfinden müsste. Und der bürgerliche Staat setzt sie auch genau dafür ein wofür sie gedacht sind: Um soziale Bewegungen zu unterdrücken, die für Veränderung und gesellschaftlichen Fortschritt stehen und die Interessen des Kapitals gegen die der Mehrheit der Bevölkerung durchzusetzen.

Grenzenlos kämpfen und solidarisch sein

In den Gipfelprotesten fanden eine Vielzahl von sozialen Kämpfen ihren Ausdruck. Es sind Alltagskämpfe für höhere Löhne, bezahlbare Mieten, Bewegungsfreiheit für alle, ökologisches Wirtschaften und gegen rassistische und sexistische Diskriminierung. Der Ausnahmezustand, der in Biarritz herrschte und in dem Protest und Widerstand manchmal gar nicht mehr möglich schien, ist als Drohung selbstverständlich auch und nicht zuletzt gegen diese Alltagskämpfe gerichtet. Die europäische Ebene der Repression entspricht auch der zunehmenden Parallelität von sozialen- und Klassenkämpfen in Europa. Dem Bewusstsein der Linken für diese Tatsache fehlt es noch an schärfe.

Doch die aktuelle Erfahrung ist, dass die Solidarität mit den Betroffenen im Wortsinn grenzenlos ist. Nicht zum ersten Mal findet auch eine grenzüberschreitende Antirepressionsarbeit statt, und mit jedem Kampf lernen wir dazu.

#Organisierte Autonomie
#Titelbild: Willi Effenberger; Eine Stadt hinter Barrikaden.

Für die „Drei von der Autobahn“ hat die Rote Hilfe ein eigenes Spendenkonto eingerichtet:

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Sachsen. Allein das Wort löst bei vielen spätestens seit Chemnitz im August 2018 durch rechte Massendemonstrationen und Angriffe von Nazis ein Schaudern aus. Das Bundesland ist als rechte Hochburg bekannt, rechte Angriffe und Naziansammlungen auf der Straße gibt es nahezu alltäglich. Diese sächsischen Verhältnisse spiegeln sich auch in den Wahlprognosen für die kommende Landtagswahl am 1. September wieder. Mittlerweile gehen zwar einige Prognosen davon aus, dass die CDU mit etwa 30% mehr Stimmen als die AfD (24 %) gewinnen wird, wer allerdings glaubt, eine regierende CDU schützt vor dem Einfluss der Rechtspopulisten, liegt grundlegend falsch.

Das Vorhandensein rechter Einstellungen, Strukturen und demenstprechender Übergriffe ist natürlich kein auf Sachsen zu begrenzendes Phänomen. Deutschlandweit erstarken die Faschisten, wobei die Bundestagswahl 2017 zeigte, dass im Osten sehr viel mehr AfD gewählt wird als im Westen. Aber selbst für Ost-Verhältnisse stach die AfD mit 27% in Sachsen deutlich heraus. In keinem anderen Bundesland konnte die rassistische, neoliberale Partei so viele Stimmen erzielen.

Über die Gründe, warum der Osten generell eher rechts wählt, gibt es unterschiedliche Theorien. Übersehen werden kann aber nicht, dass dieses Gefälle etwas mit Vergangenheit und Gegenwart der Ost-West-Beziehungen zu tun hat. Vierzig Jahre unterschiedliche politische Systeme, eine Mauer und damit unterschiedlicher Zugang zu Ressourcen trennten die Bevölkerung beider Seiten voneinander. Nach Mauerfall und Wiedervereinigung gibt es zwar keine Mauer mehr aus Stein und Beton. Durch eine viel höhere Prekarisierung im Osten, welche sich zum Beispiel in niedrigeren Löhnen ausdrückt, und den deutlichen Unterschieden in Bundeswahlergebnissen zwischen Ost und West, scheint auch heute noch eine unsichtbare Mauer geblieben zu sein. Ob die Ossis sich abgehängt und alleine gelassen fühlen?

Wenn dem so wäre, könnte man hoffen, dass aufgrund der erhöhten Prekarisierung in Ostdeutschland ein verstärktes Klassenbewusstsein entsteht und gemeinsam versucht wird, nach oben zu treten. Dem scheint aber nicht so. Eher wird Flüchtlingen, als aus Ausländer gelesenen Menschen und Migrant*innen die Schuld an allem Übel gegeben. Die Frustration und die Wut der sächsischen Bevölkerung scheint sich wie in Chemnitz 2018 auf der Straße oder bei den Bundestagswahlen mit einer Stimme für die AfD zu entladen.

In Zeiten, in denen die Unterschiede zwischen arm und reich gravierender werden, es aber gleichzeitig an Klassenbewusstsein fehlt, kassiert die AfD die Wahlstimmen. Verantwortlich ist dafür eben jene Regierungspartei, welche man nun wiederwählen soll, um angeblich die AfD zu schwächen: die CDU.

