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Am 12.05 verbat die Berliner Polizei zahlreiche palästinensische oder palästinasolidarische Veranstaltungen, die den jährlichen Nakbatag (15.05.) begehen oder an die Ermordung der palästinensischen Journalistin Shireen Abu Akleh (11.05.22) durch die israelische Armee erinnern wollten. Das OVG Berlin bestätigte diese Entscheidung am 13.05. Unmittelbar nach dem Bekanntwerden der Demoverbote hat sich ein Bündnis gegründet. Unser Autor Mohannad Lamees hat mit Aktivist:innen aus dem Bündnis über ihre Arbeit gesprochen.

Was bedeuten diese Demoverbote aus Eurer Sicht? Wie bewertet Ihr diese Entwicklung?

Wir begreifen die Verbote als Angriffe auf das palästinensische Leben in Deutschland, auf den palästinensischen Widerstand und auf das palästinensische Gedenken. Die Verbote stehen in einer langen Tradition von Repression gegen pro-palästinensische Bewegungen in Deutschland und sind, auch wenn sie sicherlich eine neue Stufe des schamlosen Gebarens der BRD darstellen, an sich nichts neues. Bereits vor einigen Wochen hatten die Berliner Behörden palästinensische Demos pauschal und präventiv verboten. Letztes Jahr gab es massive Polizeigewalt gegen palästinensische und palästinasolidarische Demonstrierende. Trotzdem wächst die Unterstützung für die palästinensischen Bewegungen in der Bevölkerung. Und nicht nur das, die Unterstützung wächst ganz konkret für junge revolutionäre pro-palästinensische Bewegungen, die die Rolle des deutschen Staates als Mittäter begreifen. Es ist deswegen nicht überraschend, dass die Behörden mit solcher Härte gegen die Demos vorgehen und verhindern wollen, dass sich die Solidarität mit Palästina auf den Straßen Bahn bricht. Ganz nüchtern müssen wir feststellen: Der deutsche imperialistische Staat reagiert auf die palästinensische Bewegung so, wie auf alle anderen revolutionären Bewegungen auch – also mit offener Gewalt.

Ihr habt unmittelbar nach dem Bekanntwerden der Demoverbote ein Bündnis gegründet. Warum?

Die Antwort ist recht einfach: Wir haben aus unseren Fehlern gelernt. Nach den Angriffen letztes Jahr auf die Nakba-Demos in Berlin haben wir organisierte Gruppen es weder geschafft, die Repressionen ausreichend zu thematisieren noch die direkt Betroffenen in irgendeiner Weise zu begleiten oder zu unterstützen. Auch bei dem Demoverbot Ende April gab es zwar kämpferische Statements – eine Reaktion auf der Straße konnten wir aber nicht zeigen. Dieses Mal konnten wir diese Fehler korrigieren, indem sich sofort nach Bekanntwerden der Verbote einige palästinensische und palästinasolidarischen Gruppen getroffen haben und ein gemeinsames Ziel festgelegt haben. Dieses Ziel war, organisiert und geschlossen eine Reaktion gegen die Repression auf die Straßen Berlins zu tragen. In der kurzen verbliebenen Zeit – das Bündnis hatte nur 4 Tage, um sich zu formieren und zu organisieren – konnten wir durch die gebündelten Kräfte trotzdem einiges an Energie freisetzen.

Was ist dann am Nakbatag in Berlin passiert? Wie bewertet ihr die Ereignisse?

Wir haben die Ereignisse in Berlin im Bündnis als Erfolg ausgewertet. Es ist gelungen, den Verboten zu trotzen und ganz eindeutig ein Zeichen von den Straßen Neuköllns in die ganze Welt zu senden, nämlich dass die Verbote nicht hingenommen werden, dass die Angriffe den palästinensischen Widerstand nicht aufhalten können, dass die gemeinsamen Rufe revolutionärer Gruppen für die Freiheit des palästinensischen Volkes nicht verstummen.

Es gab an dem Tag eine Demonstration durch den Berliner Stadtteil Neukölln gegen Umweltzerstörung im Globalen Süden. Dort wurde nicht nur Klimagerechtigkeit und das Ende der imperialistischen Ambitionen des deutschen Staates auf der ganzen Welt gefordert, sondern natürlich wurden immer wieder lautstark und gemeinsam Rufe für die Freiheit des palästinensischen Volkes angestimmt. Auf der Sonnenallee, also auf der Straße, die immer wieder im Visier rassistischer staatlicher Repression steht, wurde die Demonstration dann von aggressiven Polizeitrupps ausgebremst, in eine Seitenstraße gelenkt und dort zum Stehen gebracht. Zahlreiche Anwohner:innen und Passant:innen zeigten sich spontan solidarisch mit der Demonstration und stimmten in die Rufe ein. Die Polizei drang schließlich gewaltsam in die Demonstration ein und nahm einige Personen fest. Von ausnahmslos allen Demonstrierenden wurden die Personalien festgestellt, es wurden Bußgelder und Gewahrsam angedroht sowie weiträumige Platzverweise ausgesprochen.

Nur wenige Hundert Meter entfernt kam es dann fast zeitgleich bei einem pro-palästinensischen Flashmob ebenfalls zu massiver Repression.

Das Vorgehen der Bullen war dabei brutal. Teilweise wurden willkürlich am Straßenrand stehende Personen festgenommen, nur weil sie arabisch aussahen oder Dinge trugen, die als pro-palästinensisch identifiziert wurden. Es wurde mehr als deutlich, dass die Polizei racial profiling, Einschüchterung und Gewalt bereitwillig eingesetzt hat, um ihre Ordnung durchzusetzen.

Überall auf den Straßen Neuköllns zeigten die Menschen deutlich, auf welcher Seite sie stehen, überall gab es Solidarität und Freude über die Aktionen für Palästina. Den ganzen Tag wurde auf der Sonnenallee darüber gesprochen, wie es gelungen war, eine pro-palästinensische Demo abzuhalten, obwohl die Bullen pausenlos im Vorfeld mit Wannen Streife fuhren und die Kreuzungen belagert hatten. Für uns steht deshalb fest: Der Nakbatag war ein Kampftag gegen die Repression und gegen die ganze Mittäterschaft des deutschen Staates in der Unterdrückung der Palästinenser:innen.

Die brutale Repression gegen Palästinenser:innen und Palästinasolidarische in Deutschland hat Tradition. Man denke an die Abschiebungswellen gegen dutzende Palästinenser:innen in Folge des Verbots der Generalunion Palästinensischer Studenten (GUPS) und Generalunion Palästinensischer Arbeiter (GUPA) 1972/73. Bei der Deutschen Welle gab es Anfang 2022 eine Säuberung, bei der mehrere Mitarbeiter:innen ihren Job nach inquisitionsartigen Befragungen zum Thema Israel-Palästina verloren. Letztes Jahr haben in ganz Deutschland, auch in Berlin, Demonstrationen und Kundgebungen zum Nakbatag stattgefunden, die Polizei ist hart in die Veranstaltungen reingegangen. Dieses Jahr wurden alle Veranstaltungen in Berlin verboten; wer eine Kufyie anhatte oder „Free Palestine“ rief, wurde verhaftet. Wieso sind Palästinenser:innen und Palästinasolidarische so gefährlich für den deutschen Herrschaftsapparat?

