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Demokratische Opposition wird in der Türkei brutal verfolgt – insbesondere, wenn Kurdinnen ihren Platz im politischen Raum einnehmen wollen. Deutschland unterstützt diese Repression. Ein Gespräch mit der HDP-Politikerin Besime Konca

Kannst du dich zuerst unseren Leser:innen vorstellen?

Mein Name ist Besime Konca. Ich arbeite seit 28 Jahren in der kurdischen Befreiungsbewegung und mit kurdischen Frauen. Ich war lange Zeit politische Gefangene in der Türkei. Man hat mich verhaftet, als ich für die DTB aktiv war, später auch, als ich für die HDP aktiv war. Zuletzt wurde ich vor einigen Jahren als HDP-Parlamentarierin für Sirte gefangen genommen. Ich war zu der Zeit als Gast in Europa, aber weil mir in der Türkei erneut Gefängnis drohte, musste ich bleiben. Derzeit halte ich mich als politische Geflüchtete in Deutschland auf. Ich bin also seit etwa drei Jahren in der Diaspora.

Wie bist du politisch aktiv geworden und zur HDP gekommen?

Die HDP ist ein politisches Projekt, das die in der Türkei seit 100 Jahren bestehende Politik verändert hat. In der HDP gibt es zum einen das System der geschlechterparitätischen Doppelleitung, es gibt autonome Fraueninstitutionen, in denen sich Frauen organisieren. In der HDP haben alle Bevölkerungsgruppen einen Platz gefunden, denen es in der Türkei verboten war, demokratische Politik zu machen – Kurd:innen, Armenier:innen, Syrer:innen, Tscherkess:innen, Alevit:innen. Die HDP ist ein umfassendes Projekt zur Demokratisierung der Türkei. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, das demokratisch-ökologische Paradigma und die Freiheit der Frauen zu beschützen. Für mich war entscheidend, dass ich als kurdische Frau, als Feministin und als Demokratin Politik machen wollte. Deshalb bin ich in die HDP eingetreten.

2017 wurde du in der Türkei deines Amtes enthoben. Was war die Vorgeschichte dieses Angriffs?

Im November 2015 ist die HDP ins Parlament eingezogen. Aber vorher schon habe ich für die kurdische Partei BDP gearbeitet. Zu diesem Zeitpunkt war die HDP vergleichsweise neu aufgebaut worden, die Geschichte der Partei reichte erst 6 Jahre zurück. Damit die kurdische Frage in der Türkei gelöst werden konnte, hatte Abdullah Öcalan das Paradigma der Demokratischen Nation entworfen. Die HDP war zwischen der politischen Sphäre in der Türkei, den Debatten auf Imrali und der kurdischen Befreiungsbewegung in einer Vermittlungsrolle gewesen. Deshalb hatte ich großen Respekt vor ihr und große Hoffnungen, dass sie die kurdische Frage lösen und die Türkei demokratisieren können würde.

Im Juni 2015 schaffte es nun die HDP zum ersten Mal als kurdische Partei über die 10-Prozent-Hürde ins türkische Parlament – zuvor waren immer nur Einzelkandidat:innen eingezogen. Sie erreichte 13 Prozent. Deshalb akzeptierte der türkische Staat diese Wahlen nicht und strebte Neuwahlen an. Und der Staat begann Kriegsoperationen gegen die Kurd:innen. Im Rahmen dieses Krieges kam es auch zu Angriffen auf die HDP. Der türkische Staat akzeptiert die Kurd:innen seit 100 Jahren nicht, also wollte er nicht, dass die Kurd:innen ihren Platz in der Politik einnahmen. 2016 wurden die Co-Vorsitzenden der HDP , Selahattin Demirtas und Figen Yüksedag, sowie eine große Zahl von Parlamentarier:innen gefangen genommen. Einen Monat später haben sie auch mich ins Gefängnis geworfen.

Man muss dazu sagen, in diesen Jahren kam es auch in Rojava zu einem sehr wichtigen Widerstand. Ganz Rojava erhob sich gegen den Islamischen Staat. Und gleichzeitig griff die Türkei militärisch in ganz Kurdistan Städte an – Cizre, Sur, Nusaybin. Dagegen positionierte sich die HDP. Wir vertraten die Auffassung, dass die kurdische Frage sich nur durch eine Demokratisierung lösen ließe. Wir leisteten auch außerhalb des Parlaments, bei den Unterdrückten im Volk, viel Widerstand – sowohl in Nordkurdistan, wie in Rojava.

Gerade für die weiblichen Abgeordneten im Parlament war der Kampf schwer, denn das Patriarchat ist dort tief verankert. Sie beschnitten die Rechte von Frauen, brachten religiöse, rückwärtsgewandte Gesetze ins Parlament. Dagegen leisteten wir Widerstand. Es gab eine Gruppe von Frauen im Parlament, die sich zum Beispiel dafür einsetzte, dass ein Frauenministerium geschaffen wird. Und gegen die Gesetzesentwürfe der AKP, beispielsweise zur Legalisierung der Verheiratung von Minderjährigen oder zur Zwangsverheiratung von Vergewaltigten mit ihren Vergewaltigern – dagegen haben wir Widerstand geleistet. Das türkische Parlament ist kein klassisches Parlament wie in anderen Ländern. Man muss dort Widerstand leisten und es ist ein wichtiger Kampf um Sein oder Nichtsein der eigenen politischen Existenz.

Du lebst seit 2018 in Deutschland. Wie kannst du von hier aus deine politische Arbeit fortführen?

Als ich im Gefängnis war, habe ich begonnen, mich sehr für die Freiheit der Frauen zu interessieren. Als Parlamentarierin habe ich diese Arbeit fortgeführt. Es geht darum, die Gesellschaft nach dem Paradigma der Freiheit und der Frauenbefreiung zu organisieren. Und auch wenn der türkische Staatdas nicht anerkennt, sieht mich die Bevölkerung, die mich gewählt hat, noch als ihre Abgeordnete. Ich bin ja seit 28 Jahren für die Freiheit des kurdischen Volkes, für jeden Widerstand und alle Kämpfe der Frauen aktiv. Und das möchte ich auch hier fortsetzen. Ich habe dann in der Diplomatie der Frauenbewegung gearbeitet. Und heute arbeite ich in der kurdischen Gesellschaft in Europa, mit den Frauen hier, die viel Widerstand leisten. Es ist auch wichtig aufzuzeigen, dass alle Staaten Europas – Frankreich, Italien, Deutschland – heute Gehilfen des türkischen Staates sind. Sie unterstützen den AKP-Faschismus.

Die Mehrzahl des kurdischen Volkes in der Diaspora ist heute in Deutschland. Mehr als eine Million Kurd:innen sind in der Bundesrepublik. Es ist das Recht der Kurd:innen in Deutschland an der Politik teilzuhaben. Es ist das Recht der Kurd:innen, dass auch die Gesellschaft in Deutschland, die Jugend, die Politik sehen, wie das Leben in Kurdistan ist. Und in der Gesellschaft Deutschlands gibt es viele Freund:innen der Kurden. Gerade wir als Frauen nehmen an vielen Bewegungen teil und haben dort unseren Platz.

Was ist deine Perspektive auf die deutsch-türkischen Beziehungen?

Die Politik Deutschlands hat Einfluss auf die aller europäischer Staaten. Und Deutschland hat nicht erst seit Kurzem, sondern seit dem osmanischen Reich intensive Beziehungen zur Türkei. Die Politik der kapitalistischen Moderne und der Unterdrückerstaaten ist immer an Interessen, am eigenen Nutzen ausgerichtet und das prägt auch diese Beziehungen. Das ist eine falsche und gegen die Völker gerichtete Politik. Eine Politik der Waffenexporte, eine Politik des Profits und eine antidemokratische Politik. Gerade Deutschland will gar keine demokratische Entwicklung in der Türkei. Die Bundesrepublik befürwortet den Krieg.

Das ist eine falsche Politik. Die Länder Europas sehen die Türkei als eine Art Depot für Geflüchtete. Sie fürchten sich vor den politischen Aktionen der Türkei.

Aber die Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei sind nicht erst seit dem AKP-Faschismus von dieser Art. Auch davor gab es ja diese Beziehungen. Die Regierungen in der Türkei wechselten, aber nicht die grundsätzliche Politik des Staates. Und in diesen Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei spielten Demokratie oder Menschenrechte nie eine Rolle. Es geht allein um den wirtschaftlichen Nutzen. Und dieser wächst durch Krieg. Und er wächst in Krisen.

Es werden zahlreiche Massaker gegen Kurd:innen verübt, heute werden sogar Chemiewaffen eingesetzt, jeden Tag bombardieren sie mit Drohnen kurdische Wohngebiete, Menschen werden getötet. 5000 Frauen wurden vom IS in Sengal entführt. In Afrin, Kobane, Gire Spi haben die Türken mit Unterstützung Europas angegriffen und die Bevölkerung massakriert. Sie respektieren den Willen der Kurd:innen, den Gesellschaftsaufbau der Kurd:innen nicht. Das verletzt die Kurd:innen.

Ich will auch betonen, dass sich selbst hier der deutsche Staat wie die Türkei gegenüber den Kurd:innen verhält. Er verbietet ihre Organisationen, Jugendliche werden verhaftet, es gibt eine Reihe von Verboten. Die Farben und Fahnen der Kurd:innen werden auf Demonstrationen kriminalisiert. Das, was die Türkei tut, versucht die BRD auch in Europa durchzusetzen. Es ist ja so, dass die Kurd:innen nicht freiwillig ihr Land verlassen haben. Wir haben unsere Geschichte, unsere Zukunft und Vergangenheit dort. Wir wurden durch genau diese Politik vertrieben und mussten nach Deutschland kommen.

Titelbild: ANF

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„Sein Gewissen war rein. Er benutzte es nie.“ Angesichts dieses mir schon lange vertrauten Zitats des polnischen Aphoristikers Stanislaw Jerzy Lec muss ich immer zuerst an den Mann denken, der vor ein paar Tagen zum Bundeskanzler dieses Landes gewählt worden ist. Olaf Scholz erscheint mir wie ein Prototyp dieses von Lec beschriebenen Menschenschlags. Was bürgerliche Medien bei dem Sozialdemokraten als „Pragmatismus“ bejubeln, lässt sich wohl eher als kalte Arroganz der Macht beschreiben. In Scholz‘ politischer Karriere gibt es genug Ereignisse, die diese Einschätzung bestätigen – aber wohl keines so deutlich wie der Fall Achidi John.

Es ist ein irgendwie seltsam anmutender – aber auch bezeichnender – Zufall, dass der frühere Hamburger Bürgermeister ausgerechnet am 9. Dezember 2021 zum Bundeskanzler gewählt worden ist. Das war auf den Tag genau 20 Jahre nach den Vorgängen im Institut für Rechtsmedizin des Hamburger Universitätsklinikums (UKE), die den Nigerianer Michael Paul Nwabuisi, der sich Achidi John nannte, das Leben kosteten. Mit großer Brutalität wurde dem als Kleindealer verdächtigten und erst 19 Jahre alten Mann am 9. Dezember 2001 dort zwangsweise ein Brechmittel verabreicht, um verschluckte Drogenkügelchen zu Tage zu fördern. John erlitt einen Herzstillstand, fiel ins Koma. Drei Tage später wurde er auf einer Station des UKE für tot erklärt.

Der 20. Todestag von Achidi John wurde in den bürgerlichen Medien, von Ausnahmen abgesehen, in den vergangenen Tagen geflissentlich beschwiegen. In der überbordenden Berichterstattung über die Kanzlerwahl und die neue Bundesregierung, fanden die Verstrickungen von Scholz in die Affären um die Cum-Ex-Deals und Wirecard oder seine Rolle beim G-20-Gipfel im Sommer 2017 in Hamburg gelegentlich Erwähnung. Aber mit dem Thema Brechmittel und seinem Anteil an der Sache wollte man dem neuen mächtigsten Mann im Staat offenbar nicht kommen. Dabei sagen die Vorgänge vermutlich mehr über ihn aus, als vieles andere.

Denn Achidi John kann ohne Übertreibung als direktes Opfer des machiavellistischen Politikansatzes des Olaf Scholz bezeichnet werden. Dazu muss man wissen, dass Scholz im Mai 2001 zum Innensenator Hamburgs ernannt worden war. Damals stand eine Bürgerschaftwahl im September bevor und der SPD und den Grünen drohte der Machtverlust. Die bürgerlichen Medien der Stadt arbeiteten fleißig daran, allen voran die Springerblätter Hamburger Abendblatt (inzwischen Funke-Gruppe), Bild und Welt. Die Kleindealer auf St. Pauli, in St. Georg und im Schanzenviertel, fast durchweg Afrikaner, wurden zum Hauptproblem der Stadt hochstilisiert. Zugleich baute die Presse den durch überharte Urteile aufgefallene Amtsrichter Ronald Schill, den man „Richter Gnadenlos“ getauft hatte, zum Heilsbringer auf.

Scholz versuchte der Schill-Partei, die mit dem Richter als Zugpferd gegründet worden war und rückblickend als Vorläufer der AfD bezeichnet werden kann, das Wasser abzugraben. Und zwar indem er einen harten Law-and-Order-Kurs fuhr. Dazu gehörte auch, dass er die zwangsweise Verabreichung von Brechmitteln gegen als Drogendealer verdächtigte Menschen erlaubte, obwohl es auch damals schon medizinische Bedenken gegen den Einsatz des Brechsirups Ipecacuanha gab. Mit diesem gewissenlosen Profilierungsversuch gab Scholz letzlich nur der rassistischen und protofaschistischen Schill-Partei recht, die folglich bei der Bürgerschaftswahl im September 2001 sensationelle 19,4 Prozent einfuhr und der CDU unter Ole von Beust an die Macht verhalf. Als Achidi John starb, war Schill bereits Innensenator.

Noch heute läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken, wenn ich Schilderungen der Foltertortur lese, die der junge Mann im Institut für Rechtsmedizin am 9. Dezember 2001 erleiden musste. Der Nigerianer wehrte sich verzweifelt gegen die Verabreichung des Sirups. Aber das half ihm nicht. Zuletzt fixierten ihn fünf Polizeibeamte. Mit auf dem Rücken gefesselten Händen hielten sie ihn auf dem Boden fest. Erst nach mehreren Versuchen gelang es der Rechtsmedizinerin Ute L., John eine Magensonde durch die Nase einzuführen und ihm 30 Milliliter des Brechsirups Ipecacuanha sowie Wasser einzuflößen. Später gab es Vorwürfe, L. und die Beamten hätten den Nigerianer anschließend liegen lassen ohne sich um ihn zu kümmern und die Reanimation zu spät eingeleitet. Dieser Verdacht ließ sich aber offenbar nicht wirklich erhärten. 

Weder Ute L. noch einer der beteiligten Beamten wurden jemals angeklagt. Die Staatsanwaltschaft stellte ein Vorermittlungsverfahren gegen die an dem Einsatz Beteiligten im Juni 2002 ein. Ein Klageerzwingungsverfahren des Vaters von Achidi John wurde vom Hanseatischen Oberlandesgericht im Juli 2003 wegen angeblicher Formfehler abgelehnt. Natürlich gab es weder von Olaf Scholz, noch von Klaus Püschel, dem kürzlich pensionierten Leiter des IfR, auch nur das geringste Wort des Bedauerns oder gar eine Entschuldigung. Unter Püschels Leitung wurden auch nach dem Tod von John die Brechmitteleinsätze noch bis ins Jahr 2006 fortgeführt. 

Erst danach wurde die zwangsweise Verabreichung in Hamburg eingestellt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte im Juli 2006 geurteilt, dass die erzwungene Vergabe von Brechmitteln gegen das Folterverbot des Artikels 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention verstößt. Nach Angaben der Hamburger „Initiative zum Gedenken an Achidi John“ wurden zwischen 2001 und 2006 insgesamt 530 Menschen – fast ausschließlich schwarze junge Männer – von der Polizei dem Institut zugeführt und mit einer Zwangseinflößung des Brechmittels bedroht, respektive malträtiert. Was wenig bekannt ist: Die „freiwillige“ Einnahme von Brechmitteln wurde noch bis 2020 fortgesetzt. Wobei von Freiwilligkeit nicht wirklich gesprochen werden kann, wenn einer Straftat Verdächtigte unter Druck gesetzt und Vorteile bei „Kooperation“ versprochen werden.

Die „Initiative zum Gedenken an Achidi John“ hat aus Anlass seines 20. Todestages dem Vorstand des Universitätsklinikums Eppendorf geschrieben und ihn unter anderem gefragt, „wie er heute zu der damaligen menschenrechtswidrigen Praxis am IfR steht, und ob zumindest eine medizin-ethische Aufarbeitung am UKE stattgefunden habe“. Die Antwort des UKE in einem Schreiben vom 12. August sei keine, erklärte die Initative in einer Mitteilung. Das UKE habe lediglich auf Bürgerschaftsdrucksachen verwiesen. „In den Räumen des Instituts für Rechtsmedizin ist gefoltert worden“, wird der Sprecher der Initiative, Daniel Manwire, zitiert. Püschel und seine Mitarbeiter hätten sich den Einsätzen verweigern können und müssen.


Ebenso wie die Linksfraktion in der hamburgischen Bürgerschaft fordert die Initiative eine Entschuldigung der Verantwortlichen und die Einrichtung eines „würdigen Gedenkortes“ für Achidi John und die anderen von der Brechmittelfolter Betroffenen auf dem Gelände des UKE. Daraus dürfte aber nichts werden. Ein entsprechender Antrag der Linken in der Bürgerschaft wurde abgebügelt. Von Vertreter*innen der SPD und der Grünen gab es Worte des Bedauerns, entschuldigen wollten sie sich nicht.

Olaf Scholz wird vermutlich weiterhin gut schlafen können, da er sich wohl – wie immer – nichts vorzuwerfen hat. Das Hermetische seiner Auffassungen macht Angst, mir jedenfalls. Ein langjähriger Abgeordneter der Linken in der Bürgerschaft erzählte mir einmal eine Begebenheit, die viel über den Sozialdemokraten aussagt. Er habe versucht, Scholz seinen Standpunkt zu erläutern, darauf habe dieser zu ihm gesagt: „Das weiß ich doch alles schon. Da sagen Sie mir nichts Neues.“ Diese felsenfeste Überzeugung, alles besser zu wissen, kann gefährlich sein – vor allem wenn jemand an den Hebeln der Macht sitzt. 

#Foto: Wikimedia Commons

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24. November 2016: Vor genau fünf Jahren unterzeichnete der kolumbianische Staat ein Dokument, welches einen 50 Jahre langen aufständischen Bürgerkrieg beenden sollte. Die Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens, besser bekannt als FARC-EP, setzten sich mit ihren jahrzehntelangen Feinden zusammen an den Verhandlungstisch.

Während 7.000 Guerrilerxs der FARC-Guerilla ihre Waffen in der aufrichtigen Hoffnung auf Frieden abgaben, hatte der Staat seine ganz eigene Motivation. Die kolumbianische Elite erkannte: Ein Krieg gegen Kommunisten ist schlecht fürs Geschäft.

Das Abkommen machte den Menschen Hoffnung auf Frieden und Wandel, gleichzeitig badete sich der derzeitige Präsident Juan Manuel Santos im Rampenlicht der internationalen Presse; Santos wurde mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.

Jetzt, 2021, ist am vergangenen Montag der UN-Generalsekretär im Land eingetroffen, um sich mit den Opfern des bewaffneten Konfliktes, Regierungsdelegierten und ehemaligen hochrangigen Führern der FARC-EP zu treffen. Am Mittwoch, dem 24. November, dem fünften Jahrestag der Unterzeichnung des Friedensabkommens, wird es einen großen Festakt geben. Was genau gefeiert wird ist unklar, denn Frieden gibt es in Kolumbien keinen.

Im Jahr 2016 war die FARC-EP bereit, ihre Waffen abzugeben. Jetzt werden unbewaffnete, ehemalige FARC-Veteranen erschossen. Systematische Morde an ehemaligen FARC-Guerilleros erschüttern das Land. Wenn der derzeitige Trend der gezielten Tötungen anhält, werden etwa 1.600 ehemalige FARC-Gueriller@s bis Ende 2024 ermordet werden, teilte das kolumbianische Tribunal für Übergangsjustiz am 28. April 2021 mit. Bereits jetzt wurden seit dem Friedensvertrag über 260 ehemalige FARC Mitglieder ermordet. Ehemalige FARC-EP-Gueriller@s fürchten um ihr Leben, während die Überzeugung, dass das so genannte Friedensabkommen auf einer Illusion beruht, immer mehr an Popularität gewinnt.

Nicht alle fügen sich diesem Schicksal. Der bittere Verrat am Friedensvertrag seitens des Staates war für viele ehemalige Mitglieder, Kommandeur:innen und Gueriller@s der FARC-EP und der mit ihrem verbundenen Kommunistischen klandestinen Partei Kolumbiens (PCCC) der Anlass, den bewaffneten Kampf wieder aufzunehmen. Derzeit sind die Strukturen der „neuen“ FARC-EP landesweit in 138 Gemeinden präsent, was auf ein enormes Wachstum seit 2016 hinweist, dem Jahr, in dem der Friedensprozess zwischen der „alten“ FARC-EP und der kolumbianischen Regierung abgeschlossen wurde.

Tausende zerrissen den Vertrag in zwei Teile und griffen wieder zu den Waffen. Die „Partei der Rose“, die legale Partei aus ehemaligen FARC Mitgliedern, verlor viele ihrer Mitglieder. Die einflussreichsten FARC-Kommandeure Jesus Santrich und Iván Márquez kehrten in die Berge zurück, um die Gründung der FARC-EP bekannt zu geben: Die Zweite Marquetalia. Fast täglich gibt es Gefechte. Frieden in Kolumbien eine Illusion.

Frieden gibt es in dem Land schon allein deswegen keinen, weil die FARC und der Staat nicht die einzigen Parteien im Krieg sind, und rechte Paramilitärs, die für die überwiegende Anzahl an politischen Morden verantwortlich sind, Kartelle und der Staat selbst immer noch einen bewaffneten Kampf gegeneinander und das Volk führen. Wie instabil der Status Quo aktuell ist, wurde während des Nationalstreiks 2021 und dem anschließenden Volksaufstand als Reaktion auf Polizei- und paramilitärischer Gewalt deutlich. Mindestens 84 Menschen wurden getötet, über 1.790 verwundet und 3.274 verhaftet. Dazu kommen 106 geschlechtsspezifische Gewaltakte.