Diese regiert seit 30 Jahren in Sachsen. Die Folgen ihrer Herrschaft: im Vergleich zu anderen Bundesländern (Bayern mal ausgenommen) ist Sachsen Vorläufer für rechte autoritäre Entwicklungen. Das zeigen jüngste Ereignisse wie das verschärfte Polizeigesetz, die Schaffung eines eigenen Abschiebeknastes, Rechtsbeschneidungen für Geflüchtete, Repression gegen Linke oder auch ganz konkret die von krasser Bullengewalt begleitete Abschiebung am 09.07.2019 in Leipzig.

Obwohl die sächsische Polizei schon vor der neuen Gesetzeslage massive Befugnisse hatte, werden ihr mit den aktiuellen Verschärfung noch mehr Mittel in die Hand gegeben, Menschen zu kriminalisieren und gegen sie vorzugehen. Sondereinheiten der Polizei werden aufgerüstet, Videoüberwachung mit Gesichtserkennung ausgeweitet, massive Eingriffe in das Leben polizeilich ernannter Gefährder*innen werden möglich. Sachsen hat unter der CDU/SPD-Legislatur einen eigenen Abschiebeknast errichtet, womit sie dem Ruf der Straße von Pegida und AfD, welche mehr Abschiebungen und die Abschaffung des Grundrechts auf Asyl fordern, gefolgt sind.

Indem z.B. die Aufenthaltsdauer in Erstaufnahmeeinrichtungen auf bis zu 2 Jahren erhöht wurde, wurden die Rechte von Geflüchteten massiv beschnitten. Es gab auch immer wieder Beispiele rechter Beamt*innen (sowohl Cops als auch Staatsbeamt*innen, z.B. im Justizvollzug), wobei sich die CDU immer wieder vor den Apparat stellte und ihn vor Kritik schützte. Linke werden mit Repression überzogen oder, wie in der Nacht vom 09.07-10.07.19, von den Cops zuerst bewusstlos geschlagen und dann einfach liegen gelassen. Um den Verfassungsschutz (VS) im Nacken zu haben reicht es in Sachsen schon, Lieder zu singen, die dem Freistaat nicht in den Sinn passen. So sind linke Bands mit zunehmender Repression konfrontiert, welche u.a. auf dem Bericht des VS-Sachsen fußt.

Sachsen unter schwarz-rot steuert jetzt schon einen autoritären rechten Kurs an, indem die Bevölkerung seit Jahren gegen Geflüchtete, Migrant*innen, Schwarze, als Ausländer gelesene Personen und Linke aufgehetzt und gleichzeitig der Polizeistaat ausgebaut wird. Wenn die AfD bei der Landtagswahl Erfolge erzielt, liegt das deswegen vor allem an der CDU. Unter ihrer Herrschaft wird das Land jetzt schon rechtskonservativ regiert, womit der Weg für die AfD geebnet wurde.

Eine Mehrheit für die Rechtspopulisten würde bedeuten, dass die AfD den Anspruch auf die Regierungsbildung und auf den Ministerpräsidenten reklamieren kann. Das ist aber derzeitig nicht abzusehen. Dahingegen steigen die Chancen für schwarz-blau, wenn die CDU stärkste Kraft wird.

Auch, wenn hochrangige CDU-Politiker*innen derzeit immer wieder betonen, dass eine Koalition mit der AfD für sie nicht in Frage käme, spricht ihre Politik in der Vergangenheit andere Worte. Aber auch unabhängig davon, ob die AfD Koalitionschancen hat, wäre eine hohe Anzahl an Sitzen der Partei im Landtag gefährlich.

Das zeigten schon die Ergebnisse der Kommunalwahlen im Mai 2019. Die AfD war neben der CDU meist zweitstärkste Partei, wenn nicht sogar, wie im Landkreis Bautzen und Görlitz, die stärkste. In den Stadt/Gemeinderäten und Kreistagen gibt es dementsprechend starke rechte Blöcke, welche u.a. über Jugend- und Kulturförderung, über Unterstützung von Geflüchteten oder Gleichstellung entscheiden. Das rechte Klima wird sich beim Erstarken der AfD weiter verhärten. Mit 25 % der Stimmen im Landtag kann die AfD außerdem Untersuchungsausschüsse einsetzen und Organklagen anstrengen. Wie jetzt schon würde die CDU die Stichworte der AfD weiter aufnehmen und politisch umsetzen. Mit einfachen Worten: das Klima in Sachsen ist jetzt schon düster, die Zeiten nach der Wahl werden vermutlich noch bitterer werden. Wenn Sachsen eines zeigt, dann, dass rechte Verhältnisse nicht durch Parlamentarismus bekämpft werden können, im Gegenteil. Diese Regierung hat den Weg für die extreme Rechte frei gemacht.

#Titelbild: nach der #unteilbar Demonstration in Dresden

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Exarchia, Ort der antiautoritären Bewegung, der politischen Außeinandersetzungen und Kämpfe, steht wahrscheinlich vor der größten staatlichen Repressionswelle seit langem: Die „Operation Law and Order“ und das Abschaffen des Universitäts-Asyls. Der Kampf um selbstbestimmtes Leben und Überleben geht weiter.

