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Von A-Küche

Am 27.04.2022 verstarb Marcel K. an den Folgen des Polizeieinsatzes vom 20.04.2022 in Berlin Schöneweide. Die Polizei lügt und leugnet die Tat. Marcel war 39 Jahre und krank. Er hatte Krätze, oft Krampfanfälle und eine offene Wunde am Bein. Marcel trank Alkohol seitdem er 6 Jahre alt war. Er lebte auf der Straße. Oft war er in sozialen Einrichtungen untergebracht, die er aber schnell wieder verließ und in sein Kiez, nach Schöneweide, zurückehrte. Hier hatte er Freunde und fühlte sich zu Hause. Er war im Kiez bekannt, Feuerwehr, Rettungskräfte und die Polizei kannten seine Krankheiten, wussten von seinem Schmerzen. Notunterkünfte mochte er nicht, hier wurde er beklaut oder durch kleine Tiere gebissen.

Sein letztes Lebensjahr begann am 22.12.21 im Krankenhaus. Wenige Tage später wurde er mit seiner offenen Beinverletzung aus dem Krankenhaus geschmissen. Er ging zurück in den Kiez in eine Filiale der Deutschen Bank. Dort war es warm, da waren seine Freunde. Aktivist:innen kamen vorbei, brachten warmes Essen und versorgten sein Bein. Die Wochen vergingen und oft kamen die Cops und warfen die Menschen aus der Filiale. Das ärgerte ihn, denn danach war sein ganzes hab und Gut meist weg. Oft musste er auf Grund der Krampfanfälle ins Krankenhaus, das er nach einigen Tagen wieder verlassen musste. Dann beschloss die Deutsche Bank, ihre Filiale aus Sicherheitsgründen für ihre Kund:innen über den Winter zu schließen. Marcel saß nun tagsüber in der Kälte auf einer Bank und schlief mal auf einen Dachboden, in einen Hauseingang oder in einen Hinterhof. In eine Notunterkunft wollte er nie wieder, nachdem sich die Wunden der Tierbisse von dort entzündeten.

Den Aktivist:innen fiel es immer schwerer, seine Wunden auf offener Straße zu versorgen. Ins Krankenhaus wollte er nicht, denn da wurde ihm nie geholfen. In den folgenden Wochen kam es immer wieder zu kurzen Krankenhausaufenthalten, sein Bein entzündete sich immer schlimmer und er konnte kaum noch laufen. Die Polizei ging eines Nachts durch den Kiez, um obdachlose Menschen zu vertreiben. Es wurden immer weniger um ihn herum. Ende März 2022 saß er mit Freund:innen auf einer Bank und sie hörten im Radio einem Fußballspiel zu. Sie freuten sich schon auf warmes Essen, das, wie jeden Freitag, von Menschen aus dem Umland gekocht wurde. Plötzlich flogen Eier aus dem Wohnhaus gegenüber und verfehlten Marcel nur knapp. Kurze Zeit später kam die Polizei und ermahnte Marcel und die anderen wegen Ruhestörung. Er war wütend, dass die Cops nicht zum Wohnhaus sind, denn man wollte ihnen mit den Eiern wehtun. Marcel hatte Hunger und die Menschen mit dem Essen kamen zum Verteilen. Doch die Bullen gingen dazwischen und erklärten ihnen „sie möchten doch bitte wo anders Essen verteilen, die würden ja hier drauf warten und so würde man sie ja nicht los“. Außerdem wäre das jetzt eine polizeiliche Maßnahme und da wäre es „eh nicht drin“. Die Menschen drehten mit dem Essen um und Marcel musste hungrig einschlafen.

Am 16.04. gab es dann eine Kundgebung gegen die Verdrängung obdachloser Menschen in Schöneweide auf Grund dieser Vorfälle. Marcel genoss den Tag, es gab warmes Essen und gute Musik, für ihn war es eine Party. Er bedankte sich bei den Organisator:innen, besorgte eine Schachtel Pralinen für alle. Seinen Freund:innen erzählte er noch einen Tag später, dass es der schönste Tag seines Lebens war. Noch nie hatte es so eine Party für ihn gegeben.

Am 20.4 suchte er am Abend mit zwei Freunden einen Schlafplatz. Diesmal wollten sie im Innenhof der Brückenstr.1 hinter dem Waschcenter schlafen. Sie legten sich hin, Marcel trank noch ein Schluck Bier, stellte seine Flasche hin und schlief ein. Gegen 23 Uhr, wurde er durch lautes Gebrüll wach. Er und seine Freunde sprangen auf. Es war die Polizei. Marcel verspürte starken Schmerz am verletzen Bein, er schrie vor Schmerz, schmiss dabei seine Flasche Bier um. Es war ein Cop, der an sein Bein zog. Seine Freunde rannten weg. Sie konnten nur aus der Ferne zusehen wie immer mehr Cops auf Marcel einschlugen, sie setzen Pfefferspray ein. Marcel lag leblos am Boden, ein Krankenwagen wurde gerufen. Marcel wurde reanimiert und ins Krankenhaus gebracht.

In der Pressemittelung der Polizei vom 21.04.2022 stand später: „Der alkoholisierte 39-Jährige versuchte weiter, sich den polizeilichen Maßnahmen zu entziehen, litt dann aber plötzlich unter Atemnot und verlor das Bewusstsein. Die Beamtinnen und Beamten leiteten umgehend Reanimationsmaßnahmen ein und alarmierten einen Rettungswagen. So konnte er stabilisiert werden und kam mit dem Rettungswagen zur weiteren Behandlung und stationären Aufnahme in ein Krankenhaus.“

Aktivist:innen versuchten später seinen Verbleib ausfindig zu machen. Bei Anrufen in Krankenhäusern wurde Marcels Aufenthalt stehts verneint. Der Rettungsdienst behauptete, es hätte keinen Transport in ein Krankenhaus aus Schöneweide gegeben. Beim Versuch, die Tat öffentlich zu machen, wurden Aktivist:innen von der Polizei kriminalisiert. Am 2.6 erfuhren dann seine Freund:innen, dass Marcel tot ist. Er starb am 27.4.2022 an den Folgen des Polizeiangriffs vom 20.04.2022. Marcel ist tot, die Polizei hat ihn ermordet.

Mehr Infos bei der A-Küche

#Titelbild: Malteser Obdachlosenhilfe

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Am 12.05 verbat die Berliner Polizei zahlreiche palästinensische oder palästinasolidarische Veranstaltungen, die den jährlichen Nakbatag (15.05.) begehen oder an die Ermordung der palästinensischen Journalistin Shireen Abu Akleh (11.05.22) durch die israelische Armee erinnern wollten. Das OVG Berlin bestätigte diese Entscheidung am 13.05. Unmittelbar nach dem Bekanntwerden der Demoverbote hat sich ein Bündnis gegründet. Unser Autor Mohannad Lamees hat mit Aktivist:innen aus dem Bündnis über ihre Arbeit gesprochen.

Was bedeuten diese Demoverbote aus Eurer Sicht? Wie bewertet Ihr diese Entwicklung?

Wir begreifen die Verbote als Angriffe auf das palästinensische Leben in Deutschland, auf den palästinensischen Widerstand und auf das palästinensische Gedenken. Die Verbote stehen in einer langen Tradition von Repression gegen pro-palästinensische Bewegungen in Deutschland und sind, auch wenn sie sicherlich eine neue Stufe des schamlosen Gebarens der BRD darstellen, an sich nichts neues. Bereits vor einigen Wochen hatten die Berliner Behörden palästinensische Demos pauschal und präventiv verboten. Letztes Jahr gab es massive Polizeigewalt gegen palästinensische und palästinasolidarische Demonstrierende. Trotzdem wächst die Unterstützung für die palästinensischen Bewegungen in der Bevölkerung. Und nicht nur das, die Unterstützung wächst ganz konkret für junge revolutionäre pro-palästinensische Bewegungen, die die Rolle des deutschen Staates als Mittäter begreifen. Es ist deswegen nicht überraschend, dass die Behörden mit solcher Härte gegen die Demos vorgehen und verhindern wollen, dass sich die Solidarität mit Palästina auf den Straßen Bahn bricht. Ganz nüchtern müssen wir feststellen: Der deutsche imperialistische Staat reagiert auf die palästinensische Bewegung so, wie auf alle anderen revolutionären Bewegungen auch – also mit offener Gewalt.

Ihr habt unmittelbar nach dem Bekanntwerden der Demoverbote ein Bündnis gegründet. Warum?

Die Antwort ist recht einfach: Wir haben aus unseren Fehlern gelernt. Nach den Angriffen letztes Jahr auf die Nakba-Demos in Berlin haben wir organisierte Gruppen es weder geschafft, die Repressionen ausreichend zu thematisieren noch die direkt Betroffenen in irgendeiner Weise zu begleiten oder zu unterstützen. Auch bei dem Demoverbot Ende April gab es zwar kämpferische Statements – eine Reaktion auf der Straße konnten wir aber nicht zeigen. Dieses Mal konnten wir diese Fehler korrigieren, indem sich sofort nach Bekanntwerden der Verbote einige palästinensische und palästinasolidarischen Gruppen getroffen haben und ein gemeinsames Ziel festgelegt haben. Dieses Ziel war, organisiert und geschlossen eine Reaktion gegen die Repression auf die Straßen Berlins zu tragen. In der kurzen verbliebenen Zeit – das Bündnis hatte nur 4 Tage, um sich zu formieren und zu organisieren – konnten wir durch die gebündelten Kräfte trotzdem einiges an Energie freisetzen.

Was ist dann am Nakbatag in Berlin passiert? Wie bewertet ihr die Ereignisse?

Wir haben die Ereignisse in Berlin im Bündnis als Erfolg ausgewertet. Es ist gelungen, den Verboten zu trotzen und ganz eindeutig ein Zeichen von den Straßen Neuköllns in die ganze Welt zu senden, nämlich dass die Verbote nicht hingenommen werden, dass die Angriffe den palästinensischen Widerstand nicht aufhalten können, dass die gemeinsamen Rufe revolutionärer Gruppen für die Freiheit des palästinensischen Volkes nicht verstummen.

Es gab an dem Tag eine Demonstration durch den Berliner Stadtteil Neukölln gegen Umweltzerstörung im Globalen Süden. Dort wurde nicht nur Klimagerechtigkeit und das Ende der imperialistischen Ambitionen des deutschen Staates auf der ganzen Welt gefordert, sondern natürlich wurden immer wieder lautstark und gemeinsam Rufe für die Freiheit des palästinensischen Volkes angestimmt. Auf der Sonnenallee, also auf der Straße, die immer wieder im Visier rassistischer staatlicher Repression steht, wurde die Demonstration dann von aggressiven Polizeitrupps ausgebremst, in eine Seitenstraße gelenkt und dort zum Stehen gebracht. Zahlreiche Anwohner:innen und Passant:innen zeigten sich spontan solidarisch mit der Demonstration und stimmten in die Rufe ein. Die Polizei drang schließlich gewaltsam in die Demonstration ein und nahm einige Personen fest. Von ausnahmslos allen Demonstrierenden wurden die Personalien festgestellt, es wurden Bußgelder und Gewahrsam angedroht sowie weiträumige Platzverweise ausgesprochen.

Nur wenige Hundert Meter entfernt kam es dann fast zeitgleich bei einem pro-palästinensischen Flashmob ebenfalls zu massiver Repression.

Das Vorgehen der Bullen war dabei brutal. Teilweise wurden willkürlich am Straßenrand stehende Personen festgenommen, nur weil sie arabisch aussahen oder Dinge trugen, die als pro-palästinensisch identifiziert wurden. Es wurde mehr als deutlich, dass die Polizei racial profiling, Einschüchterung und Gewalt bereitwillig eingesetzt hat, um ihre Ordnung durchzusetzen.

Überall auf den Straßen Neuköllns zeigten die Menschen deutlich, auf welcher Seite sie stehen, überall gab es Solidarität und Freude über die Aktionen für Palästina. Den ganzen Tag wurde auf der Sonnenallee darüber gesprochen, wie es gelungen war, eine pro-palästinensische Demo abzuhalten, obwohl die Bullen pausenlos im Vorfeld mit Wannen Streife fuhren und die Kreuzungen belagert hatten. Für uns steht deshalb fest: Der Nakbatag war ein Kampftag gegen die Repression und gegen die ganze Mittäterschaft des deutschen Staates in der Unterdrückung der Palästinenser:innen.

Die brutale Repression gegen Palästinenser:innen und Palästinasolidarische in Deutschland hat Tradition. Man denke an die Abschiebungswellen gegen dutzende Palästinenser:innen in Folge des Verbots der Generalunion Palästinensischer Studenten (GUPS) und Generalunion Palästinensischer Arbeiter (GUPA) 1972/73. Bei der Deutschen Welle gab es Anfang 2022 eine Säuberung, bei der mehrere Mitarbeiter:innen ihren Job nach inquisitionsartigen Befragungen zum Thema Israel-Palästina verloren. Letztes Jahr haben in ganz Deutschland, auch in Berlin, Demonstrationen und Kundgebungen zum Nakbatag stattgefunden, die Polizei ist hart in die Veranstaltungen reingegangen. Dieses Jahr wurden alle Veranstaltungen in Berlin verboten; wer eine Kufyie anhatte oder „Free Palestine“ rief, wurde verhaftet. Wieso sind Palästinenser:innen und Palästinasolidarische so gefährlich für den deutschen Herrschaftsapparat?