Der Besuch von dem UN-Generalsekräter António Guterres findet inmitten einer Welle der Gewalt statt. Allein 2021 wurden  mehr als 150 Aktivisten und seit der Unterzeichnung des Friedensabkommens 1270 sozialen Aktivisten ermordet. In Kolumbien gibt es das Sprichwort: „Es ist weniger gefährlich in die Berge zu gehen (sich der Guerilla anzuschließen), als eine Gewerkschaft zu gründen.“ Die kolumbianische Bevölkerung und vor allem die Revolutionäre Bewegung ist sich bewusst, dass über die verfaulte bürgerliche Demokratie die korrupte Herrschaft der Oligarchen nicht überwunden werden kann. Aus diesem Grund sind die einzigen konstanten Kriegsparteien in dem über 50 Jahre dauernden Bürgerkrieg die Kommunistischen Guerilla und der Staat. 

# Titelbild: Juan Manuel Santos, ehem. Präsident von Kolumbien und Rodrigo Londoño Echeverri, alias «Timoleón Jiménez“ von den FARC, 2016

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In der Schweiz beginnt ein großer politischer Prozess. Andrea, Kommunistin, Mitglied des Revolutionären Aufbaus Schweiz und Sekretärin der Roten Hilfe International, soll sich ab dem 18. November vor Gericht u.a. für Angriffe auf Institutionen des türkischen Staates verantworten. Ein Prozess, der nicht nur von den Schweizer Sicherheitsbehörden forciert wird.
Ein Interview mit der Angeklagten.

Erst einmal viel Kraft für den nun beginnenden Prozess gegen dich. Was wird dort eigentlich verhandelt?

Es geht hauptsächlich um zwei Sachen: Ein Angriff mit Pyrotechnik gegen das türkische Generalkonsulat in Zürich im Winter 2017 und verschiedene Delikte während Mobilisierungen in Zürich während des Covid-Lockdowns im Frühling 2020. Der Prozess findet vor dem Bundesstrafgericht in Bellinzona statt, weil beim Angriff gegen das Konsulat sog. „Unkonventionelle Brand- und Sprengvorrichtungen“ zum Einsatz kamen, bei denen jeweils der Bund die Ermittlungen und Strafverfolgung übernimmt.

In welchem Kontext fanden die Angriffe auf türk. Institutionen statt?

Der Angriff auf das türkische Generalkonsulat fand zeitgleich mit dem „World Economic Forum“ in Davos statt, dem jährlichen internationalen Stelldichein der Herrschenden. Damals waren hochrangige Minister der AKP in den Bündner Bergen zu Besuch, um ihre wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zu pflegen und sich grünes Licht für ihre Angriffskriege bei den anwesenden imperialistischen Kräften zu holen – wie ein Jahr später gegen Afrin.

Welche Rolle spielt der türkische Staat bei diesem Prozess?

Der türkische Staat ist die treibende Kraft in diesem Verfahren. Er hielt über seine diplomatischen Vertreter_innen in der Schweiz den Druck im Verfahren stets aufrecht: Angesichts der kümmerlichen Beweislage bezüglich dem Angriff gegen das türkische Generalkonsulat versuchte die Bundesanwaltschaft mehrfach diesen Teil des Verfahrens einzustellen. Stets intervenierte die türkische Diplomatie, um eine solche Einstellung zu verhindern.

Derlei Interventionen sind kein Alleinstellungsmerkmal des Prozesses gegen mich oder andere Genossen und Genossinnen. Vielmehr ist allgemein zu beobachten, dass Versuche der Kriminalisierung der praktischen internationalen Solidarität in Westeuropa eine Front des türkischen Staats in ihrem Krieg niedriger Intensität gegen die kurdisch-türkische Linke ist. Wir verweisen dazu auf die Erklärung der Roten Hilfe International, welche diese Zusammenhänge ausführlich beleuchtet – der Prozess zielt auf Andi, bedeutet aber einen Angriff auf Rojava.

Was bedeutet dieser Prozess der Klassenjustiz für die revolutionären Kräfte in der Schweiz?

Hier könnte man zwei Sachen ansprechen. Erstens: Getroffene Hunde bellen – die Angriffe gegen die Institutionen des türkischen Staats treffen ins Schwarze, provozieren große Reaktionen. Wieso? Weil es ihren Nimbus der Macht durchbricht, weil es ihre Propaganda als hohl entlarvt, weil es aufzeigt, dass die Front jene, die gegen ihre Politik stehen, breit ist.

Zweitens: Die Dinge sind volatiler als man denkt – entsprechend die Reaktion des bürgerlichen Staats in der Covid-Pandemie. Die Widersprüche spitzen sich weltweit zu einer historischen politischen Krise zu, das ist nicht nur in der Schweiz so. Darin ist der Ausbau von Instrumenten zur präventiven Aufstandbekämpfung – wie Staatsschutz, Polizei, Militär – nur ein Ausdruck. Diese «Brüche» sollten wir als Linke genau verfolgen, antizipieren und unsere Strategien entsprechend ausrichten.

Wie ist eure Prozessstrategie?

Es ist klar, dass dieser Prozess ein politischer Prozess ist – die Konfrontation vor den Schranken der Klassenjustiz beschränkt sich nicht auf eine juristische Ebene, sondern ist hochpolitisch. Mit der Kampagne zum Prozess wollen wir diesem Charakter Rechnung tragen – wir kehren den Spieß um und richten den Angriff auf den Kapitalismus, den schweizer und den türkischen Staat! Dazu gehört zum Beispiel die Vertiefung der internationalen Solidarität mit Rojava – nicht nur angesichts der aktuellen akuten Bedrohung eines neuen Angriffskriegs in Nordostsyrien durch das türkische Militär oder der Giftgaseinsätze in den nordirakischen Bergen, wo die freien Berge der PKK-Guerilla liegen, sondern auch angesichts der Bedeutung des revolutionären Prozesses in Rojava, welcher seit bald zehn Jahren weltweit ausstrahlt und die revolutionäre Linke inspiriert.

Dazu gehört auch die konsequente Kritik des bürgerlichen Staats als Herrschafts- und Gewaltinstrument der bürgerlichen Klasse, dessen Charakter im Umgang mit der Covid-Pandemie für viele fassbar wird – ihrem Schutz der Interessen des Kapitals stellen wir den selbstorganisierten Schutz der Menschen gegenüber, also ein System, in dem der Schutz des schwächsten Gliedes der Gesellschaft im Zentrum, steht oder wo die schwächeren Länder und Kontinente durch die reicheren in den Zentren solidarisch getragen werden. Eine Gesellschaftsformation, in der wir die Dinge in die eigenen Hände nehmen. Dazu haben wir jeweils inhaltliche Veranstaltungen organisiert, zudem treffen laufend Solidaritätsaktionen ein, die auf unserer Homepage gesammelt werden.

Was sind eurer Meinung nach die Aufgaben der revolutionären Kräfte in Europa im Bezug auf die internationalen Kämpfe, beispielsweise in Kurdistan? Wie ist das jeweilige Verhältnis und welche Aufgaben resultieren daraus für euch?

Wenn wir den großen geostrategischen Kontext mit all seinen Widersprüchen und kriegerischen Auseinandersetzung betrachten und darin wiederum die Rolle der sich entwickelnden reaktionären, faschistischen Strömungen, anschauen, dann erkennen wir ohne Zweifel, dass in der historischen Phase von «Sozialismus oder Barbarei» alle revolutionären Kräfte sich zwingend einheitlicher und geschlossener positionierend aufstellen müssen. Es geht darum, die Einheit ins Zentrum zu setzen und den objektiven Bedingungen wie auch subjektiven Ungleichzeitigkeiten Rechnung tragend, einen internationalen strategischen Strang zu entwickeln. In diesem Strang lässt sich der revolutionäre Prozess im eigenen Land mit solchen wie in Kurdistan dialektisch aufeinander beziehen und sich auch hier konkret niederschlagen. Bestimmt ist davon ein Teil auch der sich ausbreitende türkische Faschismus. Kampagnen wie #riseup4rojava oder #fight4rojava sind Ansätze dazu.

Die letzten Worte gehören dir.

Lasst uns uns gemeinsam gegenüber den konterrevolutionären Angriffen auf alles, was sich in diesem und anderen Kontexten entwickelt, aufstellen, vereint den Spieß umdrehen und unsere internationalen Prozesse verstärken.

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Am 27. November findet in Berlin eine Demonstration der Initiative „PKK-Verbot aufheben!“ für die Entkriminalisierung der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) statt. Das LowerClassMagazine sprach mit der Initiative über ihre Ziele, Forderungen und die letzten Informationen zum Stand der Vorbereitungen.

Was für Ziele verfolgt ihr als Initiative „PKK-Verbot aufheben!“?

Wir sind ein Netzwerk von politisch aktiven Menschen, die der Meinung sind, dass das PKK-Verbot in Deutschland umgehend aufgehoben werden muss. Und dass die PKK umgehend aus der EU-Terrorliste genommen werden muss. Wir möchten über das PKK-Verbot, seine Geschichte und Auswirkungen sowie den politischen und juristischen Kampf dagegen informieren. Um ein bisschen konkreter zu werden und Zahlen zu nennen: Aufgrund des PKK-Verbots haben alleine in den letzten fünf Jahren über 800 Verfahren wegen Mitgliedschaft und Unterstützung einer terroristischen Vereinigung stattgefunden, 18 Menschen haben aufgrund des Verbots hier in Deutschland ihr Leben verloren, wie zum Beispiel der 17-jährige Halim Dener, der 1994 beim Plakatieren gegen das Verbot von hinten erschossen worden war. Allgemein stellt das PKK-Verbot eine staatlich institutionalisierte Diskriminierung der kurdischen Gesellschaft hier in Deutschland dar, so wurde in den neunziger Jahren pauschal in jedem Bericht der deutschen Medien über die kurdische Gesellschaft von „den Terrorkurden“ geredet, gleichzeitig verhindert die Bundesrepublik somit gezielt, dass sich demokratische Lösungen für die kurdische Frage weiterentwickeln können.

Deswegen ist es ein weiteres großes Ziel unserer Initiative, dass wir Menschen dazu ermutigen, selbst aktiv zu werden und ihre Mitmenschen über die Auswirkungen des Verbots zu informieren. Wir wollen die Menschen dazu aufrufen sich mit der PKK an sich auseinanderzusetzen und anhand dessen eine Diskussion zu führen, statt weiterhin pauschal die stumpfe Diffamierung unkritisch zu übernehmen.

Am 27. November ladet ihr zu einer bundesweiten Demonstration gegen das PKK-Verbot ein. Was sind eure Forderungen?

Wenn man sich das Motto unserer Demonstration „PKK-Verbot aufheben! Krieg beenden – politische Lösung fördern!“ genauer anschaut, werden unsere Forderungen schnell offensichtlich sein. Das Betätigungsverbot der PKK muss umgehend aufgehoben werden. Sprich alle Organisationen und Unterorganisationen der Arbeiterpartei Kurdistans müssen umgehend legalisiert werden. Alle politischen Gefangenen müssen umgehend freigelassen werden, die laufenden Verfahren müssen fallen gelassen werden und der §129 a/b des Strafgesetzbuches muss gestrichen werden.

Mit „Krieg beenden – politische Lösung fördern!“ meinen wir, dass der militärische Krieg der in Kurdistan gegen die PKK, welcher massiv durch deutsche Waffenlieferungen und militärisches Know-How vorangetrieben wird, sowie der Kampf der Behörden hier in Deutschland gegen die kurdische Freiheitsbewegung sofort eingestellt werden muss. Der Staat muss sich auf den Dialog um eine demokratisch-friedliche Lösung auf die kurdische Frage, welchen die PKK immer wieder angeboten hat, einlassen. Wir fordern also konkret, dass der deutsche Staat die von ihm vorangetriebene Gewaltspirale anhält, sich auf den Dialog mit der PKK einlässt um somit politische Lösungen für die knapp eine Million in Deutschland lebenden Kurdinnen und Kurden aufzubauen. Denn das ist die einzige Möglichkeit um für Frieden, Demokratie und Selbstbestimmung in Kurdistan zu sorgen. 

Im Vorfeld der Demonstration habt ihr in einer Erklärung die Einschränkungen von Grundrechten scharf kritisiert. Könnt ihr uns schildern mit was für Repressionen ihr konkret konfrontiert seid?

Richtig, wir hatten bereits in unserer Erklärung allgemein darüber berichtet, wie der deutsche Staat seit 1993 jegliche Versuche, gegen das PKK-Verbot Öffentlichkeit zu schaffen, zu verhindern und zu diffamieren suchte. Auch wir als Entkriminalisierungsinitiative waren direkt selbst wieder von Kriminalisierung betroffen.

Der Internethost „Strato“ wurde dazu gedrängt unsere Webseite verbot-aufheben.de vom Netz zu nehmen, was ganz klar einen Verstoß gegen unser gutes Recht auf freie Meinungsäußerung darstellt. Monatelange Arbeit und Recherche für diese Webseite wurde somit zunichte gemacht. Dort fanden sich dutzende Artikel zu Entwicklungen bezüglich des Verbots in diesem Jahr sowie unzählige Prozessberichte. Desweiteren mehrere Dossiers, in denen die Auswirkungen des Verbots in den letzten 28 Jahren klar ausgearbeitet wurden, sowie Diskussions-Leitfäden, die es einfach ermöglichten gegen die staatliche Diffamierung der PKK argumentieren zu können. Auch allgemein alle Informationen bezüglich der Demonstration waren dort gesammelt. Nun haben wir zwar einen neuen Blog (https://verbotaufheben.noblogs.org/), doch wird es vermutlich dauern, bis wir wieder so viele Inhalte vorbereiten können.

Auf der anderen Seite wurde auch die Mobilisierung in den sozialen Medien massiv attackiert. Unsere eigenen Accounts wurden gesperrt, die Posts, Tweets und Beiträge solidarischer Gruppen wurden ebenfalls zensiert und teilweise wurden auch ihre Accounts temporär gesperrt. Eine Begründung dafür haben weder wir, noch die anderen Freund:innen erhalten, denn weder wurden verbotene Symbole gezeigt, noch wurde zu Straftaten oder Ähnlichem aufgerufen. Bei allem handelte es sich lediglich um Aufrufe zu unserer Demonstration am 27. November in Berlin. Auch hier werden uns die Grundrechte der Meinungs- und der Versammlungsfreiheit verwehrt. Denn zur Ausübung dieser Grundrechte ist es notwendig im öffentlichen Raum die Forderung der Aufhebung des Verbots lautstark aussprechen zu können. Und auch die Mobilisierungstätigkeit im Vorfeld der Demonstration ist grundrechtlich geschützt, was jedoch auch hier nicht eingehalten wurde.

Könnt ihr uns nochmal den aktuellen Stand der Vorbereitungen schildern? Wo findet man mehr Infos?

Wir befinden uns mittlerweile knapp 2 ½ Wochen vor der Demonstration in der intensivsten Phase der Vorbereitung. Die Demonstration ist angemeldet, wird sich um 12 Uhr sammeln, ab 13 Uhr mit einer Auftaktkundgebung am Hermannplatz beginnen und bis zum Oranienplatz laufen. Aktuell finden bundesweit in vielen verschiedenen Städten Seminare und Informationsveranstaltungen bezüglich der PKK und des PKK-Verbotes statt, parallel dazu werden Busse aus nahezu allen größeren Städten in der Bundesrepublik organisiert, um es für Menschen und Aktivist:innen aus ganz Deutschland zu ermöglichen an der Demonstration teilzunehmen. Desweiteren sind wir gerade damit beschäftigt eine neue Informationsplattform aufzubauen, nachdem, wie ich ja oben oben beschrieben hatte, all unsere Kanäle blockiert wurden. Bisher haben wir dafür im Austausch mit der Nachrichtenagentur ANF viele Informationen und Statements veröffentlichen können, doch nun wird vor allem unser neuer Blog https://verbotaufheben.noblogs.org/ unser zentrales Sprachrohr sein. Alle Informationen bezüglich der Demonstration, der Route, der Busse und der Veranstaltungen werden dort zu finden sein. Für weitere Nachfragen sind wir als Initiative stets unter der Email info@verbot-aufheben.de zu erreichen.

Was kann man jenseits der Demonstration gegen das Verbot tun?

Es gibt sehr viele Möglichkeiten sich sinnvoll gegen das PKK-Verbot einzusetzen. Anfangs sind wir ja bereits auf ein paar Punkte eingegangen. So ist es vor allem wichtig, dass die Menschen mehr aufeinander zugehen, ein Diskurs muss geschaffen werden, in dem man sich mit der PKK und ihren Zielen, Vorstellungen und Praxis auseinandersetzt.

Dabei ist es auch wichtig zu betonen, dass sich das Verbot nicht „nur“ gegen Kurd:innen richtet, sondern allgemein gegen alle Menschen, die sich für einen demokratischen, fortschrittlichen Wandel einsetzen. Wir sehen die klare Verbindung zwischen den §129-Verfahren, mit den wir konfrontiert sind, zu den §129-Verfahren, die gerade in Stuttgart, Frankfurt, Dresden und sonstwo laufen.

Aber auch unabhängig davon sind Prozessbeobachtungen, kleine Aktionen, sowie Demonstrationen zentral wichtig. Dafür ist kein Expertenwissen notwendig und so wird dafür gesorgt, dass die Thematik auf die Agenda der Menschen hier in Deutschland kommt und Druck auf die Regierung ausgeübt wird. Die Wirkung von kleinen solidarischen Aktionen sollte nicht unterschätzt werden und im Gegenteil viel mehr zur Praxis werden. Der Kreativität sind dabei keine Grenzen gesetzt.

Konkret auf die Demonstration bezogen ist aber vor allem auch die Aktionswoche, vom 22. bis zum 26. November, vor der Demo ein guter Rahmen, selbst aktiv zu werden. Es wird bundesweit Bannerdrops, Infostände, Sit-In‘s etc. geben und in den Städten, wo noch nichts geplant ist, rufen wir die Menschen dazu auf, selbst Initiative zu ergreifen. Am letzten Tag der Aktionswoche und am Tag der Demonstration selbst, wird es auf social media einen Twitterstorm geben. Auch dies ist eine Möglichkeit sowohl für Menschen, die sich bereits mit der Thematik auseinandergesetzt haben, aber auch für Menschen, für die das Thema noch komplett neu ist, einfach aktiv zu werden.

Mehr Informationen:

https://verbotaufheben.noblogs.org/

Kontakt:

info@verbot-aufheben.de

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So ziemlich alle in diesem Land dürften mittlerweile wissen, was mit dem Begriff „Streisand-Effekt“ gemeint ist. Für diesen Umstand und für eine überragende bundesweite Bekanntheit seiner selbst hat der Hamburger Innensenator und rechte Sozialdemokrat Andy Grote gesorgt. So gut wie kein Medium lässt es sich nehmen, unter dem Schlagwort „Pimmelgate“ in meist süffisantem Tonfall über die Vorgänge zu berichten, um die es hier geht. Weil er sich von einem harmlosen Tweet bei Twitter vor einigen Monaten beleidigt fühlte, trat Grote eine Lawine los, die ihn jetzt überrollt – so lustig das Ganze auf den ersten Blick wirkt, sollte der Vorgang nicht dazu führen, den Mann nur noch als Clown zu sehen und die Folgen seiner Politik aus dem Blick zu verlieren.

Ehe jetzt jede Menge Leser*innen hektisch zu Wikipedia wechseln, sei der Begriff „Streisand-Effekt“ hier kurz erklärt. Dazu ist es zielführend, den ersten Satz des entsprechenden Artikels der Online-Enzyklopädie wörtlich zu zitieren „Als Streisand-Effekt wird das soziologische Phänomen bezeichnet, wenn der Versuch, eine unliebsame Information zu unterdrücken, das Gegenteil erreicht, indem das ungeschickte Vorgehen eine öffentliche Aufmerksamkeit erzeugt, die das Interesse an der Verbreitung der Information deutlich steigert.“ Besser und treffender kann man nicht ausdrücken, was der auch früher schon nicht durch geschicktes Agieren aufgefallene Grote losgetreten hat.

Woher der Begriff „Streisand-Effekt“ kommt, sei hier auch noch erläutert. Er geht zurück auf einen Vorgang, der von der US-amerikanischen Sängerin, Schauspielerin und Regisseurin Barbra Streisand 2003 ausgelöst wurde, als sie einen Fotografen und die Website Pictopia.com erfolglos auf Zahlung von 50 Millionen US-Dollar Schadensersatz verklagte. Und zwar ging es ihr darum, dass auf einer der auf der Website veröffentlichten 12.000 Luftaufnahmen der Küste Kaliforniens, die die Küstenerosion für das „California Coastal Records Project“ dokumentierten, Streisands Haus zu sehen war. Natürlich hatte das keine Sau gewusst – erst durch die Klage verbreitete sich das Foto lawinenartig im Internet und alle wussten, wo das Luxusanwesen der guten Barbra steht. Früher nannte man das ein klassisches Eigentor, ab da halt „Streisand-Effekt“.

Wie das bei Grote lief, dürfte allgemein bekannt sein. Der Account einer Fankneipe des FC St. Pauli schrieb bei Twitter in Richtung des Senators: „Du bist so 1 Pimmel.“ Es folgte ein Strafantrag Grotes gegen diese „Beleidigung“ und eine Hausdurchsuchung, die dem vermeintlichen Autor des Tweets galt. Richtig Fahrt bekam die Sache, als Aufkleber mit dem Slogan auf St. Pauli auftauchten, die Polizisten abkratzen mussten, und der Satz aus dem Tweet schließlich Ende Oktober groß auf einer Plakatwand des autonomen Zentrums Rote Flora im Schanzenviertel landete. Zweimal rückte die Polizei an, um ihn zu übermalen, die Aufschrift wurde jedesmal erneuert, so dass die Polizei das Übermalen schließlich aufgab.

Natürlich ist Schadenfreude über das saudämliche Verhalten von Andy Grote durchaus angebracht. Auf der anderen Seite ist es nicht ganz ungefährlich, dass der Vorgang die Beurteilung des Sozialdemokraten ins Lächerlich-Harmlose verschiebt. Denn was der Mann, der im rechten Flügel der insgesamt schon rechten Hamburger Sozialdemokratie sozialisiert wurde, in den vergangenen Jahren angerichtet hat, ist nicht harmlos. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, sei hier darauf verwiesen, dass er der verantwortliche Senator für den gigantischen Polizeieinsatz zur Absicherung des G-20-Gipfels im Sommer 2017 gewesen ist.