Hier müssen wir ein wenig ausholen. Zuallererst lässt sich feststellen, dass die Bundesrepublik quasi seit ihrer Gründung nach dem Zweiten Weltkrieg in einem besonderen Verhältnis zum zionistischen Staat Israel steht. Das auch heute allgegenwärtige moralische Argument, wonach die BRD die deutsche Schuld über die industrielle Vernichtung der jüdischen europäischen Bevölkerung schultert und deswegen fest an der Seite des zionistischen Staates Israels stehen müsse, hat seinen Ursprung in den 1950er Jahren. Der im September 1952 zwischen der BRD und Israel unterzeichnete Vertrag über Reparationszahlungen an den Staat Israel wurde damals von der deutschen Regierung, allen voran Konrad Adenauer, als moralische Pflicht inszeniert. Wir wissen aber, dass diese Moral nur vorgeschoben war, und der Vertrag viel eher zustande kam, weil sich den imperialistischen Interessen der Westmächte, vor allem der USA, gebeugt wurde. Durch den Vertrag mit den Zionist:innen wurde außerdem die Tür für Verhandlungen mit den Westmächten über wirtschaftliche Vorteile für die junge BRD aufgemacht. Ganz nebenbei erfüllte dieses moralische Argument auch die Funktion, von der Nazi-Vergangenheit zahlreicher BRD-Staatsapparate und BRD-Staatsmänner abzulenken. 

Warum ist das so wichtig? Zum einen verhalf die BRD mit diesem Vertrag und den vereinbarten Zahlungen, sowie den sich in den 60er Jahren anschließenden und bis heute laufenden militärischen Unterstützungen, dem damals wirtschaftlich schwachen Israel zu großer Stärke. Westdeutschland ermöglichte so unter anderem die israelische Kriegsführung in den 50er und 60ern gegen die Palästinenser:innen und gegen die arabischen Nachbarstaaten. Zum anderen war die Unterstützung Israels damals  – und ist es auch noch heute  – das goldenene Ticket für den wiedererstarkten deutschen Imperialismus. Wenn wir also danach fragen, wieso seit den 60er Jahren so vehement gegen Palästinenser:innen in Deutschland vorgegangen wird, dann muss die Antwort lauten: Weil der deutsche Imperialismus die bedingungslose Solidarität mit dem Zionismus nicht nur mit Verträgen mit und Waffenlieferungen an Israel zur Schau stellt, sondern eben auch durch hartes Durchgreifen im eigenen Land.

Dass diese Politik nichts Moralisches an sich hat, verstehen mittlerweile immer mehr Menschen in Deutschland. Es ist absurd, dass Bundespräsident Steinmeier letztes Jahr im Juli, nur einige Wochen nach den massiven israelischen Angriffen auf die palästinensische Zivilbevölkerung, einen Staatsbesuch in Israel machte und dem Rassisten Naftali Bennet die Hand schüttelte. Absurd ist auch, mit welcher Wucht der deutsche Staat und die bürgerliche Öffentlichkeit gegen jedwede Solidarität mit dem palästinensischen Volk vorgehen – es hagelt Verbote, Entlassungen, Strafen und Abschiebungen. Deutschland ist mittlerweile das reaktionäre Zentrum des Anti-Antisemitismus, mit dem jedweder Antizionismus, eigentlich sogar jeder Anti-Imperialismus, pauschal als antisemitisch bezeichnet und verfolgt wird. 

Zwar wird das noch immer mit der deutschen Schuld und der angeblich vorbildhaften Aufarbeitung der Nazi-Herrschaft begründet. Den eigentlichen Grund dafür können wir aber nur verstehen, wenn wir erkennen, dass der deutsche Imperialismus, gerade in einer Zeit der Krise und Schwäche, sich mit aller Macht gegen laut werdenden Widerstand und Protest zur Wehr setzt. Die Palästina-Frage offenbart wie kaum ein anderes Thema, mit Ausnahme vielleicht der Kurdistan-Frage, den imperialistischen Charakter dieses deutschen Staates. Und dieser Staat bekämpft die pro-palästinensische Bewegung genau deshalb, weil die Angst groß ist, dass aus der Palästina-Bewegung eine breitere anti-imperialistische Bewegung wachsen kann, die den deutschen Imperialismus selbst ins Visier nimmt.

Nach der Repression am Tag der andauernden Nakba forderte die CDU, Palästinenser:innen und solche, die sich mit ihnen solidarisieren, im Vorfeld von Demos in Gewahrsam zu nehmen. Was würde das bedeuten?

Eine Sache ist uns wichtig, bevor wir genauer auf die Frage eingehen: Die Repressionen am Tag der Nakba und im Vorfeld haben uns in Berlin nicht die CDU oder andere als „rechts“ geltende Parteien eingebrockt, sondern die Rot-Grün-Rote Koalition. Die Repression gegen pro-palästinensische Gruppen, aber auch gegen viele andere revolutionäre Organisationen ist keine Sache, die von einzelnen Parteipolitiken abhängig ist – gerade, weil sie aus dem deutschen Imperialismus an sich erwächst, der von allen bürgerlichen Parteien mitgetragen wird. Dass die Berliner CDU nun noch einen draufsetzt, sollten wir erstmal als Oppositionspolitik verstehen – ähnlich hatte beispielsweise auch letztes Jahr nach den Nakbatag-Demos auf Bundesebene die Linkspartei reagiert, als Dietmar Bartsch Horst Seehofer aufforderte, noch härter gegen Antisemitismus auf deutschen Straßen vorzugehen.

Trotzdem zeigen die aktuellen Forderungen, dass sich der deutsche Staat immer weiter die Maske vom Gesicht zieht und seinen wahren, repressiven Charakter zeigt. Dass bereits heute als „antisemitisch“ kategorisierte Geflüchtete abgeschoben werden können und Hunderttausende de facto so eingeschüchtert werden, um sie von politischer Aktivität abzuhalten, ist bekannt. Wenn nun auch mehr und mehr Befugnisse im Vorfeld von eigentlichen Straftaten erteilt werden könnten, so ist das eine Entwicklung, die uns zeigt, dass der imperialistische Staat die Zügel anzieht – und wir noch lange nicht am Ende der Repression sind. Darauf sollten wir aber nicht mit Empörung

reagieren oder überrascht sein – als revolutionäre Kräfte müssen wir darauf gefasst sein und Wege finden, diesem Staat trotzdem Paroli zu bieten.

Ihr hab Euch wegen der staatlichen Repression am Nakbatag verbündet. Mit der Roten Hilfe gibt es bereits eine breite Solidaritätsstruktur gegen staatliche Repression, warum habt Ihr ein eigene Organisierung für notwendig erachtet?

Unser Bündnis versteht sich nicht als Alternativangebot zur Roten Hilfe. Ganz im Gegenteil. Genoss:innen von der Roten Hilfe waren und sind während der Bündnisarbeit extrem wichtig für uns gewesen, indem sie uns beraten haben und mit uns zusammen geplant haben, wie wir eine Reaktion auf der Straße zeigen können. Die Rote Hilfe wird auch direkt Betroffene der Repressionen gegen die Nakbatag-Aktionen unterstützen. Das ist ein wichtiger Schritt für uns alle. Wir können so deutlich zeigen: Die palästinensische Sache muss Sache der Linken sein!

Wird das Bündnis über die Repression im Zusammenhang mit dem Nakbatag 2022 heraus bestehen bleiben? Was sind Eure Ziele?

Ja, das Bündnis bleibt bestehen und soll demnächst auch einen Namen bekommen. Momentan arbeiten wir daran, die weitere politische Arbeit auszugestalten. Unser Ziel ist,die gemeinsame Arbeit revolutionärer Kräfte gegen die staatlichen Repressionen weiter voranzutreiben. Bereits vor dem Wochenende des Nakbatags hatten wir im Bündnis festgehalten, dass es nicht nur um die Demos an diesem Tag und auch nicht nur um die Palästina-Frage geht. Der Staat führt einen Kampf gegen alle revolutionären Bewegungen. Allein im Mai 2022 hat sich bei den Repressionen gegen die revolutionäre Abenddemo am Arbeiter:innenkampftag, am Tag der Befreiung vom Faschismus durch die Rote Armee und bei den Angriffen auf kurdische und türkische Genoss:innen gezeigt, dass wir alle gleichermaßen angegriffen werden. Das Bündnis hat sich zum Ziel gesetzt, die Verbindungen dieser Repressionen zu betonen und gemeinsam Antworten darauf zu geben.