Hier müssen wir ein wenig ausholen. Zuallererst lässt sich feststellen, dass die Bundesrepublik quasi seit ihrer Gründung nach dem Zweiten Weltkrieg in einem besonderen Verhältnis zum zionistischen Staat Israel steht. Das auch heute allgegenwärtige moralische Argument, wonach die BRD die deutsche Schuld über die industrielle Vernichtung der jüdischen europäischen Bevölkerung schultert und deswegen fest an der Seite des zionistischen Staates Israels stehen müsse, hat seinen Ursprung in den 1950er Jahren. Der im September 1952 zwischen der BRD und Israel unterzeichnete Vertrag über Reparationszahlungen an den Staat Israel wurde damals von der deutschen Regierung, allen voran Konrad Adenauer, als moralische Pflicht inszeniert. Wir wissen aber, dass diese Moral nur vorgeschoben war, und der Vertrag viel eher zustande kam, weil sich den imperialistischen Interessen der Westmächte, vor allem der USA, gebeugt wurde. Durch den Vertrag mit den Zionist:innen wurde außerdem die Tür für Verhandlungen mit den Westmächten über wirtschaftliche Vorteile für die junge BRD aufgemacht. Ganz nebenbei erfüllte dieses moralische Argument auch die Funktion, von der Nazi-Vergangenheit zahlreicher BRD-Staatsapparate und BRD-Staatsmänner abzulenken. 

Warum ist das so wichtig? Zum einen verhalf die BRD mit diesem Vertrag und den vereinbarten Zahlungen, sowie den sich in den 60er Jahren anschließenden und bis heute laufenden militärischen Unterstützungen, dem damals wirtschaftlich schwachen Israel zu großer Stärke. Westdeutschland ermöglichte so unter anderem die israelische Kriegsführung in den 50er und 60ern gegen die Palästinenser:innen und gegen die arabischen Nachbarstaaten. Zum anderen war die Unterstützung Israels damals  – und ist es auch noch heute  – das goldenene Ticket für den wiedererstarkten deutschen Imperialismus. Wenn wir also danach fragen, wieso seit den 60er Jahren so vehement gegen Palästinenser:innen in Deutschland vorgegangen wird, dann muss die Antwort lauten: Weil der deutsche Imperialismus die bedingungslose Solidarität mit dem Zionismus nicht nur mit Verträgen mit und Waffenlieferungen an Israel zur Schau stellt, sondern eben auch durch hartes Durchgreifen im eigenen Land.

Dass diese Politik nichts Moralisches an sich hat, verstehen mittlerweile immer mehr Menschen in Deutschland. Es ist absurd, dass Bundespräsident Steinmeier letztes Jahr im Juli, nur einige Wochen nach den massiven israelischen Angriffen auf die palästinensische Zivilbevölkerung, einen Staatsbesuch in Israel machte und dem Rassisten Naftali Bennet die Hand schüttelte. Absurd ist auch, mit welcher Wucht der deutsche Staat und die bürgerliche Öffentlichkeit gegen jedwede Solidarität mit dem palästinensischen Volk vorgehen – es hagelt Verbote, Entlassungen, Strafen und Abschiebungen. Deutschland ist mittlerweile das reaktionäre Zentrum des Anti-Antisemitismus, mit dem jedweder Antizionismus, eigentlich sogar jeder Anti-Imperialismus, pauschal als antisemitisch bezeichnet und verfolgt wird. 

Zwar wird das noch immer mit der deutschen Schuld und der angeblich vorbildhaften Aufarbeitung der Nazi-Herrschaft begründet. Den eigentlichen Grund dafür können wir aber nur verstehen, wenn wir erkennen, dass der deutsche Imperialismus, gerade in einer Zeit der Krise und Schwäche, sich mit aller Macht gegen laut werdenden Widerstand und Protest zur Wehr setzt. Die Palästina-Frage offenbart wie kaum ein anderes Thema, mit Ausnahme vielleicht der Kurdistan-Frage, den imperialistischen Charakter dieses deutschen Staates. Und dieser Staat bekämpft die pro-palästinensische Bewegung genau deshalb, weil die Angst groß ist, dass aus der Palästina-Bewegung eine breitere anti-imperialistische Bewegung wachsen kann, die den deutschen Imperialismus selbst ins Visier nimmt.

Nach der Repression am Tag der andauernden Nakba forderte die CDU, Palästinenser:innen und solche, die sich mit ihnen solidarisieren, im Vorfeld von Demos in Gewahrsam zu nehmen. Was würde das bedeuten?

Eine Sache ist uns wichtig, bevor wir genauer auf die Frage eingehen: Die Repressionen am Tag der Nakba und im Vorfeld haben uns in Berlin nicht die CDU oder andere als „rechts“ geltende Parteien eingebrockt, sondern die Rot-Grün-Rote Koalition. Die Repression gegen pro-palästinensische Gruppen, aber auch gegen viele andere revolutionäre Organisationen ist keine Sache, die von einzelnen Parteipolitiken abhängig ist – gerade, weil sie aus dem deutschen Imperialismus an sich erwächst, der von allen bürgerlichen Parteien mitgetragen wird. Dass die Berliner CDU nun noch einen draufsetzt, sollten wir erstmal als Oppositionspolitik verstehen – ähnlich hatte beispielsweise auch letztes Jahr nach den Nakbatag-Demos auf Bundesebene die Linkspartei reagiert, als Dietmar Bartsch Horst Seehofer aufforderte, noch härter gegen Antisemitismus auf deutschen Straßen vorzugehen.

Trotzdem zeigen die aktuellen Forderungen, dass sich der deutsche Staat immer weiter die Maske vom Gesicht zieht und seinen wahren, repressiven Charakter zeigt. Dass bereits heute als „antisemitisch“ kategorisierte Geflüchtete abgeschoben werden können und Hunderttausende de facto so eingeschüchtert werden, um sie von politischer Aktivität abzuhalten, ist bekannt. Wenn nun auch mehr und mehr Befugnisse im Vorfeld von eigentlichen Straftaten erteilt werden könnten, so ist das eine Entwicklung, die uns zeigt, dass der imperialistische Staat die Zügel anzieht – und wir noch lange nicht am Ende der Repression sind. Darauf sollten wir aber nicht mit Empörung

reagieren oder überrascht sein – als revolutionäre Kräfte müssen wir darauf gefasst sein und Wege finden, diesem Staat trotzdem Paroli zu bieten.

Ihr hab Euch wegen der staatlichen Repression am Nakbatag verbündet. Mit der Roten Hilfe gibt es bereits eine breite Solidaritätsstruktur gegen staatliche Repression, warum habt Ihr ein eigene Organisierung für notwendig erachtet?

Unser Bündnis versteht sich nicht als Alternativangebot zur Roten Hilfe. Ganz im Gegenteil. Genoss:innen von der Roten Hilfe waren und sind während der Bündnisarbeit extrem wichtig für uns gewesen, indem sie uns beraten haben und mit uns zusammen geplant haben, wie wir eine Reaktion auf der Straße zeigen können. Die Rote Hilfe wird auch direkt Betroffene der Repressionen gegen die Nakbatag-Aktionen unterstützen. Das ist ein wichtiger Schritt für uns alle. Wir können so deutlich zeigen: Die palästinensische Sache muss Sache der Linken sein!

Wird das Bündnis über die Repression im Zusammenhang mit dem Nakbatag 2022 heraus bestehen bleiben? Was sind Eure Ziele?

Ja, das Bündnis bleibt bestehen und soll demnächst auch einen Namen bekommen. Momentan arbeiten wir daran, die weitere politische Arbeit auszugestalten. Unser Ziel ist,die gemeinsame Arbeit revolutionärer Kräfte gegen die staatlichen Repressionen weiter voranzutreiben. Bereits vor dem Wochenende des Nakbatags hatten wir im Bündnis festgehalten, dass es nicht nur um die Demos an diesem Tag und auch nicht nur um die Palästina-Frage geht. Der Staat führt einen Kampf gegen alle revolutionären Bewegungen. Allein im Mai 2022 hat sich bei den Repressionen gegen die revolutionäre Abenddemo am Arbeiter:innenkampftag, am Tag der Befreiung vom Faschismus durch die Rote Armee und bei den Angriffen auf kurdische und türkische Genoss:innen gezeigt, dass wir alle gleichermaßen angegriffen werden. Das Bündnis hat sich zum Ziel gesetzt, die Verbindungen dieser Repressionen zu betonen und gemeinsam Antworten darauf zu geben.

Darüber hinaus wollen wir als Bündnis fest an der Seite derjenigen stehen, die von den Repressionen am Nakbatag unmittelbar betroffen sind. Dazu haben wir bereits in den ersten Tagen nach den Ereignissen ein Offenes Treffen veranstaltet, damit sich niemand mit den Repressionen und Angriffen alleine gelassen fühlen muss. Wir planen, die Rechtsfälle zu begleiten und Unterstützung zu leisten – in Form von Austausch, Beratung, und wenn wir es stemmen können, auch finanzieller Hilfe. Am wichtigsten ist für uns aber die politische, die revolutionäre Antwort auf die Repressionen – wir wollen weiterhin zeigen, dass gemeinsame Organisierung der Weg ist, um trotz Verboten und Anklagen die Straßen freizukämpfen.

Wie kann diese revolutionäre Antwort genau aussehen? Was bedeutet es, „revolutionär“ zu sein in Bezug auf staatliche Repression?

Auch wenn wir jetzt viel über die Demoverbote gesprochen haben: Repression, das ist nicht nur Demoverbot, Platzverweis und Polizeiknüppel. Dieser Staat dient der herrschenden kapitalistischen Klasse und wird mit allen erdenklichen Mitteln immer wieder gegen diejenigen vorgehen, die gegen diese Vorherrschaft kämpfen. Nicht nur auf Demos, sondern jeden Tag im Beruf, in der Schule, auf Ämtern, ideologisch, organisatorisch, politisch – alles was dieser Staat tut, um das Ausbeutungsverhältnis aufrecht zu erhalten, ist Repression. Wenn wir das verstehen, dann wissen wir auch, was die revolutionäre Antwort auf Repression ist. Nämlich nicht der Appell an mehr Menschlichkeit und Zugeständnisse, sondern der konsequente Kampf gegen das kapitalistische System und für den Sozialismus.

Dazu kommt: Dieses kapitalistische System, in dem wir alle leben, erzieht uns zur Passivität und zum Einzelgängertum. Viel zu oft nehmen wir Beschränkungen und Verbote einfach hin. Dass es am Nakbatag geklappt hat, sich trotz eines von den Behörden ausgesprochenen Verbotes und in vollem Bewusstsein über den Aufmarsch von Tausenden Bullen in Berlin-Neukölln trotzdem gemeinsam diesem zu widersetzen, das ist ein wichtiger Schritt, um aus dieser Passivität und Hörigkeit rauszukommen. Deswegen haben wir auch vor und nach den Aktionen Statements und Aufrufe in ganz Berlin verteilt, um allen deutlich zu machen: Wir werden die Verbote nicht hinnehmen! Und wir widersetzen uns, weil wir in die Stärke unserer gemeinsamen Organisierung vertrauen können. Das ist in unserer momentanen Lage das allerwichtigste und das müssen wir immer wieder betonen, dafür müssen wir ein breites Bewusstsein schaffen: Wenn wir uns zusammentun, sind wir stark. Der Erfolg am Nakbatag war ein Beispiel dafür. Wir müssen nun noch viel mehr solcher Beispiele schaffen!

#Titelbild: Bündnisarchiv

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Die Gruppe Palestine Action hat sich im Juli 2020 gegründet. Ihr Ziel ist es, die britische Komplizenschaft am zionistischen Siedlerkolonialismus in Palästina und die damit verbundene militärische Besatzung und Unterwerfung der indigenen Bevölkerung zu beenden. Dieses Ziel verfolgen die Aktivist:innen mittels direkter Aktionen gegen Firmen, die sich an dieser Kolonisierung und der ethnischen Säuberung Palästinas beteiligen. Die wirkmächtigste Kampagne ist der immer noch andauernde Kampf gegen Elbit Systems, der größte israelische private Waffenhersteller. Unser Autor Marik Ratoun hat mit Aktivist:innen der Gruppe über den direkten Kampf gegen die britische Mittäterschaft am Kolonialismus in Palästina gesprochen. Die Gruppe plant bald eine Vernetzungsreise nach Deutschland.

Wie kam es zur Gründung von Palestine Action und warum habt ihr die Notwendigkeit für direkte Aktionen gegen an den Verbrechen beteiligte Firmen gesehen?