Unvergessen ist Grotes faustdicke Lüge, der Gipfel werde ein „Festival der Demokratie“ sein. Tatsächlich wurden Grundrechte massiv eingeschränkt, etwa durch die Einrichtung einer großen Demo-Verbotszone. Die Polizei ging gegen Camps von Gipfelgegnern vor, auf die massive Gewalt gegen Demonstrant*innen von Anfang bis Ende des Gipfels und auf die Zustände in der Gefangenensammelstelle muss hier nicht näher eingegangen werden, weil darüber bereits genug geschrieben wurde. Der Hamburger Innensenator bekam damals zu Recht einen Spitznamen verpasst: „Verbote-Grote“. Er erwies sich damals als braver Kettenhund seines „Masters“, des damaligen Ersten Bürgermeisters Olaf Scholz, der sich gerade anschickt, Bundeskanzler zu werden. Das sollte man bei allem berechtigten Gelächter über „Pimmelgate“ nicht vergessen.

Was der G-20-Gipfel und auch die nachfolgende Fahndungswut der Soko „Schwarzer Block“ vor allem gezeigt haben: Grote und seine Polizei sind nicht zimperlich, wenn es gegen Linke geht. Da schert man sich nicht um die Gesetze, wie zum Beispiel die fragwürdigen Öffentlichkeitsfahndungen nach Gipfelgegnern gezeigt haben. Auch bei Demonstrationen wird im Zweifelsfall ordentlich hingelangt, wie sich etwa bei der Auflösung der „Welcome to hell“-Demo zu Beginn des Gipfels gezeigt hat. Und das ist eigentlich der Punkt: Es ist mehr als grotesk, wenn ein Politiker und eine Polizei, die dermaßen austeilen, sich über die Bezeichnung „Pimmel“ aufregen.

Selbst Andy Grote geht zum Schlagermove, trägt dort eine bunte Kette und einen dummen Hut –
Selbst Andy Grote geht zum Schlagermove, pisst vor seine eig’ne Haustür –
Was für ein Idiot! Was für ein Idiot! Was für ein Idiot!“ (Oidorno, 2019)

# Titelbild: Rasande Tyskar, Hamburg, 24.10.21, Attribution-NonCommercial 2.0 Generic (CC BY-NC 2.0)

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Kann sich noch jemand an den Türknauf des Todes erinnern? Am 29. Juni 2017 wurde der Kiez- und Nachbarschaftsladen Friedel54 geräumt. Die Polizei behauptete während der Räumung auf twitter, die Besetzer*innen des Ladens hätten einen Türknauf unter Strom gesetzt: „Lebensgefahr für unsere Kolleg. Dieser Handknauf in der #Friedel54 wurde unter !Strom! gesetzt. Zum Glück haben wir das vorher geprüft.“ Dass das natürlich frei erfundener Quatsch war, war egal. Ist die Sache erst Mal in der Welt, gerade von einer privilegierten Quelle, wie der Polizei, wurde das Gerücht in die Welt gesetzt und verbreitete sich wie ein Lauffeuer.

Die Liste an absurden Falschbehauptungen der Polizei ist lang, gerade wenn es um vermeintliche „linke Gewalttäter“ geht. In Säure getunktes Konfetti, Clowns, die Säure mit Wasserpistolen versprühen, Molotov-Cocktail-Würfe im Schanzenviertel während der G20-Proteste usw. usf. Dennoch gilt die Polizei, wie gesagt, als privilegierte Quelle, das heißt, Quellen, von denen Journalist*innen annehmen können sollen, dass ihre Angaben der Wahrheit entsprechen. Polizeibehörden, Staatsanwaltschaft und auch Nachrichtenagenturen gehören dazu.

Die Wirkmacht dieser Priviligierung zeigt sich aber auch über das Verbreiten von Falschmeldungen hinaus. Vergangenen Sonntag gab es in Berlin-Schöneberg ein Straßenfest von demlinken Hausprojekt Rote Insel. Dort kam es nach übereinstimmenden Berichten, sowohl von der Polizei, als auch von Augenzeug*innen zu einer Festnahme. Ab hier unterscheiden sich die Darstellungen aber gewaltig. Die Polizei (und die bürgerliche Presse) berichten von Angriffen auf Polizeibeamt*innen, die Springerpostille BZ schreibt ein Mob habe die Polizei durch die Straßen gejagt.

Ein Augenzeuge, mit dem das lowerclassmagazine sprach und der anonym bleiben will, schilderte die Situation anders: „Eigentlich war das ganze Fest ziemlich entspannt, […] bis dann die Polizei einen Typen festgenommen hat. Das war ganz schön brutal, die saßen zu dritt auf ihm drauf. Das war dann eigentlich auch noch kein Drama, die Leute standen halt drumherum und haben gepöbelt.“

„Dann kam ein ziemlicher großer Bulle und und hat links und rechts Faustschläge ausgeteilt. Das war dann die Situation, wo es eskaliert ist. Danach waren die Leute halt sauer, auch weil die anderen Bullen auch angefangen haben Schläge zu verteilen und zu pfeffern.“

Dieses Statement deckt sich weitestgehend mit einem vom Jugendclub Potse veröffentlichten Tweet: „Gegen 17 Uhr rannte ein Trupp Polizisten auf den Spielplatz in der Mansteinstr. auf welchen zu dem Zeitpunkt Kinder gespielt haben und nahmen eine Person brutal fest. Das Gesicht der Person wurde in den Sand gedrückt, nachdem ihm ins Gesicht geschlagen wurde. Menschen die sich über die massive Gewalt beschwert haben wurden von der Polizei mit Schlägen und Tritten traktiert. Dabei nahm die Polizei eine weitere Person fest. Als die Polizei die Menschen in den Mannschaftswagen gebracht hat, wurden sie von einer empörten Menge aus der Straße gedrängt. Beide der festgenommen Personen wurden in der Wanne mehr mehrfach von verschiedenen Polizisten misshandelt. So wurde der Kopf einer der Personen mehrfach gegen die Scheibe geschlagen, die andere Person lag auf dem Boden des Wagens und ihr wurde auf den Kopf getreten.“

Auch dass der Festgenommene im Polizeiwagen misshandelt wurde, konnte bestätigt werden. Ein dem lowerclassmagazine zugesandtes Video zeigt eindeutig, wie der Kopf der gefesselten Person mehrfach gegen das Fenster geschlagen wird:

https://twitter.com/LowerClassMag/status/1424768987699814404

Jetzt kann man sagen, dass das was bisher in der bürgerlichen Presse veröffentlicht wurde, und weitestgehend ein Nachplappern der Polizeimeldung, bzw. dem Stuss der Polizei“gewerkschaft“ GdP, besteht, keine Falschmeldung wie die eingangs beschriebenen ist. Schließlich wurde die Polizei offensichtlich angeschrien und verfolgt, schließlich wurde ja – beide Seiten kommen zu Wort – der Tweet der Potse zitiert. Aber wenn Statements, wie das vom Jugendclub Potse zitiert werden, passiert dies unter der Prämisse, dass erst einmal die Behauptungen der Polizei widerlegt werden müssen.

Ohne Einordnung und Ergänzung durch Infos, wie dem uns zugespielte Video oder die Nachfrage bei Leuten vor Ort, Pressemitteilungen von linken Kollektiven, wie der Roten Insel usw., wird dann im Endeffekt wegen der „Privilegierung“ der Polizei als Quelle am Ende die halbe Wahrheit und zwar die der Polizei verbreitet. Denn diese hat darüber hinaus wegen Ihrer zunehmend professionellen Pressearbeit und dem traditionell guten Draht zu bürgerlicher Presse wie Tagesspiegel, rbb, dpa oder reaktionären Hetzern wie der BZ (die alle Artikel zum Vorfall am Sonntag veröffentlichten) sowieso einen Vorsprung in Reichweite, Schnelligkeit und Kontakten, den auch social media nicht ausgleichen können. So wird am Ende immer Polizeigewalt legitimiert, weil die Logik der Polizei immer mehr Gewicht bekommt, als die Erfahrungen und Einschätzungen von Menschen, die Polizeigewalt erfahren oder sie beobachten und sich immer erst durch das Dickicht an gesponnenen Halbwahrheiten durchschlagen müssen, bevor sie gesehen oder gehört werden.

Deswegen dokumentieren wir unten stehend die Pressemitteilung der Roten Insel zu den Geschehnissen am Sonntag, wer wissen will, was die Polizei zu der ganzen Sache sagt, kann die bürgerliche Presse lesen. Der Tweet zum Türknauf des Todes übrigens wurde erst gelöscht, als zwei Kollektivmitglieder des Friedel54 Kollektivs dagegen klagten.

# Titelbild: Polizist schlägt gefesselten Festgenommenen, Quelle: privat

Pressemitteilung: Brutaler Polizei-Übergriff bei linkem Straßenfest

Am 08. August 2021 kam es in der Nähe des „Rote Insel“-Festes unter dem Motto „Kiezkultur von unten“ zu Angriffen der Berliner Polizei. Gegen 17 Uhr verfolgten mehrere Polizeikräfte eine Person, die sich in der Nähe der Kundgebung aufhielt und warfen diese auf einem Spielplatz in der Mansteinstraße brutal zu Boden. Dabei drückten sie deren Gesicht in den Sand und knieten mit mehreren Beamten auf dem Kopf und dem oberen Halsbereich. Zudem schlugen sie auf die wehrlose Person ein. Kinder, die kurz zuvor noch dort gespielt hatten, rannten verängstigt mit ihren Eltern vom Spielplatz. Laut eines der festnehmenden Beamten erfolgte die Maßnahme wegen eines vermeintlich geklebten Stickers auf einem Straßenschild. Schnell solidarisierten sich zahlreiche Menschen mit der am Boden liegenden Person. Es kam zu verbalen Auseinandersetzungen, die von den Polizeikräften mit Schlägen, Tritten und Pfefferspray beantwortet wurden. Auf diese Weise trugen die Beamt:innen massiv zur Eskalation der Situation bei. Besonders der laut Presseberichten später verletzte Beamte schlug laut Augenzeug:innenberichten zuvor willkürlich auf Personen mit der Faust ein. Auf jetzt veröffentlichten Videos ist zu sehen, wie eine der festgenommenen Personen im Polizeifahrzeug vom Beamten mit der Nummer 11331 mehrfach ohne Grund mit dem Kopf gegen Seitenscheibe und Sitz geschlagen wird. Eine andere festgenommene Person berichtet laut Jugendzentrum Potse von Tritten gegen ihren Kopf im Einsatzfahrzeug. Während die festnehmenden Kräfte kurzzeitig den Bereich verließen, verblieben andere Beamte ohne Probleme auf dem Straßenfest. Nach dem Zwischenfall wurde die bis dahin ebenfalls ruhige Kundgebung ohne weitere Vorkommnisse fortgeführt. Im späteren Verlauf wurde eine dritte Person festgenommen und von der Polizei kriminalisiert.

Zu der Eskalation der Polizeigewalt sagt Anna Schönberg, Sprecherin des Organisationskreises des „Rote Insel“-Fests: „Es ist entsetzlich mit welcher Gewalt die Berliner Polizei selbst auf einem Kinderspielplatz gegen Personen wegen einer vermeintlichen Ordnungswidrigkeit vorgeht. Das widerspricht jeglicher Verhältismäßigkeit. Und jetzt wird versucht, die Tatsachen zu verdrehen. Berlin hat kein Problem mit Gewalt gegen die Polizei, sondern ein Polizeiproblem. Jeder Angriff am Sonntag ging von den Polizeikräften aus, die danach noch wehrlose Gefangene vermutlich aus Rache misshandelten. Es scheint inzwischen eine regelrechte Taktik zu sein, linke Veranstaltungen unter fadenscheinigen Gründen zu zerschlagen und deren Teilnehmende zu drangsalieren. Die gleiche 11. Hundertschaft hat schon am 05. Juni friedliche Menschen bei den Protesten gegen den AfD-Landesparteitag ins Krankenhaus geprügelt.“

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Vor 20 Jahren haben wir uns mit hunderttausenden Menschen aus der ganzen Welt in Genua getroffen. Wir haben den selbsternannten Repräsentanten des globalen Nordens, den politischen Vertretern der acht reichsten Industrienationen und der multinationalen Konzerne, die sie vertreten – den sogenannten „G8“ – unser „NEIN!“ entgegen geschleudert. Unser „NEIN!“ zu ihrer Plastikwelt, die jegliches Allgemeingut zu Ware macht, an der Menschen nur noch als Produzent*innen des Reichtums für einige Wenige teilnehmen dürfen. Unser „NEIN!“ zu ihrer patriarchalen Welt, auf der nur ein kleiner Teil der Bevölkerung das Recht auf Ernährung, Bildung, körperliche wie psychische Unversehrtheit hat. Unser „NEIN!“ zur tödlichen Logik des Kapitalismus.

Wir, die wir uns in Genua trafen, waren geeint durch die Hoffnung und die Entschlossenheit für eine andere Welt zu kämpfen. Wir waren inspiriert von den Stimmen der zapatistischen Befreiungsbewegung aus dem lakadonischem Urwald, die 1994 „Eine andere Welt ist möglich!“ ausrief. Wir waren inspiriert von den Protesten in Seattle, Göteborg und Prag, waren Teil der Weltsozialforen und unserer jeweiligen lokalen, sozialen Kämpfe.

Wir erinnern uns an die Aufbruchstimmung, das Gefühl von Hoffnung und unseren starken Willen, ein Zeichen der Solidarität zu setzen, welches in den Ländern des globalen Südens gehört wird. Gehört von denen, die vom Profit der neuen modernen Marktwirtschaft ausgeschlossen werden. Unser „NEIN!“ war unser Statement, dass das, was hier geplant wird, nicht in unserem Namen geschieht.

Heute schauen wir auf die ersten 20 Jahre des neuen Jahrtausends zurück. Eine Zeit, von der die Generationen, die vor uns soziale Kämpfe geführt haben, hofften, dass die Menschheit reif genug wäre, ein Leben in Freiheit, Würde, sozialer und ökologischer Gerechtigkeit zu leben. Wir erlebten den Beginn des neuen Jahrtausends mitten in einem rasanten globalpolitischen, industriellen, technologischen und geopolitisch-militärischen Wandel.

Eine Zeit im Umbruch, von der wir wussten, dass sie eine Fortführung der Ausbeutung armer Länder mit modernsten Mitteln, der Plünderung und Verwüstung der Erde in nie da gewesenem Ausmaße, eine Profitmaximierung für die ohnehin schon wohlhabenden Teile der Welt bedeuten wird. Eine Zeit, von der sie sagten, dass sie das „Ende der Geschichte“ sei, dass sich global die freie Marktwirtschaftsordnung und der Wettbewerb durchsetzen werden. Die Zeit des globalen Neoliberalismus, den sie uns als Allheilmittel gegen Armut, Krankheit und Krisen in der Welt verkaufen wollten.

Zu alldem haben wir kollektiv „NEIN!“ gesagt. Wir, die Bewegung der neuen globalen außerparlamentarischen Opposition, die zwar kein gemeinsam definiertes Ziel, aber ein gemeinsames Gefühl einte: „Es muss jetzt etwas passieren!“.

Die Antwort der Herrschenden in Genua folgte ihrer eigenen brutalen Logik: Auf die Köpfe, die sie nicht gewinnen konnten, schlugen sie ein, die lauten Stimmen für eine andere Welt sollten zum Schweigen gebracht, die wachsende „Bewegung der Bewegungen“ zerschlagen werden. Carlo wurde erschossen. Tausende wurden verletzt, Hunderte verhaftet und Dutzende gefoltert. In der Bolzaneto-Kaserne, in der Diaz-Schule, auf den Polizeistationen und im Gefängnis Marrassi
Das haben wir nicht vergessen – und auch nach 20 Jahren nicht vergeben.

Wir leben mit der Erinnerung an diese Tage in den Straßen von Genua und denken dabei nicht nur an die Menschenjagden der Carabinieri, die Angst und die Ohnmacht und Ihre entfesselte Gewalt. Wir leben mit der Erinnerung an die Tage der Folter und der tristen Wochen in den Gefängnissen Pontedecimo und Marassi und denken dabei an Freundschaft und Solidarität. Wir leben mit der Erinnerung an die Demütigung und die Schmerzen, die sie uns zugefügt haben und denken dabei an die Schönheit entschlossener Menschen in Bewegung.

Wir haben in den letzten 20 Jahren viele Herrscher*innen kommen und gehen gesehen, konservative Regierungen, die für autoritäre Rollbacks sorgten und ihre sogenannten Oppositionen, die Hoffnungen weckten und nach einem schnellen Strohfeuer nur Glut und Asche hinterließen. Wir haben die Finanzkrisen gesehen, ausgelöst durch skrupellose Trader, die an den Roulette-Tischen der Börsen ihr Spiel nach den Regeln des freien Marktes auf Kosten der Allgemeinheit zocken. Wir haben das Kommen und Gehen der Wunschkandidaten der Märkte gesehen, ihr Handeln und ihr Wirken, das Erstarken neuer rechter Bewegungen, angeführt von Horrorclowns, die soziale, feministische und progressive Ansätze bekämpfen. Rund um den Globus befanden sich Menschen im Aufstand gegen ihre Regierungen, ihre Niederlagen hatten oft noch mehr Staatsterror, Bürgerkriege und totalitäre Regime zu Folge.

Wir erleben aber auch, das progressive und feministische Gesellschaftsmodelle zukunftsfähig sein können, wenn sie ausgebaut, diskutiert, hinterfragt, verteidigt werden und internationale Solidarität erfahren. Wir grüßen von hier aus die permanente Revolution in Rojava, die in Nordsyrien eine basisdemokratische, säkulare Gesellschaft erschafft und natürlich die zapatistischen Compas aus Mexico, die derzeit als Träger*innen des Virus der Rebellion die sieben Kontinente bereisen.

Wir grüßen die Aktivist*innen, die in diesen Zeiten das Richtige tun und Menschen, die sich auf ihrer Flucht vor Hunger, Krieg und Perspektivlosigkeit auf den Weg nach Europa machen, im Mittelmeer vor dem Ertrinken retten. Wir grüßen die jungen Menschen, die rund um den Globus für Klimagerechtigkeit demonstrieren. Wir grüßen die Aufständischen in Chile, die das Vorzeigeland des Neoliberalismus erschüttern. Wir grüßen die Menschen, die in ihrer Region der Erde für eine menschenwürdige, gerechte Zukunft kämpfen.

Das, was im Sommer 2001 schlecht war, ist heute noch beschissener. Wir leben inmitten einer weltweiten Pandemie und dem Beginn einer Klimakatastrophe, deren Auswirkungen wir nur erahnen können. Die Hauptleidtragenden sind diejenigen, die am Wenigsten zur Ausbeutung des Planeten beigetragen haben und nun den Folgen ungeschützt ausgeliefert sind.

In atemberaubender Geschwindigkeit funktionieren weltweite Produktions-, Liefer- und Handelsketten, abgesichert durch miese Abkommen, die den Industrienationen Überfluss, Ressourcen und gigantische Profite garantieren und den Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas Hunger, Armut und Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen bescheren. Die, deren Medien-Show wir im Sommer 2001 in Genua verhindern wollten, hinterlassen eine Spur der Verwüstung, die Teile unseres Planeten schon jetzt unbewohnbar macht. Die Bilder, die wir in den Nachrichten sehen, erzeugen ein Schleudertrauma. Unsere Hoffnung, dass sich dieses System selber zu Fall bringen würde, erfüllte sich bislang leider nicht. Wir sehen eine Minderheit habsüchtiger, korrupter Krimineller, die dem Rest der Menschheit und der ganzen Erde den Krieg erklärt hat. Außer unserem „NEIN!“ haben wir ihnen auch heute nichts zu sagen. Wir wollten nicht als NGO anerkannt werden, wollten keine Vorschläge zur Verbesserung der WTO des IWF, der G8 und der G20 machen. Wir halten das gesamte Weltwirtschaftssystem für ungerecht und für nicht reformierbar und sagen „NEIN!“ zu ihren Grenzen, ihrer Gewalt, ihrer Macht, ihren Patenten, ihren Abkommen, ihrer Arroganz, ihrem Überfluss und ihrem Müll. „NEIN!“ zu ihrem falschen Verständnis von Wohlstand, Kultur und Freiheit.

War vor 20 Jahren unser „NEIN!“ richtig, so ist es das heute erst recht!

Sie sagen uns, daß es sich bei der Globalisierung um einen unvermeidlichen Prozess handle, der wie die Schwerkraft wirke. Darauf antworten wir: Dann müssen wir eben die Gesetze der Schwerkraft außer Kraft setzen.“
Subcomandante Marcos / Chiapas

Es lebe die Rebellion, die „NEIN!“ sagt!
Es lebe das Leben!
Tod dem Tod!

# Text: Alex – Malavida Music und Sven – Disorder Rebel Store
# Titelbild: seven_resist, CC BY-NC-SA 2.0, Carlo-Giuliani-Park in Berlin

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Tamil*innen und Muslim*innen haben am 3. Februar einen friedlichen fünftägigen Marsch von Tamil Eelams südlicher Grenze Pottuvil, Amparai zur nördlichsten Spitze Pollikandi, Point Pedro mobilisiert, um die schlimme Situation von Tamil*innen und Muslim*innen zu thematisieren, die sich nun weiterhin unter der Präsidentschaft Gotabaya Rajapaksa und seinem Bruder, dem Premier- und Finanzminister Mahinda Rajapaksa verschärft. Dieser 459 km lange Marsch führte durch alle acht Distrikte des Tamil Eelams im Nordosten, die das tamilische Heimatland ausmachen. Der Protestmarsch fiel mit dem Unabhängigkeitstag Sri Lankas zusammen. Dieser wurde von der sri- lankisch-singhalesischen Regierung mit großen Feierlichkeiten begrüßt, unter anderem mit einerMilitärparade und Ansprachen des wegen Kriegsverbrechen angeklagten Präsidenten Gotabaya Rajapaksa.

Unterstützt wurde der Protest von mehreren zivilgesellschaftlichen Organisationen, darunter prominente tamilische und muslimische Politiker und eine Vielzahl von religiösen Führer*innen. Dazu gehören zahlreiche Abgeordnete der Tamil National Alliance (TNA).