Darüber hinaus wollen wir als Bündnis fest an der Seite derjenigen stehen, die von den Repressionen am Nakbatag unmittelbar betroffen sind. Dazu haben wir bereits in den ersten Tagen nach den Ereignissen ein Offenes Treffen veranstaltet, damit sich niemand mit den Repressionen und Angriffen alleine gelassen fühlen muss. Wir planen, die Rechtsfälle zu begleiten und Unterstützung zu leisten – in Form von Austausch, Beratung, und wenn wir es stemmen können, auch finanzieller Hilfe. Am wichtigsten ist für uns aber die politische, die revolutionäre Antwort auf die Repressionen – wir wollen weiterhin zeigen, dass gemeinsame Organisierung der Weg ist, um trotz Verboten und Anklagen die Straßen freizukämpfen.

Wie kann diese revolutionäre Antwort genau aussehen? Was bedeutet es, „revolutionär“ zu sein in Bezug auf staatliche Repression?

Auch wenn wir jetzt viel über die Demoverbote gesprochen haben: Repression, das ist nicht nur Demoverbot, Platzverweis und Polizeiknüppel. Dieser Staat dient der herrschenden kapitalistischen Klasse und wird mit allen erdenklichen Mitteln immer wieder gegen diejenigen vorgehen, die gegen diese Vorherrschaft kämpfen. Nicht nur auf Demos, sondern jeden Tag im Beruf, in der Schule, auf Ämtern, ideologisch, organisatorisch, politisch – alles was dieser Staat tut, um das Ausbeutungsverhältnis aufrecht zu erhalten, ist Repression. Wenn wir das verstehen, dann wissen wir auch, was die revolutionäre Antwort auf Repression ist. Nämlich nicht der Appell an mehr Menschlichkeit und Zugeständnisse, sondern der konsequente Kampf gegen das kapitalistische System und für den Sozialismus.

Dazu kommt: Dieses kapitalistische System, in dem wir alle leben, erzieht uns zur Passivität und zum Einzelgängertum. Viel zu oft nehmen wir Beschränkungen und Verbote einfach hin. Dass es am Nakbatag geklappt hat, sich trotz eines von den Behörden ausgesprochenen Verbotes und in vollem Bewusstsein über den Aufmarsch von Tausenden Bullen in Berlin-Neukölln trotzdem gemeinsam diesem zu widersetzen, das ist ein wichtiger Schritt, um aus dieser Passivität und Hörigkeit rauszukommen. Deswegen haben wir auch vor und nach den Aktionen Statements und Aufrufe in ganz Berlin verteilt, um allen deutlich zu machen: Wir werden die Verbote nicht hinnehmen! Und wir widersetzen uns, weil wir in die Stärke unserer gemeinsamen Organisierung vertrauen können. Das ist in unserer momentanen Lage das allerwichtigste und das müssen wir immer wieder betonen, dafür müssen wir ein breites Bewusstsein schaffen: Wenn wir uns zusammentun, sind wir stark. Der Erfolg am Nakbatag war ein Beispiel dafür. Wir müssen nun noch viel mehr solcher Beispiele schaffen!

#Titelbild: Bündnisarchiv

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Die Gruppe Palestine Action hat sich im Juli 2020 gegründet. Ihr Ziel ist es, die britische Komplizenschaft am zionistischen Siedlerkolonialismus in Palästina und die damit verbundene militärische Besatzung und Unterwerfung der indigenen Bevölkerung zu beenden. Dieses Ziel verfolgen die Aktivist:innen mittels direkter Aktionen gegen Firmen, die sich an dieser Kolonisierung und der ethnischen Säuberung Palästinas beteiligen. Die wirkmächtigste Kampagne ist der immer noch andauernde Kampf gegen Elbit Systems, der größte israelische private Waffenhersteller. Unser Autor Marik Ratoun hat mit Aktivist:innen der Gruppe über den direkten Kampf gegen die britische Mittäterschaft am Kolonialismus in Palästina gesprochen. Die Gruppe plant bald eine Vernetzungsreise nach Deutschland.

Wie kam es zur Gründung von Palestine Action und warum habt ihr die Notwendigkeit für direkte Aktionen gegen an den Verbrechen beteiligte Firmen gesehen?

Im Sommer 2020 fand sich eine Gruppe von Aktivist:innen mit unterschiedlichem Hintergrund zusammen, die alle das Ziel hatten, den Waffenhandel Israels hier in England und Wales direkt zu beeinflussen. Einige waren bereits an den sporadischen direkten Aktionen gegen Elbit (das seine Waffen als „kampferprobt“ an den Palästinenser:innen vermarktet) in den vergangenen sechs Jahren beteiligt. Wir waren uns alle einig, dass mehr getan werden muss, sowohl was die Häufigkeit der Aktionen als auch das Ausmaß des Schadens für das Unternehmen angeht. Wir hatten viele Einflüsse aus früheren Bewegungen, aber der jüngste Erfolg von Extinction Rebellion (XR), das so viele Menschen mobilisiert hat, aktiv zu werden und eine Verhaftung zu riskieren, gab uns die unerschütterliche Überzeugung, dass eine ähnliche, jedoch radikalere und militantere Bewegung für Palästina gebildet werden könnte. Eine Bewegung, die direkt handeln würde, anstatt andere zu bitten, den Wandel zu bewirken. Einige der Teilnehmer:innen an diesem Treffen hatten ihre Zeit und Energie in die Mainstream-Politik gesteckt. Nach dem politischen Tod von Jeremy Corbyn kamen sie zu dem Schluss, dass dieser Weg für immer verschlossen war. Andere kamen bereits mit der Einstellung zu uns, dass die Mainstream-Politik und insbesondere die Parteipolitik nicht der Weg war, den sie gehen wollten oder den sie als einen Weg sahen, der zum Erfolg führen könnte. Alle waren sich einig, dass Märsche, Demonstrationen, Petitionen und Ähnliches ziemlich sinnlos und irrelevant waren, und die Aktivist:innen sehnten sich nach mehr Aktionen. Viele waren enttäuscht über die Standardtaktik der Palästina-Solidaritätsbewegung in England und Wales und darüber, dass die an dieser Arbeit beteiligten Nichtregierungsorganisationen nicht radikal, mutig oder risikofreudig genug waren, um einen bedeutenden Wandel zu bewirken.

Und wie habt ihr Euch dann zusammengefunden?

Entscheidend ist, dass Palestine Action mit einer Aktion begann! Eine kleine Gruppe von uns drang in das Hauptquartier von Elbit im Zentrum von London ein, störte den Betrieb und beschädigte das Innere des Gebäudes mit Farbe und Graffiti. In der darauffolgenden Woche kehrten wir in die Zentrale zurück, und von da an gingen die Aktionen immer schneller weiter. Wir haben immer gesagt, dass wir uns auf Aktionen konzentrieren wollen. Wir waren alle schon in Gruppen, die viel geredet, aber nie auf dem Spielfeld gespielt haben. Bei Palestine Action dreht sich alles um direkte Aktion, das steckt schon im Namen!

Mich interessiert ein praktischer Aspekt eurer Arbeit. Wie lange könnt ihr Fabrikhallen halten oder die Produktion von mörderischen Waffen wie z.B. Drohnen sogar unterbrechen? Findet Ihr Eure eigenen Aktionen „erfolgreich“, sind sie vor allem symbolisch?