Im Sommer 2020 fand sich eine Gruppe von Aktivist:innen mit unterschiedlichem Hintergrund zusammen, die alle das Ziel hatten, den Waffenhandel Israels hier in England und Wales direkt zu beeinflussen. Einige waren bereits an den sporadischen direkten Aktionen gegen Elbit (das seine Waffen als „kampferprobt“ an den Palästinenser:innen vermarktet) in den vergangenen sechs Jahren beteiligt. Wir waren uns alle einig, dass mehr getan werden muss, sowohl was die Häufigkeit der Aktionen als auch das Ausmaß des Schadens für das Unternehmen angeht. Wir hatten viele Einflüsse aus früheren Bewegungen, aber der jüngste Erfolg von Extinction Rebellion (XR), das so viele Menschen mobilisiert hat, aktiv zu werden und eine Verhaftung zu riskieren, gab uns die unerschütterliche Überzeugung, dass eine ähnliche, jedoch radikalere und militantere Bewegung für Palästina gebildet werden könnte. Eine Bewegung, die direkt handeln würde, anstatt andere zu bitten, den Wandel zu bewirken. Einige der Teilnehmer:innen an diesem Treffen hatten ihre Zeit und Energie in die Mainstream-Politik gesteckt. Nach dem politischen Tod von Jeremy Corbyn kamen sie zu dem Schluss, dass dieser Weg für immer verschlossen war. Andere kamen bereits mit der Einstellung zu uns, dass die Mainstream-Politik und insbesondere die Parteipolitik nicht der Weg war, den sie gehen wollten oder den sie als einen Weg sahen, der zum Erfolg führen könnte. Alle waren sich einig, dass Märsche, Demonstrationen, Petitionen und Ähnliches ziemlich sinnlos und irrelevant waren, und die Aktivist:innen sehnten sich nach mehr Aktionen. Viele waren enttäuscht über die Standardtaktik der Palästina-Solidaritätsbewegung in England und Wales und darüber, dass die an dieser Arbeit beteiligten Nichtregierungsorganisationen nicht radikal, mutig oder risikofreudig genug waren, um einen bedeutenden Wandel zu bewirken.

Und wie habt ihr Euch dann zusammengefunden?

Entscheidend ist, dass Palestine Action mit einer Aktion begann! Eine kleine Gruppe von uns drang in das Hauptquartier von Elbit im Zentrum von London ein, störte den Betrieb und beschädigte das Innere des Gebäudes mit Farbe und Graffiti. In der darauffolgenden Woche kehrten wir in die Zentrale zurück, und von da an gingen die Aktionen immer schneller weiter. Wir haben immer gesagt, dass wir uns auf Aktionen konzentrieren wollen. Wir waren alle schon in Gruppen, die viel geredet, aber nie auf dem Spielfeld gespielt haben. Bei Palestine Action dreht sich alles um direkte Aktion, das steckt schon im Namen!

Mich interessiert ein praktischer Aspekt eurer Arbeit. Wie lange könnt ihr Fabrikhallen halten oder die Produktion von mörderischen Waffen wie z.B. Drohnen sogar unterbrechen? Findet Ihr Eure eigenen Aktionen „erfolgreich“, sind sie vor allem symbolisch?

Unsere Aktionen sind nicht symbolisch. Alle unsere Aktionen zielen darauf ab, die Unternehmen zu schädigen oder zu zerstören, die vom Tod und der Vernichtung des besetzten palästinensischen Volkes profitieren. Obwohl wir rote Farbe verwenden, um das palästinensische Blut zu symbolisieren, das Elbit vergießt, verursacht diese Farbe auch materiellen Schaden für das Unternehmen. Unsere Besetzungen haben bis zu 6 Tage gedauert und das Werk die ganze Zeit über lahmgelegt. Der Schaden, den wir an der Infrastruktur des Unternehmens verursachen, bedeutet darüber hinaus oft, dass es nach unseren Aktionen wochenlang nicht betriebsbereit ist. Wir glauben, dass Wirtschaftssabotage nicht nur gerechtfertigt ist, sondern auch das Einzige, was diese Unternehmen zum Rückzug zwingen wird. Uns geht es darum, materielle Veränderungen herbeizuführen, nicht um Stunts, die den Eliten noch gefallen. Die britische Regierung ist schon viel zu lange mitschuldig an den Verbrechen, als dass man sie jetzt plötzlich umstimmen könnte, denn das ist offen gesagt eine Wahnvorstellung. Wir, und vor allem das palästinensische Volk, haben keine Zeit, das lange politische Spiel zu spielen. Wir schließen diese Orte selbst und wenden uns nicht an andere. Wir haben die Macht, dies selbst zu tun, und immer mehr Menschen erkennen das, schließen sich uns an und werden aktiv.

Ihr habt schon oft Standorte von Elbit besetzt (zuletzt am Nakba-Tag das Hauptquartier in Bristol). Einige Eurer Aktivist:innen waren bzw. sind noch in Gewahrsam und haben Rechtsprozesse am Hals. Wie ist die Repression in UK auf diese Aktionen und wie wehrt ihr Euch dagegen?

Wir haben großartige Anwälte/Anwältinnen! Tatsächlich wurde in England und Wales noch nie jemand erfolgreich strafrechtlich verfolgt, weil er/sie gegen Elbit vorgegangen ist, obwohl über 160 Personen wegen verschiedener angeblicher Straftaten wie Sachbeschädigung, Einbruchdiebstahl, schwerem Hausfriedensbruch und anderen Dingen festgenommen wurden. Zahlreiche Personen warten auf ihre Gerichtsverhandlung, die sich jedoch ständig verzögert. Nur in einem Fall kam es zu einer Gerichtsverhandlung, bei der die Aktivist:innen für nicht schuldig befunden wurden, obwohl sie Flaschen mit roter Farbe auf die Fassade des Gebäudes geworfen und sich an das Tor gekettet hatten. Der Richter sagte, dass ihre Aktionen verhältnismäßig waren, wenn man bedenke, was Elbit tue! Wir machen diese Aktionen aber nicht wegen des Gesetzes, sondern trotz des Gesetzes und weil es moralisch richtig ist! Auch bei uns gab es zahlreiche Hausdurchsuchungen, und einige unsere Gründer:innen wurden im Rahmen der Terrorismusbekämpfung verfolgt. Die Polizei nahm ihnen unrechtmäßig ihre Pässe ab. Nur drei Wochen nach der Gründung von Palestine Action trafen sich hochrangige Regierungsvertreter:innen, darunter der derzeitige stellvertretende britische Premierminister, mit dem israelischen Ministerium für strategische Angelegenheiten und diskutierten über die Zerschlagung unserer Bewegung. Sie haben auf königliche Weise versagt. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall: Immer mehr Menschen schließen sich uns an und werden aktiv, egal was der Staat uns vorwirft!

In UK gibt es eine breite Solidaritätskampagne für Palästina (z.B. die Palestine Solidarity Campaign). Wie ist die Reaktion auf Eure Aktionen in diesem Umfeld, wie im Umfeld der radikalen Linken.

Als Graswurzelbewegung gewöhnlicher Menschen überrascht es nicht, dass wir im Allgemeinen keine Unterstützung von NGOs oder politischen Gremien erhalten haben. Was wir jedoch haben, ist die Unterstützung der Menschen. Menschen, die diese bürgerlichen Organisationen vielleicht unterstützen oder Mitglieder sind, aber die Führungen der Organisationen selbst fühlen sich durch uns und unsere Erfolge bedroht. Sie haben sogar schamlos versucht, uns mit unbegründeten Anschuldigungen anzugreifen. Es gibt jedoch einige bemerkenswerte Ausnahmen. So weist z.B. die Feuerwehrgewerkschaft ihre Mitglieder regelmäßig an, die Polizei nicht bei der Entfernung unserer Demonstranten zu unterstützen.

Auch in Deutschland gibt es Standorte von Elbit oder der Firma Heidelberg Cement, die Steinbrüche in der Westbank betreiben und Materialen für die zionistischen Siedlungen bereitstellen. Darüber hinaus unterstütz Deutschland die israelische Regierung sogar direkt mit Waffen und Zahlungen militärischer Hilfe. Denkt ihr vor diesem Hintergrund, dass eine ähnliche Bewegung in Deutschland notwendig ist und möglich wäre?

Ja, zu 100 Prozent. In der Tat haben wir eine junge Gruppe von Palestine Action Berlin, und es gab auch einen anonymen Anschlag auf das Elbit-Gebäude dort. Wir sehen keinen Grund, warum unser Erfolg hier nicht auf der ganzen Welt als Teil des internationalistischen Kampfes für Palästina nachgeahmt werden kann. Tatsächlich beabsichtigen wir, Deutschland bald zu besuchen, um uns mit Gruppen und Individuen zu vernetzen, Gespräche und Workshops zu führen und eine ähnliche Kampagne in Deutschland in Gang zu setzen.

Während der israelischen Welle der Gewalt in Palästina im Mai 2021 haben italienische Werftarbeiter:innen Waffenlieferungen nach Israel blockiert. Wie kann in diesem Kontext Euer Internationalismus die Befreiung der Palästinenser:innen vom Kolonialismus unterstützen ?

Das war eine wunderbare Aktion und ein weiteres Beispiel dafür, wie man sich mit direkten Aktionen einmischen kann, ohne andere darum zu bitten. Wir wollen mehr davon sehen! Für uns gibt es ein paar wichtige Prinzipien, um eine erfolgreiche direkte Aktion durchzuführen (und wir haben Erfahrung mit einer erfolgreichen Kampagne, nachdem wir die Fabrik von Elbit in Oldham dauerhaft geschlossen haben). Erstens muss sie disruptiv sein, idealerweise schädigend! Sie muss auch nachhaltig sein. Wie wir bereits erwähnt haben, gab es vor Palestine Action sporadische Aktionen gegen Elbit, die aber kein Dilemma für das Unternehmen oder den Staat darstellten, abgesehen von einer leichten Störung konnte ganz normal weiterproduziert werden. Der Nachdruck unserer Aktionen, die Höhe des verursachten Schadens und die schiere Anzahl der Menschen, die sich an der Aktion beteiligten, sind die entscheidenden Faktoren.

Gibt es noch etwas, was Ihr hinzufügen möchtet?

Wie bereits erwähnt, haben wir vor, nach Deutschland zu kommen und bitten daher alle interessierten Gruppen und Einzelpersonen, mit uns in Kontakt zu treten und uns zu Gesprächen/Workshops einzuladen. Lasst uns gemeinsam aktiv werden!

Für Kontakt zu Palestine Action: Twitter, Instagram.

#Bildmaterial: Palestine Action

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Es geht um viel weniger als damals und zugleich um viel mehr. Als am 1. Mai 1886 in den ganzen USA mehrtägige Streiks begannen, kämpften die Arbeiter:innen um eine Reduzierung der Arbeitszeit von zwölf Stunden. Die Arbeitsbedingungen in den Fabriken waren miserabel. Für die zwölf Stunden Schufterei gab es im Schnitt lumpige drei Dollar, Gegenwert eines mageren Essens im Restaurant. In Chicago/Illinois kam es im Zuge der Streiks zum sogenannten Haymarket Massacre, als die Polizei das Feuer auf die dort versammelten, unbewaffneten Arbeiter:innen eröffnete und Dutzende tötete. Die Ereignisse begründeten die Tradition des 1. Mai als Kampftag der Arbeiter:innenklasse.

Dass die Polizei am 1. Mai 2022 auf Demonstrant:innen scharf schießt, ist eher unwahrscheinlich. Auch ist der Acht-Stunden-Tag bereits Realität und sonst manches besser geworden in der Arbeitswelt seit 1886, zumindest hierzulande. Insofern geht es am diesjährigen Kampftag der Arbeiter:innenklasse um weniger als damals – aber eben zugleich um so viel mehr. Zwei Jahre Pandemie haben die Gesellschaft weichgekocht und neue Möglichkeiten der Observanz, Kontrolle und Repression eröffnet. Das schuf eine gute Grundlage für das, was wir seit dem Beginn des Krieges in der Ukraine erleben. Es werden Weichen für eine Aufrüstung und Militarisierung ohnegleichen gestellt.

Die Kehrseite: Die Herrschenden sind dabei, die hinteren Wagen abzukoppeln. Die „Überzähligen“, „Unnützen“ liegen ihnen nur noch auf der Tasche. Es droht ein umfassender Sozialabbau, eine Forcierung der Umverteilung von unten nach oben. Um all das abzusichern wird die Repression weiter angezogen. Vor diesem Hintergrund kann es für diesen 1. Mai nur ein Motto geben:

Raus auf die Straße! Widerstand leisten gegen die offensichtlichen Faschisierungstendenzen!

Noch ist die Ausgangslage gut, noch ist die Öffentlichkeit da. Darum ist es so wichtig, Versuche beim Namen zu nennen und energisch zu bekämpfen, wie momentan etwa in Berlin, wo versucht wird, das Demonstrationsrecht durch die Hintertür zu kassieren. In der Hauptstadt will gerade ein ebenso reaktionärer wie größenwahnsinniger Bezirksfürst namens Martin Hikel die Revolutionäre- 1. Mai- Demo von Neukölln nach Kreuzberg torpedieren.