Zentrale Forderungen des Marsches richteten sich an die UN und die internationale Gemeinschaft, die den Ungerechtigkeiten und den strukturellen sowie institutionellen Genozid an Tamil*innen Beachtung schenken und aktiv für Gerechtigkeit und Verantwortlichkeit für Tamil*innen sorgen soll.

Es wurden insgesamt 10 Hauptforderungen formuliert.

1. Beendigung von Landraub und Sinhalisierung

2. Beendigung der militärischen Besetzung des tamilischen Homelands

3. Beendigung der gezielten Verfolgung von Journalist*innen und Aktivist*innen der Zivilgesellschaft

4. Schutz der Rechte tamilischer Bäuer*innen

5. Schutz des Rechts der Tamil*innen, ihrer Kriegstoten zu gedenken

6. Abschaffung des Gesetzes zur Verhinderung von Terrorismus

7. Beendet die Zwangsverbrennungen

8. Freilassung tamilischer politischer Gefangener

9. Antworten für die Familien der Verschwundenen geben

10. Erhöhung der Löhne der tamilischen Plantagenarbeiter

Mit den tamilischen Nationalfarben – rote und gelbe Streifen – sowie schwarzen Fahnen im Gedenken an die Vermissten und Verschwundenen während des Bürgerkrieges protestierten viele gegen diese kontinuierliche Gewalt. Trotz Einschüchterungen und Bedrohungen der sri-lankischen Sicherheitskräfte, die auch einstweilige Verfügungen gegen den Protest erwirkten, den Marsch versuchten aufzulösen und mit Straßensperren und Legung von Schienen auf den Straßen den Protestmarsch versuchten zu stören und zu sabotierten, ließen sich Demonstrant*innen nicht davon abhalten und konnten am 7. Februar trotz derartiger Unterbrechungen und Sabotagen ihren Zielort erreichen.

Einem Demonstranten zufolge, der zu Tamil Guardian sprach: „Die Nägel haben unsere Reifen beschädigt und wir sind auf der Straße und können unsere Proteste nicht fortsetzen. Der Polizeiwagen vor uns, der zur Sicherheit bereitgestellt wurde, scheint in keiner Weise zu helfen. Vorhin, während unseres Protestmarsches, haben Leute Steine auf den Bus geworfen. Sie versuchten, die Autos [der Demonstranten] mit Benzinkanistern in Brand zu setzen und entkamen nur knapp dem Tod. Wir fordern alle Menschenrechtsorganisationen auf, diese Taten zu verurteilen! Wir werden diese abwehren und weiter protestieren.“

Srilankische Gerichte im Nordosten – Jaffna, Point Pedro, Mannar, Batticaloa und Vavuniya – versuchten Demonstrationsverbote zu verhängen. Dabei wurde eine Vielzahl von Gründen genannt, wie Verstoß gegen COVID-19-Richtlinien oder öffentliche Belästigung. In Batticaloa wurde wegen Förderung von kommunaler Disharmonie ein Demonstrationsverbot versucht zu verhängen.

Das Gericht in Batticaloa erklärte, dass diese Proteste ein Versuch seien, „den UNHRC zum Handeln gegen Sri Lanka anzustiften“ und „die Menschen gegen die srilankische Regierung aufzubringen.“ Zudem versuchte die srilankische Polizei mit Petitionen die Proteste zu stoppen, doch die Magistrate von Chavakachcheri und Mallakam wiesen diese zurück mit der Begründung, dass Menschen das Recht auf Rede- und Versammlungsfreiheit besitzen.

Der Protestmarsch ging durch zahlreiche Städte, dessen Orte geprägt sind von Repressalien und srilankisch-singhalesischem Genozid an Tamil*innen. Insgesamt zeigten Familien im Nordosten Sri Lankas Solidarität mit den Demonstrant*innen, die immer noch nach ihren während des srilankischen Bürgerkrieges verschwundenen Geliebten suchen und eine Antwort auf die Frage nach dem Verbleib der vermissten Angehörigen von der srilankischen Regierung fordern. Sie gingen in den Hungerstreik.

Als Reaktion auf die Feierlichkeiten des Unabhängigkeitstages hissten Familien von spurlos Verschwundenen schwarze Fahnen in Mullaitivu. Sie fordern die internationale Gemeinschaft auf, Gerechtigkeit und Rechenschaft für die Opfer und Überlebenden des Bürgerkrieges und des Tamil Genozides sicherzustellen. So haben in Vavuniya ebenfalls Familien von Verschwundenen mit schwarzen Fahnen und Kleidung vor dem alten Busbahnhof demonstriert. In Jaffna fand ein ähnlicher Protest statt, begleitet von Einschüchterungen und Bedrohungen der Polizei, denen die Demonstrant*innen jedoch trotzten.

Auf Druck von srilankischen Autoritäten wurde im Zusammenhang mit dem fünftägigen Marsch auf Instagram die hashtags #eelam und #tamileelam entfernt. Diese Entscheidung von Instagram unterstützt den völkermordenden Staat Sri Lanka und die kontinuierliche Diskriminierung und Unterdrückung von Tamil*innen. Tamil Eelam ist das traditionelle Heimatland von Tamil*innen in Sri Lanka. Diese hashtags verstoßen nicht gegen die Richtlinien Instagrams. Tamil Eelam ist nicht gewaltvoll, sondern der srilankisch-singhalesische Staat betreibt weiterhin einen strukturellen und institutionellen Genozid an Tamil*innen. Nicht nur Instagram sondern auch Spotify, der weltgrößte Musik Streaming Dienstleiter hat angefangen Lieder zu Tamil Eelam zu entfernen. Nach großer Empörung funktionieren nach wenigen Tagen die hashtags #tamileelam #eelam auf Instagram wieder. Diese Entfernung von hashtags wird jedoch nicht das letzte Mal bleiben, da Instagram regelmäßig hashtags zu Tamil Eelam entfernt.

Der Protestmarsch von Pottuvil nach Pollikandi ist der größte tamilische Protest seit dem Ende des bewaffneten Konflikts im Nordosten. Die internationalen Akteur*innen trieben die Versöhnung zwar etwas voran doch ihre eigentlichen Absichten sind, ihre eigenen geopolitischen Interessen zu sichern.

# Titelbild: Symbolbild Protest gegen die Offensive Sri Lankas gegen die Tamil Tigers, 2009
Fraser in Flickr (Tamil protests in Newcastle City Centre, 2009), CC BY-NC 2.0

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Vier Monate in Athen – so könnte eine Podcast-Folge von Reise-Bloggern heißen. Arash Dosthossein sitzt jedoch auf ungewisse Zeit in Athen fest. Deutsche Behörden lassen ihn trotz gültigem Aufenthaltsrecht in Deutschland nicht zurück reisen.

Seit acht Jahren lebt Arash Dosthossein nun schon in Deutschland. Das sind acht Jahre des Kampfes auf Anerkennung des Asylrechts, acht Jahre des Kampfes gegen Einschränkungen bei der Wahl seines Wohnortes, seiner Bewegungsfreiheit, seines Arbeitsrechtes. Unermüdlich geht er seit 2012 mit tausenden zur Flucht Gezwungenen für diese grundlegenden Rechte auf die Straße und nimmt immer wieder Repression in Kauf.

Als er sich im August 2020 entscheidet für drei Wochen nach Griechenland zu reisen, will er zur Ruhe kommen. Sonne, Meer, Strand – Frappé. Aber er will sich auch mit politischen Kontakten treffen. Seine Fiktionsbescheinigung, ein von der Ausländerbehörde ausgestelltes Ausweisdokument, erlaubt ihm das. Doch kaum ist er in Athen, wird ihm seine Geldbörse gestohlen. Mit all seinen Dokumenten. Was nun folgt, ist für deutsche Bürger:innen undenkbar. Zunächst wird ihm der Zutritt zur deutschen Botschaft verweigert. Erst als eine Person mit deutschem Pass vor der Tür der Botschaft in Athen steht, kann Dosthossein Kontakt mit der Behörde aufnehmen. Die deutsche Botschaft und die Ausländerbehörde in München verweigern ihm ein ums andere Mal die Ausstellung neuer Papiere. Woche für Woche wird er in der Ipsilantou-Straße 10 vorstellig, Woche für Woche wird ihm gesagt, dass es noch dauere und man auf die Überprüfung aus München warte.

In München heißt es wiederum, man müsse den Vorgang prüfen und wegen Corona ginge es nicht schneller. „Natürlich steckt dahinter der verlängerte Arm der deutschen Repressionsbehörden. In verwackelten Polizeivideos können mich die Behörden in Deutschland vor Gericht angeblich identifizieren. Jetzt tun sie so, als ob sie mich nicht kennen.“ , erzählt Dosthossein. Diese Hinhaltetaktik läuft nun schon vier Monate lang. In dieser Zeit hat er seine Wohnung in München und seinen Unterstützungsanspruch nach dem Sozialgesetz verloren. In Athen muss er sich eine Wohnung suchen und ist seitdem auf Spenden aus dem Bekanntenkreis angewiesen. In Griechenland kann er sich nicht anmelden. Sein Antrag auf Asyl hat Dosthossein in Deutschland gestellt, hier ist er auch zum ersten Mal auf europäischem Boden registriert worden. Deutschland ist somit nach europäischem Recht dazu verpflichtet sein Asylrecht umzusetzen.

Und wie kann es anders sein: Arash Dosthossein ist kein Einzelfall. In den Parks von Athen treffen sich Menschen mit ähnlichen Geschichten. Asylsuchende mit deutschem Aufenthaltsstatus auf Familien- oder Freund*innenbesuch oder einfach im Urlaub, ohne Papiere, weil diese geklaut oder verloren wurden. Für Monate von der deutschen Botschaft in die Warteschleife gesetzt. Eine Warteschleife, die die hart erarbeitete Existenz in Deutschland zerbrechen lässt und ein Leben auf einer Athener Parkbank bedeutet.

Wie wir ja alle spätestens seit der Finanzkrise wissen, sind es die griechischen Behörden, die inkompetent und arbeitsscheu sind – nicht die deutschen. Wie kann es also sein, dass eine deutsche Behörde innerhalb von vier Monaten daran scheitert, einen Drucker zu bedienen, einen Umschlag zu frankieren und diesen zur Post zu bringen? Greift der Fachkräftemangel schon so weit um sich? Wohl kaum. Struktureller Rassismus ist die erste Erklärung, die einem dazu einfällt. Nicht-Deutschen wird es um ein Vielfaches schwerer gemacht, ihre Rechte, für die sich der bürgerliche Staat ja weltweit verbürgt, wahrzunehmen und zu bekommen.

Es gibt zahlreiche Beispiele für Diskriminierung durch einzelne Beamte oder Angestellte, sei es beim Jobcenter, in der Verwaltung oder in der Ausländerbehörde. Die deutsche und europäische Gesetzgebung trägt hierzu ihr Übriges dazu bei. Auch wenn Rassismus nicht allein ökonomisch begründet werden kann, ist die Ökonomie des Rassismus ein Schlüssel zum Verständnis hinter solchen Vorgängen. Seit Jahrzehnten können wir in Deutschland beobachten, wie der Abbau staatlicher Infrastruktur nach und nach voranschreitet. Gerade im öffentlichen Dienst sind mehrere Millionen Stellen wegrationalisiert worden. Deutsche Ämter und damit der öffentliche Dienst sind seit Jahren chronisch unterbesetzt.

Nicht umsonst versuchten die Angestellten im öffentlichen Dienst in der diesjährigen Tarifrunde das Thema der katastrophalen Personalsituation zur Diskussion zu stellen. Aber weder die Gewerkschaftsführung noch die regierende SPD unterstützte die Kolleg:innen bei Forderungen zur Behebung des Personalmangels. Im Gegenteil: das Münchner SPD-Regierung strich direkt nach Abschluss der Verhandlungen gleich mal 1000 Stellen bei der Stadt. Die (Teil-)Privatisierung der Arbeits- und Sozialämter sowie die Austeritätspolitik der „schwarzen Null“ haben dazu geführt, dass die soziale Infrastruktur von Kommunen, Bund und Ländern einem Spardiktat unterliegt. Das wirkt sich bis an die Schreibtische der einzelnen Angestellten aus. Der Sparzwang wird umso aggressiver gegenüber Asylsuchenden und nicht-Deutschen Staatsbürger*innen durchgesetzt. Sei es durch bürokratische Diskriminierung, Lagerpflicht oder Abschiebungen.

Wenn also Arash Dosthossein seit Monaten keine Papiere erhält, die ihm zustehen, er sein Wohngeld und Sozialleistungen dadurch verliert, dann spart sich der deutsche Staat Sozialausgaben. Wenn die Münchner Stadtregierung tausende Stellen streicht, spart sie sich Gehälter, die dazu nötig wären, in Zeiten der Krise die dringend notwendige Infrastruktur aufrecht zu erhalten. Allein in München gibt es zehntausende Anträge auf Sozialwohnungen. Diese werden durch weniger Mitarbeiter*innen nicht schneller behandelt werden können. Und durch Corona droht noch mehr Menschen der Weg in die Armut. Die Verschlankung des Staates, besonders im sozialen Bereich, eröffnet der Privatisierung Tür und Tor. Es ermöglicht die Rekapitalisierung staatlicher Infrastruktur. Diese Rekapitalisierung ist für die deutsche Wirtschaft im Speziellen, für das europäische Kapital im Allgemeinen, von entscheidender Bedeutung, um im globalen Wettstreit nicht weiter an Boden zu verlieren. Für die Arbeiter:innen in Deutschland bedeutet das einen graduellen Rückschritt in die Zeiten vor den Revolutionen des 20. Jahrhunderts.

Der Fall von Arash Dosthossein kann daher nicht als Einzelfall betrachtet werden, sondern muss im Gesamtkontext der derzeitigen Entwicklung verstanden werden. Um der generellen Entwicklung etwas entgegen zu setzen, braucht es strategische Diskussionen. Die Unterstützung und die Politisierung der Auseinandersetzungen im öffentlichen Dienst, sei es beim Nahverkehr, in den Krankenhäusern oder an den Universitäten, stellt dabei einen zentralen Punkt dar. Ein Kampf für mehr Personal und gegen Privatisierungen kann zu einem Kampf gegen Rassismus und Sozialabbau werden. Die aktuelle Situation von Arash Dosthossein verlangt aber auch nach kurzfristiger Unterstützung: die Kampagne „Grenzenlose Solidarität mit Arash“ hat daher zu Spenden aufgerufen. Unter folgendem Link kann man ihn unterstützen:

Grenzenlose Solidarität mit Arash | betterplace.me
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Vier Wochen lang belagerten die Cops die Felder und den Wald um das Dorf Dannenrod, bis sie die Schneise für die zukünftige Autobahn A49 gerodet hatten. Bisweilen schaffte es die hessische Polizei dabei, mehrere Aktivist_innen pro Woche mit teilweise schweren Verletzungen ins Krankenhaus zu befördern. Drum herum: Viele leichte Verletzungen, unnötige Schmerzgriffe, Tasereinsätze in mehr als 20 Meter Höhe, unzählige Angriffe auf die Pressefreiheit, willkürliche Festnahme einer Sanitäterin inklusive Brechen ihres Armes – das wäre unter anderen Umständen übrigens ein Kriegsverbrechen – durch die Beamt_innen, eine kirchliche Beobachterin wird ohne ersichtlichen Anlass von einer BFE angegriffen, ständig werden Bäume nur wenige Meter neben besetzten Traversen gefällt und so die Besetzenden in Lebensgefahr gebracht. Bei Protestaktionen werden Teilnehmende und Journalist_innen von Einsatzkräften massiv beleidigt, auch lachend geschlagen und zu Boden geworfen. Einem Menschen auf einem Tripod wird „Wenn du fällst, bist du selber Schuld!“, zugerufen, während das Kletter-SEK sich am Sicherungsseil zu schaffen macht. Ein paar Tage zuvor spielten bereits einige BFEler mit einer Säge an einer anderen nur wenige Meter entfernten Tripodsicherung herum. Die Liste ließe sich noch eine ganze Weile fortsetzen, und neben den Vorgängen im Wald selbst dürfen auch die Folterbedingungen, unter denen Unterstützende in der Untersuchungshaft festgehalten wurden und werden, nicht unerwähnt bleiben.

Exakt das, was von den hochmilitarisierten Riotcops dieses Staates zu erwarten ist? Ja klar, auch. Aber bei aller Desillusioniertheit über das alltägliche Verhalten der Staatsgewalt sollte nicht ausgeblendet werden, dass so etwas nicht nur passiert, weil die Funktion „Polizist_in“ logischerweise von Waffengewalt nicht abgeneigten Menschen ausgeführt wird, sondern es sich insbesondere im Rahmen einer solchen Großprotestaktion um eine bewusste Brutalitätsstrategie handelt.

Die Verstöße der Polizist_innen gegen Versammlungs- und Presserechte sowie simpelste Grundlagen zwischenmenschlicher Ethik wurden vielfach dokumentiert und veröffentlicht. Dass die Einsatzleitung nicht davon weiß, welche ihrer Einheiten wann wo wie eskaliert hat, kann getrost ausgeschlossen werden. Des Weiteren fanden in den Wochen der Räumung mehrmals deutlich beobachtbare Wechsel des Aggressionslevels der eingesetzten Beamt_innen statt. So agierten sie beispielsweise in den ersten Tagen oder auch der ersten Dezemberwoche der Räumungs- und Rodungsarbeiten – also in Zeiträumen mit viel Aufmerksamkeit durch Tagespresse und sonstige Öffentlichkeit – spürbar vorsichtiger, kommunikativer und weit weniger eskalativ als in der Zeit zwischen diesen Punkten, vor allem in der Hauptphase des Einsatzes Ende November.

Da passierte dann der überwiegende Teil der oben beschriebenen Polizeibrutalität. Auch kamen dort vermehrt die für ihr besonders gewalttätiges Verhalten bekannten BFEs 38, 58 und 68 zum Einsatz und machten ihrem Ruf alle Ehre. Dem bekannten Demospruch entsprechend zogen sie wie gut ausgestattete Hooligans durch den Wald, zerschlugen auf dem Boden zurückgelassene Strukturen von Sitzmöglichkeit bis Pizzaofen, lauerten in der Nacht umherlaufenden Personen auf und pfeffersprayten aus etwas kindergartenhafter Bosheit heraus das Klopapier. Gegen Ende der Räumung sieht man diese Einheiten kaum noch, und auch sonst schlagen die Cops einen weit weniger aggressiven Ton gegenüber Aktivist_innen und Unterstützenden an. Offensichtlich war es also möglich, das Verhalten der Polizeitruppen zu regulieren, und folglich muss die wochenlange Inkaufnahme von teils Menschenleben gefährdenden Grausamkeiten durch die Einsatzkräfte als strategisches Mittel der Einsatzplanung gelesen werden.

Ziel von solchen durch nichts zu rechtfertigenden Brutalitätsaktionen ist es, Menschen durch Angst mundtot zu machen; das zeigt ein Blick auf die Geschichte jeder beliebigen linken Bewegung. Für eine solche Strategie findet die Polizei hier im Wald das perfekte Kampffeld, denn er stellt einen von der Öffentlichkeit praktisch komplett abgeschirmten Raum dar. Zu groß ist das Konfliktgebiet, zu langsam der Informationsfluss, um auch mit doppelt und dreifach so viel Presse jeden Vorfall adäquat dokumentieren zu können.

Die Cops wissen um solche öffentlichkeitsfernen Räume und setzen sie als strategisches Mittel ein, um mit möglichst weitreichender Willkür agieren zu können. Das trifft auf den Wald genauso zu wie auf den Bus, der regelmäßig Aktivist_innen zu Mahnwachen und Demonstrationen fuhr. Letzterer konnte keine Tour machen, ohne begründungslos aus dem Verkehr gezogen zu werden. Aber in einem Bus gibt es halt keine neugierigen Zuschauenden, die die Polizei bei ihrem Verhalten kontrollieren könnten – und im Wald auch nicht. Dort schufen sie sich diese Situation, indem sie die Presse von den Orten des Geschehens so weit weghielten, dass Beobachtung der Ereignisse im Detail unmöglich war. Zeitweise war es praktisch unmöglich, sich ohne polizeiliche Pressebegleitung durch den Wald zu bewegen – betreutes Berichten sozusagen.

Und so konstruierten sich die Cops Räume, in denen sie unbeobachtet und konsequenzbefreit Protestierende als „Stück Scheiße“ bezeichnen konnten, während sie deren Leben durch mindestens bewusst fahrlässiges Verhalten gefährdeten. Solche verbale, physische und psychische Brutalität ist die Produktion einer Botschaft an die Menschen im Wald, ihre potentiellen Unterstützer_innen und allzu kritische Beobachter_innen/Journalist_innen: Die Cops können euch antun, was sie wollen; niemand wird sie aufhalten oder auch nur sehen; und auch ihr seid mögliches Ziel für die nächste Ladung Pfefferspray, den nächsten Schlagstockhieb oder die nächste Entführung in die GeSa. Am Ende bleiben die verstreuten Berichte der Betroffenen, vereinzelte Pressebilder und das diffuse Wissen aller, sich durch die von jedweder Negativkonsequenz für ihr Handeln befreiten Einsatzkräfte in dauerhafter, latenter Gefahr für Leben und Freiheit zu befinden.

Natürlich steht solches Verhalten im kompletten Bruch zum von der Propagandaabteilung der Polizei verbreiteten Erzählung eines besonnen, rücksichtsvoll, transparent-kommunikativ ausgeführten Einsatzes. Während sie in Pressekonferenzen innerhalb der Besetzung zum running-gag gewordene Sprüche wie „Sicherheit vor Schnelligkeit“ vom Stapel ließen, gaben sich ihre Truppen an der tatsächlichen Frontlinie betont menschenverachtend und aggressiv. Wichtiger: Diese Strategie der eskalativen Grausamkeit folgte auf eine ausnehmend friedliche, kommunikative und für die Polizei ungefährliche Besetzung. Das grundlegende Kampfmittel der Aktivist_innen war das Besetzen von Bäumen und verschiedener Strukturen, die zwar mit einigem Aufwand, aber eben ohne Gefährdung für die ausführenden Cops geräumt werden mussten, bevor die Rodung fortgesetzt werden konnte. Jedes relevante Seil war markiert, und auch der dümmlichsten BFE dürfte klar sein, dass Leute, die in ihrem Baumhaus sitzend ohne Fluchtmöglichkeit auf die Räumung warten, aller Wahrscheinlichkeit nach keine Gehwegplatten herunterwerfen werden. Die Cops hätten ohne Probleme so agieren können, wie sie es so gerne über ihren Twitter-Account behaupten, und hätten ihr Einsatzziel dennoch erreicht. Sieht man sich aber ihr tatsächliches Verhalten an, sollte man meinen, tagtäglich würden Polizist_innen von Scharfschützenfeuer niedergestreckt, Wasserwerfer von panzerbrechender Munition zerlegt und ihr Logistikzentrum mit Raketen beschossen. Kurzer Realitätsabgleich: Die einzigen ernstzunehmenden Verletzungen gab es auf aktivistischer Seite und es war die Staatsgewalt, die nachts durch den Wald rannte und Jagd auf Menschen machte. Diese Dissonanz zwischen den tatsächlichen Einsatzbedingungen und dem Verhalten der Einsatzkräfte bestätigt die These von oben: Die Eskalationsstrategie ist bewusst; the cruelty is the point.