Schon bevor Kyriakos Mytsotakis am 7. Juli mit seiner rechtskonservativen NeaDemokratia die Parlamentswahlen in Griechenland gewann, wurde in der griechischen Öffentlichkeit hart daran gearbeitet das Feinbild „Anarchistische Szene“ auszubauen. Die Zeitungen sind in langer, bürgerlicher Tradition, voll von Berichten über unerträgliche, gewaltvolle Auseinandersetzungen im Stadtteil Exarchia in Athen, über die Terroristen, die zusammen mit der Mafia Unschuldige angreifen und über den Drogenhandel, der von den Unversitäten aus gesteuert werden soll. Am Wahlabend klauten dann auch noch Vermummte die Wahlurne des Viertels und sollen sie auf der Platia, dem Platz in der Mitte von Exarchia, verbrannt haben.

„Sauber machen“ werden sie das geschichtsträchtige Viertel, „alles räumen“ und die ein oder andere anarchistische Gruppe „jagen“, versprechen Mytsotakis und seine Minister. Dafür haben sie schon die ersten Anpassungen vorgenommen. 2.000 neue Polizist*innen sollen eingestellt werden. 1500 werden die sogenannte Delta Einheit wiederaufbauen, die berüchtigte Motorradstaffel, die vor allem für ihr brutales Vorgehen bekannt ist. Das Universitätsasyl soll abgeschafft werden und den ersten Squats wurde der Strom und das Wasser abgestellt. Auch ein Gesetz, welches es ermöglicht, Menschen ohne gültige Papiere bis zu 12 Monaten einzusperren, ist schon auf den Weg gebracht. Das Ministerium für Migration wurde abgeschafft, der Mindestlohn soll gesenkt werden, eine 7 Tage Woche eingeführt und die Krankenversorgung reformiert werden.

Doch es formiert sich Widerstand. Auch wenn es die letzten Jahre viele Spaltungs- und Konfliktmomente gab, hoffen alle darauf, die Kräfte und den Willen ein weiteres Mal zu sammeln um die aufgebauten Strukturen und das Projekt eines „befreiten“ Viertels vor Repressionen beschützen zu können.

In Exarchia tummelt sich viel. Dichter neben Junkies, Oma neben jungem Polittourist*innen. Menschen, die sich aussuchen hier zu leben und Menschen, die nirgendwo anders hinkönnen. Weil sie keine Papiere haben und weil Griechenland immer noch eines der Hauptankunftsländer für Geflüchtete in der EU ist. Hier sitzt man fest, hier wartet man und langweilt sich. Hier gibt es keine Arbeit, dafür Menschen die miteinander reden. Der Alltag im Viertel ist sehr konfliktreich, es wird an vielen Fronten gekämpft. Und der gemeinsame Konflikt ist der mit dem Staat und dem geltendem Recht. Zumindest von vielen, denn Exarchia hat eine lange Tradition politischer Kämpfe. Schon in den 70er Jahren war es die Polytechnio, die technische Hochschule, von der aus die Studierendenproteste gegen die herrschende Militärdiktatur organisiert wurden. Über mehrere Wochen hinweg besetzten damals Studierende und Sympathisant*innen aus dem Viertel und der ganzen Stadt die Hörsäle, planten Demos, philosophierten und traten gemeinsam in Aktion.

Dem Aufstand des 17. Novembers 1972 wird heute noch feierlich gedacht, genau wie seinen Toten. 23 Menschen wurden vom Militär ermordet, als ein Panzer die Tore der Hochschule überrollte. Jedes Jahr findet deswegen eine große Gedenkdemonstration statt und alle, die Rang und Namen haben (zum Beispiel Alexis Tsipras, der ehemalige Premier des Landes), kommen vorbei um „in tiefer Trauer“ einen Gedenkkranz abzulegen. Auch die Menschen aus dem Viertel und anderen Teilen Athens ziehen jeden 17. November vor die Tore der Hochschule und seit einigen Jahren ist ein Konflikt über die Instrumentalisierung dieses Feiertages, durch Staat oder autoritäre Organisationen, aufgeflammt.

Seit den Revolten gegen die Militärdiktatur gibt es in Griechenland ein Gesetz, das Universitätsasyl gewährt. Das bedeutet, dass es der Polizei und dem Militär untersagt ist, das Gelände von Universitäten im Land zu betreten. Dies ist zu einem wichtigen Element in der politischen Praxis in Griechenland geworden. Unis werden besetzt, es treffen sich politische Gruppen, Aktionen, Demos und Kämpfe werden von dort aus vorbereitet und finden dort statt. Dieses Gesetz will Mytzotakis nun abschaffen. (Das Universitätsasyl wurde nach Redaktionsschluss per Parlamentsbeschluss abgeschafft, Anm. d. Red.)