Hikel ist der Bezirksbürgermeister von Neukölln, auf diesem Posten Nachfolger des Protofaschisten Heinz Buschkowsky und dessen Ziehtochter Franziska Giffey, die es auf den Stuhl des Stadtoberhauptes geschafft hat. Aus seiner rassistischen Gesinnung hat der 2,08 Meter große SPD-Mann gleich zu Anfang kein Hehl gemacht. Er zog die Razzien in Neukölln auf, die sich angeblich gegen „Clan-Kriminalität“ richten, aber hauptsächlich große Teile der Bevölkerung im Kiez stigmatisieren. Dafür ließ er sich bundesweit von den bürgerlichen Medien feiern, tauchte mit TV-Teams persönlich in Shisha-Bars auf – natürlich erst nachdem bewaffnete Polizeibeamte die Lokalitäten „gesichert“ hatten.

Dieser Mann und seine Spießgesellen also versuchen momentan die Revolutionäre-1. Mai-Demo, die vom Hertzbergplatz über die Sonnenallee, den Kottbusser Damm und die Adalbertstraße bis zum Oranienplatz in Kreuzberg führen soll, mit einem Trick zu verhindern, der derart dummdreist ist, dass man sich als Beobachter:in nur an den Kopf fassen kann. Er hat auf wichtige Punkte der Demo-Route, von der seine Leute zum Zeitpunkt ihrer Planungen nichts geahnt haben wollen, unter dem Motto „Neukölln feiert den 1. Mai“ fünf Veranstaltungen, sogenannte „Straßenfeste“, gelegt. Die Anlässe dieser „Feste“ sind dermaßen an den Haaren herbeigezogen, dass niemand ernsthaft leugnen kann: Hier geht es offensichtlich nur darum, den Demo-Organisator:innen Steine in den Weg zu legen. Es ist Hikels Hindernisparcour, der da aufgebaut wird.

„Mit Kinder- und Familienfesten, Flohmarkt, Live-Musik und einem öffentlichen Fastenbrechen steht der 1. Mai in diesem Jahr für die Vielfalt und das friedliche Miteinander in Berlins buntestem Bezirk“, heißt es in einer Mitteilung auf der Homepage des Bezirksamtes. Verlogener geht es kaum!

Besonders das geplante Fastenbrechen ist an Verlogenheit und Perfidie nicht mehr zu übertreffen. Der Sprecher des Demo-Bündnisses Martin Suchanek hat es in einer Erklärung auf den Punkt gebracht: „Dass ausgerechnet der SPD-Bürgermeister Hikel, der dafür bekannt ist sich medienwirksam bei Razzien bei migrantischen Gewerbetreibenden abblitzen zu lassen – genau derselbe Martin Hikel, dessen ehemaliges Projekt „konfrontative Religionsbekundung“ auf einem Generalverdacht auf muslimische Jugendliche beruhte – nun sein Herzen für den Islam gefunden hat, scheint mehr als unglaubwürdig.“ Suchanek macht auch noch auf einen fachlichen Fauxpas aufmerksam, der ebenfalls die wahren Absichten entlarvt. Das viel bedeutsamere Zuckerfest finde erst am nächsten Tag statt, zudem wurde die Uhrzeit mit 19 Uhr glatt mindestens eine Stunde zu früh angesetzt, da das Fastenbrechen erst bei Sonnenuntergang beginnt.

Bündnissprecherin Aicha Jamal spricht von einer „Instrumentalisierung des letzten Iftar im Fastenmonat Ramadan seitens des Bezirksamt Neukölln“. Dies sei „nicht nur grotesk, sondern auch undemokratisch“. Mit Blick auf die Razzien gegen „Clankriminalität“ sagte Jamal: „Unter dem Vorwand organisierte Kriminalität zu bekämpfen führt Martin Hikel seit Jahren eine rassistische Hetzkampagne zu Lasten des gesamten migrantischen Kleingewerbes in Neukölln, welches tagtäglich unverhältnismäßigen Razzien ausgesetzt wird. Er unterstützt Projekte, die dazu führen, dass wir uns die Mieten nicht mehr leisten können und aus Neukölln verdrängt werden. Migrantisches Leben interessiert ihn nur, wenn es dazu dienen kann, das Image des Bezirkes aufzupolieren, um ihn interessanter für Investoren und Besserverdienende zu machen.“

Diese Agenda Hikels lässt sich auch beim Flohmarkt auf dem Hermannplatz erkennen. Veranstalter ist hier nämlich Spotlight, ein Verein, so schreibt das Bündnis in seiner Erklärung, „der seine Spenden offenbar von Signa erhält“. Signa ist der Konzern des dubiosen und rechtslastigen österreichischen Milliardärs Rene Benko, der in vielen deutschen Metropolen und auch im Ausland mit hochwertigen Immobilien jongliert. Jenem Konzern, wie Suchanek es formuliert, „der auf Biegen und Brechen mit SPD-Bausenator Geisel gegen den Willen der Anwohner den Karstadt am Hermannplatz abreißen und einen Luxuspalast aufbauen“ wolle.

In der Erklärung des Demo-Bündnis heißt es dazu: „Signas Gründer René Benko ist nicht nur einer der reichsten Menschen der Welt, er ist zudem mutmaßlicher Großspender der rechtsextremen FPÖ. Das wurde 2019 durch das Skandalvideo von H. C. Strache bekannt. Benko plant ein gigantisches
Neubauprojekt am Hermannplatz, welches erheblichen Einfluss auf die Mietpreisentwicklung der Umgebung haben wird und deshalb bei vielen Bewohner:innen Neuköllns unbeliebt ist. Dies beweisen die 6.000 Unterschriften, die von einer Anwohner:inneninitiative gegen Benkos Pläne gesammelt wurden. Die Initiative Hermannplatz habe des öfteren darauf aufmerksam gemacht, dass Benko mit kulturellen Projekten versucht, die Akzeptanz für seine Bauvorhaben in der Bevölkerung zu steigern.“

Die ganze Aktion ist ganz offensichtlich ein Alleingang Hikels und seiner Leute. Die Bezirksversammlung (BVV) war nicht in die Planung der fünf Veranstaltungen eingebunden. Das bestätigte Ahmed Abed, BVV-Abgeordneter für Die Linke in Neukölln, am Mittwoch auf Twitter. Nach Informationen vom Lower Class Magazine liefen die Planungen auch komplett an Sarah Nagel von der Linkspartei, der Stadträtin für das Ordnungsamt und Jochen Biedermann, stellvertretender Bezirksbürgermeister, Bezirksstadtrat und Leiter des Geschäftsbereichs Stadtentwicklung, Umwelt vorbei.

Wie es aussieht, hat der Bezirkschef für die Planung und Umsetzung der Veranstaltungen am 1. Mai eine von ihm selbst, vor allem für seine Razzien geschaffene Stabsstelle genutzt: die Koordinierungsstelle für öffentliche Sicherheit und Ordnung, in deren Aufgabenbeschreibung auf der Bezirkshomepage steht: „einschließlich Problemimmobilien sowie die Planung und Koordinierung von Verbundeinsätzen u. a. zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität“.

Die Linksfraktion in der Bezirksversammlung hat sich in einer Erklärung auf die Seite der Demo-Organisatoren gestellt. Darin heißt es: „Wenn SPD-Bürgermeister Hickel wirklich Straßenfeste organisiert, um damit eine Demo zu behindern, würde dies die Einschränkung des Versammlungsrechts bedeuten. Wir fordern klar: Die 1. Mai-Demo muss wie geplant stattfinden!“ Ferat Koçak, Neuköllner und Mitglied im Abgeordnetenhaus für Die Linke, erklärte ausserdem, Hikel behindere mit seinem Vorgehen „das Grundrecht der Versammlungsfreiheit und blockiert die Demo“. Offenbar wende er dieselbe Strategie an, mit der in Kreuzberg mit dem „Myfest“ operiert wurde – also eine Entpolitisierung des 1. Mai mittels Eventisierung.

Tatsächlich beweist SPD-Mann Hikel mit seinem Vorgehen überdeutlich, welche Prioritäten er setzt. Er tritt das Versammlungsrecht mit Füßen, den „Investoren“, die sich die halbe Stadt unter den Nagel reißen, rollt er dagegen mit Vergnügen den roten Teppich aus. Jeglicher Widerstand und jegliches positives Signal für eine Organisierung gegen diese Pläne sollen verhindert und gestört werden. Deshalb kann es in diesem Jahr nur umso mehr heißen:

Heraus zum 1. Mai!

Jetzt erst Recht!

Yallah Klassenkampf!

Dokumentation zum Revolutionären 1. Mai in Berlin:

# Titelbild: 1. Mai 2021, Copyright: 2021 PM Cheung

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Die deutsche Journalistin Marlene F. und der slowenische Journalist Matej K. wurden am 20. April im Şengal auf dem Rückweg vom êzîdischen Neujahrsfest Çarşema Sor vom irakischen Militär festgenommen. Seitdem sind sie vermutlich in einem Gefängnis in Bagdad und können keinen Kontakt zu Anwält:innen oder der Öffentlichkeit aufnehmen. Die Festnahme steht im Zusammenhang mit der militärischen Eskalation gegen die êzîdische Selbstverwaltung im Şengal, wo sowohl die irakische als auch die türkisch Regierung unabhängige Berichterstattung verhindern wollen.

Die beiden jüngst festgenommenen Journalist:innen Marlene F. und Matej K. sind seit mehreren Monaten zu Recherchezwecken im Norden des Iraks. Sie dokumentieren die aktuelle gesellschaftliche Situation von Ezid:innen im Şengal vor dem Hintergrund des Genozid-Feminizids, den der „IS“ seit 2014 an den Ezid:innen begeht. Aktuell ist nicht bekannt, wohin die beiden verschleppt wurden, auch das Auswärtige Amt hat nach eigenen Angaben keine Informationen über den Verbleib der beiden Journalist:innen.

Für ihre Recherche besuchten Marlene und Matej zivilgesellschaftliche Institutionen und Projekte. Sie erarbeiteten Dossiers über die aktuelle Lebenssituation in der êzîdischen Selbstverwaltung im Şengal, mit dem Ziel, Menschen in Deutschland darüber zu informieren. Gerade hier sollte die Situation im Şengal von besonderem Interesse sein, ist Deutschland doch das Land, in dem ein großer Teil der êzîdischen Diaspora lebt. Mit ihrer Berichterstattung darüber, wie sich die Bevölkerung nach dem traumatischen Krieg organisiert, um sich der immer noch drohenden Gefahr eines Genozids zu verteidigen leisten die beiden Medienschaffenden einen wesentlichen Beitrag für Menschenrechte und Frieden.

Dass Marlene und Matej gerade am Tage des Neujahrsfests Çarşema Sor, einer der wichtigsten kulturellen êzîdischen Feierlichkeiten, festgenommen wurden, und ihre journalistische Arbeit damit kriminalisiert wird, ist kein Zufall. Denn die êzîdische Bevölkerung ist aktuell bedroht.

Schon letzte Woche kam es immer wieder zu Provokationen des irakischen Militärs in der Autonomieregion im Şengal, vor allem gegen die êzîdischen Selbstverteidigungseinheiten (YBŞ), die nach der Befreiung der Region vom „IS“ zum Schutz der Bevölkerung aufgebaut wurden.

Die YBŞ ordnen diese aktuellen Eskalationen der irakischen Armee gegenüber den autonomen Selbstverteidigungsstrukturen als Versuch ein, das sogenannte „Şengal – Abkommen“ Stück für Stück durchzusetzen. Dieser Vertrag wurde von der irakischen Zentralregierung und der südkurdischen Regionalregierung beschlossen und legt im Wesentlichen die Zuständigkeiten von Behörden und Verwaltung der Region Şengal fest. In der Fassung dieses Abkommens nahm die Demokratische Partei Kurdistans (PDK) des Barzani-Clans, gestützt durch die Türkei, eine Führungsrolle ein. Die êzîdische Selbstverwaltung, die einen Großteil der Region verwaltet, wurde von diesen Verhandlungen komplett ausgeschlossen. Dabei ist die Selbstverwaltung in Şengal für Êzîd:innen vor Ort aber auch in einem globalen Kontext, wichtiger Bezugspunkt, um an ihre Geschichte zu erinnern, für Leben in Freiheit, ihre Kultur und ihre Widerstandsfähigkeit.

Dass der Vertrag über die Region ohne die Beteiligung der Selbstverwaltung abgeschlossen wurde, ist der Versuch der irakischen Zentralregierung, vor allem aber auch der PDK, Kontrolle über das Gebiet zu erlangen und die Autonomie der Êzîd:innen einzuschränken und zu entmachten. Denn vor dem Genozid-Feminizid 2014 – bei dem sich bewaffnete Einheiten der PDK vor den vorrückenden Kräften des „IS“ zurückzogen, statt die Êzîd:innen zu verteidigen–, hatte die PDK komplette Kontrolle über die Region.

Die êzîdische Autonomieregierung steht den Machtansprüchen der südkurdischen Regionalregierung im Wege.