Unsere Aktionen sind nicht symbolisch. Alle unsere Aktionen zielen darauf ab, die Unternehmen zu schädigen oder zu zerstören, die vom Tod und der Vernichtung des besetzten palästinensischen Volkes profitieren. Obwohl wir rote Farbe verwenden, um das palästinensische Blut zu symbolisieren, das Elbit vergießt, verursacht diese Farbe auch materiellen Schaden für das Unternehmen. Unsere Besetzungen haben bis zu 6 Tage gedauert und das Werk die ganze Zeit über lahmgelegt. Der Schaden, den wir an der Infrastruktur des Unternehmens verursachen, bedeutet darüber hinaus oft, dass es nach unseren Aktionen wochenlang nicht betriebsbereit ist. Wir glauben, dass Wirtschaftssabotage nicht nur gerechtfertigt ist, sondern auch das Einzige, was diese Unternehmen zum Rückzug zwingen wird. Uns geht es darum, materielle Veränderungen herbeizuführen, nicht um Stunts, die den Eliten noch gefallen. Die britische Regierung ist schon viel zu lange mitschuldig an den Verbrechen, als dass man sie jetzt plötzlich umstimmen könnte, denn das ist offen gesagt eine Wahnvorstellung. Wir, und vor allem das palästinensische Volk, haben keine Zeit, das lange politische Spiel zu spielen. Wir schließen diese Orte selbst und wenden uns nicht an andere. Wir haben die Macht, dies selbst zu tun, und immer mehr Menschen erkennen das, schließen sich uns an und werden aktiv.

Ihr habt schon oft Standorte von Elbit besetzt (zuletzt am Nakba-Tag das Hauptquartier in Bristol). Einige Eurer Aktivist:innen waren bzw. sind noch in Gewahrsam und haben Rechtsprozesse am Hals. Wie ist die Repression in UK auf diese Aktionen und wie wehrt ihr Euch dagegen?

Wir haben großartige Anwälte/Anwältinnen! Tatsächlich wurde in England und Wales noch nie jemand erfolgreich strafrechtlich verfolgt, weil er/sie gegen Elbit vorgegangen ist, obwohl über 160 Personen wegen verschiedener angeblicher Straftaten wie Sachbeschädigung, Einbruchdiebstahl, schwerem Hausfriedensbruch und anderen Dingen festgenommen wurden. Zahlreiche Personen warten auf ihre Gerichtsverhandlung, die sich jedoch ständig verzögert. Nur in einem Fall kam es zu einer Gerichtsverhandlung, bei der die Aktivist:innen für nicht schuldig befunden wurden, obwohl sie Flaschen mit roter Farbe auf die Fassade des Gebäudes geworfen und sich an das Tor gekettet hatten. Der Richter sagte, dass ihre Aktionen verhältnismäßig waren, wenn man bedenke, was Elbit tue! Wir machen diese Aktionen aber nicht wegen des Gesetzes, sondern trotz des Gesetzes und weil es moralisch richtig ist! Auch bei uns gab es zahlreiche Hausdurchsuchungen, und einige unsere Gründer:innen wurden im Rahmen der Terrorismusbekämpfung verfolgt. Die Polizei nahm ihnen unrechtmäßig ihre Pässe ab. Nur drei Wochen nach der Gründung von Palestine Action trafen sich hochrangige Regierungsvertreter:innen, darunter der derzeitige stellvertretende britische Premierminister, mit dem israelischen Ministerium für strategische Angelegenheiten und diskutierten über die Zerschlagung unserer Bewegung. Sie haben auf königliche Weise versagt. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall: Immer mehr Menschen schließen sich uns an und werden aktiv, egal was der Staat uns vorwirft!

In UK gibt es eine breite Solidaritätskampagne für Palästina (z.B. die Palestine Solidarity Campaign). Wie ist die Reaktion auf Eure Aktionen in diesem Umfeld, wie im Umfeld der radikalen Linken.

Als Graswurzelbewegung gewöhnlicher Menschen überrascht es nicht, dass wir im Allgemeinen keine Unterstützung von NGOs oder politischen Gremien erhalten haben. Was wir jedoch haben, ist die Unterstützung der Menschen. Menschen, die diese bürgerlichen Organisationen vielleicht unterstützen oder Mitglieder sind, aber die Führungen der Organisationen selbst fühlen sich durch uns und unsere Erfolge bedroht. Sie haben sogar schamlos versucht, uns mit unbegründeten Anschuldigungen anzugreifen. Es gibt jedoch einige bemerkenswerte Ausnahmen. So weist z.B. die Feuerwehrgewerkschaft ihre Mitglieder regelmäßig an, die Polizei nicht bei der Entfernung unserer Demonstranten zu unterstützen.

Auch in Deutschland gibt es Standorte von Elbit oder der Firma Heidelberg Cement, die Steinbrüche in der Westbank betreiben und Materialen für die zionistischen Siedlungen bereitstellen. Darüber hinaus unterstütz Deutschland die israelische Regierung sogar direkt mit Waffen und Zahlungen militärischer Hilfe. Denkt ihr vor diesem Hintergrund, dass eine ähnliche Bewegung in Deutschland notwendig ist und möglich wäre?

Ja, zu 100 Prozent. In der Tat haben wir eine junge Gruppe von Palestine Action Berlin, und es gab auch einen anonymen Anschlag auf das Elbit-Gebäude dort. Wir sehen keinen Grund, warum unser Erfolg hier nicht auf der ganzen Welt als Teil des internationalistischen Kampfes für Palästina nachgeahmt werden kann. Tatsächlich beabsichtigen wir, Deutschland bald zu besuchen, um uns mit Gruppen und Individuen zu vernetzen, Gespräche und Workshops zu führen und eine ähnliche Kampagne in Deutschland in Gang zu setzen.

Während der israelischen Welle der Gewalt in Palästina im Mai 2021 haben italienische Werftarbeiter:innen Waffenlieferungen nach Israel blockiert. Wie kann in diesem Kontext Euer Internationalismus die Befreiung der Palästinenser:innen vom Kolonialismus unterstützen ?

Das war eine wunderbare Aktion und ein weiteres Beispiel dafür, wie man sich mit direkten Aktionen einmischen kann, ohne andere darum zu bitten. Wir wollen mehr davon sehen! Für uns gibt es ein paar wichtige Prinzipien, um eine erfolgreiche direkte Aktion durchzuführen (und wir haben Erfahrung mit einer erfolgreichen Kampagne, nachdem wir die Fabrik von Elbit in Oldham dauerhaft geschlossen haben). Erstens muss sie disruptiv sein, idealerweise schädigend! Sie muss auch nachhaltig sein. Wie wir bereits erwähnt haben, gab es vor Palestine Action sporadische Aktionen gegen Elbit, die aber kein Dilemma für das Unternehmen oder den Staat darstellten, abgesehen von einer leichten Störung konnte ganz normal weiterproduziert werden. Der Nachdruck unserer Aktionen, die Höhe des verursachten Schadens und die schiere Anzahl der Menschen, die sich an der Aktion beteiligten, sind die entscheidenden Faktoren.

Gibt es noch etwas, was Ihr hinzufügen möchtet?

Wie bereits erwähnt, haben wir vor, nach Deutschland zu kommen und bitten daher alle interessierten Gruppen und Einzelpersonen, mit uns in Kontakt zu treten und uns zu Gesprächen/Workshops einzuladen. Lasst uns gemeinsam aktiv werden!

Für Kontakt zu Palestine Action: Twitter, Instagram.