Diese unberechenbare Brutalität gegen die Menschen im Wald spiegelte auch das Vorgehen bei der Rodung der geplanten Autobahnschneise insgesamt: Auf der einen Seite wurden Aktivist_innen mit körperlicher und physischer Gewalt sowie hanebüchenen Straftatvorwürfen ausgebrannt, auf der anderen Seite wurde in den ersten Wochen des Einsatzes oft an drei Fronten gleichzeitig agiert, um Widerstand durch Überlastung zu unterbinden. Und bedauerlicherweise muss eingestanden werden, dass diese Strategie aufging: Schneller, als die meisten gedacht hätten, fraßen sich die Maschinen von Norden und Süden durch den Dannenröder Wald, zerrissen Baumhaus um Baumhaus und zerstörten in einigen Wochen, was in mehr als einem Jahr aufgebaut wurde. Was bleibt, ist ein riesiger Erfahrungsschatz, den vor allem ein großer Teil der Fridays-for-Future-Aktivist_innengeneration in dieser Schlacht um den Dannenröder Forst sammeln konnte. Und es wurde gezeigt, dass weder die eingespielten noch die neuen Aktivist_innen sich von der Kälte des Winters und einer Polizeiarmee, die bereitwillig ihre Leben bedroht, vom Kämpfen gegen die Klimakatastrophe und für eine lebenswerte Zukunft abbringen lassen werden. Man darf davon ausgehen, dass sie angemessene Antworten auf die alltäglichen Grausamkeiten der Staatsgewalt finden werden.

# Titelbild: Channoh Peepovicz, Wasserwerfereinsatz hinter Stacheldraht im Danni

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In Frankreich werden die Diskussion um das autoritäre neue „Sicherheitsgesetz“ immer heftiger. Dieses soll verbieten, Filmaufnahmen von Polizist:innen zu veröffentlichen, was einen enormen Angriff auf die Pressefreiheit darstellt. Spätestens seit den Protesten der Gilets Jaunes, sorgen Bilder heftiger Polizeigewalt auf Demonstrationen oder gegen Schwarze und People of Colour für Empörung. Dass Polizeigewalt aufgedeckt wird, ist eher eine Seltenheit. Noch seltener ist, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Durch den Korpsgeist innerhalb der Polizei und die Rückendeckung in der Politik, wird es nahezu unmöglich gemacht auf rechtlicher Ebene dagegen vorzugehen. Wir kennen dieses Phänomen nur allzu gut aus der BRD. Die Liste der „Einzelfälle“ ist lang – sehr lang. Nachfolgend zwei aktuelle Beispiele, die die Menschenfeindlichkeit und den tief verankerten Rassismus in der französischen Polizei verdeutlichen.

Vorfall I: 21. November 2020

Der 41-jährige Michel Zacler steht vor seinem Musikstudio. Er sieht eine Polizeistreife und da er keine obligatorische Atemschutzmaske trägt, entschließt er sich, zurück ins Studio zu gehen. Das Studio befindet sich in dem bourgeoisen 17. Arrondissement von Paris. Dass ein Schwarzer aus dem 92. Arrondissement (Bagneux), also aus den Pariser Banlieus, sich in diesem schicken Viertel von Paris aufhält, ist einigen Polizisten wohl schon zu viel. Die Message ist klar: DU gehörst hier nicht her!

Drei Polizisten, einer davon in zivil, folgen ihm ins Studio, packen ihn und versuchen ihn aus dem Laden zu ziehen. Er fragt die Polizisten, warum sie ihn festnehmen wollen und da beschimpft ihn einer der Polizisten als „sale nègre“ (Übersetzung: Drecks-N***er). Diese Beleidigung wird er einige Male hören, wie Michel sagt. Die Polizisten schlagen ihn mit dem Schlagstock und versuchen ihn auf den Boden zu ringen. Michel wehrt sich mit all seiner Kraft und ruft nach Hilfe. Das was in seinem Kopf in diesem Moment vorging schildert er so: „Ich darf nicht auf den Boden. Ich muss mit allen Mitteln verhindern auf den Boden gebracht zu werden, denn sonst stehe ich nie wieder auf.“

Michel öffnet die Tür zu den Kellerräumen des Studios und schreit weiter nach Hilfe. Dort sind weitere Menschen, die von dem, was oben vor sich geht, nichts mitbekommen haben. Darauf helfen die teils erst Jugendlichen Michel aus den Händen der Polizisten zu befreien. Die Polizisten werden aus dem Studio gedrängt, schmeißen danach jedoch eine Tränengasgranate in das Lokal und so schaffen sie es dann doch noch, Michel aus dem Laden zu bringen. Auf der Straße wird er dann weiter verprügelt. Nachdem ihn die Polizisten festgenommen haben, greifen sie sich die im Lokal Verbliebenen, die dann auch noch vor der Tür verprügelt werden.

Einer der Polizisten schreit „Kamera“, da die Szene von den Balkonen gefilmt wurde. Daraufhin wurden die Schläge sofort eingestellt. Was die Polizisten zu diesem Moment nicht wussten, ist, dass in dem Lokal eine Überwachungskamera die ganze Szene mitgefilmt hatte. Dieses Video veröffentlichte das Onlinemagazin Loopsider auf seiner Plattform. Michel wurde festgenommen und verbrachte u.A. wegen des Vorwurfs der Körperverletzung 48 Stunden auf der Polizeiwache. Alle anderen aus dem Studio wurden nach einer Personalienfeststellung freigelassen.

Vorfall II: 30. April 2019

Etwas über eine Woche nach dem brutalen Übergriff von Pariser Polizisten an den 41-jährigen Michel Z. und schon die nächste Enthüllung von Polizeigewalt durch eine Videoaufnahme. Das Video, datiert auf den 30. April 2019, wurde letzten Sonntag von Mediapart veröffentlicht.

Sechs Jugendliche im Alter von 16 bis 22 Jahren fahren in der Nacht vom 30. April 2019 mit dem Auto nach Hause. An einer roten Ampel werden sie dann von drei Fahrzeugen umzingelt. Acht Männer in Zivil, einige von Ihnen bewaffnet, steigen aus. Da die Jugendlichen glauben, dass es sich um einen Raub handelt, fährt der Fahrer zurück, doch sein Auto wird von einem der Fahrzeuge an der Rückseite angehalten. Einer der Männer gibt zwei Schüsse auf das Auto ab, wovon eine der Kugeln durch die Seitenscheibe nur einige Zentimeter neben dem Gesicht des Fahrers Paul vorbeischießt. Er sagte Mediapart, dass „die Kugel in der Karosserie ein paar Zentimeter neben meinem Kopf stecken blieb“ und dass er „dachte, ich würde sterben“.

Also nochmal von vorne. Drei Polizeiwagen in zivil, umzingeln das Fahrzeug ihres „Tatverdächtigen“ ohne eines der vorgeschriebenen Erkennungszeichen, wie Blaulicht oder Armbinden und schießen ohne Vorankündigung auf die Jugendlichen. Der Hintergrund des Einsatzes war ein Handtaschendiebstahl, der ohne Überzeugungsarbeit der selbigen Polizisten von der Betroffenen erst gar nicht zur Anzeige gebracht worden wäre. Die einzigen Informationen, die die Polizisten hatten, war ein Nummernschild wie sie sagen und dass einer der beiden Tatverdächtigen „afrikanischen Typs“ sei, so der major Patrick O.. Dass sich die Szene, wie im Fall Michel Z., in einem wohlhabenden Viertel von Paris abspielt, ist bestimmt kein Zufall. Das 16. Arrondissement zählt zu den teuersten und wohlhabendsten Residenzvierteln ganz Frankreichs. Auch hier will die Exekutive klar machen, wer in welchem Viertel willkommen ist und wer sich dort nicht aufhalten darf.

Gegen die Polizisten wurde zwar bereits im Mai 2019 eine Untersuchung eingeleitet, die übrigens noch im Gange ist, doch die Polizeipräfektur ist sich der Unschuld der Polizisten wohl sicher und teilte Mediapart mit, dass „die Staatsanwaltschaft zu dem Schluss kam, dass es sich um Notwehr handelte“.

Paul kam nicht so einfach davon. Zwar wurde seine Anzeige wegen Diebstahl relativ schnell eingestellt, er verbrachte jedoch sechs Monate in Haft wegen „vorsätzlicher Gewalt gegen eine Amtsperson“. Er wurde erst am 4. November mit einer Entschädigung von 1.000 Euro freigelassen.

„Ich wurde strafrechtlich verfolgt und erst im November letzten Jahres freigelassen“, sagte Paul, gegenüber den Online-Medien. „Der Polizist, der auf mich geschossen hat, läuft jedoch weiterhin mit seiner Waffe herum. Ich habe eine Beschwerde eingereicht, aber die Untersuchung dauert noch an“, während das Video nach mehrfachen Anfragen erst im Juni 2020 an den Anwalt des 22-Jährigen weitergeleitet wurde.

Auch die psyschischen Folgen für Paul sind drastisch. Er musste u.A. sein Studium wegen „impulsiver Explosionen“, „Weinkrämpfen“ und „den Gedanken, dass er hätte sterben können“ unterbrechen, sagte der psychiatrische Experte während der Untersuchung.

Das Sicherheitsgesetz

Somit zeigt sich wieder wie der Staatsapparat mit solchen Vorfällen umgeht. Man gewährt Polizist:innen vollkommene Narrenfreiheit, beschützt sie vor jeglichen kritischen Stimmen und denunziert die Betroffenen als „Kriminelle“, vor denen man sich „schützen“ müsse. Die rassistische Ideologie ist in den Polizeibehörden so tief verankert, dass die Polizisten wahrscheinlich selbst glauben, das „richtige“ und „gute“ zu tun.

Der Fall von Michel Zacler, die brutale Rämung eines Camps von Geflüchteten im Zentrum von Paris und der Vorfall der sechs Jugendlichen kommt für die Regierung reichlich ungelegen. Sie versucht gerade mit einem neuen Gesetz, dem „allgemeinen Sicherheitsgesetz“, Videoaufnahmen von Polizist:innen zu kriminalisieren. Denn zahllose Videos von brutaler Polizeigewalt haben in letzter Zeit das Image der Polizei näher an die tatsächliche Praxis dieser gerückt. Es ist offensichtlich, dass das neue Gesetz vor allem dazu dienen soll, dass die sowieso schon kaum zur Rechenschaft gezogenen Polizist:innen ihre Schmutzarbeit für den Staat ohne jegliche Kontrolle der Öffentlichkeit machen können sollen.

Nicht nur wegen dieser aktuellen Fälle gingen am Samstag, den 28. November in ganz Frankreich – trotz grassierender Corona-Pandemie – mehrere Hunderttausende auf die Straße um gegen das Gesetz zu demonstrieren. Am 30. November musste die Regierung dann doch etwas zurückrudern und sprach davon, den umstrittenen Artikel 24 des Gesetzentwurfes noch einmal umzuschreiben. Das es sich hier nicht um eine Streichung des Artikels geht, machte der Vorsitzende der Partei Macrons La République en Marche, Christophe Castaner, bei einer Pressekonferenz gestern klar – „Es handelt sich weder um eine Rücknahme noch um eine Aussetzung, sondern um eine völlige Neufassung des Textes“.

Auch schon in den Jahren zuvor haben die Regierungen versucht die Proteste durch solche Mittel zu befrieden, so z.B. bei dem Widerstand gegen die Arbeitsrechtsreform (loi El Khomri) im Jahr 2016 oder bei den „gilets jaunes“ (Gelbwesten) seit Ende 2018. Die Widerstandskultur der letzten Jahre in Frankreich hat jedoch gezeigt, dass ein Großteil der Bevölkerung sich nicht mit den heuchlerischen Versprechen der Regierenden abspeisen lässt. So können wir davon ausgehen, dass die Proteste auch nach dieser Ankündigung fortgesetzt werden.

# Titelbild: gemeinfrei, Demo in Rouen am 21. November 2020, „Wer beschützt uns vor der Polizei?“

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Heute zum Aktionstag Rondenbarg wollen wir als Hamburger Betroffene das Wort ergreifen. Vor dem Hintergrund, dass der Prozess in dieser Woche beginnt, wollen wir euch alle zur bundesweiten Demonstration am 5.12. um 16 Uhr am Hamburger Hauptbahnhof einladen, mit uns gemeinsam auf die Straße zu gehen und eine Gegenöffentlichkeit herzustellen.
Vom Hamburger Betroffenen Kollektiv Rondenbarg

Aber Was passiert(e) ?

Am Morgen des 7. Juli 2017 machten sich ca. 200 Aktivist*innen auf, um den G20-Gipfel in Hamburg zu stören. Am Rondenbarg schließlich wurden sie von der Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit „Blumberg“ aus Brandenburg aufgerieben. Ohne Vorwarnung überrannten sie die Demonstration. Es gab zahlreiche Verletzte durch direkte Polizeigewalt, aber auch Schwerverletzte mit offenen Brüchen. Diese waren in Panik über einen Zaun geflohen, welcher vermutlich durch die Last, aber auch durch das Einwirken der Polizist*innen, zusammenbrach. Die, die nicht ins Krankenhaus mussten, wurden in die Gefangensammelstelle nach Harburg und in die umliegenden Knäste gebracht. Jetzt startet am 3.12 der erste Gruppenprozess rund um den Rondenbarg-Komplex.

Fünf Jugendlichen soll der Prozess gemacht werden. Insgesamt beläuft sich die Zahl der Angeklagten auf über 80 Personen. Der Prozess wird nicht öffentlich geführt, angeblich zum Schutz der damals noch Minderjährigen. Nach unserer Einschätzung handelt es sich aber auch um einen Testlauf der Anklage. Die Vorwürfe der „Bildung einer bewaffneten Gruppe“, des „gemeinschaftlichen besonders schweren Landesfriedensbruch“, der „gefährlichen Körperverletzung“, „Sachbeschädigung“ und des „Angriffs auf Vollstreckungsbeamt*innen“ sollen in ihrer Robustheit vor Gericht getestet werden. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit werden die Polizei, die Staatsanwaltschaft und die politisch Verantwortlichen versuchen, die Demonstration zu entpolitisieren und ihre Lügengeschichten zu verkaufen. Der damalige hamburger Bügermeister und Heute SPD-Chef Olaf Scholz legte die politische Linie bereits 2017 fest: „Polizeigewalt hat es nicht gegeben“.

Wieso der Prozess besonders ist

Dieser Prozess ist deswegen so besonders, weil keinem der Angeklagten eine konkrete Straftat vorgeworfen wird. Lediglich die Teilnahme an einer Demonstration, aus der heraus angeblich Straftaten erfolgten, soll für eine Verurteilung ausreichen. Eine Verurteilung der Genoss*innen hätte nicht nur Auswirkungen auf weitere Betroffene des Rondenbargs. Vielmehr würde es sich um einen Warnschuss für die gesamte Bewegungslinke in Deutschland bedeuten. Allein die Teilnahme an einer kämpferischen Demonstration würde zur Gefahr der individuellen Lebensplanung werden. Unter dem drohenden Hammer der Klassenjustiz würden sich viele radikale Linke von ihrer berechtigten Straßenmilitanz entfernen und die Jugend nicht zu einer finden.

Das langfristige Repressionsziel des Staates ist offensichtlich: Durch androhende Repression soll die radikale Bewegungslinke zahm gemacht werden. Die Folge wäre eine Entpolitisierung von Demonstrationen. Durch das Recht zweifelsfrei geschützt wäre dann nur die Teilnahme an einer Demonstration, die möglichst niemand mitbekommt und im Konsens mit dem Staat, seiner Polizei und dem Kapital abläuft. Es entstünde Ungewissheit und Angst vor der Illegalisierung der Teilnahme an Demonstrationen aus denen heraus mutmaßlich Straftaten erfolgen. Antagonistische Positionen und gegenkulturelle Bewegungen die eine Überwindung der Krise des Status-Quo artikulieren, würden umfassender als bisher kriminalisiert werden. Wir verstehen eine wahrscheinliche Verurteilung als vorbeugende Formation des Staates auf die näherkommenden Einschläge der Wirtschafts- und Finanzkrisen, sowie der ökologischen Katastrophe. Der Staat formiert sich gegen den sozialen Widerstand. Die wahrscheinliche Verschärfung der Rechtsprechung ist dabei neben den in den Bundesländern verschärften Polizeigesetzen ein Symptom der rechten Entwicklung der letzten Jahre.

Was wir jetzt brauchen

Wir als Betroffene brauchen in erster Linie Solidarität. Solidarität ist eine Waffe um uns als Antifaschist*innen und Antikapitalist*innen vor Angriffen des bürgerlichen Staates zu schützen. Solidarität ist aber mehr als das. Solidarität ist auch eine Absage an eine sich immer weiter vereinzelnde Gesellschaft. Der Neoliberalismus verbannt uns in abgeschottete Existenzen und versucht uns losgelöst von unseren sozialen Kontakten in verlassene Einsiedler*innen umzukehren. Unter den historischen Bedingungen einer Pandemie ist das besonders spürbar. Deswegen sollten wir nicht bei der politischen Zusammenarbeit gegen Repression stehen bleiben, sondern viel weiter gehen. Solidarität ist das Gegenteil der vereinzelten, neoliberalen Lebensweise. Denn Solidarität ist Verwirklichung dessen was wir als Linke wollen: Zusammenhalt und Gemeinschaft, ansonsten vereinzelter Gleicher.

Der gemeinsame solidarische Kampf und das zusammenstehen mit Genoss*innen verschiedener linker Strömung kann dabei völlig neue Bündnisse und Kräfte entfesseln. Die revolutionäre Kraft der Solidarität liegt genau hier. Deswegen brauchen nicht nur wir als Betroffene von Repression Solidarität, sondern die deutsche Linke insgesamt braucht Spektren übergreifende solidarische Strukturen um eine wirksame Gegenmacht gegen die Krisen des Status-Quo zu bilden. Fangen wir an über unseren eigenen kleinen Tellerrand zu schauen und begreifen wir die aktuellen Angriffe auf die radikale Linke, seien es die §129a Verfahren gegen den Roten Aufbau, die antifaschistischen Genoss*innen in Haft oder die bisherigen G20-Prozesse, als einen Angriff auf die gesamte politische Linke. Wer gesellschaftlichen Fortschritt will, wird unweigerlich irgendwann mit der Staatsmacht konfrontiert werden, da hilft es ungemein, wenn man auf eine gesamte Bewegung zählen kann!

# Titelbild: gemeinschaftlich.noblogs.org

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Was ist die Verabredung zu einem Verbrechen, die auf einer Bank getroffen wird, gegen die Verabredung zu einem Verbrechen, die in einer Bank getroffen wird?! Diese leichte Abwandlung eines bekannten Zitats lässt sich als Kommentar zu dem Urteil lesen, das die Große Strafkammer 15 des Hamburger Landgerichts am 5. November im so genannten Parkbank-Prozess verhängte. Wie zu erwarten war, verknackte die Kammer die „Drei von der Parkbank“ zu Haftstrafen – natürlich ohne Bewährung, denn es handelte sich bei den Angeklagten ja um „böse Linke“. Also gab es mal eben 22, 20 und 19 Monate Haft für die beiden Genossen und die Genossin und zwar im Grunde genommen für nichts.

Sie wurden nicht für etwas verurteilt, das sie getan haben. Sie haben niemanden angegriffen und verletzt, niemanden betrogen, nichts beschädigt. Sie wurden für etwas bestraft, dass sie angeblich vorgehabt haben – für die „Verabredung zu einem Verbrechen“ gemäß Paragraph 30 Strafgesetzbuch, wie es im Juristendeutsch heißt. Eine Verabredung, die, um den Eingangssatz leicht zu korrigieren, nach Überzeugung der Kammer nicht auf der Bank getroffen, sondern bereits lange vorher. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass die drei vorhatten, gemeinsam mit einer vierten, unbekannt gebliebenen Person Brände an vier Orten zu legen.

„Drei von der Parkbank“ klingt lustig, nach einem alten Film mit Heinz Rühmann, ist tatsächlich aber die Überschrift zu einer juristischen Farce, die selbst in dem an Absurditäten reichen Reigen der G-20-Prozesse noch negativ herausragt. Wer es noch nicht wusste: Als „Drei von der Parkbank“ oder Parkbankcrew sind drei Anarchist*innen überregional bekannt geworden, nachdem sie vor eineinhalb Jahren von einer Parkbank in Hamburg weg festgenommen worden waren. Ein Handstreich der Polizei, der eine Welle der Solidarität in der radikalen Linken der gesamten BRD und des Auslands auslöste, die bis heute nicht abgeebbt ist.

Wir erinnern uns. Es war eine Sommernacht im Juli 2019, die Nacht vom 7. auf den 8. Juli. Genau zwei Jahre nachdem sich in Hamburg die globale Regierungsmafia getroffen hatten, um unter der harmlosen klingenden Überschrift „G20-Gipfel“ neue Verbrechen zur Auspressung der Welt zu verabreden. In einer Grünanlage im Hamburger Stadtteil Eimsbüttel saßen in dieser Nacht zwei Männer und eine Frau auf einer Parkbank, als Zivilfahnder der Polizei über sie herfielen. Die Drei hatten, wenn man der Polizei glauben will, diverse Materialien dabei: Handschuhe, Feuerzeuge, Grillanzünder und mit Benzin gefüllte PET-Flaschen. Später kam heraus: Einer der Genossen war bereits seit Monaten von der Polizei observiert worden – ohne richterliche Anordnung, nur auf Geheiß des Hamburger Polizeipräsidenten.