Der Angriff auf die Slebstverwaltung ist dabei über die Frage von territorialer Kontrolle hinaus eine ernsthafte existenzielle Bedrohung für die Êzîd:innen. Es gibt noch immer noch viele „IS“-Anhänger*innen im Irak, Syrien und anderen Ländern, die eine Bedrohung für das Leben der êzîdischen Bevölkerung insgesamtsind. Gerade vor dem Hintergrund des schändlichen Verhaltens der PDK-Truppen 2014 wäre eine Eroberung des Şengal katastrophal. Eine Entwaffnung der Selbstverteidigungskräfte würde die vollständige Schutzlosigkeit der êzîdischen Bevölkerung bedeuten.

Der militärische Angriff ist aber nur eine von vielen Maßnahmen, die der irakische Staat gegen die Selbstverwaltung unternimmt. Neben der Umsetzung des Şengal-Abkommens, ist der irakische Staat zurzeit dabei, zwischen Şengal und Rojava eine Mauer zu bauen, wogegen die êzîdische Gemeinschaft Widerstand leistet. Die befreiten Gebiete in Rojava waren während des Angriffs des „IS“ 2014 der einzige Ort, an den sich die Bevölkerung in Sicherheit bringen konnte.

Gleichzeitig ist der Angriff auf Şengal nicht losgelöst von den Angriffen der türkischen Armee sowohl auf die Medya-Verteidigungsgebiete in den Bergen Südkurdistans als auch auf Rojava zu sehen, die zurzeit stattfinden. Denn Rojava und die Medya-Verteidigungsgebiete stehen in enger Verbindung mit der Autonomieverwaltung im Şengal: die kurdische Selbstverwaltung unterstützt den Aufbau eines freien Lebens und es waren ihre Einheiten, die jene Region vom „IS“ befreit haben. Der Versuch der türkischen Regierung, die eng mit der PDK zusammenarbeitet, durch Lufschläge und Chemiewaffeneinsatz auch die kurdische Selbstverwaltung zu zerstören, ist offensichtlich zusammen mit der Eskalation im Şengal koordiniert.

Es ist politisches Kalkül der irakischen Zentralregierung, genau zu diesem Zeitpunkt der Provokationen und Attacken, internationale Medienschaffende durch das irakische Militär festnehmen zu lassen und sie damit daran zu hindern, über genau diese Eskalationen zu berichten. Es geht darum, ein Signal zu senden und die Presse in ihrer Freiheit einzuschränken und damit die Stimmen, die sich für Gerechtigkeit für die êzîdische Bevölkerung einsetzen, zum Verstummen zu bringen. Bereits im Januar diesen Jahres hatte das irakische Militär drei Journalist*innen festgenommen, die in Şengal die zunehmenden Militärbewegungen beobachtet hatten. Ihre Ausrüstung wurde beschlagnahmt, ihr Aufenthalt war zunächst unbekannt.

Marlene F. und Matej K. gefangen zu nehmen und damit an ihrer wichtigen Arbeit für Frieden, Sicherheit und Menschenrechte zu hindern, ist ein Skandal und sollte auch die gebührende politische Aufmerksamkeit bekommen. Auf der Straße, in den Medien aber auch von der Regierung. Außenministerin Annalena Baerbock hat bereits einen offenen Brief erhalten, indem sie und andere Politiker:innen der Regierung dazu aufgefordert werden, sich für die Freilassung von den beiden Journalist:innen einzusetzen. Sie sollte ihrem Versprechen, eine „feministische Außenpolitik“ zu betreiben, nachkommen und alles in Bewegung setzten, damit die beiden frei gelassen werden.

Es geht dabei auch um ein Zeichen für Pressefreiheit und darum, zu verdeutlichen, dass es von politischem Interesse ist, dass die êzîdische Bevölkerung selbstbestimmt und in Frieden leben kann – genau die Werte, für die sich Marlene und Matej einsetzten.

#Bilder: eigenes Archiv.

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Interview mit Uli, 24 Jahre alt, Student aus Berlin. Uli ist organisiert in verschiedenen Strukturen und Teil der Initiative „PKK Verbot aufheben“.

#Dieter Oggenbach

LCM: Hi Uli, grüß dich. Die deutschen Repressionsbehörden haben mal wieder zugeschlagen. Diesmal gegen dich, unter anderem wurden dein Personalausweis und dein Reisepass eingezogen. Kannst du uns den Vorgang etwas genauer schildern?

Ende Januar 2022 erhielt ich einen Brief, in dem mir mitgeteilt wurde, dass ich innerhalb von vier Werktagen meine beiden Ausweisdokumente abzugeben habe. Hierfür wurde keine Widerspruchsfrist eingeräumt, das hieß konkret, dass es zu Beginn keine rechtlichen Mittel gab, diese Maßnahme zu verhindern. Begründet wurde diese Maßnahme, dass laut Informationen des Berliner Landeskriminalamts (LKA), bekannt gewurden sein sollte, dass ich in der vergangenen Zeit mehrmals Anmelder von Versammlungen und Demonstrationen war. Weitergehend dass einigem einer Auslandsaufenthalte, unter anderem Urlaubsreisen, dem Zweck des Besuchs eines „terroristischen Ausbildungscamps“ in Griechenland gedient haben sollen bzw. in Verbindung stehen könnten. Mit den Maßnahmen gegen mich soll jetzt verhindert werden, dass ich aus der BRD ausreise, da das LKA mir unterstellt an etwaigen Kampfhandlungen im Nordirak/Südkurdistan bzw. der Förderation in Nord-Ost-Syrien teilnehmen zu wollen. Bis zum heutigen Tage sei laut LKA nicht auszuschließen, dass ich in Griechenland ein Ausbildungslager besucht hätte, in welchem ich den Umgang mit Schusswaffen und Sprengstoff trainiert haben könnte.

In den letzten Jahren können wir ja in der BRD einen steigenden Druck auf verschiedene teile der revolutionären Bewegungen feststellen, häufig unter der Konstruktion von vermeintlichen kriminellen oder terroristischen Vereinigungen im Rahmen des § 129a oder § 129b. Wie würdest du das aktuelle Verfahrne gegen dich einordnen in die generelle politische Lage in der BRD bzw. Politik des Deutschen Staates?

Die aktuellen Maßnahmen gegen mich, schätze ich als politisches Kalkül ein. Der deutsche Staat hat einerseits eine langanhaltende Tradition, revolutionäre Bewegungen anzugreifen. Wir können sehen, dass vor allem auch wieder seit 2020 die Repressionsschläge sich häufen, auch gegen Menschen die mit der kurdischen Freiheitsbewegung zusammenarbeiten. Von der Internationalistin Maria und ihrer faktischen Ausweisung und einem Einreiseverbot für die kommenden 20 Jahre (LINK), einem Mitarbeiter des Rojava Information Centers, dem auf Initiative der BRD die zukünftige Einreise in den Schengen Raum verwehrt wurde. Natürlich bezieht sich diese Repression aber insgesamt auf alle Menschen die in revolutionären Bewegungen aktiv sind. Von der Antifaschistin Lina und den Angeklagten im Antifa-Ost-Verfahren, über die Verfahren gegen die Genossen und Genossinnen in Stuttgart oder Hamburg. Dieser steigende Verfolgungsdruck legt nahe, dass die Kapazitäten der Verfolgungsbehörden deutlich erhöht wurden. Unter der neuen Bundesregierung wird, trotz ihres liberalen Erscheinungsbildes, der Repressionsdruck gegen uns alle massiv steigen.

Du hast die Auslandsaufenthalte angesprochen. Unter anderem nehmen die Behörden Bezug auf eine Reise von dir nach Südkurdistan im Sommer 2021 im Rahmen einer internationalen Friedensdelegation gegen den Krieg in Südkurdistan, an welcher ja auch Mitglieder des Deutschen Bundestags teilnehmen wollten. Kannst du uns dazu nochmal etwas mehr sagen?

Diese Friedensdelegation fand wie du sagtest im vergangenen Sommer statt. Gemeinsam mit ungefähr 80 weiteren Genossen und Genossinnen, sind wir nach Südkurdistan gereist, um für eine friedliche Lösung des Kriegs in Südkurdistan zu werben. Für einen innerkurdischen Dialog zu werben, und diejenigen die vom Krieg profitieren zu demaskieren. Der Krieg in Südkurdistan ist ein Krieg in dem ideologische Widersprüche, der faschistische Charakter des türkischen Staates und ökonomische Interessen einzelner Staaten massiv wirken. In diesem Kontext wollten auch wir Internationalisten und Internationalistinnen unseren Platz einnehmen und zeigen, dass wir nicht wegschauen was dort passiert.

Seit der Revolution in Rojava/Föderation Nord-Ost-Syrien, können wir vom Aufkommen einer neuen Phase des Internationalismus sprechen. Viele Genossen und Genossinnen weltweit sind dorthin gereist und haben sich in den verschiedensten Bereichen an der Revolution beteiligt, sich eingebracht, gelernt und sind in ihre Heimatländer zurückgekehrt. Damit stieg aber ja auch bereits der generelle Repressionsdruck gegen diese Menschen. Unser Redakteur Peter Schaber war ja, mit anderen gemeinsam, auch von einem § 129 Verfahren betroffen (LINK). Dieser Aufbau von Drohszenarien und der Versuch die Beziehungen zwischen deutscher revolutionärer Linker und kurdischer Freiheitsbewegung zu sabotieren ist hingegen ja nichts neues. Worin begründet sich diese Politik deiner Meinung nach?

Für mich ist das Verhältnis dieser Kräfte eine politisch-historisch gewachsene Verbindung. Schon in den 1990er Jahren begannen Internationalisten und Internationalistinnen sich auf den verschiedensten Ebenen am kurdischen Freiheitskampf zu beteiligen, eine sind in diesem auch gefallen. Wenn wir von der kurdischen Gesellschaft in der BRD sprechen, sprechen wir auch von einer esellschaft die in hohem Maße politisch ist, die in nahezu allen größeren Städten Vereinsstrukturen aufgebaut hat, politisch wirkt. Es gibt hier ein großes Potential, gegenseitig über den eigenen Tellerrand zu schauen. Deutschland spielt im Krieg in Kurdistan seit jeher eine zentrale Rolle. Deshalb ist die Zusammenarbeit der kurdischen Bewegung und den revolutionären Kräften in Deutschland auch eine politisch-ideologische logische Schlussfolgerung. Nur der gemeinsame Kampf kann unsere gemeinsamen Interessen verteidigen, öffentlich machen, durchsetzen und weiterentwickeln.

Jetzt gibt es ja zwei Ebenen in diesem Ganzen Vorgang. Die Verwaltungsrechtliche Ebene mit dem Passentzug und auch eine vermutlich strafrechtliche Ebene. Wie willst du mit dieser Herausforderung umgehen?

Wichtig ist zuallererst, diesen Fall, genau wie alle andere in die Öffentlichkeit zu stellen, zu skandalisieren und sich nicht isolieren zu lassen. Andernfalls bieten wir den Repressionsbehörden immer die Möglichkeit, Präzedenzfälle zu schaffen, die in Zukunft gegen andere Genossen und Gneossinnen verwendet werden können. Druck aufzubauen und Öffentlichkeit auf allen Ebenen ist aktuell das wichtigste. Es ist schon absurd, dass diesen Maßnahmen stattgegeben wurde, da der einzige Vorwurf der zutrifft der ist, dass ich Tatsache einige Demonstrationen angemeldet habe.

Wie gehst du persönlich nun mit dieser Situation um? Wie hat sich dein Alltag verändert? Welche Erfahrungen hast du gemacht mit Solidarität?

Zu Beginn fiel es mir schwer mit diesen Maßnahmen einen Umgang zu finden. Als dieser Brief eintrudelte, hatte ich mehrmals Besuch von Zivilpolizisten des LKA, die versucht haben über meine Mitbewohner und meine Angehörigen Druck auf mich auszuüben und Informationen zu erhalten. Das angeblich schützenswerte Grundrecht der freien Meinungsäußerung in der BRD führt diese Praxis natürlich offensichtlich ad absurdum, letztlich sind diese Aussagen immer eine große Heuchelei. Das Anmelden einer Demonstration und Reisen werden umgedeutet zu einer Art Terrorismus. Natürlich heißt das alles für mich, dass ich mir bewusst werden musste, dass ich nun im Fokus der Ermittlungsbehörden stehe. Unabhängig davon, welche Vorwürfe das LKA versucht zu konstruieren, unabhängig von falschen und wahren Tatsachen, ist es aktuell erst einmal so das gilt was auf dem Papier steht. Was mir vorgeworfen wird, und die vermeintliche Planung von Anschlägen, sind natürlich Dinge, die erstmal schwer wiegen. Auch im Rahmen privater Beziehungen. Dem eigenen Umfeld und auch der eigenen Familie das alles zu erklären, war stellenweise nicht so einfach, denn nicht alle haben den Kontext in dem das alles stattfand nicht direkt verstanden. Oft wird ja das Drohszenario aufgebaut, wenn einen solche Repression trifft, isoliert dazustehen. Ich habe allerdings eine unglaubliche Wärme gespürt. Meine Genossen und Genossinnen sind eine große Unterstützung für mich aktuell. Mir ist wichtig, aber auch heruaszustellen, dass auch wenn Repression natürlich ein Problem ist, sie uns nicht davon abhalten sollte, dass zu tun was notwendig ist, für das Einzustehen von dem wir überzeugt sind. Für uns, die deutsche Ausweispapiere haben, kann das auch sein zum Beispiel eine Demonstration auf unseren Namen anzumelden, da wir aufgrund unseres Passes andere Privilegien erhalten.