Denn Anarchismus und Universitätsasyl ist gleich Terror und Mafia. Die Regierung setzt den Vorwurf des Terrorismus als politisches Schwert gegen die anarchistische Szene ein. Eine Gesetzesverschärfung sieht vor, dass immer mehr politische Aktionsformen strafrechtlich unter den Tatbestand des Terrorismus fallen. Zum Beispiel das Verbreiten von Inhalten, welche den Sturz des Staates befürworten oder herbeiführen wollen. Das heißt, jedes Flugblatt und jeder Aufruf mit revolutionärem Inhalt, jede Aktion mit revolutionärem Anspruch könnte vom Staat noch leichter als Terrorismus ausgelegt werden. Es sieht auch eine Arte „Sippenhaft“ für politische Gruppen vor und will den Hafturlaub, welcher Gefangenen in Griechenland zusteht, für „Terrorist*innen“ abschaffen. Auch zu DNA-Analysen im „Terrorismus“ Kontext soll es immer häufiger kommen.

Mafiöse oder hierarchische Strukturen, die versuchen Machtpositionen im Viertel aufzubauen, sind durchaus ein Problem. So gibt es seit Jahren das Spaltungsmoment des Drogenkonsums und Verkaufs. Das bringt Konflikte über Konsum, Klasse und auch Rassismus mit sich, denn die Dealer des Viertels sind fast alles Menschen ohne Papiere oder ohne die Möglichkeit auf ein legales Einkommen. Die großen Fische jedoch lungern nicht auf der Platia herum, sondern hängen mit Bullen und Politiker*innen in Kneipen ab und trinken Raki.

Der Aktivist Nicos beschreibt die Situation etwas zermürbt so: „Alles ist ein großes Problem. Insgesamt stehen sich Staat und Mafia in nichts nach: Sie wollen mit Mitteln der Gewalt ihre Regeln ins Viertel bringen, Drogen verkaufen und so. Das alles mit Knarren. Die sind kapitalistisch, rassistisch, sexistisch und autoritär. Mafia und Drogen sind scheiße, aber Lynchjagden auf Drogendealer, die zufällig alles Migrant*innen sind, auch. It’s all fucked up!“

It’s all fucked up, ist ein Satz den man hier oft hört. Vor allem, seitdem immer mehr Bullen durchs Viertel laufen und jetzt der Mörder von Alexis Grigoropoulos, der 2008 mit einem Kopfschuss umgebracht wurde, Epaminondas Korkoneas (auch ein Polizist), frei gelassen wurde. Damals gab es überall Riots und die Polizei wurde aus der Nachbarschaft gejagt. Die Augen der Menschen glänzen, wenn über diese Zeit gesprochen wird. Seit diesen Tagen stehen die Polizist*innen um fast das ganze Viertel Spalier, kontrollieren und piesacken diejenigen, deren Haut nicht hell genug ist oder deren Anziehsachen zu schwarz sind. Doch auch das ändert sich. Immer öfter kommen sie bis zum Platia oder stürmen Veranstaltungen auf dem Strefi, dem Hügel über Exarchia. Der Basketballplatz, der viele an den im Knast von Korydallos erinnert, wird dabei Schauplatz von gezielten Provokationen der Polizei. Korydallos, das zentrumsnahe Gefängnis, soll auch erneuert und umgelegt werden. „Sicherer“ und vor allem gut abgeschnitten von Freund*innen, Familie und politischen Kämpfen soll es dann sein.

Am Strefi wurden in den letzten Jahren neue Häuser gebaut, hier wohnen jetzt die Reichen.

Denn hier, wie in anderen Städten, wird die Gentrifizierung für alle immer spürbarer. Vielen Mietwohnungen wird gekündigt um sie in Airbnb Apartments umzuwandeln. Die Menschen müssen aus dem ohnehin immer teurer werdenden Viertel wegziehen. Häuser, die besetzt sind, werden verkauft. So auch das von Eleni, einer 67 jährigen Besetzerin: „Mein Haus wurde von einer chinesischen Firma gekauft. Die will uns raushaben und dann alles in Airbnb Wohnungen verwandeln. Das passiert gerade fast überall, es gibt einen richtigen Run auf die Häuser. Das ist ein großes Problem. Aber ich werde nicht gehen, ich hab keine Angst vor denen und im Knast war ich sowieso schon.“

Investor*innen pokern auf den coolen politischen Kiez, das Riotviertel. Sie pokern darauf, dass sich Widerstand verkaufen lässt und Touris anlockt. Dabei braucht Exarchia gerade jetzt jedes politische Subjekt, welches dauerhaft dafür bereit ist, seine Ideale zu verteidigen. Denn die Polizei hält man nicht ausschließlich beim „bachala“ (Riot) am Freitag und Samstagabend aus dem Viertel raus. Sondern auch immer dann, wenn man Konflikte selber zu bewältigen versucht, dafür Strukturen gefunden werden und man sich dafür organisiert. Never call the Cops! Das kann lange dauern, es läuft nicht immer sehr gut, aber es geht. Wie sehr dem Staat der Kampf gegen Airbnb und Gentrifizierung gegen den Strich geht, konnte man vor kurzem bei einer Demo gegen Ferienapartments sehen, die die Polizei hart angegriffen hat.

„Niemand hat gesagt, dass es einfach wird“ steht mahnend an der Innenwand eines der vielen Squats. Die meisten Squats werden von Menschen bewohnt, die es sich nicht aussuchen können. Es geht bei dem Kampf um Exarchia also für viele ums Überleben, denn wo sollten sie sonst hin?