Die Lohnschreiber der bürgerlichen Presse kriegten sich gar nicht mehr ein vor Begeisterung über diese Festnahmen. Ein „Riesenerfolg“ sei das für die Ermittlungsbehörden delirierte die Hamburger Morgenpost. Einer der Festgenommenen sei „tief verwurzelt“ in der autonomen Szene und „auch international bestens vernetzt“. Das Hamburger Abendblatt jubelte, dem Staatsschutz sei offenbar „ein spektakulärer Schlag gegen die linksextremistische Szene gelungen“. Bei der Polizei sei man „sichtlich stolz“ auf den Ermittlungserfolg. Die Polizei selbst fabulierte öffentlich von einem „Stich ins Herz der linksexstremistischen Szene“. Die beiden Männer kamen natürlich sofort in Untersuchungshaft, wo man sie bis zum Ende des Prozesses schmoren ließ. Die Genossin wurde erstaunlicherweise auf freien Fuß gesetzt.

Eine große Rolle spielte bei den Ermittlungen und im Prozess ein Zettel, der angeblich ebenfalls bei den Dreien gefunden wurde. Darauf standen vier Adressen, die alle mit den Profitgeiern von der Wohnungswirtschaft zu tun hatten: die der Geschäftsstelle des Immobilienriesen Vonovia, dann ein Ort, an dem regelmäßig Dienstfahrzeuge des Konzerns abgestellt waren, ein Büro des Luxusmaklers Großmann & Berger und die Wohnadresse von Bausenatorin Dorothee Stapelfeldt (SPD). Sogar die Kammervorsitzende Sandra Paust-Schlote wunderte sich in der Urteilsbegründung darüber, dass man als Gedächtnisstütze bei einer solchen Aktion noch einen solchen Zettel benötigt – den Verdacht, dass die Ermittler diesen Zettel angefertigt und den Angeklagten untergeschoben haben, verwarf sie aber.

Polizei und Staatsanwaltschaft versuchten vor und im Verfahren geradezu fanatisch, den Angeklagten nachzuweisen, dass sie Leib und Leben von Menschen gefährden oder diese Gefährdung zumindest billigend in Kauf nehmen wollten, dass sie Wohnhäuser anzünden wollten. Das wäre nämlich eine schwere Brandstiftung gewesen, was ein höheres Strafmaß bedeutet hätte. In seinem Plädoyer hetzte Oberstaatsanwalt Ralf Schakau in übelster Weise gegen die Angeklagten. Sie seien „menschenverachtende Terroristen, denen jedes Mittel recht ist und die den moralischen Kompass verloren haben“. Er plädierte auf „Verabredung zu einer schweren Brandstiftung“ und forderte dreieinhalb Jahre Haft für den Genossen, der für den Haupttäter gehalten wurde, und jeweils drei Jahre für Ingmar S. und eine junge Frau.

Dass Polizei und Anklage vor fast nichts zurückschreckten, um ihre wilden Konstrukte durchzusetzen, zeigt die Affäre um einen Gutachter. Und zwar hatte die Generalstaatsanwaltschaft kurz vor Anklageerhebung das Büro des Brandermittlers Sebastian Herrgesell aus dem sachsen-anhaltinischen Schönebeck mit einem Gutachten beauftragt. Auf deren Homepage heißt es: „Mit Herz und Sachverstand analysieren unsere sachverständigen Brandursachenermittler komplexe und scheinbar unklare Ausgangssituationen, um die Frage nach dem Warum eines Schadens zweifelsfrei zu klären.“

Das von diesem Büro erstellte Gutachten stützte die Anklage in allen Punkten. Im Prozess stellte sich heraus, warum das so ist. Wie die Verteidigung herausfand, ist Herrgesell auf vielfältige Weise mit der Polizei verbandelt und offenbar rechtem Gedankengut nicht abgeneigt. Nachzulesen ist dies auf der von Unterstützern der Parkbankcrew betriebenen Seite parkbanksolidarity.blackblock.org. Bei einer Recherche sei herausgekommen, heißt es da, dass so gut wie alle Mitarbeiter*innen des Büros eine Karriere bei der Polizei hinter sich haben. Dann habe sich Herrgesell auf seinem privaten Facebook-Account über „südländisch aussehende, arabisch sprechende und messerstechende Täter“ geäußert und fragwürdige Posts anderer User gelikt. All das war am Ende sogar der Generalstaatsanwaltschaft zu viel, so dass der Gutachter einhellig abgelehnt wurde.

Die Kammervorsitzende spielte das Spiel der Anklage, den drei Angeklagten eine schwere Brandstiftung anzudichten, immerhin nicht mit und signalisierte schon im Verfahren, dass die Kammer nicht von schwerer Brandstiftung ausgehe. In der Urteilsbegründung verwarf sie in fast spöttischem Tonfall die abwegigen Hypothesen des Oberstaatsanwalts, der bei einem der in Frage kommenden Gebäude einen auf der Rückseite liegenden Lichtschacht als Ziel für eine Brandlegung ausgemacht hatte. Paust-Schlote führte aus, die Angeklagten hätten außer dem Dienstwagen von Vonovia wohl Gegenstände vor den Häusern anzünden wollen, also etwa Mülltonnen oder Barrikaden. Sie verwies darauf, dass es Konsens unter „Linksextremisten“ sei, Unbeteiligte bei ihren Aktionen nicht zu gefährden.

Hanebüchen war die Urteilsbegründung aber insgesamt dennoch. Paust-Schlote erging sich eingangs ausführlich in Beteuerungen, das Ganze sei kein politisches Verfahren, es ginge nicht um „Feindstrafrecht“, nicht um die Anschauungen der Angeklagten. Dann geißelte sie die Genoss*innen aber als „tiefverwurzelt“ in einer „rechtsfeindlichen Gesinnung“, wobei sie abenteuerliche Belege anführte, etwa Abbildungen, die bei einer Durchsuchung der Wohnung der angeklagten Genossin auf deren PC sichergestellt worden waren. Da habe sich etwa ein Foto stürzender Polizeibeamte angefunden, das mit Aufschrift „Feste feiern, wenn sie fallen“ versehen war. Auf einem anderen Foto von 2008 seien die beiden männlichen Angeklagten zu sehen, wie sie in Amsterdam mit einem Banner posierten, auf dem die Aufschrift stand: „Don’t be a tourist, be a terrorist!“. Dies zeige doch, wie lange und wie tief die Angeklagten in der „linksextremistischen Szene“ verwurzelt seien, so die Richterin. Auch dass es seit der Festnahme der „Drei von der Parkbank“ im ganzen Land eine Menge „Resonanzstraftaten“ gegeben habe, kreidete Paust-Schlote ihnen an. Alles in allem sei ihnen keine „günstige Sozialprognose“ zuzugestehen, deshalb sei eine Bewährung nicht in Frage gekommen.

Nach der Urteilsverkündung gab es dennoch Jubel im Gerichtssaal, denn die Haftbefehle gegen die beiden Genossen wurden aufgehoben. Sie müssten allerdings, wenn das Urteil rechtskräftig wird, noch für einige Monate in den Knast, nämlich für die, die über die 16 bereits in U-Haft verbrachten Monate hinausgehen. Die Genossin müsste dann sogar die gesamte Strafe absitzen, da sie nicht in U-Haft genommen worden war.

Natürlich war der Parkbank-Prozess Teil der Rachejustiz nach dem G-20-Gipfel in Hamburg, die mit dem Anfang Dezember beginnenden Rondenbarg-Prozess ihren Höhepunkt finden wird. Wie absurd der Aufwand ist, mit dem Polizei, Anklage und Gericht in diesem Fall wieder einmal gegen Linke vorgegangen sind, und wie grotesk die Strafen sind, lässt sich vor allem daran erkennen, wer oder was mit erheblich weniger Verve oder auch gar nicht von Polizei und Jusitz verfolgt wird. Dazu nur ein Beispiel.

Am 17. Oktober hat ein AfD-Symphatisant am Rande einer Veranstaltung der Partei mit deren Chef Jörg Meuthen im schleswig-holsteinischen Henstedt-Ulzburg mit einem schweren Pick-up gezielt drei Demonstrant*innen angefahren und verletzt (lower class magazine berichtete). Die Polizei schrieb in ihrer ersten Mitteilung von einem Unfall, der 19 Jahre alte Fahrer wurde nicht einmal festgenommen. Nach einer „Befragung“ im Revier durfte er nach Hause. Das Hamburger Abendblatt schrieb einige Tage später, der Staatsschutz gehe davon aus, er habe die Demonstrant*innen nur „erschrecken wollen“.

Der rechte Attentäter, der drei Menschen verletzt und schwere Verletzungen oder gar ihren Tod in Kauf genommen hat, dürfte vor Gericht mit einer Ermahnung und ein paar Sozialauflagen davon kommen. Die „Drei von der Parkbank“ sind dagegen zu Haftstrafen von über einem Jahr verknackt worden, das lediglich dafür, dass sie angeblich planten, etwas zu tun – nämlich SACHEN zu beschädigen, in Brand zu setzen. Den besten Kommentar zu dieser Justizfarce hat die Parkbankcrew selbst in einer Erklärung abgegeben, der am Tag nach dem Urteil veröffentlicht worden ist. Ein Absatz, dem nichts hinzuzufügen ist, sei hier zitiert:

„Das Schweigen in diesem Prozess ist uns nicht immer leicht gefallen angesichts der arroganten, zynischen Frechheiten, mit denen wir das ganze Verfahren über konfrontiert waren. Uns ist allerdings wichtig darauf hinzuweisen, dass wir es hier keineswegs mit aus dem Rahmen fallenden Tabubrüchen zu tun haben. U-Haft als Maßnahme zur Kooperationserpressung, Durchwinken illegaler Ermittlungsmaßnahmen … ganz normaler Alltag im Justizsystem. Wir sehen keine Perspektive darin, solche Zustände zu Skandalisieren – wir glauben nicht an die Möglichkeit einer „fairen“ Justiz. Womit wir nicht meinen, dass es unsinnig ist, diese Symptome einer, immer im Interesse der herrschenden Ordnung wirkenden, Institution zu benennen. Wir schlagen auch nicht vor, sich im Zynismus dieser Institution gegenüber einzurichten.

Viel wichtiger finden wir aber, der Repression gegenüber einen aktiven, selbstbewussten und selbstbestimmten Umgang zu finden. Von ihnen haben wir nix zu erwarten, von uns selbst und den Menschen, mit denen wir kämpfen dafür umso mehr!“

# Titelbild: © r-mediabase, Demo am Vorabend der Urteilsverkündung

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Es gibt ein Foto, auf dem ist ein türkischer Soldat einer Spezialeinheit zu sehen. Aus seinem Mund hängt lässig eine Zigarette, sein Kopf ist an den Seiten kahlgeschoren, das verbliebene Haupthaar ist akkurat frisiert. Sein Blick zeigt ungetrübten Stolz, er streckt den rechten Arm in die Kamera, der die Trophäe zur Schau stellt. Aus dem rechten Arm baumelt ein Menschenkopf, unsauber am Hals abgesägt. Der Menschenkopf sieht stoisch nach unten. Weil der Menschenkopf irgendwann einmal zu einem kurdischen Menschen gehört hat, ist für die Soldaten klar: Hier wurde ein Terrorist gefangen.

Das Bild ist keine Fiktion. Es ist ein Screenshot aus einem Video, das irgendwann nach 2017 in Sirnak, einer Region im kurdischen Südosten der Türkei aufgenommen wurde. Und es ist das Bild, an das ich beim Lesen von Cemile Sahins neuem Roman „Alle Hunde sterben“ eigentlich auf jeder der 237 Druckseiten denken musste.

Sahins Buch ist aufgebaut wie eine Netflix-Serie, aber wie eine der guten, Black Mirror etwa. Es spielt in einem Hochhaus im Westen der Türkei, das 17 Stockwerke hat. Aber eigentlich spielt es in den Köpfen der neun Menschen, die in neun Episoden ihre Geschichten erzählen. Die neun Geschichten handeln aber alle von einer Geschichte und diese Geschichte ist ihrerseits keine Fiktion, sondern sie wird überall auf der Welt jeden Tag wieder und wieder aufgeführt: „Ich schleiche durch die Wohnung mit zwei Paar Socken, und ich verstehe: hinter der Tür kommt ein Zimmer, und hinter einem Zimmer kommt eine Wand. Und vor der Wand hängt eine Fahne, und wenn wir ihre Fahne sehen, wissen wir, in welchem Land wir sind. Wir sind in diesem Land. Und wenn uns ein Soldat hier sieht, dann packt er uns und stellt uns vor ihre Fahne.“

Wenn einer nicht vor der Fahne stehen will, weil die Fahne ihm und seinen Nachbarn, seinen Eltern, Tanten, Onkeln, Kindern, Großeltern und Freunden schon bis zum Ersticken in den Mund gestopft wurde, beginnt die Story. Es gibt dann Terroristen. Und weil diejenigen, die die Fahne aufgehangen haben, es nicht dulden können, dass es Terroristen gibt, gibt es Soldaten, Polizisten, Sondereinheiten, Spitzel. Deren Aufgabe ist es, alle zu fangen, die nicht Terroristen sind, sondern sein könnten. Also ziehen sie los und gehen ihrem Beruf als Helden der Nation nach. Für diesen Beruf haben sie Werkzeuge wie jeder Handwerker: Stricke, Fäuste, Gewehre, Pistolen, eine Ratte.

Mit den Werkzeugen bearbeiten sie die Gegenstände ihres Handwerkes, die Menschen, von denen sie wissen, sie sind Terroristen. Nur sind diese Gegenstände eben keine Gegenstände, sondern Menschen, also geht in ihnen etwas vor. Was aber in ihnen vorgeht, ist für die Außenstehenden oft egal: Für diejenigen, die die Fahne aufgehangen haben sowieso, es sind ja Terroristen; für die Soldaten, Polizisten, Sondereinheiten und Spitzel auch, es sind ja Terroristen; für die Handelspartner des Landes, in dem die Terroristen aufgehangen, zu Tode gequält, erschlagen und in den Wahnsinn getrieben werden auch, weil die Fahne verspricht lukrative Geschäfte; für die Urlauber, die in das Land fahren, in dem die Fahne hängt auch, denn sie machen ja nicht in dem 17-stöckigen Hochhaus Urlaub, sondern in einem hübschen Hotel, in dem es keine Terroristen gibt.

Cemile Sahin hat versucht, die Verheerungen einzufangen, die das Foltern, Bespitzeln, Erschießen und Erniedrigen in denjenigen auslöst, an denen es angewandt wird. Was macht es aus jemandem, wenn sein Großvater mit dünnen Seilen, mit denen man Schaden anrichten kann, an einen Baum gefesselt und abgeknallt wurde wie ein Hund? Was macht es mit Familien, die auseinandergerissen werden, und bei denen die einen nicht wissen, wo die anderen sind? Was macht es mit einem, die Gebeine der toten Mutter in einem Plastiksack herumzuschleppen? Und was kann noch aus jemandem werden, der gezwungen wurde, eine Ratte zu fressen?

„Alle Hunde sterben“ spielt in einem Land, das zu einem Knast geworden ist. Einem Land, in dem nicht nur der wirkliche Knast oder das 17-stöckige Hochhaus, in dem niemand aus freien Stücken lebt, ein Knast sind, sondern jeder Milimeter seines Territoriums. „Die Zukunft ist klein, und das Gefängnis ist groß“, sagt eine der Protagonist*innen.

Ein solches Land muss paranoid sein. „Denn jeder Anzug könnte zu einem Spitzel gehören, da jeder Anzug auf einem Spitzel sitzt. Und jeder Spitzel ist ein Mann im Anzug, der womöglich aus einem Auto gestiegen ist.“ Wo die Spitzel sind, sind die Soldaten nicht weit. Und die kommen dann nachts und treten Türen ein, aber man ist natürlich auch tagsüber nicht sicher, denn wer nachts kommt, kann auch tagsüber kommen. Die Soldaten in dem Roman sind wie eine Plage. Sie fallen ein und zerstören. Sie zerstören Häuser, Dörfer, Gräber, Menschen.

Das zu lesen, ist beklemmend. Es ist eine Qual und was anderes als eine Qual könnte es sein? Es ist eine Qual vor allem deshalb, weil man sich eben nicht daraus retten kann, indem man sich sagt: Es ist ja nur ein Roman. Weil es halt nicht nur ein Roman ist, sondern all das wirklich passiert. Der Nationalismus existiert wirklich, der Faschismus existiert wirklich, seine Soldaten existieren wirklich und die Menschen, die als Terroristen zu Freiwild erklärt werden, existieren auch wirklich.

Insofern ist Sahins Buch nicht einfach eine kunstvoll gemachte Erzählung. Es ist wirklich gute Literatur, aber nicht aus den Gründen, die im bürgerlichen Feuilleton angeführt werden, der immer so tut, als sei Literatur eine Art Rotwein, den man schwenkt, an ihm riecht, den Gaumen runterschüttet und danach sagt: Ah, das hat der Winzer aber vorzüglich gemacht, ich nehme drei Kisten. Die eigentliche Pointe des Buches liegt jenseits der Druckseiten in der Wirklichkeit. Denn das Buch stellt die unausgesprochene Frage: Was hast DU eigentlich getan, damit das aufhört?

#Titelbild: Zehra Dogan; Bildquelle: ANFenglish

Cemile Sahin / Alle Hunde Sterben / Aufbau Verlag / 239 Seiten / 20,00 €

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Die Verdrängung selbstverwalteter Freiräume in Berlin geht weiter. Nach der brutal durchgesetzten Räumung der Kiezkneipe Syndikat im August diesen Jahres soll am 9. Oktober das seit 30 Jahren existierende anarcha-queer-feministische Hausprojekt Liebig 34 verschwinden.

Das Lower Class Magazine sprach mit Laura vom Kollektiv des Hauses über staatliche und mediale Repressionen, Verteidigungsstrategien und die Zukunftsaussichten des Kollektivs und bedrohter Projekte.

Kannst du kurz umreissen, wie sich die „rechtliche“ Situation des Hausprojektes Liebig 34 darstellt und was das Räumungsurteil vom 3. Juni diesen Jahres eigentlich bedeutet?

Laura: Der Unternehmer Gijora Padovicz hat im Jahr 2008 beim Erwerb des Hauses einen Gewerbevertrag mit dem Raduga e.V. abgeschlossen. Dieser Verein hatte dann zehn Jahre lang das Haus angemietet – mit einem Gewerbevertrag wohlgemerkt, nicht mit einem Mietvertrag. Nach dem Auslaufen dieses Vertrages ist der Mittendrin e.V. als Untermieter in die Räume gegangen. Das Räumungsurteil vom 3. Juli 2020 ist jedoch gegen den Raduga e.V. ausgesprochen worden, welcher seit zwei Jahren gar nicht mehr in den Räumen ist. Weder unsere gerichtliche Anfechtung gegen den Gewerbevertrag, noch die Tatsache, dass es gegen den aktuellen Mieter Mittendrin e.V. gar keinen Räumungstitel gibt, haben Landgericht und Bullen davon abgebracht, diese illegale Räumung jetzt vorzubereiten und mit allen Mitteln durchführen zu wollen.

Ihr habt euch mit anderen bedrohten Projekten wie der Meuterei, der Potse und der Kiezkneipe Syndikat in der Interkiezionalen zusammengeschlossen. Der „Sommer der Räumungen“ stand allen bevor, nun ist das Syndikat geräumt worden, Potse und Meute erwarten nahezu täglich ihren Räumungstermin. Wie hat sich dieser Sommer für euch angefühlt? Hattet ihr als Projekt oder die Bewohner*innen mit besonderen Repressionen zu kämpfen?

Dieser „Sommer der Räumungen“ bedeutete zunächst für uns und die Bewohner*innen und Aktivist*innen der bedrohten Projekte, dass auf allen Ebenen einfach unglaublich viel zu tun war und immer noch ist. Einerseits weil wir unsere Projekte und Freiräume verteidigen müssen, andererseits weil auch generell eine große Repressionswelle auf autonome Strukturen und die ihnen solidarischen Menschen losgerollt ist in diesem Jahr, zuletzt ja mit diesen konstruierten §129er-Verfahren. Das hat sich bei uns im alltäglichen Leben noch verschärft geäußert, da wir ja in einem „Gefahrengebiet“ leben. Wir sind Nachbar*innen der Rigaer 94 und werden medial immer wieder als „Symbolprojekte der linken Szene“ dargestellt. Bullen, die hier durch die Straßen fahren und einzelne Bewohner*innen schikanieren und nerven, sind leider ganz normal. Was uns eher beschäftigt, ist die mediale Hetze, die seit einiger Zeit auf Hochtouren läuft. Neben regelmäßigen Artikeln in der BZ gab es zuletzt im rbb-Magazin Kontraste einen schlimmen Beitrag von u.a. Jo Goll, der ja schon seit Jahren gegen die Projekte in der Rigaer Straße hetzt. Dort ist zum Beispiel von „Funktionär*innen“ und „Vereinschefs“ der Liebig 34 die Rede, welche dann im Beitrag an den Pranger und bloß gestellt werden.

Gestern saßen wir zusammen und haben wieder gedacht: Wöchentlich kommen neue Stories von rechten Strukturen bei den (Berliner) Bullen ans Licht und die Stadt Berlin, die sich mit seiner LGBTQ-Freundlichkeit international vermarktet, hat nichts besseres zu tun, als ein queer-feministisches Hausprojekt zu räumen. Völlig absurd!

Gentrifizierung, hohe Mieten und Verdrängung emanzipatorischer Räume sind seit Jahren zentrale Themen in Berlin. Vom rot-rot-grünen Senat ist für Mieter*innen und Bewohner*innen keine Unterstützung zu erwarten, der Ausverkauf der Stadt und ihre Umwandlung zugunsten kapitalistischer Interessen geht ungehindert weiter. Wie beurteilst du die Chancen der häufig auf Verteidigung und Widerstand fokussierten Kämpfe und Strategien der Mieter*innen und der bedrohten Projekte? Sollte vielleicht mehr versucht werden, offensiv stadtpolitische Alternativen aufzuzeigen und zu etablieren?

Natürlich ist es perspektivisch wichtig aus der Defensive zu kommen und auch wir diskutieren immer wieder Wege, wie wir in die Offensive gelangen, wie wir angreifen und den Begriff der Solidarität mit Leben füllen können und es dabei auch schaffen, dass die Verantwortlichen für diese Zustände zur Rechenschaft gezogen werden.