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Am vergangenen Dienstag fanden zeitgleich in mehreren Städten im grün-schwarz regierten Baden-Württemberg Hausdurchsuchungen statt, unter anderem von einer Person, die im Linken Zentrum Lilo Herrmann lebt. Sie bauen auf fadenscheinigen Vorwürfen auf, bei denen es um die Beteiligung an Aktionen gegen die faschistische Gruppe „Identitäre Bewegung“ und um eine angebliche Beteiligung an der sogenannten „Stuttgarter Krawallnacht“ gehen soll. Diese aktuellen Ereignisse sind dabei nur das neueste Kapitel im Agieren der Repressionbehörden gegen linke Aktivist*innen und Strukturen.

Das rechte Auge zuzudrücken, während man solch harte Vorgehensweisen gegen Antifaschist*innen und Kommunist*innen einsetzt, hat Kontinuität. Wir erinnern uns noch gut daran, als 2020 in Hamburg 28 Hausdurchsuchungen – als Teil des größten Verfahrens gegen eine linke Organisation in Deutschland seit Jahrzehnten – stattfanden. Ziel des Angriffs der Staatsgewalt, der mit dem „Schnüffel-Paragraphen“ 129a geführt wurde, war der Rote Aufbau Hamburg. Der Kampf für eine sozialistische Gesellschaft wird kriminalisiert, faschistische Organisierungen werden aber vom Staat gedeckt.

Gerade erst informierte die Rote Hilfe e.V. zum Tag der politischen Gefangenen am 18. März darüber, dass in Deutschland aktuell mindestens 15 Menschen wegen ihrer politischen Betätigung im Knast sitzen. Die Antifaschistin Lina ist trotz geringer Beweislast seit über 500 Tagen inhaftiert. Der linke Aktivist Jan aus Nürnberg ist seit sechs Monaten in Haft, acht weitere hat er laut Urteil noch vor sich. Allein im Raum Stuttgart saßen in den letzten Monaten, teils bis heute, mit Findus, Dy und Jo drei aktive Linke im Knast. Ebenso mehrere kurdische Aktivist*innen, darunter Merdan – für den Vorwurf einer Mitgliedschaft in der PKK, deren Kriminalisierung dem türkischen Staat in die Hände spielt. Am kommenden Freitag, 25.03., ist der Prozess des Kommunisten Chris angesetzt, bei dem von der Anklage mehrere Monate Haft ohne Bewährung gefordert werden. Vorgeworfen wird ihm, nach jahrelanger Kriminalisierung seines politischen Einsatzes, eine Beteiligung an den Silvesterspaziergängen an der JVA Stuttgart-Stammheim, die dort seit den Zeiten der RAF-Gefangenen Tradition haben.

„Ganz allgemein und konkret im Fall von Chris geht es bei staatlicher Repression nicht nur darum, Einzelne für angebliche Straftaten zu verurteilen; den Verfolgungsbehörden geht es um viel mehr“, schreibt das Solibündnis zu Chris‘ Prozess. „Politische Strömungen der Linken, die Widerstandsformen entwickeln und anwenden, die das Maß des Konformen überschreiten, werden mit Repression überschüttet. Sobald Proteste und Strukturen als potenzielle Gefahr wahrgenommen werden, wird zugelangt und in akribischer Kleinarbeit alles verfolgt, was kriminalisierbar ist.“

Gefängnisstrafen stellen die momentan extremste Forme der Repression gegen linke Aktive in der BRD dar, denen verschiedene andere vorausgehen: von Kontrollen, Geldstrafen und Arbeitsstunden über Einträge im Führungszeugnis, Hausdurchsuchungen bis hin zu Gewahrsam und Bewährung. Das Vorgehen der BRD gegen antikapitalistische und antifaschistische Bewegungen scheint seit Jahren an Aggression zuzunehmen. Auffällig sind die Bündelung unzusammenhängender Tatvorwürfe sowie immer häufigere absurd hohe Strafmaße, die Kriminalisierung von Praktiken, welche früher gerade so als Ordnungswidrigkeiten galten, und Paragraphen, die offensichtlich vor allem der Überwachung linker, antiimperialistischer, revolutionärer Gruppierungen dienen.

Dabei sollte unsere Empörung über all diese Umstände keineswegs als Überraschung missverstanden werden. Revolutionäre linke Praxis stellt die herrschende Ordnung nicht nur in Frage, sondern greift sie an. Die Staatsgewalt, die der Aufrechterhaltung des kapitalistischen Systems dient, wird natürlich gegen diejenigen Aktivist*innen und Bewegungen gerichtet, die ihm gefährlich werden können. Die Krisen des Kapitalismus spitzen sich zu und mit ihnen wächst der Widerstand, der von den Repressionsorganen des Staates niedergeschlagen werden soll.

Diese Vorgehensweisen sind vor allem Spaltungs- und Einschüchterungsversuche, denen wir nicht nachgeben dürfen. Wir müssen ihre Unterteilung in „gute und schlechte“ Protestformen, in „legitimen und kriminellen“ Widerstand ablehnen, denn diese Unterteilung folgt den Definitionen des bürgerlichen Staates. Konsequenter linker Widerstand wird unumgänglich in Konfrontation mit der Staatsgewalt geraten, da er sich gerade gegen diese richtet. Fügen sich Teile der linken Bewegung der staatlichen Einteilung unserer Protestformen, entfernen wir uns voneinander. Die einen sollen in reformistische Bahnen gelenkt werden, bis sie nicht mehr im Antagonismus zum herrschenden System stehen, die anderen werden weiter die volle Brutalität des Staates zu spüren bekommen und damit in ihrer Praxis gehindert.

Das Aufgeben revolutionärer antikapitalistischer Politik darf keine Option sein. Ein organisierter Umgang mit Repression gegen unsere Genoss*innen und konsequenter Zusammenhalt ist stattdessen unsere Antwort auf staatliche Angriffe. Das äußert sich in den zahlreichen Solikreisen, die sich für die Betroffenen bilden, in der Arbeit der Roten Hilfe und insgesamt in der Fortsetzung antifaschistischer, antimilitaristischer, klassenkämpferischer und nicht zuletzt revolutionärer Praxis.

„Wir dürfen uns nicht von ihren Schikanen und Machenschaften einschüchtern lassen, sondern gemeinsam Widerstand leisten. Ihr draußen, ich drinnen.“ – Dy, inhaftierter Antifaschist aus dem „Wasen-Verfahren“

Dass die revolutionäre Bewegung in Deutschland sich nicht einschüchtern lässt und handlungsfähig bleibt, zeigt sich auch in den direkten Antworten auf die Hausdurchsuchungen in Baden-Württemberg am vergangenen Dienstag. Nachdem den Betroffenen schon direkt am Morgen von ihren Genoss*innen Beistand geleistet wurde und es erste Solidaritätsbekundungen aus zahlreichen anderen Städten gab, kam es noch am Abend desselben Tages zu spontanen Kundgebungen, Aktionen und Demonstrationen unter anderem in Stuttgart, Tübingen, Magdeburg und Hamburg. Mehrere hundert Menschen, aus verschiedenen Spektren und mit verschiedenen Hintergründen, gingen in Stuttgart als direkte Reaktion gemeinsam auf die Straße und machten klar, dass sie sich nicht abschrecken lassen und auch hinter der verfolgten Praxis stehen.

Unsere Parolen sind keine leeren Phrasen, wenn wir sie umsetzen. Zeigt euch also solidarisch, indem ihr weitermacht!

# Titelbild: indymedia, Knastspaziergang 2021/22 in Stuttgart Stammheim

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Maria lebt seit langem in Deutschland, hat ihren Lebensmittelpunkt hier. Die politisch aktive Frau besucht Demonstrationen und beteiligt sich an Veranstaltungen. Dann kommt der Repressionsschlag: Ohne irgendeinen Vorwurf einer konkreten Straftat wird sie zur „gefährlichen“ Person erklärt, aus der Bundesrepublik ausgewiesen und erhält ein Einreiseverbot: für zwei Jahrzehnte! Wir haben mit dem Unterstützer:innenkreis „Grupo Internacional“ der Genossin über die Hintergründe dieses Falls gesprochen.

Eure Genossin Maria hat einen Bescheid deutscher Behörden erhalten, dass sie die Bundesrepublik verlassen muss und 20 Jahre nicht wieder einreisen darf. Was ist die Begründung für diese ungewöhnliche Strafe?

Die Begründungen sind lächerlich. Entscheidend dafür ist, dass unserer Genossin vorgeworfen wird, sie stelle eine Gefahr für den deutschen Staat dar. Dieser Vorwurf wird mit völlig normalen Aktivitäten gerechtfertigt, etwa dem Besuch von Kundgebungen oder Demonstrationen. Außerdem wird in der Hauptbeschuldigung auf ihre politische Arbeit in Solidarität mit der kurdischen Freiheitsbewegung und ihr Engagement in Sachen linker Politik erwähnt und argumentiert, dass ihr Aufenthalt in der BRD ausschließlich politisch motiviert sei.

Anscheinend soll sie unter anderem damit gegen ihre Aufenthaltsrechte als EU-Bürgerin verstoßen haben. Absurd ist, wie versucht wird, sie mit allen Mitteln zu kriminalisieren. Zum Beispiel werden ihre akademischen IT-Kenntnisse oder ihre sprachlichen Fähigkeiten für diese Begründung herangezogen. Für uns sind die Erklärungsansätze an den Haaren herbeigezogen, es wird alles versucht, um einer politisch aktiven Frau die Grenzen aufzuweisen und sie mundtot zu machen. Es handelt sich um eine Machtdemonstration mit grotesken Folgen.

Diese Maßnahme ist ja ein Novum in der BRD. Warum trifft das genau María? Was macht sie so „gefährlich“ für den deutschen Staat? Will man ein Exempel statuieren?

Jede*r Bürger*in der Europäischen Union hat ja angeblich das Recht zur Freizügigkeit. Ein längerfristiges Aufenthaltsrecht in einem anderen EU-Staat hat bestimmte Voraussetzungen (z.b Arbeitssuche, arbeiten, Studium, Ehe). Der Verlust tritt entweder ein, wenn die jeweiligen Voraussetzungen entfallen oder aber, wie im Fall unserer Genossin, der Verlust nach 6 Abs. 1 FreizügG/EU festgestellt wurde, aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit.

Nur unter dieser Bedingung, unsere Genossin zu einer potenziellen Gefahr zu erklären, konnten die deutschen Behörden ihr das Recht auf Freizügigkeit entziehen und ein Reise- und Aufenthaltsverbot gegen sie verhängen. Wieder einmal zeigt sich, dass die EU hinter ihren so genannten liberalen und demokratischen Werten immer eine Lücke in ihren Gesetzen lässt, die sie für ihre eigenen Interpretationen offen hält. Man ermöglicht so, diese Gesetze für die eigenen politischen Interessen zu nutzen. Der Vorwurf, dass politisch Aktive eine Bedrohung seien, wird in allen EU-Ländern und insbesondere in Deutschland immer häufiger erhoben, um revolutionäre Tendenzen politischer Bewegungen zu bekämpfen. In diesem Fall begründen sie diese Vorwürfe gegen María damit, dass sie in die Strukturen der PKK (Partiya Karkerên Kurdistan/ Arbeiterpartei Kurdistans) in Deutschland eingebunden wäre und daher eine angeblich terroristische Vereinigung unterstütze. Gleichzeitig werfen sie ihr vor, sich politisch in der linksextremen Szene zu engagieren und damit eine Verbindung zwischen den PKK-Strukturen und der deutschen Linken herzustellen.

Menschen, die sich den Ideen und Aktivitäten der kurdischen Freiheitsbewegung nur annähern, laufen in diesem Staat schon Gefahr, dass man ihnen die Unterstützung einer terroristischen Vereinigung vorwirft. Wir müssen verstehen, dass dies aufgrund des bestehenden Gesetzes möglich ist, das die PKK in Deutschland seit 1993 als terroristische Vereinigung verbietet. Der deutsche Staat nutzt dieses Gesetz mit allen Mitteln und Methoden, um die kurdische Freiheitsbewegung und die internationalistische Solidarität mit ihr zu unterdrücken. Unter dem PKK-Verbot werden zum Beispiel jedes Jahr viele kurdische Aktivist*innen ins Gefängnis gesteckt oder verhaftet, weil sie Protestkundgebungen, Seminare oder kulturelle Veranstaltungen organisieren, die sich mit dem Kampf für die Autonomie ihres eigenen Volkes befassen. Auch viele andere, die sich solidarisch zeigen, werden vor Gericht gestellt, weil sie Fahnen oder Transparente zur Unterstützung des Freiheitskampfes in Kurdistan zeigen. Und in diesem Fall unserer Genossin María ist wiederum das PKK-Verbot allein der Hauptgrund, unter dem sie als europäische Staatsbürgerin zu einer potentiellen Gefahr erklärt und aus Deutschland zwangsausgewiesen werden kann. Einmal mehr wird die Angst des deutschen Staates deutlich, dass die Ideen der sozialistischen und Frauenrevolution in Kurdistan innerhalb seiner eigenen Grenzen Einfluss nehmen. Eine Rolle spielt auch, dass die BRD ideologisch, politisch und wirtschaftlich eng mit der Türkei zusammenarbeitet und die faschistischen und imperialistischen Pläne ihres treuen Alliierten Erdogan im Nahen Osten und im mediterranen Raum unterstützt.