Seit kurzem wird versucht wieder eine Nachbarschaftswache einzuführen, die die Polizei verjagen soll und es gibt eine Versammlung zum Schutz der Squats. Ob die es schafft, alle wieder an einen Tisch zu bringen, wird man sehen. Die politischen Gräben sind tief, doch der klare Feind könnte die Szene wieder ein wenig zusammenbringen. Das alltägliche Leben gilt es zu retten, die Freiheit sich bewegen zu können, die Freiheit Dinge selbst zu entscheiden, nicht zu vereinzeln, die Freiheit Verantwortung zu übernehmen, sich zu organisieren und bei allen Unterschieden, mit den Menschen Seite an Seite zu kämpfen. Dafür braucht es Exarchia.

Exarchia ist kein Mythos, Exarchia ist Realität und das bedeutet, dass es physisch wird. Dass es wichtig ist die Abgefucktheit als eigene Schwäche, aber auch als Produkt von Wirtschaftskrise, staatlichem Terror, Grenzen, Kapitalismus, orthodoxer, rassistischer Gesellschaft und dem Patriarchat zu sehen. Es bringt nichts einem romantisch-verklärten Bild hinterherzurennen, denn ein gemachtes Nest gibt es nicht. Exarchia aber gibt es und es muss immer wieder neu erkämpft werden.

#Titelbild: Räumung von zwei besetzten Häusern in der Tzavela Straße in Exarchia im April 2019/Refugees_Gr

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In der Law-and-Order Fraktion der Bundesregierung wird seit Jahren immer wieder über die Legalität und die Hintertüren von Hard- und Software diskutiert.  Ein neuer Anstoß kam dieses Jahr auf dem europäischen Polizeikongress im Februar durch Günter Krings, Staatssekretär im Bundesinnenministerium. Krings schwadronierte, dass das sogenannte Darknet „keinen legitimen Nutzen“ in „einer freien, offenen Demokratie“ hätte und wer es nutzen würde, führe „in der Regel nichts Gutes im Schilde. Diese einfache Erkenntnis sollte sich auch in unserer Rechtsordnung widerspiegeln.“

Nach seinem Gefasel ging es dann aber auch ziemlich flott: keine vier Wochen nach dem Polizeikongress beschloss der Bundesrat einen umfassenden Gesetzesentwurf, das „IT Sicherheitsgesetz 2.0“. Wir haben mit Mike vom IT-Kollektiv darüber gesprochen, was das Gesetz genau beinhaltet, welche Konsequenzen es hätte und ob eine praktische Umsetzung überhaupt möglich ist.

Das neue IT Sicherheitsgesetz 2.0. sieht eine ganze Reihe neuer Straftaten, Strafverschärfungen und auch Befugnisse für die Polizei vor – könnt ihr einen Abriss darüber geben, welche Veränderungen neu sind?

Von dem Gesetz würden vor allem Leute mit IT-Kenntnissen betroffen sein – in erster Linie Administratorinnen und Aktivisten, die jeden Tag am freien Internet arbeiten. Die „Zielgruppe“ des Gesetzes hat mit Drogenhandel, Kinderpornographie, oder Terrorismus in der Regel nichts am Hut. Das Gesetz richtet sich gegen eine Technologie und ihre Betreiberinnen, in erster Linie gegen das Tor-Netzwerk.

Das Tor-Netzwerk dient zur Anonymisierung, es schützt Whistleblower und Dissidentinnen genauso wie Gesetzesbrecher, indem es ihre IP-Adresse verschleiert. Wer sich gegen die Datensammelwut der Surveillance-Capitalism-Konzerne wie Google, Facebook und Amazon schützen will, für die ist der Tor-Browser auch die beste Wahl. Außerdem ermöglicht es den Zugang zum bekanntesten Teil des Darknets, den Onion-Services oder auch Hidden Services. Dort werden Marktplätze betrieben, auf denen man Drogen, Waffen, gefälschte Ausweise und Kinderpornographie erwerben kann.

Aber auch andere Anonymisierungs-Dienste wie VPNs und Freifunk-Netze könnten davon betroffen sein. Alle diese Dienste haben eins gemeinsam: sie laufen nicht von selbst, sondern werden von Adminstratorinnen am Laufen gehalten. Das Tor-Netzwerk besteht aus Servern von NGOs, Einzelpersonen, und vor allem konkurrierenden Geheimdiensten; kommerzielle VPN-Anbieter verdienen an der Anonymisierung; und Freifunk ist ein ehrenamtliches Bürgerinnennetzwerk, das durch seine Dezentralität schwerer kontrollierbar ist als das Internet der kommerziellen Internetprovidern, und die teilweise auch Tor-Knoten betreiben.

Das Muster ist: der Staat ist frustriert, weil Tor so viele Gesetzesbrecherinnen vor der Strafverfolgung schützt. Da er an die nicht mehr herankommt, richtet er sich stattdessen gegen die Betreiber. So werden größtenteils ehrenamtliche Helferinnen kriminalisiert, die durch ihren Einsatz niemanden schaden, sondern das Recht auf Anonymität und Meinungsfreiheit schützen. Denn nachdem der Gesetzesentwurf im Bundesrat verschärft wurde, betrifft er nicht mehr nur Darknet-Marktplätze – auch das Betreiben von Relay- und Exit-Knoten, die das Tor-Netzwerk ausmachen, lässt sich künftig als Straftat auslegen.