#Bildmaterial: Palestine Action

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Es geht um viel weniger als damals und zugleich um viel mehr. Als am 1. Mai 1886 in den ganzen USA mehrtägige Streiks begannen, kämpften die Arbeiter:innen um eine Reduzierung der Arbeitszeit von zwölf Stunden. Die Arbeitsbedingungen in den Fabriken waren miserabel. Für die zwölf Stunden Schufterei gab es im Schnitt lumpige drei Dollar, Gegenwert eines mageren Essens im Restaurant. In Chicago/Illinois kam es im Zuge der Streiks zum sogenannten Haymarket Massacre, als die Polizei das Feuer auf die dort versammelten, unbewaffneten Arbeiter:innen eröffnete und Dutzende tötete. Die Ereignisse begründeten die Tradition des 1. Mai als Kampftag der Arbeiter:innenklasse.

Dass die Polizei am 1. Mai 2022 auf Demonstrant:innen scharf schießt, ist eher unwahrscheinlich. Auch ist der Acht-Stunden-Tag bereits Realität und sonst manches besser geworden in der Arbeitswelt seit 1886, zumindest hierzulande. Insofern geht es am diesjährigen Kampftag der Arbeiter:innenklasse um weniger als damals – aber eben zugleich um so viel mehr. Zwei Jahre Pandemie haben die Gesellschaft weichgekocht und neue Möglichkeiten der Observanz, Kontrolle und Repression eröffnet. Das schuf eine gute Grundlage für das, was wir seit dem Beginn des Krieges in der Ukraine erleben. Es werden Weichen für eine Aufrüstung und Militarisierung ohnegleichen gestellt.

Die Kehrseite: Die Herrschenden sind dabei, die hinteren Wagen abzukoppeln. Die „Überzähligen“, „Unnützen“ liegen ihnen nur noch auf der Tasche. Es droht ein umfassender Sozialabbau, eine Forcierung der Umverteilung von unten nach oben. Um all das abzusichern wird die Repression weiter angezogen. Vor diesem Hintergrund kann es für diesen 1. Mai nur ein Motto geben:

Raus auf die Straße! Widerstand leisten gegen die offensichtlichen Faschisierungstendenzen!

Noch ist die Ausgangslage gut, noch ist die Öffentlichkeit da. Darum ist es so wichtig, Versuche beim Namen zu nennen und energisch zu bekämpfen, wie momentan etwa in Berlin, wo versucht wird, das Demonstrationsrecht durch die Hintertür zu kassieren. In der Hauptstadt will gerade ein ebenso reaktionärer wie größenwahnsinniger Bezirksfürst namens Martin Hikel die Revolutionäre- 1. Mai- Demo von Neukölln nach Kreuzberg torpedieren.

Hikel ist der Bezirksbürgermeister von Neukölln, auf diesem Posten Nachfolger des Protofaschisten Heinz Buschkowsky und dessen Ziehtochter Franziska Giffey, die es auf den Stuhl des Stadtoberhauptes geschafft hat. Aus seiner rassistischen Gesinnung hat der 2,08 Meter große SPD-Mann gleich zu Anfang kein Hehl gemacht. Er zog die Razzien in Neukölln auf, die sich angeblich gegen „Clan-Kriminalität“ richten, aber hauptsächlich große Teile der Bevölkerung im Kiez stigmatisieren. Dafür ließ er sich bundesweit von den bürgerlichen Medien feiern, tauchte mit TV-Teams persönlich in Shisha-Bars auf – natürlich erst nachdem bewaffnete Polizeibeamte die Lokalitäten „gesichert“ hatten.

Dieser Mann und seine Spießgesellen also versuchen momentan die Revolutionäre-1. Mai-Demo, die vom Hertzbergplatz über die Sonnenallee, den Kottbusser Damm und die Adalbertstraße bis zum Oranienplatz in Kreuzberg führen soll, mit einem Trick zu verhindern, der derart dummdreist ist, dass man sich als Beobachter:in nur an den Kopf fassen kann. Er hat auf wichtige Punkte der Demo-Route, von der seine Leute zum Zeitpunkt ihrer Planungen nichts geahnt haben wollen, unter dem Motto „Neukölln feiert den 1. Mai“ fünf Veranstaltungen, sogenannte „Straßenfeste“, gelegt. Die Anlässe dieser „Feste“ sind dermaßen an den Haaren herbeigezogen, dass niemand ernsthaft leugnen kann: Hier geht es offensichtlich nur darum, den Demo-Organisator:innen Steine in den Weg zu legen. Es ist Hikels Hindernisparcour, der da aufgebaut wird.

„Mit Kinder- und Familienfesten, Flohmarkt, Live-Musik und einem öffentlichen Fastenbrechen steht der 1. Mai in diesem Jahr für die Vielfalt und das friedliche Miteinander in Berlins buntestem Bezirk“, heißt es in einer Mitteilung auf der Homepage des Bezirksamtes. Verlogener geht es kaum!

Besonders das geplante Fastenbrechen ist an Verlogenheit und Perfidie nicht mehr zu übertreffen. Der Sprecher des Demo-Bündnisses Martin Suchanek hat es in einer Erklärung auf den Punkt gebracht: „Dass ausgerechnet der SPD-Bürgermeister Hikel, der dafür bekannt ist sich medienwirksam bei Razzien bei migrantischen Gewerbetreibenden abblitzen zu lassen – genau derselbe Martin Hikel, dessen ehemaliges Projekt „konfrontative Religionsbekundung“ auf einem Generalverdacht auf muslimische Jugendliche beruhte – nun sein Herzen für den Islam gefunden hat, scheint mehr als unglaubwürdig.“ Suchanek macht auch noch auf einen fachlichen Fauxpas aufmerksam, der ebenfalls die wahren Absichten entlarvt. Das viel bedeutsamere Zuckerfest finde erst am nächsten Tag statt, zudem wurde die Uhrzeit mit 19 Uhr glatt mindestens eine Stunde zu früh angesetzt, da das Fastenbrechen erst bei Sonnenuntergang beginnt.

Bündnissprecherin Aicha Jamal spricht von einer „Instrumentalisierung des letzten Iftar im Fastenmonat Ramadan seitens des Bezirksamt Neukölln“. Dies sei „nicht nur grotesk, sondern auch undemokratisch“. Mit Blick auf die Razzien gegen „Clankriminalität“ sagte Jamal: „Unter dem Vorwand organisierte Kriminalität zu bekämpfen führt Martin Hikel seit Jahren eine rassistische Hetzkampagne zu Lasten des gesamten migrantischen Kleingewerbes in Neukölln, welches tagtäglich unverhältnismäßigen Razzien ausgesetzt wird. Er unterstützt Projekte, die dazu führen, dass wir uns die Mieten nicht mehr leisten können und aus Neukölln verdrängt werden. Migrantisches Leben interessiert ihn nur, wenn es dazu dienen kann, das Image des Bezirkes aufzupolieren, um ihn interessanter für Investoren und Besserverdienende zu machen.“

Diese Agenda Hikels lässt sich auch beim Flohmarkt auf dem Hermannplatz erkennen. Veranstalter ist hier nämlich Spotlight, ein Verein, so schreibt das Bündnis in seiner Erklärung, „der seine Spenden offenbar von Signa erhält“. Signa ist der Konzern des dubiosen und rechtslastigen österreichischen Milliardärs Rene Benko, der in vielen deutschen Metropolen und auch im Ausland mit hochwertigen Immobilien jongliert. Jenem Konzern, wie Suchanek es formuliert, „der auf Biegen und Brechen mit SPD-Bausenator Geisel gegen den Willen der Anwohner den Karstadt am Hermannplatz abreißen und einen Luxuspalast aufbauen“ wolle.