Andererseits wissen wir, dass die BRD eine lange Tradition in der Unterdrückung nicht nur internationaler revolutionärer Bewegungen, insbesondere im Rahmen des § 129b – Unterstützung einer ausländischen terroristischen Vereinigung – , sondern vor allem der revolutionären und linken Tendenzen im eigenen Land hat. Durch gezielte Kriminalisierungskampagnen verschiedener sozialer Kämpfe und nachfolgende politische Propaganda in den Massenmedien bombardiert der deutsche Staat seine Gesellschaft ständig mit der angeblichen Bedrohung einer gewalttätigen, extremistischen, linksradikalen und antifaschistischen Bewegung und schafft den Boden für Vorwürfe, wie sie in diesem Fall erhoben wurden. Die Teilnahme unserer Genossin María an der Verteidigung des Hambacher Forsts oder die Teilnahme an der Demonstration für die Freiheit der Frauen am 8. März sind für die deutsche Behörden Grund genug, eine potentielle Gefahr zu beschwören.

Logo der Kampagne „Grupo Internacional“

Also ja, dieser Fall ist ein Novum. Denn zum ersten Mal wird diese Entscheidung gegen eine EU-Bürgerin getroffen, die in Deutschland nie wegen irgendeiner Straftat angeklagt oder verurteilt wurde. Alle Vorwürfe, die erhoben werden, sind Attribute ihrer Person und ihrer öffentlichen Aktivitäten, hauptsächlich in Solidarität mit der kurdischen Freiheitsbewegung in Deutschland. Die Tatsache, dass es María trifft, liegt auch in der Staatslogik der BRD. Sie wird kriminalisiert, weil sie ein Leben gewählt hat, das nicht den Normen der patriarchalen und kapitalistischen Logik entspricht. Durch ihre klare Haltung und den von ihr gewählten Lebensweg, ein politisches Leben zu führen, wird sie vom deutschen Staat als Gefährderin betrachtet.

An dem Fall von María soll ein Exempel statuiert werden. Wir sehen, dass der deutsche Staat eine neue Methode der Repression dass nicht nur an die kurdische Freiheitsbewegung und mit ihr in Solidarität stehenden Internationalist*innen adressiert werden, sondern potenziell an alle politischen EU-Bürger*innen bzw. Aktivist*innen ohne deutschen Pass, deren Aufenthalt in irgendeiner Form angezweifelt werden kann. Auf diese Weise wird versucht, einen Präzedenzfall zu schaffen. Die Wirkung gleicht einem politischen Betätigungsverbot. Politisch aktive Menschen sollen isoliert und eingeschränkt werden, indem ihr Aktionsradius eingegrenzt wird. Mit Hilfe der europäischen Gesetze und der Ausrede, dass Aktivist*innen aufgrund ihres politischen Engagements eine nationale Bedrohung darstellen, versuchen sie, politische Ideologien, die für den Staat ein Problem darstellen, zu verhindern und außerhalb ihrer Grenzen zu halten. In diesem Fall ist es besonders die Ideologie und das politische Modell der kurdischen Freiheitsbewegung.

Welche Behörde steckt eigentlich hinter diesem Beschluss? Ist das polizeilich, Geheimdienst, das Ministerium?

Dahinter steht ein gemeinsames Vorgehen verschiedener repressiver Institutionen des Staates. Die Hauptakteure mit dem politischen Interesse dahinter, die die gesamte Verantwortung für diesen Fall tragen, sind die Bundespolizei und die Ausländerbehörde von Magdeburg. Die Bundespolizei leitete ein Ermittlungsersuchen gegen unsere Genossin María ein und übergab es an die Ausländerbehörde von Magdeburg. Diese hat die Ermittlungen weitergeführt und mit Hilfe des Landeskriminalamts (LKA) und Verfassungsschutz Sachsen-Anhalt Informationen über ihr politisches Engagement und ihren Aufenthaltsstatus in Deutschland zusammengetragen.

Es ist wichtig, hier die einfache und schnelle Zusammenarbeit zwischen diesen beiden Institutionen in Fragen der Repression und des Informationsaustauschs sowie die Macht und Rolle, die die Ausländerbehörde haben kann, zu bemerken. Denn obwohl die Polizei den Fall eingeleitet hat und die verschiedenen Polizeibehörden die Informationen weitergegeben haben, wären ohne die politische Motivation der Ausländerbehörde dieser Fall und die Entscheidung über die Zwangsausweisung und das 20-jährige Reise- und Aufenthaltsverbot nicht möglich gewesen.

Wie geht es der Genossin mit dieser Situation? Und was bedeutet das für euch?

Sowohl wir als auch unsere Genossin María betrachten diesen Fall nicht als Einzelfall, sondern als einen weiteren Schritt in der kontinuierlichen Kriminalisierung der Solidarität mit der kurdischen Freiheitsbewegung und die derzeitige europäische Tendenz, die sozialen und politischen Rechte immer mehr zu beschränken.

Mit diesem Fall sendet der deutsche Staat auch eine sehr klare Botschaft an alle, die sich mit dem Kampf des kurdischen Volkes solidarisieren, aber auch an die kurdische Bevölkerung in Deutschland. Sie versuchen, kurdische Menschen, die nicht einmal einen europäischen Pass haben, einzuschüchtern und so davon abzuhalten, ihre Stimme in Deutschland zu erheben und an öffentlichen Aktivitäten im Zusammenhang mit dem Kampf für Freiheit und Frieden in ihrem eigenen Land teilzunehmen.

Und deshalb ist für María und für uns klar, dass wir uns gegen diesen Angriff wehren werden. Wir werden nicht zulassen, dass der deutsche Staat einen Präzedenzfall gegen andere europäische Aktivist*innen in Deutschland schafft. Dies würde nicht nur die Solidarität mit der kurdischen Freiheitsbewegung betreffen, sondern könnte perspektivisch gegen alle politisch aktiven Menschen gerichtet sein, die keine deutsche Staatsangehörigkeit haben und sich offen engagieren. Es liegt in unserer Verantwortung, nicht zuzulassen, dass man Angst schürt, wenn Solidarität mit der kurdischen Befreiungsbewegung gezeigt wird. Mehr denn je müssen wir heute die Notwendigkeit eines sozialen Protests für ein freies, würdiges und gerechtes Leben für alle zu verteidigen.

Wie wollt ihr gegen diese Repression vorgehen und wie kann man euch dabei unterstützen?

Durch den Widerstand gegen diesen Fall werden wir zeigen, dass internationale Solidarität alle Grenzen überwinden kann und nicht mit den Repressionsmitteln des Staates gestoppt werden kann. So rufen wir als Unterstützungsgruppe „Grupo Internacional“ dazu auf, Solidarität mit dem Kampf in Kurdistan zu zeigen und den Angriff gegen unsere Genossin María zu einem gemeinsamen Widerstand gegen den Repressionsapparat des deutschen Staates und das europäische Grenzsystem zu machen.

Wir haben Informationsflyer in verschiedenen Sprachen vorbereitet und laden lokale Gruppen ein, dieses Material zu nutzen, um über den Fall zu informieren und die politischen Konsequenzen zu diskutieren, sowie ihre Solidarität in lokalen Mobilisierungen und Aktivitäten zu zeigen.

Abschließend möchten wir uns für all die Solidarität und Unterstützung bedanken, die wir in den letzten Wochen nicht nur aus Deutschland erhalten haben. Wenn das eigentliche Ziel der Repression immer darin bestand, zu isolieren, zu verängstigen und zu spalten, kann unsere Antwort nur sein, unsere revolutionäre Organisierung, unseren aktiven Widerstand und unsere internationale Solidarität mehr denn je zu intensivieren.

# Flyer der Soli-Kampagne für den Download:

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Wer A sagt, muss auch B sagen. Das scheint die unausgesprochene Devise der Herrschenden gewesen zu sein, als sie die juristischen Grundlagen der Repression immer wieder nachgeschärft haben. Die Rede ist vom Paragraphen 129 des Strafgesetzbuches, der die „Bildung einer kriminellen Vereinigung“ unter Strafe stellt. Seit seinem Erscheinen im Reichsstrafgesetzbuch von 1871 hatte er vor allem den Zweck, Widerstand niederzuhalten – ob im Kaiserreich, in der Weimarer Republik oder in den Jahren des Faschismus. Nach 1945 hielt man den Paragraphen in Ehren, konnte man ihn doch noch gebrauchen, etwa im Kampf gegen die KPD. Im Jahr 1976 wurde mit Blick auf die RAF der §129a („Bildung einer terroristischen Vereinigung“) eingefügt. Und gut 26 Jahre später, im August 2002, gesellte sich als Reaktion auf die Anschläge vom 11. September 2001 noch der Paragraph 129b dazu, der im Großen und Ganzen die gleichen Handlungen unter Strafe stellt wie der §129a, sich aber auf „terroristische Vereinigungen im Ausland“ bezieht.

Dass sich die Herrschenden mit diesen beiden Gummiparagraphen Instrumente gebastelt haben, um Kritiker mundtot zu machen, jeden und jede kriminalisieren und Strukturen nach Herzenslust ausforschen zu können, ist zumindest unter Linken kein Geheimnis. Der §129a ist bekanntlich zuletzt wieder von Staatsanwaltschaften fleißig genutzt worden. Noch hemmungsloser wurde in den zurückliegenden Jahren aber der §129b eingesetzt.W. Und zwar hauptsächlich, um kurdische und türkische Oppositionelle hinter Gitter zu bringen. Damit machen sich die Justiz und der deutsche Staat immer wieder zum Erfüllungsgehilfen der Türkei, des diktatorischen Regimes von Recep Tayyip Erdoğan machen.

Ein besonders krasses Beispiel ist der so genannte TKP/ML-Prozess vor dem Oberlandesgericht München. Ein grotesker, politisch motivierter Schauprozess, bei dem zehn Aktivist*innen – neun Männer und eine Frau – zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt wurden. Und das nur wegen ihrer Mitgliedschaft in der TKP/ML (Kommunistische Partei der Türkei/Marxistisch-Leninistisch), die lediglich in der Türkei, nicht jedoch in der BRD, verboten ist. Wie in ähnlichen Verfahren wurden den Angeklagten keine konkreten strafbaren Handlungen vorgeworfen. Allein ihre politische Arbeit, die in Organisierung von Veranstaltungen, Spendensammlungen sowie normaler Vereinsarbeit bestand, reichte aus, um sich in Deutschland als Beschuldigte in einem der größten „Terrorprozesse” wiederzufinden und im Knast zu landen.

Die lange Vorrede erscheint in diesem Fall sinnvoll, denn nur so lässt sich verstehen, warum der Aktivist Musa Aşoğlu – um den es in diesem Beitrag eigentlich geht – in Hamburg im Knast sitzt und wie er dort behandelt wird. Im Februar war Musa vom Hanseatischen Oberlandesgericht (OLG) nach dem Paragraphen 129b zu sechs Jahren und neun Monaten verurteilt worden, heute sitzt er in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Billwerder ein. Aşoğlu wurde in der Türkei geboren, besitzt aber die niederländische Staatsangehörigkeit. Die USA und die Türkei hatten ein hohes Kopfgeld auf ihn ausgesetzt, bezeichneten ihn als „Terroristen“. Am 2. Dezember 2016 wurde Musa in Hamburg verhaftet und verbrachte über neun Monate in Totalisolation im Untersuchungsgefängnis Holstenglacis.

In der JVA Billwerder wird dem Aktivisten das Leben nach Kräften schwer gemacht. Bei der traditionellen Silvesterknastkundgebung vor der Anstalt beim zurückliegenden Jahreswechsel 2021/22 wurden diese Schikanen gegen Musa thematisiert und ihre sofortige Beendigung gefordert. Seit seiner Inhaftierung 2016 sei er Sonderhaftbedingungen ausgesetzt, hieß es aus diesem Anlass in einer Erklärung des „Netzwerks Freiheit für alle politischen Gefangenen Hamburg“. Erst sei der Gefangene der Isolationsfolter im Untersuchungsgefängnis ausgesetzt gewesen, jetzt in Billwerder der Strafhaft und einer starken Zensur. Besuchszeiten würden willkürlich gekürzt, Brief- oder Zeitungssendungen verzögert oder gar nicht an ihn ausgehändigt. Seit Herbst 2020 habe Musa Artikel aus bürgerlichen türkischsprachigen Zeitungen wegen eines angeblich „zu hohen Kontrollaufwands“ nicht mehr erhalten. Später seien die Gefangeneninfo und sogar Postkarten mit politischen Motiven von den Zensoren nicht mehr übergeben worden.