Das ist vor allem wegen den neuen polizeilichen Befugnissen relevant; sowohl Telekommunikationsüberwachung, Vorratsdatenspeicherung, als auch die sogenannte Online-Durchsuchung, also Staatstrojaner, dürfen gegen Leute eingesetzt werden, die beschuldigt werden, solche Dienste zu betreiben.

Die Motivation für die Gesetzesänderung ist also die Frustration des Staates, nicht die totale Kontrolle über das, was im Internet passiert, zu haben. Kann die Gesetzesveränderung als ein weiterer Schritt zum autoritären Staat angesehen werden?

Absolut. Der Rechtsstaat wurde mal erfunden, um die Bürgerinnen vor dem Staat zu schützen – Herrschaft sollte keine Einbahnstraße mehr sein, sondern die Autorität musste sich plötzlich an ihren eigenen Maßstäben messen. Daran gibt es viel zu kritisieren, zum Beispiel den Umgang mit Nichtbürgern und die tatsächliche Umsetzung, die in Deutschland vor allem an unvollständiger Gewaltenteilung und unmündigen Bürgerinnen krankt.

Ein untrügliches Zeichen, dass man sich vor dem Rechtsstaat mehr fürchten muss als sich auf ihn verlassen zu können, ist immer, wenn die Obrigkeit selbst besonders viel vom Rechtsstaat redet. Das würde sie nicht, wenn der Rechtsstaat auf unserer Seite wäre. Ein besonderes Exemplar ist hier Armin Laschet, der Ministerpräsident von NRW, dessen Name unter dem Gesetzesentwurf steht – wer ihn aus dem Hambacher Forst kennt, weiß, dass er und sein Innenminister nichts so sehr hassen wie rechtsfreie Räume.

Rechtsfreie Räume sind aber wichtig – weil Rechte eben immer nur gegen die Institutionen des Rechtsstaats durchgesetzt werden. Sich der Kontrolle zu entziehen ist ein rebellischer Akt, der einem Raum gibt, um an einem Danach oder Daneben zu arbeiten.

Und welche Konsequenzen hätten die Veränderungen des Gesetzes für Betreiber*innen und Nutzer*innen?

Für VPN-User wird sich nicht viel ändern – VPN-Dienste, die für Anonymisierung optimiert wurden, werden in der Regel in Panama betrieben. Die müssen sich jetzt schon nicht am deutschen Recht messen. Freifunk-Initiativen werden sich wahrscheinlich auch nicht davon beirren lassen, sondern ihren Datenverkehr wieder über einen VPN ins Ausland routen. Das sind die aus Zeiten der Störerhaftung noch gewohnt.
Tor funktioniert aber leider so, dass die Knoten-Anbieter eben nicht anonym sind. Wer einen solchen Knoten in Deutschland betreibt, muss sich auf Totalüberwachung und eventuell Strafe einstellen, wenn dieser Gesetzesentwurf so durchkommt. Die Höchststrafe liegt bei fünf Jahren Haft, wobei die Höchststrafe im Strafrecht selten angewandt wird. Betreiberinnen von Tor-Knoten ist ihre Privatsphäre jedoch in der Regel sehr wichtig, weswegen allein schon die Überwachungsbefugnisse viele abschrecken dürften.

Das gesamte Tor-Netzwerk wird darunter leiden, vor allem die Sicherheit, und die Geschwindigkeit, die in den letzten Jahren ja stark gestiegen ist. Viele Tor-Knoten stehen in Deutschland, weil die digitale Zivilgesellschaft hier im internationalen Vergleich recht stark ist.

Wir erinnern uns an Merkels „Das Internet ist für uns alle Neuland“ und „in gewisser Weise noch nicht durchschrittenes Terrain“. Weiß die Regierung überhaupt, wovon sie spricht, wenn sie das „Darknet“ verbieten will?

Die größte Bedrohung ist wohl die Vorbildfunktion des Gesetzes, ohne die es auch einfach nicht besonders viel bringt. Deutschland alleine wird das Darknet nicht austrocknen können. Für sich genommen ist das Gesetz zwar für deutsche Internet-Aktivistinnen sehr ärgerlich, aber für den Rechtsstaat ziemlich nutzlos. Nicht nur das, auch Geheimdienste betreiben viele Tor-Knoten, alleine schon um ihre Agenten vor den Geheimdiensten anderer Staaten zu schützen.

Auch deswegen glaube ich nicht, dass es hier wirklich um die Aufklärung von Gesetzesbrüchen geht, oder darum, die Opfer zu schützen. „Neuland“ heißt zwar nicht, dass Laschet und Konsorten das Internet nicht verstanden hätten, oder dass sie keine Ratgeberinnen hätten, die es besser wüssten. Aber es spricht eine Angst daraus, weil es ihnen ihre Grenzen aufzeigt – weil das Tor-Netzwerk wie das Internet eben nicht an Landesgrenzen aufhört.