Ich denke, das Spannende an der Liebig 34 als anarcha-queer-feministischem Hausprojekt ist, dass wir nicht nur ein Ort sind, der verteidigt werden muss, sondern auch ein Ort, in dem schon ein Stück weit Ideen von einer befreiten Gesellschaft wirklich gelebt werden. Wir sind ein Haus, in dem Menschen leben, die sonst nicht zu den Gewinner*innen in diesem System zählen und von patriarchalen Strukturen in ihrem Alltag betroffen sind. Hier können sie gemeinsam Ideen entwickeln, sich organisieren und sich politische Handlungsfähigkeit aneignen. Das heisst: Wir sind natürlich in der Verteidigung aber wir haben dabei auch schon immer versucht, etwas Positives zu erschaffen.

Wie blickt ihr als queer-feministisches Projekt auf Erreichtes zurück und vor allem: wie kann oder muss es für euch weitergehen?

Ich glaube, wir haben nicht nur als Hausprojekt, sondern auch als Feminist*innen in den letzten Jahren schon sehr viel geschafft. Superviele feministische Diskurse sind – auch in autonomen Kreisen – sehr wichtig geworden, einige antifeministische Akteur*innen konnten entlarvt und zur Rechenschaft gezogen werden und viele der an uns gerichteten Solidaritätsbekundungen kommen mittlerweile von autonomen FLINT*-Gruppen. Ich denke, wir haben dazu beigetragen und werden das auch in Zukunft tun, dass innerhalb der gesellschaftlichen feministischen Debatten und Bewegungen auch ein Feminismus diskutiert wird, der nicht auf Kuschelkurs mit kapitalistischen Zwängen und Standards geht, sondern sich eben ganz klar antipatriarchal und antikapitalistisch positioniert und in den Angriff geht. Davon ausgehend glauben wir daran, dass ein Antigentrifizierungskampf auch ein antipatriarchaler sein kann und muss.

Und wie geht es für euer Kollektiv weiter, sollte die Räumung am 9. Oktober wie von den staatlichen Schergen geplant ablaufen?

Wir werden definitiv weiter als Kollektiv bestehen und arbeiten. Zunächst müssen wir jedoch unsere ganze Energie und Kraft der kommenden Woche und der Verteidigung unseres Freiraumes widmen.

Die Räumung des Syndikats wurde zuletzt mit äußerster Brutalität und einem massiven Aufgebot an Cops durchgesetzt. Der Schillerkiez in Neukölln wurde zur „Sicherheitszone“ erklärt und weiträumig abgesperrt, solidarische Anwohner*innen wurden schikaniert und drangsaliert. Wie wollt ihr mit dem zu erwartenden Bullenwahnsinn umgehen und der geplanten Räumung etwas entgegensetzen?

Wir versuchen, da realistisch zu bleiben mit unseren Einschätzungen. Es steht ja bereits fest, dass zwei Tage zuvor hier eine „rote Zone“ eingerichtet wird, die den ähnlichen Bereich umfasst wie bei der Räumung der Liebig 14. In diesen Bereich zu kommen ist praktisch unmöglich. Natürlich haben wir uns schon Gedanken gemacht, alternative Strategien entwickelt und rufen zu dezentralen Aktionen auf, sowohl am Tag selbst aber auch davor und danach.

Am Abend des 9.10. wird es eine Demo der Interkiezionale geben, die hoffentlich kraftvoll auf die Räumung antwortet. Ansonsten versuchen wir auch schon vorher Druck aufzubauen: es gab am Sonntag ein kulturelles Event auf dem Dorfplatz, Dienstag halten wir eine Pressekonferenz ab, abends wirds eine Nachbar*innendemo geben, jeden Abend versuchen wir, eine Küfa zu stellen – es ist jetzt eigentlich jeden Tag viel Programm.

Im Gegenzug sind die Bullen ja auch schon an die Kindergärten und Schulen hier im Kiez herangetreten mit der „Empfehlung“, diese mindestens am 9. und auch schon die Tage davor dicht zu machen. Wir rechnen damit, das die Maßnahmen auch noch anziehen werden, obwohl es die letzte Zeit vergleichsweise ruhig war. Aber spätestens ab Donnerstagmorgen mit Absperrung der „roten Zone“ wird der Kiez und seine Anwohner*innen mit Platzverweisen und Kontrollen schikaniert werden. Deshalb wollen wir alle solidarischen Menschen auch erst in der Nacht von Donnerstag auf Freitag final mobilisieren um die Räumung zum Desaster zu machen!

# Titelbild: Liebig34

Mehr Infos:

http://liebig34.blogsport.de/
https://defendliebig34.noblogs.org/
https://interkiezionale.noblogs.org

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In Slowenien finden seit Ende April Großdemonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen der Regierung statt. Das LCM sprach mit Ramona, Anarchistin aus Ljubljana. Im ersten Teil des Interviews ging es darum, wie die Proteste entstanden sind und was die Leute auf die Straße treibt. Im zweiten Teil geht es um Verschwörungstheoretiker*innen, die gelebte Solidarität während der Aktionen und was es bedeutet über Monate hinweg an Massenprotesten beteiligt zu sein.

Die deutschen Corona-Proteste werden von Faschisten und Verschwörungstheoretikern dominiert. Spielt dies auch bei den Protesten in Slowenien eine Rolle?

Du erinnerst dich sicher noch daran, was 2013 in der Ukraine passiert ist. Mir und vielen Leuten hier sind die Worte eines Genossen in Erinnerung geblieben: „Wir waren nicht die Ersten auf dem Platz. Und weil wir später nicht zahlreich genug waren und uns nicht voll in diesem Kampf wiedererkannten, konnten andere – einschließlich der Faschisten und Nationalisten -die Oberhand gewinnen.“ Ich denke, das ist eine Lektion an die man sich erinnern sollte. Natürlich gibt es Kämpfe in denen wir uns nicht wiederfinden können, in denen die Kräfte gegen unsere Ideen einfach zu stark sind. Aber es gibt Kämpfe die wir beginnen können. Und diese Protestwelle wurde von einer Front von Antiautoritären, Anarchisten und Antifaschisten initiiert. Deswegen mussten alle anderen für einen Raum kämpfen den wir bereits mit unseren Ideen, mit unseren Botschaften, mit unseren Slogans, mit unseren Transparenten, mit unseren Leuten bewohnten. Deswegen sind sie einfach irrelevant. Denn das, was die Menschen zum Kampf gegen die autoritären Maße des Staates inspirierte, wurde von dieser Art antifaschistischer, antiautoritärer Botschaften beherrscht. All die Impfgegner und die Leute die sich mit diesen Verschwörungstheorien beschäftigen, wie z.B. das Virus sei nicht real und so weiter, hatten einfach keinen Boden auf dem sie operieren konnten. Sie wurden von Anfang an ausgegrenzt. Natürlich sind sie präsent, aber wir sprechen hier von einem so unbedeutenden Prozentsatz an Menschen, dass es sehr schwer vorstellbar wäre, dass sie entweder den öffentlichen Raum oder das öffentliche Bild der Proteste übernehmen könnten. Und dies ist eine weitere Lektion die wir lernen müssen: Manchmal kann man sich Kämpfen nicht entziehen, auch wenn sie uns nicht so wichtig sind. Also nehmen wir anderen Menschen die sonst auf die Straße gehen würden einfach die Luft zum Atmen .

Wie ging der Protest dann weiter?

Was die ersten Monate der Proteste wirklich prägte, war die Struktur die auf den Straßen geschaffen wurde und sich als wirklich produktiv erwies. Die antiautoritären und anarchistischen Initiativen schlossen sich zu einem antikapitalistischen Block zusammen. Bald schlossen sich ihnen ein Block von Kulturschaffenden und der Umweltblock an. Diese verschiedenen Blöcke unterstützten sich gegenseitig und waren in der Lage, verschiedene Themen gleichzeitig, von unten und ohne politische Parteien, anzugehen.

Das war sehr interessant und wichtig, als die Repression wirklich begann. Denn nach zwei Wochen begann die Polizei mit einer anderen Art der Repression, die wir vorher noch nicht gesehen hatten. Wir sind daran gewöhnt, dass die Robocops bei Riots da sind. Aber die Menge der Polizei die auf den Straßen anwesend war, war bei unseren Demonstrationen beispiellos. Es erinnerte uns an Gipfeltreffen; das Stadtzentrum war komplett blockiert. Besetzte Häuser wurden ständig überwacht, die Polizei versuchte zu verhindern, dass Menschen zu den Demonstrationen kommen. Sie nahmen bekannte Aktivisten ins Visier um sie daran zu hindern, sich den Protesten anzuschließen und stoppten wahllos Leute die sie für verdächtig hielten. Und nicht die gewöhnliche Polizei. Wir sprechen hier von Robocops, weit abseits der Proteste, was vorher nicht der Fall war. Eine große Anzahl von Menschen wurde von der Polizei schikaniert, angehalten und durchsucht. All das machte die Leute wütend und beunruhigte sie.

Der „schwarze Block“ – der, wie wir in den USA und anderswo gesehen haben als „Antifa“ bezeichnet wurde, wurde sehr schnell zum Staatsfeind erklärt. In der fünften Woche der Proteste gab es einen Konflikt zwischen dem schwarzen Block und der Polizei. Interessant war zu diesem Zeitpunkt, dass als dieser Konflikt ausbrach, andere Leute nicht zurückwichen. Denn zu diesem Zeitpunkt war klar, dass es die Anarchisten waren, dass es die Antifaschisten und Antiautoritäre waren, die von Anfang an dabei waren. Die Menschen kannten ihre Agenda und ihre Propaganda und kannten sie auch aus früheren Kämpfen. Sie wurden also nicht als das fremde Element der Proteste gesehen, wie wir es sonst oft in dieser Debatte „Gewalt gegen keine Gewalt“ sehen. Die Menschen schützten Menschen, die Schwarz trugen. Es ging so weit, und das ist wegen der drei Blöcke die ich vorhin erwähnt habe relevant, dass bei der nächsten Demonstration alle drei Blöcke erklärten, dass der Dresscode der Demonstration schwarz ist. Die Menschen haben sich also massiv schwarz gekleidet, um ihre Solidarität mit dem schwarzen Block zu bekunden, der zu dieser Zeit nicht nur von der Polizei, sondern auch von der rechtsextremen Presse und der Regierung auf Twitter usw. angegriffen wurde.

Dann fing langsam der Sommer an. Und es wurde klar, dass die Regierung zunächst einmal darin versagt hatte, uns zu unterdrücken. Denn je mehr die Polizei in die Proteste eingriff, desto wütender wurden die Menschen und desto mehr Menschen kamen. Und dann gelang es ihnen nicht, uns zu spalten, denn die alte Trennung zwischen den guten, friedlichen Demonstranten und den schlechten, ungezogenen und gewalttätigen Demonstranten scheiterte ebenfalls. Dann begannen sie mit der dritten Option: Sie mobilisierten eine kleine Anzahl organisierter Neonazi-Gruppen von Blood&Honour und anderen, die – und das wurde in der Vergangenheit nachgewiesen – eine Verbindung zu der Partei haben, die gerade an der Regierung ist. Und wieder sind sie gescheitert. Weil sie durch die schiere Zahl der Menschen und auch durch die antifaschistische Haltung der Leute vertrieben wurden. Als all diese also Dinge scheiterten, hat die Regierung glaube ich einfach damit begonnen darauf zu warten, dass die Menschen müde werden.

Werdet ihr müde?

Wir müssen uns daran gewöhnen, dass wir als der aktivere Teil der sozialen Bewegung herausfinden müssen, wie wir unsere Widerstandskraft sowohl gegenüber Repression als auch gegenüber Erschöpfung erhöhen können. Wir müssen uns überlegen, wie wir ständig mobilisiert sein können. Als soziale Bewegung müssen wir uns der Herausforderung stellen. Wir haben erkannt, dass wir andere Wege finden müssen, um sowohl füreinander zu sorgen als auch gemeinsam gefährlich zu sein. Denn die Regierungen, der Kapitalismus und andere Systeme der Unterdrückung werden einfach nicht aufhören. Und wir nähern uns mehr oder weniger der Tatsache, dass der historische Kompromiss mit der Arbeiterklasse, der zumindest in Europa zu einem Wohlfahrtsstaat geführt hat, vorbei ist. Und dass die einzige Option für die Fortsetzung eines Wohlfahrtsstaates in der Illusion besteht, dass dies nur noch für eine kleine, abgeschottete Gemeinschaft meist weißer, gebildeter und privilegierter Menschen im Westen auf Kosten aller, die sich außerhalb der europäischen Grenzen aufhalten, möglich ist.

Es wird immer mehr Spaltungen in der Gesellschaft geben, wir sind mit dem globalen Trend zur extremen Rechten konfrontiert. Und das alles sind Herausforderungen, die unsere Aufmerksamkeit und unsere Organisierung erfordern. Wir können also nicht einfach von ein paar Wochen oder ein paar Monaten des Protests müde werden, wir müssen neue Wege finden, um die politischen Konflikte zu erhalten. Denn es besteht die Gefahr, dass jeder Protest der lange andauert, zum Ritual wird, dass er sich wiederholt und es an politischem Konflikt mangelt. Es ist schwierig, Konflikte so lange zu führen, besonders in kleineren Ecken wie Ljubljana wo immerdie gleichen Leute gegen die gleichen Polizisten protestieren. Das sind alles sehr realistische Herausforderungen, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen. Aber als Anarchisten ist es wichtig, dass wir Teil dieser Versuche ,zu zeigen was es bedeutet zu kämpfen, sind. Denn die Situation mit Covid wird nicht verschwinden, und je mehr wir mit ihr konfrontiert werden, desto entbehrlicher wird unser Leben. Denn das Kapital wird sich einen weiteren Lockdown nicht mehr leisten können, was bedeutet, dass wir sterben werden. Und in Momenten wie diesem ist es umso wichtiger, neue Verbindungen auf der Straße zu knüpfen; neue Verbindungen zwischen Bewegungen, neue Verbindungen zwischen Initiativen. Und zu versuchen, eine verlässliche, selbstorganisierte Struktur gegenseitiger Hilfe zu schaffen und gleichzeitig dafür zu sorgen, dass die Staaten in Schach gehalten werden, mit dem was sie unter dem Vorwand dieser Covid-Krise tun.

Versucht ihr mehr Menschen zu organisieren? Oder passiert es schon, dass sich Menschen bestehenden Organisationen anschliessen?

Mit jedem Augenblick werden neue Menschen mobilisiert. Es ist der beste Weg, Menschen in Strukturen zu mobilisieren, aber natürlich müssen diese Strukturen auch vorhanden sein. In Ljubljana sind wir sehr privilegiert, da wir zwei Squats haben die Orte der Organisation radikalen Denkens und radikaler Praxis sind, nicht nur jetzt, sondern generell. Ich denke, es ist wichtig, diese Strukturen zu erhalten und viel mehr autoritäre Strukturen wie z.B. politische Parteien aus diesen Protesten herauszuhalten. Natürlich haben sie einen großen Appetit, die Früchte unserer Arbeit zu ernten. Aber wir haben es geschafft, dass dies Proteste keine Sachefür politische Parteien sind.t

Davon abgesehen zeigen wir in der Praxis, wie wir uns eine andere Art von Kollektivität vorstellen können. Was bedeutet es eine selbstorganisierte Nahrungsmittelversorgung und -produktion zu haben, was bedeutet es ein Zuhause zu haben, für das man keine Miete zahlen muss, was bedeutet es andere Strukturen zu haben, um unsere emotionalen Bedürfnisse zu befriedigen, die normalerweise etwas sind, bei dem sich die Menschen entweder auf den Staat oder das Kapital oder die patriarchale Institution Familie verlassen, um sie zu befriedigen. Das sind Herausforderungen mit denen wir alle fertig werden müssen.

Und sie werden in Zeiten der Mobilisierung oft vergessen. Denn während einer Mobilisierung liegt der Fokus auf den Straßen. Aber wir müssen lernen, dasswenn wir Squats verlieren, wenn wir in der Bewegung Orte verlieren, bei denen es sich anfühlt, als sei ihre Aufrechterhaltung eine Zeitverschwendung oder eine sehr konfliktfreie oder nicht radikale Art, Politik zu machen; wenn es also zu einer Situation kommt, wie wir sie jetzt gerade haben, dann wird einem erst klar wie wichtig diese Strukturen sind. Und ich spreche über alles, von besetzen Häusern über öffentliche Küchen bis hin zu unabhängigen Medien. All das. Denn mit dieser Infrastruktur können wir den Menschen tatsächlich zeigen, was es bedeutet sich anders zu organisieren, so dass sie sich inspirieren lassen und es selbst tun oder sich bestehenden Strukturen anschließen können. Ohne diese Strukturen wäre es jetzt kompliziert oder unmöglich, das Tempo und die Intensität beizubehalten, die wir gerade erleben. Um ehrlich zu sein, es wäre unmöglich. Es ist also klar, warum der Staat manchmal ein viel größeres Interesse daran hat uns aufzuhalten und unsere Projekte und unsere Infrastruktur zu zerstören, als dass wir Interesse haben sie aufrecht zu erhalten und pflegen. Aber in Zeiten, in denen wir nicht über eine so hohe Mobilisierung verfügen, ist es wichtig an der Erhaltung und Öffnung neuer Strukturen zu arbeiten, denn siespielen eine wichtige Rolle, wenn es heiß wird.

# Titelbild: Črt Piksi, Demo in Ljubljana

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Kriminelle Vereinigungen gibt es hierzulande zuhauf. Da wären zum Beispiel VW, DFB, ADAC und Wirecard, um nur einige wenige zu nennen, die zuletzt mit mafiösen Machenschaften aufgefallen sind. Hier und da wird sogar gegen die Verantwortlichen ermittelt, aber dass etwa beim früheren VW-Boss Martin Winterkorn SEK-Polizisten mit Maschinenpistolen im Anschlag die Tür eingetreten haben, ist bisher nicht bekannt geworden. Wer dagegen die Welt, die offenbar von derartigen Verbrecherorganisationen beherrscht wird, verändern will, der bekommt frühmorgens Besuch von schwer bewaffneten Kommandos – wie Aktivist*innen der Gruppe Roter Aufbau Hamburg am 31. August.

Tatsächlich sind die Razzien gegen 22 Beschuldigte nach Informationen des Lower Class Magazine von der Staatsanwaltschaft Hamburg mit dem Paragraphen 129 begründet worden, also dem Vorwurf der „Bildung einer kriminellen Vereinigung“, und nicht dem 129a, der sich gegen die „Bildung einer terroristischen Vereinigung“ richtet. Der erste Absatz des Paragraphen 129 lautet: „Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer eine Vereinigung gründet oder sich an einer Vereinigung als Mitglied beteiligt, deren Zweck oder Tätigkeit auf die Begehung von Straftaten gerichtet ist, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren bedroht sind.“

Um diesen Vorwurf zu untermauern bezieht sich die Staatsanwaltschaft in den Beschlüssen für die Durchsuchungen auf angebliche Straftaten der 22 Aktivist*innen. Dabei geht es einmal um den Brandanschlag auf zwei Privatfahrzeuge des Hamburger Polizeidirektors Enno Treumann am 23. September 2016 vor dessen Haus im Norden der Stadt. Zum zweiten wird einem Teil der 22 Beschuldigten vorgeworfen, bei der Demonstration im Industriegebiet Rondenbarg am ersten Tag des G-20-Gipfels am 7. Juli 2017 dabei gewesen zu sein. Über 80 Teilnehmer*innen des Aufzugs sollen demnächst für das Mitlaufen bei der Demo vor Gericht gestellt werden. Darüber hinaus sollen Aktivist*innen bei Demonstrationen zu Gewalt aufgerufen haben. Auch Aktionen gegen Faschist*innen sind den Ermittler*innen offenbar ein Dorn im Auge.

Ob das Material, welches die Staatsanwaltschaft gesammelt hat, für eine Anklage nach dem Paragraphen 129 StGB überhaupt reichen wird, ist dem Vernehmen nach noch völlig unklar. Das hängt offenbar auch davon ab, was die Staatsanwaltschaft noch an Informationen in der Hinterhand hat. Polizei und Justiz gehen in diesem Fall wie so oft nach der Devise vor: Erstmal gucken, was wir bei den Razzien finden und dann sehen wir mal, was daraus gebastelt wird. Der Paragraph 129 resp. der 129a des Strafgesetzbuches gilt nicht umsonst als Schnüffelparagraph.

Im dritten Absatz des Paragraphen 129 heißt es, dass der oben zitierte Absatz 1 nicht anzuwenden ist, „wenn die Begehung von Straftaten nur ein Zweck oder eine Tätigkeit von untergeordneter Bedeutung ist“. Das ist beim Roten Aufbau erkennbar der Fall. Selbst wenn die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft sich bewahrheiten würden, wäre die Gruppe immer noch keine Vereinigung, deren Zweck auf die Begehung von Straftaten ausgerichtet ist. Sondern die betreffenden Taten wären Mittel zum Zweck, der beim Roten Aufbau tatsächlich im Zentrum steht: die Überwindung eines menschenverachtenden Systems, das über Leichen geht. Abgesehen davon wären militante Aktionen, vorausgesetzt es hat solche gegeben, nur ein vermutlich kleiner Teil der Aktivitäten des Roten Aufbau. Viel mehr Raum nimmt die politische Bildungsarbeit ein, Verbreitung von Erklärungen und Öffentlichkeitsarbeit, Demonstrationen et cetera pp. Im Kulturladen der Gruppe „Lüttje Lüüd“ (plattdeutsch für „kleine Leute“) macht man offene Stadtteilarbeit, veranstaltet Vorträge und mehr. All dies ist nicht strafbar – oder eben doch, wenn die Überschrift dieser Aktivitäten ist, dass man eine gerechte Gesellschaftsordnung anstrebt.

Es ist offensichtlich: Die Razzien und das Ermittlungsverfahren dienen den Repressionsbehörden vor allem dazu, eine Gruppe, die seit über zehn Jahren eine gute Aufbauarbeit leistet und in der sich hauptsächlich junge Menschen für eine andere Welt einsetzen, zu stigmatisieren und unter Druck zu setzen. In der Öffentlichkeit soll der Rote Aufbau als klandestine Truppe vermummter „Chaoten“ hingestellt werden, um potentielle Anhänger der Gruppe abzuschrecken.

Damit wird auch die gesamte radikale Linke unter Generalverdacht gestellt.