Wie ein Aktivist des Netzwerks in einem Interview in der Tageszeitung junge Welt am 30. Dezember mitteilte, hat die Anstaltungsleitung die Zensurmaßnahmen gegen den Gefangenen offenbar zuletzt erheblich verschärft. Bisher hätte er Bücher und politische Schriften über den linken Schanzenbuchladen beziehen. Das gehe jetzt nicht mehr. Im Dezember habe der Schanzenbuchladen das Netzwerk angesprochen und erklärt, alle Postsendungen an die JVA seien seit etwa zwei Monaten mit dem Vermerk „Annahme verweigert“ zurückgekommen. Aşoğlu habe zudem aus dem Knast berichtet, es sei eine Verordnung ausgehängt worden, laut der nur noch zwei bürgerliche Buchläden in die Anstalt liefern dürfen, Thalia in der Spitalerstraße und die Buchhandlung Christiansen in Altona. Auch über Amazon dürfe offenbar nichts mehr geliefert werden. Angeblich seien auf diesem Weg Drogen in den Knast geschmuggelt worden.

Mit einer schriftlichen Anfrage wandte sich das Lower Class Magazine an die Pressestelle der Hamburger Behörde für Justiz und Verbraucherschutz. Die stellvertretende Pressesprecherin, Valerie Meister, ging in ihrer Antwort auf die konkreten Zensurmaßnahmen nicht ein: Gefangene könnten Artikel bei einer Vielzahl von Versandfirmen bestellen, die zuvor überprüft und zugelassen worden seien, „darunter auch bei diversen Buchhandlungen“, schrieb sie. Ohne vorherige Zulassung und Prüfung sei der Erhalt von Sendungen von Versandhändlern „aus Sicherheitsgründen nicht möglich“. Aus Gründen der Sicherheit und des Persönlichkeitsschutzes könne man „grundsätzlich keine Auskünfte zu einzelnen Gefangenen geben“. 

Kurz vor dem Jahreswechsel war bekannt geworden, dass es noch eine weitere Schikane gegen Musa Aşoğlu gegeben hat. Das Netzwerk informierte, dass sein Genosse Faruk Ereren ihn nicht besuchen darf. Ereren saß selbst neun Jahre in der Türkei im Knast und dann noch mal sieben Jahre in der BRD in Untersuchungshaft, bevor er freigesprochen wurde. 

Welchen Hintergrund all diese Schikanen haben, macht eine Erklärung deutlich, die Musa im Mai 2021 vor dem OLG in einer nicht-öffentlichen Verhandlung abgegeben hat, bei der es um eine Entlassung nach zwei Dritteln der Haftzeit ging. Er berichtete dort, dass ihm eine Abteilungsleiterin der JVA in einem Gespräch zur Gestaltung seines Vollzugplans im Juni 2020 folgendes gesagt hat: „Ich werde ehrlich zu Ihnen sprechen. Pflegen Sie bitte keine Hoffnungen! Sowohl die Zweidrittelentlassung als auch der offene Vollzug und die gelockerten Maßnahmen sind für Sie ausgeschlossen. Ihre gesamte Strafe werden Sie unter strengen Haftbedingungen verbüßen. So erscheinen mir die Befehle von oben.“

Diese Sätze sind eine erneute Bestätigung, dass Musa Aşoğlu – wie viele andere in deutschen Knästen – ein politischer Gefangener ist. Und, dass der lange Arm des Erdogan-Regimes jedenfalls mittelbar bis in deutsche Justizvollzugsanstalten reicht.

Foto: Wikimedia commons

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Demokratische Opposition wird in der Türkei brutal verfolgt – insbesondere, wenn Kurdinnen ihren Platz im politischen Raum einnehmen wollen. Deutschland unterstützt diese Repression. Ein Gespräch mit der HDP-Politikerin Besime Konca

Kannst du dich zuerst unseren Leser:innen vorstellen?

Mein Name ist Besime Konca. Ich arbeite seit 28 Jahren in der kurdischen Befreiungsbewegung und mit kurdischen Frauen. Ich war lange Zeit politische Gefangene in der Türkei. Man hat mich verhaftet, als ich für die DTB aktiv war, später auch, als ich für die HDP aktiv war. Zuletzt wurde ich vor einigen Jahren als HDP-Parlamentarierin für Sirte gefangen genommen. Ich war zu der Zeit als Gast in Europa, aber weil mir in der Türkei erneut Gefängnis drohte, musste ich bleiben. Derzeit halte ich mich als politische Geflüchtete in Deutschland auf. Ich bin also seit etwa drei Jahren in der Diaspora.

Wie bist du politisch aktiv geworden und zur HDP gekommen?

Die HDP ist ein politisches Projekt, das die in der Türkei seit 100 Jahren bestehende Politik verändert hat. In der HDP gibt es zum einen das System der geschlechterparitätischen Doppelleitung, es gibt autonome Fraueninstitutionen, in denen sich Frauen organisieren. In der HDP haben alle Bevölkerungsgruppen einen Platz gefunden, denen es in der Türkei verboten war, demokratische Politik zu machen – Kurd:innen, Armenier:innen, Syrer:innen, Tscherkess:innen, Alevit:innen. Die HDP ist ein umfassendes Projekt zur Demokratisierung der Türkei. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, das demokratisch-ökologische Paradigma und die Freiheit der Frauen zu beschützen. Für mich war entscheidend, dass ich als kurdische Frau, als Feministin und als Demokratin Politik machen wollte. Deshalb bin ich in die HDP eingetreten.

2017 wurde du in der Türkei deines Amtes enthoben. Was war die Vorgeschichte dieses Angriffs?

Im November 2015 ist die HDP ins Parlament eingezogen. Aber vorher schon habe ich für die kurdische Partei BDP gearbeitet. Zu diesem Zeitpunkt war die HDP vergleichsweise neu aufgebaut worden, die Geschichte der Partei reichte erst 6 Jahre zurück. Damit die kurdische Frage in der Türkei gelöst werden konnte, hatte Abdullah Öcalan das Paradigma der Demokratischen Nation entworfen. Die HDP war zwischen der politischen Sphäre in der Türkei, den Debatten auf Imrali und der kurdischen Befreiungsbewegung in einer Vermittlungsrolle gewesen. Deshalb hatte ich großen Respekt vor ihr und große Hoffnungen, dass sie die kurdische Frage lösen und die Türkei demokratisieren können würde.

Im Juni 2015 schaffte es nun die HDP zum ersten Mal als kurdische Partei über die 10-Prozent-Hürde ins türkische Parlament – zuvor waren immer nur Einzelkandidat:innen eingezogen. Sie erreichte 13 Prozent. Deshalb akzeptierte der türkische Staat diese Wahlen nicht und strebte Neuwahlen an. Und der Staat begann Kriegsoperationen gegen die Kurd:innen. Im Rahmen dieses Krieges kam es auch zu Angriffen auf die HDP. Der türkische Staat akzeptiert die Kurd:innen seit 100 Jahren nicht, also wollte er nicht, dass die Kurd:innen ihren Platz in der Politik einnahmen. 2016 wurden die Co-Vorsitzenden der HDP , Selahattin Demirtas und Figen Yüksedag, sowie eine große Zahl von Parlamentarier:innen gefangen genommen. Einen Monat später haben sie auch mich ins Gefängnis geworfen.

Man muss dazu sagen, in diesen Jahren kam es auch in Rojava zu einem sehr wichtigen Widerstand. Ganz Rojava erhob sich gegen den Islamischen Staat. Und gleichzeitig griff die Türkei militärisch in ganz Kurdistan Städte an – Cizre, Sur, Nusaybin. Dagegen positionierte sich die HDP. Wir vertraten die Auffassung, dass die kurdische Frage sich nur durch eine Demokratisierung lösen ließe. Wir leisteten auch außerhalb des Parlaments, bei den Unterdrückten im Volk, viel Widerstand – sowohl in Nordkurdistan, wie in Rojava.

Gerade für die weiblichen Abgeordneten im Parlament war der Kampf schwer, denn das Patriarchat ist dort tief verankert. Sie beschnitten die Rechte von Frauen, brachten religiöse, rückwärtsgewandte Gesetze ins Parlament. Dagegen leisteten wir Widerstand. Es gab eine Gruppe von Frauen im Parlament, die sich zum Beispiel dafür einsetzte, dass ein Frauenministerium geschaffen wird. Und gegen die Gesetzesentwürfe der AKP, beispielsweise zur Legalisierung der Verheiratung von Minderjährigen oder zur Zwangsverheiratung von Vergewaltigten mit ihren Vergewaltigern – dagegen haben wir Widerstand geleistet. Das türkische Parlament ist kein klassisches Parlament wie in anderen Ländern. Man muss dort Widerstand leisten und es ist ein wichtiger Kampf um Sein oder Nichtsein der eigenen politischen Existenz.

Du lebst seit 2018 in Deutschland. Wie kannst du von hier aus deine politische Arbeit fortführen?

Als ich im Gefängnis war, habe ich begonnen, mich sehr für die Freiheit der Frauen zu interessieren. Als Parlamentarierin habe ich diese Arbeit fortgeführt. Es geht darum, die Gesellschaft nach dem Paradigma der Freiheit und der Frauenbefreiung zu organisieren. Und auch wenn der türkische Staatdas nicht anerkennt, sieht mich die Bevölkerung, die mich gewählt hat, noch als ihre Abgeordnete. Ich bin ja seit 28 Jahren für die Freiheit des kurdischen Volkes, für jeden Widerstand und alle Kämpfe der Frauen aktiv. Und das möchte ich auch hier fortsetzen. Ich habe dann in der Diplomatie der Frauenbewegung gearbeitet. Und heute arbeite ich in der kurdischen Gesellschaft in Europa, mit den Frauen hier, die viel Widerstand leisten. Es ist auch wichtig aufzuzeigen, dass alle Staaten Europas – Frankreich, Italien, Deutschland – heute Gehilfen des türkischen Staates sind. Sie unterstützen den AKP-Faschismus.

Die Mehrzahl des kurdischen Volkes in der Diaspora ist heute in Deutschland. Mehr als eine Million Kurd:innen sind in der Bundesrepublik. Es ist das Recht der Kurd:innen in Deutschland an der Politik teilzuhaben. Es ist das Recht der Kurd:innen, dass auch die Gesellschaft in Deutschland, die Jugend, die Politik sehen, wie das Leben in Kurdistan ist. Und in der Gesellschaft Deutschlands gibt es viele Freund:innen der Kurden. Gerade wir als Frauen nehmen an vielen Bewegungen teil und haben dort unseren Platz.

Was ist deine Perspektive auf die deutsch-türkischen Beziehungen?

Die Politik Deutschlands hat Einfluss auf die aller europäischer Staaten. Und Deutschland hat nicht erst seit Kurzem, sondern seit dem osmanischen Reich intensive Beziehungen zur Türkei. Die Politik der kapitalistischen Moderne und der Unterdrückerstaaten ist immer an Interessen, am eigenen Nutzen ausgerichtet und das prägt auch diese Beziehungen. Das ist eine falsche und gegen die Völker gerichtete Politik. Eine Politik der Waffenexporte, eine Politik des Profits und eine antidemokratische Politik. Gerade Deutschland will gar keine demokratische Entwicklung in der Türkei. Die Bundesrepublik befürwortet den Krieg.

Das ist eine falsche Politik. Die Länder Europas sehen die Türkei als eine Art Depot für Geflüchtete. Sie fürchten sich vor den politischen Aktionen der Türkei.

Aber die Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei sind nicht erst seit dem AKP-Faschismus von dieser Art. Auch davor gab es ja diese Beziehungen. Die Regierungen in der Türkei wechselten, aber nicht die grundsätzliche Politik des Staates. Und in diesen Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei spielten Demokratie oder Menschenrechte nie eine Rolle. Es geht allein um den wirtschaftlichen Nutzen. Und dieser wächst durch Krieg. Und er wächst in Krisen.

Es werden zahlreiche Massaker gegen Kurd:innen verübt, heute werden sogar Chemiewaffen eingesetzt, jeden Tag bombardieren sie mit Drohnen kurdische Wohngebiete, Menschen werden getötet. 5000 Frauen wurden vom IS in Sengal entführt. In Afrin, Kobane, Gire Spi haben die Türken mit Unterstützung Europas angegriffen und die Bevölkerung massakriert. Sie respektieren den Willen der Kurd:innen, den Gesellschaftsaufbau der Kurd:innen nicht. Das verletzt die Kurd:innen.

Ich will auch betonen, dass sich selbst hier der deutsche Staat wie die Türkei gegenüber den Kurd:innen verhält. Er verbietet ihre Organisationen, Jugendliche werden verhaftet, es gibt eine Reihe von Verboten. Die Farben und Fahnen der Kurd:innen werden auf Demonstrationen kriminalisiert. Das, was die Türkei tut, versucht die BRD auch in Europa durchzusetzen. Es ist ja so, dass die Kurd:innen nicht freiwillig ihr Land verlassen haben. Wir haben unsere Geschichte, unsere Zukunft und Vergangenheit dort. Wir wurden durch genau diese Politik vertrieben und mussten nach Deutschland kommen.

Titelbild: ANF

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