Das sieht man auch daran, dass der neue Paragraph zu den Auslandstaten mit Inlandsbezug nach §5 StGB gezählt werden soll. Ich bezweifle, dass die das außerhalb Deutschlands verfolgen können – Telefone abhören können sie dort nicht so leicht. Und es wird schwer sein, einen Bezug zu Straftaten nachzuweisen, die in Deutschland begangen worden sind. Aber sie sind eben sauer, dass das Internet jetzt plötzlich kommt und ein rechtsfreier Raum ist. Und weil sie mit dem Spielzeug nichts anfangen können, versuchen sie, anderen ihr Spielzeug kaputtzumachen.

Weit kommen werden sie damit nicht. Solange es Rechenzentren in Panama oder auf den Cayman-Inseln gibt, und solange Geheimdienste das Tor-Netzwerk nutzen wollen, werden Gesetzesbrecherinnen das Tor-Netzwerk nutzen können.

#Interview mit Mike vom IT-Kollektiv

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Nachdem im Nachgang der Proteste gegen den G20 Gipfel in Hamburg 2017 die linke Medienplattform linksunten.indymedia verboten wurde, initiierten die drei Journalist*innen Peter Nowak, Achim Schill und Detlef Georgia Schulze einen Soliaufruf mit Linksunten. Die Staatsanwaltschaft Berlin hat sie nun wegen der angeblichen Verwendung der Symbole eines verbotenen Vereins, sowie der Unterstützung dieses Vereins angeklagt. Das Lower Class Magazine sprach mit Peter Nowak über das Verfahren, die Geschichte von Indymedia und den Zusammenhang mit dem Verbot der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK).

Glückwunsch! Ihr habt es mit dem Verfahren gegen euch direkt vor den Staatsschutzsenat vor dem Landgericht geschafft.
Ja, das war eher überraschend. Wir hatten eher erwartet, dass das runtergestuft wird. Das gibt aber natürlich auch die Möglichkeit politisch dagegen vorzugehen.

Wie kam es zum Verfahren gegen euch?
Nach dem Verbot von linksunten.indymedia haben wir einen Aufruf zur Solidarität mit linksunten.indymedia gemacht. Wir haben Indymedia als Autoren genutzt, sogar mit Namen, weil das für uns ein Medium der Gegenöffentlichkeit war. Wir haben Artikel aus anderen Zeitungen veröffentlicht, teilweise auch Artikel, die nirgendwo sonst veröffentlicht wurden. Wenn eine Zeitung, in der wir publiziert haben, verboten worden wäre, hätten wir uns ja genauso solidarisiert und stehen auch dazu. Linksunten.indymedia war für uns eben ein Medium. Und deswegen haben wir dazu aufgerufen, dass andere Einzelpersonen und Gruppen auch sagen, dass sie auf Indymedia publiziert haben und sich solidarisieren. Das wird uns jetzt als Unterstützung eines verbotenen Vereins ausgelegt.

Warum wurde gerade Indymedia verboten?
Indymedia wurde Ende der 90er Jahre gegründet. Das hing mit der technischen Entwicklung zusammen und mit dem Aufkommen der globalisierungskritischen Bewegung. Genau daraus ist das entstanden, als Medium der Gegenöffentlichkeit. 1998 in Seattle, 2001 in Genua, bei allen Camps waren Indymediazelte. Als Teil der Gegenöffentlichkeit war Indymedia immer Repression ausgesetzt. Bei Demonstrationen wurden z.B. gezielt Indymediazelte angegriffen.

Gibt es da konkrete Beispiele?
Der Höhepunkt war 2001 in Genua, als die Schule in der Indymedia war – alles ganz offiziell angemeldet – angegriffen wurde. Das war die berühmte Diaz-Schule, die auch Schlafplatz von Globalisierungskritiker*innen war, wo dann hunderte Personen festgenommen und misshandelt wurden. Das wurde damals auch als Angriff auf Indymedia wahrgenommen. Das Verbot von Linksunten steht in dieser Tradition. Immer wenn es große Gipfelproteste gab, die dann auch nicht nur im legalen Rahmen abliefen – das war in Genua damals genauso wie in Hamburg – wurden diese Medien angegriffen. Nach Hamburg wurde das ja auch so offen gesagt. Linksunten war eins der wenigen Verbote, das sie durchsetzen konnten. Das war ein Bauernopfer damit die eigene Handlungsfähigkeit gezeigt werden konnte. Der Staat wollten demonstrieren, dass sie auch gegen Linke vorgehen können. Immer wenn Gipfel nicht so abliefen, wie der Staat es wollte, dann nimmt man sich die Medien vor, weil die darüber berichten, Bilder und Fotos verbreiten. Und dieser Zusammenhang, der ja eigentlich offensichtlich ist, wird nach unserem Eindruck gar nicht so wahrgenommen.