Eine kraftvolle Antwort ist nötig! Am morgigen Sonnabend ist die Gelegenheit dazu, wenn der Rote Aufbau zu einer Demonstration unter der Überschrift „Standhalten gegen Repressionswelle & Klassenjustiz – gegen § 129/a/b“ mobilisiert, um 18 Uhr auf der Reeperbahn.

Im Aufruf zur Demo heißt es: „Der Wunsch nach einer anderen Welt treibt uns an und wird immer stärker sein als ihre Repression, wenn wir als linke Bewegung es schaffen trotz all unserer Differenzen zu verstehen, dass aktuell nicht nur eine Gruppe im Fokus steht, sondern die gesamte linke Praxis und weite Teile der Bewegung. Es ist Zeit aus seiner spezifischen linken Blase auszubrechen und zu verstehen, dass wir die ersten sind, aber wenn wir uns nicht zusammen dagegen wehren, wohl nicht die Letzten sein werden, die sie mit solchen Vorwürfen kriminalisieren. Unsere Solidarität wird ihrer Repressionswelle standhalten.“

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Am 28. Juli endete der Münchener Kommunistenprozess gegen 10 Linke aus der Türkei mit langjährigen Haftstrafen. Vorgeworfen wurde den Angeklagten dabei keine konkrete Straftat, sondern lediglich die Mitgliedschaft in der TKP/ML (Kommunistische Partei der Türkei/ML), die vom faschistischen Erdogan-Regime verfolgt wird. Wir trafen uns mit Süleyman Gürcan, Ko-Vorsitzuender der Konföderation der Arbeiter aus der Türkei in Europa (ATIK) und sprachen mit ihm über den Prozess.

In den vergangenen Jahren häuften sich Fälle staatlicher Verfolgung von türkischen Oppositionellen in Deutschland. Du hast den Prozess in München intensiv verfolgt, wie geht es den verurteilten Genoss*innen und wie bewertest Du den Ausgang des Prozesses?

Den Genoss*innen geht es sehr gut. So wie Müslüm Elma es am Anfang seiner letzten Rede vor Gericht gesagt hat: „Wir kommen aus einer Tradition des Widerstands“. Deswegen haben wir auch immer gesagt, wir kommen aus der Türkei und Kurdistan und dort gehören Tötungen, Massaker und Gefängnis zu unserer Geschichte. Ob es nun hier oder in der Türkei ist, Gefängnis macht uns nichts aus und wir leisten unseren Widerstand. Deutschland ist ein imperialistischer Staat. Die Türkei ist ein faschistischer. Ihre antikommunistische, konterrevolutionäre und gegen die Linke gerichtete Politik eint sie. Als Revolutionär rechnet man eben damit, in den Kerkern der Imperialisten und Faschisten zu landen, das gehört zu diesem Kampf dazu.

Deswegen haben unsere Genoss*innen auch vor Gericht von Anfang an zusammengehalten und gekämpft. Anfangs hatten wir etwas Sorge um Haydar B. Er ist etwas älter, im Gefängnis ist er 72 geworden. Auch der Hauptangeklagte Elma Müslüm war zuvor bereits 22 Jahre lang in der Türkei im Gefängnis, unter anderem im Gefängnis von Diyarbakir, in dem auf grauenvollste Art gefoltert wurde. Seine Gesundheit ist in Folge der Folter angeschlagen, umso mehr bereitete uns seine gesundheitliche Situation gerade im Kontext der aktuellen Pandemie und der verweigerten Haftentlassung Sorge. Zum Glück ist aber nichts passiert und es geht allen gesundheitlich gut.

Dieses Verfahren war ein Mammutprozess gegen die TKP/ML (Kommunitische Partei der Türkei/ Marxist-Leninist), weil sie seit Jahren zusammen mit der kurdischen Bewegung und anderen revolutionären Organisationen gegen den Faschismus in der Türkei kämpfen. Der Prozess wurde auch von Anfang an auf zwei Weisen begründet: Einmal, dass die TKP/ML eine kommunistische Partei ist, die eine Diktatur des Proletariats verteidigt. Und zum anderen wegen ihrer Zusammenarbeit mit der kurdischen Freiheitsbewegung. Deswegen ist dieser Prozess nicht nur gegen die TKP/ML, sondern gegen alle Kommunist*innen und insbesondere alle revolutionären Kräfte gerichtet, die in der Türkei den Kampf der kurdischen Bewegung unterstützen.

Der Prozess hat auch das Ziel, die Grundlage zu bieten, um vielleicht in Zukunft die TKP/ML zu verbieten oder die Unterstützung der TKP/ML durch Genoss*innen zu verhindern. Aber wir glauben nicht, dass sie das so einfach schaffen werden. Auch die letzten 5,5 Jahre also seit den Festnahmen im April 2015, haben gezeigt, dass es eine große Solidaritätskampagne gab. Auf internationaler Ebene wurde der Widerstand unterstützt, bis hin zu Aktionen in Brasilien oder auch in Mexiko, also weit über Europa hinaus. Aber auch hier waren viele aktiv auf der Straße, um den Widerstand der angeklagten Genoss*innen zu unterstützen.

Wenn ich mich nicht täusche ist die TKP/ML auf keiner Terrorliste, sie ist in Deutschland nicht verboten und den Angeklagten wurde auch keine einzige konkrete Straftat vorgeworfen. Ist der Prozess ein politisches Geschenk der BRD an die Türkei?

Ja, Du hast recht. Die TKP/ML ist außerhalb der Türkei nirgendwo verboten, sie steht auf keiner Terrorliste. Es gab auch keine konkreten Vorwürfe, die sich auf eine Veranstaltung oder Aktion bezogen hätten. Der einzige Vorwurf war, dass die Angeklagten zum Auslandskomitee der TKP/ML gehören würden. Ihre Aktivitäten umfassten aber nur Veranstaltungen zu Ibrahim Kaypakaya, Seminare, die in den Vereinen organisiert wurden und Demonstrationen. Wegen dem Terrorparagraphen 129 a/b aber können Personen, die angeblich Mitglied einer Organisation sind, die in einem anderen Land, Aktionen macht, allein wegen der angeblichen Mitgliedschaft verurteilt werden.

Das heißt, es gab keine direkten Vorwürfe an die Genoss*innen, sondern es wurde ihnen vorgeworfen, die Aktionen der TKP/ML und ihre Guerillaorganisation TIKKO in der Türkei zu unterstützen. Aber wie du gesagt hast, TKP/ML ist nirgendwo verboten. Und auch das Gericht hat Gutachter beauftragt, die selbst zu dem Schluss kamen, dass Vorwürfe, die Partei sei eine Terrororganisation, unhaltbar sind und dass es sich um eine Kommunistische Partei handelt. Die Zusammenarbeit des deutschen und türkischen Staates spielen in diesem Prozess eine große Rolle.

Die enge Kollaboration der Sicherheitskräfte und Nachrichtendienste der Türkei und Deutschlands hat ja eine lange Tradition. Wie bewertest Du die Rolle dieser historischen Beziehungen im Kontext der aktuellen Repression?

Schon Gesetze wie die Terrorparagraphen 129 a/b sind nichts Neues in Deutschland – die Tradition geht weit zurück bis zu den Sozialistengesetzen 1878 im Kaiserreich oder die Kommunistenprozesse 1852 in Köln. Ein Jahrhundert später dann das Verbot der KPD und die Berufsverbote. Das alles gehört zusammen, es ist eben ein weiterer, vor allem antikommunistischer Paragraph der Gesinnungsjustiz. Und die deutsche Staatsdoktrin ist seit Jahren antikommunistisch und antilinks, deswegen gab es auch immer solche Verfahren und Festnahmen. Aber mit der Kriminalisierung ausländischer Organisationen als „Terrororganisationen“, also der Erweiterung von 129a zu 129a/b, hat das eine neue Qualität bekommen.

Es hat zuerst 1993 mit einem großen Verfahren in Düsseldorf gegen die Arbeiterpartei Kurdistans PKK angefangen. Ähnlich wie heute bei der TKP/ML wurden auch damals zuerst Genoss*innen der PKK verurteilt und danach kam das PKK-Verbot. Ende der 90er gab es dann die Verfahren gegen DHKP-C und das anschließende Verbot. Zum Verfahren 1993 muss ich hinzufügen, dass damals Leute vom türkischen Geheimdienst MIT nach Deutschland eingeladen wurden, um Informationen zu teilen. Auch im Verfahren gegen die TKP/ML gab es solche Zusammenarbeit. Zudem ist klar, dass 129a/b politische Paragraphen sind, denn das Verfahren wurde erst durch eine Verfolgungsermächtigung aus dem Justizministerium möglich. Solche Entscheidungen von Ministerien sind politischer Natur, denn beiden Staaten haben eine enge Beziehung zueinander. Müslüm Elma sagte dazu passend in seiner letzten Ansprache vor Gericht: „Zeig mir deine Freunde und ich sage dir, wer du bist!“

Der deutsche und der türkische Staat sind seit Jahrzehnten eng verbündet. Deutschland stand im Hintergrund von fast jedem Massaker, das in der Türkei stattgefunden hat. Angefangen vom Genozid an den Armeniern, der unter deutscher Mittäterschaft stattfand. Beim Massaker an den Kurden 1938 in Dersim war das eingesetzte Giftgas aus Deutschland geliefert worden. Jenseits davon, dass die Türkei in beiden Weltkriegen Deutschland unterstützt hat, ist sie über Jahrzehnte hinweg, bis heute einer ihren größten Waffenkäufer. 2016 hab ich eine Recherche durchgeführt, dass mehr als 6000 deutsche Unternehmen in der Türkei aktiv sind. Das ist eine große Menge an Kapital, das nach Deutschland fließt, denn in der Türkei lässt sich mit billiger Arbeit viel Gewinn machen. Millionen Menschen arbeiten dort für deutsche Firmen, also gibt es neben den politischen Beziehungen auch eine tiefe wirtschaftliche Verbindung. Deshalb stören sich auch beide Länder daran, wenn es hier Proteste und Veröffentlichungen gibt. Und deshalb gibt es auch regelmäßigen Austausch zwischen den Sicherheitsbehörden. Jedes Quartal gibt es Sitzungen, in denen Informationen zu revolutionären Organisationen ausgetauscht werden.

Nach einer Kleinen Anfrage wurde Auskunft gegeben, dass es Mitte Mai 2014 in Deutschland ein Treffen von MIT und BKA im Rahmen dieser Quartalssitzungen gab, um über die TKP/ML zu sprechen. Dort wurden auch die späteren Festnahmen vorbereitet. Die Türkei hat tausende Seiten sogenanntes „Beweismaterial“ an deutsche Behörden geliefert. Auch durch den MIT illegal in Deutschland gesammelte Informationen wurden dabei verwendet. Dieser gesamte Prozess war eine gemeinsam vorbereitete Aktion.

Wie geht es jetzt für die Genoss*innen weiter?

Juristisch wird gegen das Urteil Revision eingelegt werden. Perspektivisch wird aber die Repression wahrscheinlich weitergehen und auch das, was sie „Nebenorganisationen“ der TKP/ML nennen, so wie ATIK und andere demokratische Massenorganisationen treffen. Wir hoffen es nicht, aber wir erwarten eine solche Entwicklung. Trotzdem werden wir unsere Arbeit weiterführen auch gegen diese Repressionen Öffentlichkeit zu schaffen. Während des Prozesses haben wir es geschafft, gute Öffentlichkeitsarbeit zu der Repression zu machen. Wie Müslüm Elma sagte, Widerstand ist ein Recht und dieses Recht in Anspruch zu nehmen ist kein Verbrechen! Deshalb werden wir auch weiterkämpfen.

Welche Folgen wird diese Repression haben und welche Handlungsmöglichkeiten gibt es für internationalistische und revolutionäre Kräfte, Solidarität zu zeigen? Die Repression ging ja früher gegen PKK und DHKP-C und jetzt TKP/ML.

Sie fangen mit den ausländischen revolutionären Kräften an, aber dann wird es auch vermehrt Repressionen gegen hiesige Organisationen geben, wie wir es bei G20 sehen konnten. Die ganze Bandbreite der Repression kam da zum Vorschein. Solange der Kampf weitergeht, wird es auch die Repressionen von staatlicher Seite geben. Was wir aber in diesem Prozess geschafft haben, ist, dass in mehreren Ländern sich viele Organisationen gegen die Repression zusammengetan haben. Das ist wichtig. Die internationale Solidarität ist in diesem Prozess praktisch geworden. Als am 15. April 2015 diese Festnahmen stattfanden gab es direkt Protestkundgebungen in mehreren Städten Europas, am darauffolgenden Samstag gab es eine Demonstration von 2500 Menschen in Frankfurt. Auch in Basel und Wien gab es Proteste. Später ein Jahr lang, jeden Monat, Kundgebungen vor den 10 verschiedenen Gefängnissen, in denen die Genossen inhaftiert waren! Wie schon gesagt, fanden weltweit Solidaritätsaktionen statt: in Brasilien, Mexiko, Nepal und Griechenland. Es gab ein Zusammenkommen von Marxisten-Leninisten bis Antifas, Soldaritätskommites, internationale Bündnisse und vieles mehr, die sich solidarisch erklärt haben. Perspektivisch sehen wir es so, dass diese gemeinsame Arbeit weiter gehen soll. Nicht nur zu diesem Prozess, sondern allgemein gegen Repression.

Als ATIK hat uns diese Solidarität die Aufgabe gegeben, diese Zusammenarbeit weiterzuführen. Müslüm Elma hat in seiner Rede, als er rauskam, mehrmals betont, dass wir alle zusammen gekämpft haben: „Ihr draußen und wir drinnen“ – und das ist unser gemeinsamer Sieg, denn alle inhaftierten Genossen haben gesagt, dass – obwohl sie keinen direkten Kontakt hatten – sie über die Anwälte von den Solidaritätsaktionen erfuhren und sich somit nie allein gefühlt haben.

Deshalb bedanken wir und bei allen Organisationen und Personen die uns unterstützt haben und führen unseren gemeinsamen Kampf weiter!

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Der Paragraph 129 des Strafgesetzbuches sowie der 129a sind als Gesinnungs- und Schnüffelparagraph bekannt, die von Staatsanwaltschaften und Polizei gern genutzt werden, um linke Gruppierungen zu kriminalisieren, unter Druck zu setzen und ihre Strukturen auszukundschaften. Der Vorwurf der „Bildung einer kriminellen Vereinigung“ oder „terroristischen Vereinigung“ lässt umfangreiche Ermittlungsmethoden zu. In Hamburg hat es größere Aktionen gegen Links unter diesem Label länger nicht gegeben – das hat sich am Anfang dieser Woche schlagartig geändert.

Am frühen Montagmorgen schlugen Hamburgs Staatsanwaltschaft und Polizei gegen jene Gruppe radikaler Linke zu, die sie schon lange im Fadenkreuz haben: den Roten Aufbau Hamburg (RAHH). Es war der größte Schlag gegen eine linke Gruppe in der BRD seit Jahren. Mehr als 200 Polizisten hatte die Staatsmacht aufgeboten, um insgesamt 28 Objekte zu durchsuchen. Einrichtungen der Gruppe, hauptsächlich aber Wohnungen vermeintlicher Aktivist*innen der Gruppe, fast alle in Hamburg, dazu je ein Objekt im westfälischen Siegen sowie in Tornesch und Stelle im Hamburger Umland. Durchsucht wurde auch der Info- und Kulturladen des RAHH „Lüttje Lüüd“ (plattdeutsch für: kleine Leute) im Hamburger Stadtteil Veddel.

In dürren Worten erklärten die Polizei Hamburg und die Generalstaatsanwaltschaft der Stadt in einer gemeinsamen Pressemitteilung, „nach umfangreicher Ermittlungsarbeit“ seien 28 Durchsuchungbeschlüsse vollstreckt worden, „umfangreiche Beweismittel“ sicher gestellt worden. Bereits seit 2019 ermittele der Staatsschutz des Landeskriminalamts gegen 22 Mitglieder des Roten Aufbau „wegen des Verdachts der Bildung einer kriminellen Vereinigung“. Eine ähnlich große Aktion gegen Links gab es in Hamburg wohl zuletzt im Mai 2007. Damals durchsuchten rund 300 Polizisten 14 Objekte in Hamburg, darunter die Rote Flora und den Malersaal des Schauspielhauses. Die Generalbundesanwaltschaft führte die Ermittlungen. Die Razzien richteten sich gegen 18 namentlich bekannte Personen der linksautonomen Szene, auf Grundlage des Paragraphen 129a. Den Beschuldigten wurde eine Serie von Brandanschlägen vorgeworfen.

Bei den Razzien am Montag dieser Woche waren auch mit Maschinenpistolen bewaffnete Beamte von Sondereinsatzkommandos (SEK) dabei. Sicher ist sicher, denn Linke bunkern ja bekanntlich jede Menge Waffen und haufenweise Sprengstoff daheim… Auch Halil Simsek, bekanntester Aktivist der Gruppe, bekam im Morgengrauen Besuch von Spezialisten. Schwer bewaffnete SEK-Beamte traten bei ihm die Tür ein. Seine sämtlichen Geräte wie Handy und PC seien mitgenommen worden. Für Simsek nichts Neues. Bereits kurz vor dem G-20-Gipfel im Sommer 2017 und dann noch mal im Dezember des Jahres stürmte die Polizei seine Wohnung. Unter dem Pseudonym „Deniz Ergün“ war Simsek Sprecher des Bündnisses „G 20 entern“ und des Camps im Volkspark.

Noch am Montagabend demonstrierten etwa 600 Linke spektrenübergreifend gegen diesen neuen Akt der Repression. In ersten Kommentaren in den sozialen Netzwerken wurde darauf hingewiesen, dass die Razzien sich gegen den Roten Aufbau richteten, aber alle Linken gemeint seien. In einer Erklärung auf ihrer Homepage warf die Gruppe der Staatsanwaltschaft vor, „ein „Konstrukt aus mehreren Tatkomplexen“ zu konstruieren, „die begründen sollen, dass wir eine kriminelle oder terroristische Vereinigung gebildet hätten“.

Welcher Paragraph zum Tragen komme, sei „immer noch nicht klar, weil die Behörden sich widersprechen“. Man gehe aber aktuell von einem § 129a-Verfahren aus, also „Bildung einer terroristischen Vereinigung“. Die Angriffe auf den Roten Aufbau zeige, „dass die Klassenjustiz im Dunkeln tappt und nun uns, die öffentlich wahrnehmbarste Struktur der radikalen G-20-Proteste, für alles verantwortlich machen will“.

Welt-Reporter Dennis Fengler, der vermutlich ein Feldbett in der Hamburger Polizeipressestelle hat, so gut wie seine Verbindungen zu den Sicherheitsbehörden sind, wusste am Montag zu berichten, der Rote Aufbau werde von den Behörden mit „zahlreichen Straftaten in Verbindung gebracht“. Welche das genau sein sollen, wurde nicht verraten. Nur dass es unter anderem um einen Brandanschlag am 23. September 2016 im Hamburger Norden geht. Damals brannten zwei Privatwagen des Polizeidirektors Enno Treumann, die im Carport vor dem Haus des Beamten abgestellt waren. Treumann war damals Chef der „Taskforce Drogen“, die seit April 2016 migrantische Kleindealer auf St. Pauli, im Schanzenviertel und in St. Georg jagte. Anfang Juni 2020 wärmte Hamburgs Polizei den Fall im ZDF-Magazin „Aktenzeichen XY… ungelöst“ auf und suggerierte eine Beteiligung Simseks an der Tat, ohne ihn namentlich zu nennen.

Zu dem Vorwurf, für diese Brandstiftung verantwortlich zu sein, werden den Beschuldigten wohl auch noch angebliche Straftaten bei der Demonstration im Industriegebiet Rondenbarg am ersten Tag des G-20-Gipfels, dem 7. Juli 2017, vorgeworfen. Damals zerschlug die berüchtigte brandenburgische Einheit „Blumberg“ der Bundespolizei einen Aufzug brutal, verletzte etwa ein Dutzend Demonstranten teilweise schwer. Auch Halil Simsek trug damals Verletzungen davon. Er gehört zu den über 80 Teilnehmern des Aufzugs, die demnächst für das pure Mitlaufen bei der Demo vor Gericht gestellt werden sollen. Es ist nicht ganz abwegig, dass die Razzien jetzt quasi als Vorspiel zu diesem grotesken Monsterverfahren dienen sollen.

In der Erklärung des RAHH heißt es weiter, die Hinzuziehung der SEKs bei den aktuellen Hausdurchsuchungen stelle „einen besonderen Versuch dar, uns und unser Umfeld einzuschüchtern“. MPs seien „eine besondere Qualität der Repression“. Die Gruppe dankte den Teilnehmer*innen der Spontandemonstration im Schanzenviertel: „dies gibt uns Kraft in dunklen Zeiten“, so heißt es wörtlich. Besonders wichtig sei gewesen, „dass spektrenübergreifend aufgerufen wurde, denn wir begreifen den Angriff auf uns als den Versuch die gesamte radikale Linke zu kriminalisieren“. Deswegen bedanke man sich auch für „die große Solidarität und Grüße aus den anderen Städten“.

Man werde „nicht einfach das Feld räumen“. „Wir sind KommunistInnen und werden uns niemals den Herrschenden beugen, es ist unsere Pflicht uns und unsere Geschichte zu verteidigen“, so der Rote Aufbau. Die Repression treffe „willkürlich auch Personen, die uns zugeordnet werden“. Allen Betroffenen werde empfohlen, politische StrafanwältInnen zu nehmen, da diese die Gesamtsituation im Blick behalten.

Anja Sommerfeld, Mitglied im Bundesvorstand der Roten Hilfe, bezeichnete die Razzien als „die größten Angriffe der letzten Jahre auf organisierte linke Strukturen“. Nur zwei Tage nachdem Neonazis die Stufen des Reichstages erklimmen konnten, ohne nennenswert daran gehindert worden zu sein, hätten die Repressionsbehörden nichts Besseres zu tun, als eine aktive linke Gruppe zu kriminalisieren. Als Begründung werde einmal mehr „der Gesinnungs- und Strukturermittlungsparagraf 129 angeführt“. Es handele sich offenkundig um einen gezielten Einschüchterungsversuch gegen die gesamte linke Bewegung. Die Rote Hilfe rufe alle Linken auf, sich gegen diese Provokation öffentlich zu positionieren.

Jetzt ist Solidarität gefragt!

# Titelbild: indymedia, CC-BY-SA 3.0 Solidemo mit dem Roten Aufbau in Magdeburg

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