In der Erklärung des Demo-Bündnis heißt es dazu: „Signas Gründer René Benko ist nicht nur einer der reichsten Menschen der Welt, er ist zudem mutmaßlicher Großspender der rechtsextremen FPÖ. Das wurde 2019 durch das Skandalvideo von H. C. Strache bekannt. Benko plant ein gigantisches
Neubauprojekt am Hermannplatz, welches erheblichen Einfluss auf die Mietpreisentwicklung der Umgebung haben wird und deshalb bei vielen Bewohner:innen Neuköllns unbeliebt ist. Dies beweisen die 6.000 Unterschriften, die von einer Anwohner:inneninitiative gegen Benkos Pläne gesammelt wurden. Die Initiative Hermannplatz habe des öfteren darauf aufmerksam gemacht, dass Benko mit kulturellen Projekten versucht, die Akzeptanz für seine Bauvorhaben in der Bevölkerung zu steigern.“

Die ganze Aktion ist ganz offensichtlich ein Alleingang Hikels und seiner Leute. Die Bezirksversammlung (BVV) war nicht in die Planung der fünf Veranstaltungen eingebunden. Das bestätigte Ahmed Abed, BVV-Abgeordneter für Die Linke in Neukölln, am Mittwoch auf Twitter. Nach Informationen vom Lower Class Magazine liefen die Planungen auch komplett an Sarah Nagel von der Linkspartei, der Stadträtin für das Ordnungsamt und Jochen Biedermann, stellvertretender Bezirksbürgermeister, Bezirksstadtrat und Leiter des Geschäftsbereichs Stadtentwicklung, Umwelt vorbei.

Wie es aussieht, hat der Bezirkschef für die Planung und Umsetzung der Veranstaltungen am 1. Mai eine von ihm selbst, vor allem für seine Razzien geschaffene Stabsstelle genutzt: die Koordinierungsstelle für öffentliche Sicherheit und Ordnung, in deren Aufgabenbeschreibung auf der Bezirkshomepage steht: „einschließlich Problemimmobilien sowie die Planung und Koordinierung von Verbundeinsätzen u. a. zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität“.

Die Linksfraktion in der Bezirksversammlung hat sich in einer Erklärung auf die Seite der Demo-Organisatoren gestellt. Darin heißt es: „Wenn SPD-Bürgermeister Hickel wirklich Straßenfeste organisiert, um damit eine Demo zu behindern, würde dies die Einschränkung des Versammlungsrechts bedeuten. Wir fordern klar: Die 1. Mai-Demo muss wie geplant stattfinden!“ Ferat Koçak, Neuköllner und Mitglied im Abgeordnetenhaus für Die Linke, erklärte ausserdem, Hikel behindere mit seinem Vorgehen „das Grundrecht der Versammlungsfreiheit und blockiert die Demo“. Offenbar wende er dieselbe Strategie an, mit der in Kreuzberg mit dem „Myfest“ operiert wurde – also eine Entpolitisierung des 1. Mai mittels Eventisierung.

Tatsächlich beweist SPD-Mann Hikel mit seinem Vorgehen überdeutlich, welche Prioritäten er setzt. Er tritt das Versammlungsrecht mit Füßen, den „Investoren“, die sich die halbe Stadt unter den Nagel reißen, rollt er dagegen mit Vergnügen den roten Teppich aus. Jeglicher Widerstand und jegliches positives Signal für eine Organisierung gegen diese Pläne sollen verhindert und gestört werden. Deshalb kann es in diesem Jahr nur umso mehr heißen:

Heraus zum 1. Mai!

Jetzt erst Recht!

Yallah Klassenkampf!

Dokumentation zum Revolutionären 1. Mai in Berlin:

# Titelbild: 1. Mai 2021, Copyright: 2021 PM Cheung

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Die deutsche Journalistin Marlene F. und der slowenische Journalist Matej K. wurden am 20. April im Şengal auf dem Rückweg vom êzîdischen Neujahrsfest Çarşema Sor vom irakischen Militär festgenommen. Seitdem sind sie vermutlich in einem Gefängnis in Bagdad und können keinen Kontakt zu Anwält:innen oder der Öffentlichkeit aufnehmen. Die Festnahme steht im Zusammenhang mit der militärischen Eskalation gegen die êzîdische Selbstverwaltung im Şengal, wo sowohl die irakische als auch die türkisch Regierung unabhängige Berichterstattung verhindern wollen.

Die beiden jüngst festgenommenen Journalist:innen Marlene F. und Matej K. sind seit mehreren Monaten zu Recherchezwecken im Norden des Iraks. Sie dokumentieren die aktuelle gesellschaftliche Situation von Ezid:innen im Şengal vor dem Hintergrund des Genozid-Feminizids, den der „IS“ seit 2014 an den Ezid:innen begeht. Aktuell ist nicht bekannt, wohin die beiden verschleppt wurden, auch das Auswärtige Amt hat nach eigenen Angaben keine Informationen über den Verbleib der beiden Journalist:innen.

Für ihre Recherche besuchten Marlene und Matej zivilgesellschaftliche Institutionen und Projekte. Sie erarbeiteten Dossiers über die aktuelle Lebenssituation in der êzîdischen Selbstverwaltung im Şengal, mit dem Ziel, Menschen in Deutschland darüber zu informieren. Gerade hier sollte die Situation im Şengal von besonderem Interesse sein, ist Deutschland doch das Land, in dem ein großer Teil der êzîdischen Diaspora lebt. Mit ihrer Berichterstattung darüber, wie sich die Bevölkerung nach dem traumatischen Krieg organisiert, um sich der immer noch drohenden Gefahr eines Genozids zu verteidigen leisten die beiden Medienschaffenden einen wesentlichen Beitrag für Menschenrechte und Frieden.

Dass Marlene und Matej gerade am Tage des Neujahrsfests Çarşema Sor, einer der wichtigsten kulturellen êzîdischen Feierlichkeiten, festgenommen wurden, und ihre journalistische Arbeit damit kriminalisiert wird, ist kein Zufall. Denn die êzîdische Bevölkerung ist aktuell bedroht.

Schon letzte Woche kam es immer wieder zu Provokationen des irakischen Militärs in der Autonomieregion im Şengal, vor allem gegen die êzîdischen Selbstverteidigungseinheiten (YBŞ), die nach der Befreiung der Region vom „IS“ zum Schutz der Bevölkerung aufgebaut wurden.

Die YBŞ ordnen diese aktuellen Eskalationen der irakischen Armee gegenüber den autonomen Selbstverteidigungsstrukturen als Versuch ein, das sogenannte „Şengal – Abkommen“ Stück für Stück durchzusetzen. Dieser Vertrag wurde von der irakischen Zentralregierung und der südkurdischen Regionalregierung beschlossen und legt im Wesentlichen die Zuständigkeiten von Behörden und Verwaltung der Region Şengal fest. In der Fassung dieses Abkommens nahm die Demokratische Partei Kurdistans (PDK) des Barzani-Clans, gestützt durch die Türkei, eine Führungsrolle ein. Die êzîdische Selbstverwaltung, die einen Großteil der Region verwaltet, wurde von diesen Verhandlungen komplett ausgeschlossen. Dabei ist die Selbstverwaltung in Şengal für Êzîd:innen vor Ort aber auch in einem globalen Kontext, wichtiger Bezugspunkt, um an ihre Geschichte zu erinnern, für Leben in Freiheit, ihre Kultur und ihre Widerstandsfähigkeit.

Dass der Vertrag über die Region ohne die Beteiligung der Selbstverwaltung abgeschlossen wurde, ist der Versuch der irakischen Zentralregierung, vor allem aber auch der PDK, Kontrolle über das Gebiet zu erlangen und die Autonomie der Êzîd:innen einzuschränken und zu entmachten. Denn vor dem Genozid-Feminizid 2014 – bei dem sich bewaffnete Einheiten der PDK vor den vorrückenden Kräften des „IS“ zurückzogen, statt die Êzîd:innen zu verteidigen–, hatte die PDK komplette Kontrolle über die Region.