Inwiefern?
Nach Genua war die Empörung, darüber, dass Indymedia angegriffen wurde riesig, bis weit in die liberalen Kreise hinein. Ich kann mich noch erinnern, dass die taz und die Frankfurter Rundschau das tatsächlich so diskutiert haben: Da wird ein neues Medium angegriffen. Damals wurde auch der Begriff Medienaktivismus ernst genommen, im Sinne, dass gesagt wurde das ist eine neue Form von Medien, aber die sind im Grunde Journalisten, die die neuen technischen Mittel nutzen. Und uns ist aufgefallen, dass das im Fall von Linksunten längst nicht so war. Nicht nur bei den liberalen Medien, sondern auch in Teilen der Linken. So ein kurzes Gedächtnis ist ja eigentlich fatal.

Denkst du, dass Indymedia noch den gleichen Stellenwert hat, wie vor zehn Jahren?
Vor zehn Jahren war die Sondersituation, dass Indymedia und dieser Medienaktivismus ganz neu waren. Das hat sich heute verlagert. Die technischen Mittel werden heute in ganz unpolitischen Sachen verwendet. Dann werden auf social media eben keine Demofotos sondern Katzen und Frühstücksbilder veröffentlicht. Aber das hat heute nicht mehr den Stellenwert, weil die politische Bewegung, die globalisierungskritische Bewegung nach Genua an ihre Grenzen gestoßen ist. Immer dann wenn es einen neuen Zyklus an Protestaktivismus gab, hatte Indymedia einen größeren Stellenwert, wie 2007 in Rostock – wo es auch viele Behinderung gab. Die Aufbruchstimmung, die es damals gab, dass Indymedia das Medium dieser basisdemokratischen Bewegung ist, gibt es heute nicht mehr.

Wie bewertest du das Verfahren gegen euch?
Unsere ganze Initiative ist ja von der Stoßrichtung nicht linksradikal, sondern man könnte fast sagen zivilgesellschaftlich-liberal. Und dass dann trotzdem die Kriminalisierung auf dieser Ebene stattfindet, zeigt natürlich schon, dass versucht wird, nicht nur ein Medium zu verbieten, sondern jegliche Kritik an diesem Verbot zu kriminalisieren. Das ist die gleiche Logik wie bei den ganzen „Terrorismus“paragrafen. Das ist eine totalitäre Sache, man kann eigentlich gar nicht mehr gegen ein Verbot vorgehen ohne kriminalisiert zu werden. Wenn selbst eine Initiative, wie die unsere, als Unterstützung für einen verbotenen Vereins, der übrigens als solcher nie existiert hat, gewertet wird!

Das ist ja genau wie beim Verbot der PKK.
Im Grunde ist das die Fortsetzung. Was bei kurdischen oder bei türkischen linken Gruppen derzeit praktiziert wird, wird im Fall von Indymedia auch angewandt. Das wird dann dort, bei kleineren und isolierten Gruppen erst Mal ausprobiert und da ist die Resonanz und Solidarität über die unmittelbar Betroffenen hinaus recht gering, wie auch im Verfahren gegen Linksunten. Nach dem Motto: Wenn das halt schon kriminalisiert wird, dann lässt man lieber die Finger davon. Und das ist genau die falsche Herangehensweise. Wenn sie merken, dass das einfach durchzusetzen ist, wird das auch an anderen Punkten gemacht. Deswegen sollte man das auch nutzen, um dieses Vorgehen zu diskutieren

Denkst du dass das Verbot von Linksunten bestand haben wird?
Der Prozess zum Verbot wurde ja schon zwei Mal verschoben. Die haben anscheinend tatsächlich Probleme. In Deutschland werden sie das wahrscheinlich durch kriegen, aber das muss auch europarechtlich bestand haben. Und da gibt es wohl einige Hinweise, dass das nicht so einfach ist. Das ist jetzt eine relative bequeme Situation für den Staat. Die sitzen das aus. Es gibt kein Verfahren, aber das Verbot bleibt bestehen. Und sie können wie bei uns jetzt Prozesse führen, wegen angeblicher Verletzung des Verbots, weil das Verbot rechtlich zwar noch nicht geprüft, aber vollzogen ist. Theoretisch könnte das Verbot vom europäischen Gerichtshof aufgehoben, aber bis dahin trotzdem Leute verurteilt werden, weil sie gegen ein letztlich unrechtmäßiges Verbot verstoßen haben. Aber das ist eine Frage von Jahren und solange besteht das Verbot. Deswegen wollen wir nicht einfach still warten sondern fordern offensiv, dass das Verbot aufgehoben wird.

Gibt es Unterstützung, die ihr in eurem Verfahren haben wollt?
Wir wollen das koppeln. Wir freuen uns über Unterstützung, sehen das aber als Unterstützung für das Indymedia-Projekt. Wir wollen noch vor der Sommerpause eine Veranstaltung machen, um den 20. Juli herum, zur Erinnerung an die Repression gegen Indymedia in Genua und auch fast zwei Jahre nach dem Verbot von Linksunten, gerade auch um den Zusammenhang herzustellen. Das beste wäre für uns generell Indymedia zu unterstützen. Und klar, Spenden für Anwaltskosten sind immer willkommen.

Interview: David Rojas Kienzle

Bild: Marco Verch CC-BY 2.0

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