Die êzîdische Autonomieregierung steht den Machtansprüchen der südkurdischen Regionalregierung im Wege.

Der Angriff auf die Slebstverwaltung ist dabei über die Frage von territorialer Kontrolle hinaus eine ernsthafte existenzielle Bedrohung für die Êzîd:innen. Es gibt noch immer noch viele „IS“-Anhänger*innen im Irak, Syrien und anderen Ländern, die eine Bedrohung für das Leben der êzîdischen Bevölkerung insgesamtsind. Gerade vor dem Hintergrund des schändlichen Verhaltens der PDK-Truppen 2014 wäre eine Eroberung des Şengal katastrophal. Eine Entwaffnung der Selbstverteidigungskräfte würde die vollständige Schutzlosigkeit der êzîdischen Bevölkerung bedeuten.

Der militärische Angriff ist aber nur eine von vielen Maßnahmen, die der irakische Staat gegen die Selbstverwaltung unternimmt. Neben der Umsetzung des Şengal-Abkommens, ist der irakische Staat zurzeit dabei, zwischen Şengal und Rojava eine Mauer zu bauen, wogegen die êzîdische Gemeinschaft Widerstand leistet. Die befreiten Gebiete in Rojava waren während des Angriffs des „IS“ 2014 der einzige Ort, an den sich die Bevölkerung in Sicherheit bringen konnte.

Gleichzeitig ist der Angriff auf Şengal nicht losgelöst von den Angriffen der türkischen Armee sowohl auf die Medya-Verteidigungsgebiete in den Bergen Südkurdistans als auch auf Rojava zu sehen, die zurzeit stattfinden. Denn Rojava und die Medya-Verteidigungsgebiete stehen in enger Verbindung mit der Autonomieverwaltung im Şengal: die kurdische Selbstverwaltung unterstützt den Aufbau eines freien Lebens und es waren ihre Einheiten, die jene Region vom „IS“ befreit haben. Der Versuch der türkischen Regierung, die eng mit der PDK zusammenarbeitet, durch Lufschläge und Chemiewaffeneinsatz auch die kurdische Selbstverwaltung zu zerstören, ist offensichtlich zusammen mit der Eskalation im Şengal koordiniert.

Es ist politisches Kalkül der irakischen Zentralregierung, genau zu diesem Zeitpunkt der Provokationen und Attacken, internationale Medienschaffende durch das irakische Militär festnehmen zu lassen und sie damit daran zu hindern, über genau diese Eskalationen zu berichten. Es geht darum, ein Signal zu senden und die Presse in ihrer Freiheit einzuschränken und damit die Stimmen, die sich für Gerechtigkeit für die êzîdische Bevölkerung einsetzen, zum Verstummen zu bringen. Bereits im Januar diesen Jahres hatte das irakische Militär drei Journalist*innen festgenommen, die in Şengal die zunehmenden Militärbewegungen beobachtet hatten. Ihre Ausrüstung wurde beschlagnahmt, ihr Aufenthalt war zunächst unbekannt.

Marlene F. und Matej K. gefangen zu nehmen und damit an ihrer wichtigen Arbeit für Frieden, Sicherheit und Menschenrechte zu hindern, ist ein Skandal und sollte auch die gebührende politische Aufmerksamkeit bekommen. Auf der Straße, in den Medien aber auch von der Regierung. Außenministerin Annalena Baerbock hat bereits einen offenen Brief erhalten, indem sie und andere Politiker:innen der Regierung dazu aufgefordert werden, sich für die Freilassung von den beiden Journalist:innen einzusetzen. Sie sollte ihrem Versprechen, eine „feministische Außenpolitik“ zu betreiben, nachkommen und alles in Bewegung setzten, damit die beiden frei gelassen werden.

Es geht dabei auch um ein Zeichen für Pressefreiheit und darum, zu verdeutlichen, dass es von politischem Interesse ist, dass die êzîdische Bevölkerung selbstbestimmt und in Frieden leben kann – genau die Werte, für die sich Marlene und Matej einsetzten.

#Bilder: eigenes Archiv.

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Interview mit Uli, 24 Jahre alt, Student aus Berlin. Uli ist organisiert in verschiedenen Strukturen und Teil der Initiative „PKK Verbot aufheben“.

#Dieter Oggenbach

LCM: Hi Uli, grüß dich. Die deutschen Repressionsbehörden haben mal wieder zugeschlagen. Diesmal gegen dich, unter anderem wurden dein Personalausweis und dein Reisepass eingezogen. Kannst du uns den Vorgang etwas genauer schildern?

Ende Januar 2022 erhielt ich einen Brief, in dem mir mitgeteilt wurde, dass ich innerhalb von vier Werktagen meine beiden Ausweisdokumente abzugeben habe. Hierfür wurde keine Widerspruchsfrist eingeräumt, das hieß konkret, dass es zu Beginn keine rechtlichen Mittel gab, diese Maßnahme zu verhindern. Begründet wurde diese Maßnahme, dass laut Informationen des Berliner Landeskriminalamts (LKA), bekannt gewurden sein sollte, dass ich in der vergangenen Zeit mehrmals Anmelder von Versammlungen und Demonstrationen war. Weitergehend dass einigem einer Auslandsaufenthalte, unter anderem Urlaubsreisen, dem Zweck des Besuchs eines „terroristischen Ausbildungscamps“ in Griechenland gedient haben sollen bzw. in Verbindung stehen könnten. Mit den Maßnahmen gegen mich soll jetzt verhindert werden, dass ich aus der BRD ausreise, da das LKA mir unterstellt an etwaigen Kampfhandlungen im Nordirak/Südkurdistan bzw. der Förderation in Nord-Ost-Syrien teilnehmen zu wollen. Bis zum heutigen Tage sei laut LKA nicht auszuschließen, dass ich in Griechenland ein Ausbildungslager besucht hätte, in welchem ich den Umgang mit Schusswaffen und Sprengstoff trainiert haben könnte.

In den letzten Jahren können wir ja in der BRD einen steigenden Druck auf verschiedene teile der revolutionären Bewegungen feststellen, häufig unter der Konstruktion von vermeintlichen kriminellen oder terroristischen Vereinigungen im Rahmen des § 129a oder § 129b. Wie würdest du das aktuelle Verfahrne gegen dich einordnen in die generelle politische Lage in der BRD bzw. Politik des Deutschen Staates?

Die aktuellen Maßnahmen gegen mich, schätze ich als politisches Kalkül ein. Der deutsche Staat hat einerseits eine langanhaltende Tradition, revolutionäre Bewegungen anzugreifen. Wir können sehen, dass vor allem auch wieder seit 2020 die Repressionsschläge sich häufen, auch gegen Menschen die mit der kurdischen Freiheitsbewegung zusammenarbeiten. Von der Internationalistin Maria und ihrer faktischen Ausweisung und einem Einreiseverbot für die kommenden 20 Jahre (LINK), einem Mitarbeiter des Rojava Information Centers, dem auf Initiative der BRD die zukünftige Einreise in den Schengen Raum verwehrt wurde. Natürlich bezieht sich diese Repression aber insgesamt auf alle Menschen die in revolutionären Bewegungen aktiv sind. Von der Antifaschistin Lina und den Angeklagten im Antifa-Ost-Verfahren, über die Verfahren gegen die Genossen und Genossinnen in Stuttgart oder Hamburg. Dieser steigende Verfolgungsdruck legt nahe, dass die Kapazitäten der Verfolgungsbehörden deutlich erhöht wurden. Unter der neuen Bundesregierung wird, trotz ihres liberalen Erscheinungsbildes, der Repressionsdruck gegen uns alle massiv steigen.

Du hast die Auslandsaufenthalte angesprochen. Unter anderem nehmen die Behörden Bezug auf eine Reise von dir nach Südkurdistan im Sommer 2021 im Rahmen einer internationalen Friedensdelegation gegen den Krieg in Südkurdistan, an welcher ja auch Mitglieder des Deutschen Bundestags teilnehmen wollten. Kannst du uns dazu nochmal etwas mehr sagen?

Diese Friedensdelegation fand wie du sagtest im vergangenen Sommer statt. Gemeinsam mit ungefähr 80 weiteren Genossen und Genossinnen, sind wir nach Südkurdistan gereist, um für eine friedliche Lösung des Kriegs in Südkurdistan zu werben. Für einen innerkurdischen Dialog zu werben, und diejenigen die vom Krieg profitieren zu demaskieren. Der Krieg in Südkurdistan ist ein Krieg in dem ideologische Widersprüche, der faschistische Charakter des türkischen Staates und ökonomische Interessen einzelner Staaten massiv wirken. In diesem Kontext wollten auch wir Internationalisten und Internationalistinnen unseren Platz einnehmen und zeigen, dass wir nicht wegschauen was dort passiert.

Seit der Revolution in Rojava/Föderation Nord-Ost-Syrien, können wir vom Aufkommen einer neuen Phase des Internationalismus sprechen. Viele Genossen und Genossinnen weltweit sind dorthin gereist und haben sich in den verschiedensten Bereichen an der Revolution beteiligt, sich eingebracht, gelernt und sind in ihre Heimatländer zurückgekehrt. Damit stieg aber ja auch bereits der generelle Repressionsdruck gegen diese Menschen. Unser Redakteur Peter Schaber war ja, mit anderen gemeinsam, auch von einem § 129 Verfahren betroffen (LINK). Dieser Aufbau von Drohszenarien und der Versuch die Beziehungen zwischen deutscher revolutionärer Linker und kurdischer Freiheitsbewegung zu sabotieren ist hingegen ja nichts neues. Worin begründet sich diese Politik deiner Meinung nach?

Für mich ist das Verhältnis dieser Kräfte eine politisch-historisch gewachsene Verbindung. Schon in den 1990er Jahren begannen Internationalisten und Internationalistinnen sich auf den verschiedensten Ebenen am kurdischen Freiheitskampf zu beteiligen, eine sind in diesem auch gefallen. Wenn wir von der kurdischen Gesellschaft in der BRD sprechen, sprechen wir auch von einer esellschaft die in hohem Maße politisch ist, die in nahezu allen größeren Städten Vereinsstrukturen aufgebaut hat, politisch wirkt. Es gibt hier ein großes Potential, gegenseitig über den eigenen Tellerrand zu schauen. Deutschland spielt im Krieg in Kurdistan seit jeher eine zentrale Rolle. Deshalb ist die Zusammenarbeit der kurdischen Bewegung und den revolutionären Kräften in Deutschland auch eine politisch-ideologische logische Schlussfolgerung. Nur der gemeinsame Kampf kann unsere gemeinsamen Interessen verteidigen, öffentlich machen, durchsetzen und weiterentwickeln.

Jetzt gibt es ja zwei Ebenen in diesem Ganzen Vorgang. Die Verwaltungsrechtliche Ebene mit dem Passentzug und auch eine vermutlich strafrechtliche Ebene. Wie willst du mit dieser Herausforderung umgehen?

Wichtig ist zuallererst, diesen Fall, genau wie alle andere in die Öffentlichkeit zu stellen, zu skandalisieren und sich nicht isolieren zu lassen. Andernfalls bieten wir den Repressionsbehörden immer die Möglichkeit, Präzedenzfälle zu schaffen, die in Zukunft gegen andere Genossen und Gneossinnen verwendet werden können. Druck aufzubauen und Öffentlichkeit auf allen Ebenen ist aktuell das wichtigste. Es ist schon absurd, dass diesen Maßnahmen stattgegeben wurde, da der einzige Vorwurf der zutrifft der ist, dass ich Tatsache einige Demonstrationen angemeldet habe.

Wie gehst du persönlich nun mit dieser Situation um? Wie hat sich dein Alltag verändert? Welche Erfahrungen hast du gemacht mit Solidarität?

Zu Beginn fiel es mir schwer mit diesen Maßnahmen einen Umgang zu finden. Als dieser Brief eintrudelte, hatte ich mehrmals Besuch von Zivilpolizisten des LKA, die versucht haben über meine Mitbewohner und meine Angehörigen Druck auf mich auszuüben und Informationen zu erhalten. Das angeblich schützenswerte Grundrecht der freien Meinungsäußerung in der BRD führt diese Praxis natürlich offensichtlich ad absurdum, letztlich sind diese Aussagen immer eine große Heuchelei. Das Anmelden einer Demonstration und Reisen werden umgedeutet zu einer Art Terrorismus. Natürlich heißt das alles für mich, dass ich mir bewusst werden musste, dass ich nun im Fokus der Ermittlungsbehörden stehe. Unabhängig davon, welche Vorwürfe das LKA versucht zu konstruieren, unabhängig von falschen und wahren Tatsachen, ist es aktuell erst einmal so das gilt was auf dem Papier steht. Was mir vorgeworfen wird, und die vermeintliche Planung von Anschlägen, sind natürlich Dinge, die erstmal schwer wiegen. Auch im Rahmen privater Beziehungen. Dem eigenen Umfeld und auch der eigenen Familie das alles zu erklären, war stellenweise nicht so einfach, denn nicht alle haben den Kontext in dem das alles stattfand nicht direkt verstanden. Oft wird ja das Drohszenario aufgebaut, wenn einen solche Repression trifft, isoliert dazustehen. Ich habe allerdings eine unglaubliche Wärme gespürt. Meine Genossen und Genossinnen sind eine große Unterstützung für mich aktuell. Mir ist wichtig, aber auch heruaszustellen, dass auch wenn Repression natürlich ein Problem ist, sie uns nicht davon abhalten sollte, dass zu tun was notwendig ist, für das Einzustehen von dem wir überzeugt sind. Für uns, die deutsche Ausweispapiere haben, kann das auch sein zum Beispiel eine Demonstration auf unseren Namen anzumelden, da wir aufgrund unseres Passes andere Privilegien erhalten.

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Am vergangenen Dienstag fanden zeitgleich in mehreren Städten im grün-schwarz regierten Baden-Württemberg Hausdurchsuchungen statt, unter anderem von einer Person, die im Linken Zentrum Lilo Herrmann lebt. Sie bauen auf fadenscheinigen Vorwürfen auf, bei denen es um die Beteiligung an Aktionen gegen die faschistische Gruppe „Identitäre Bewegung“ und um eine angebliche Beteiligung an der sogenannten „Stuttgarter Krawallnacht“ gehen soll. Diese aktuellen Ereignisse sind dabei nur das neueste Kapitel im Agieren der Repressionbehörden gegen linke Aktivist*innen und Strukturen.

Das rechte Auge zuzudrücken, während man solch harte Vorgehensweisen gegen Antifaschist*innen und Kommunist*innen einsetzt, hat Kontinuität. Wir erinnern uns noch gut daran, als 2020 in Hamburg 28 Hausdurchsuchungen – als Teil des größten Verfahrens gegen eine linke Organisation in Deutschland seit Jahrzehnten – stattfanden. Ziel des Angriffs der Staatsgewalt, der mit dem „Schnüffel-Paragraphen“ 129a geführt wurde, war der Rote Aufbau Hamburg. Der Kampf für eine sozialistische Gesellschaft wird kriminalisiert, faschistische Organisierungen werden aber vom Staat gedeckt.

Gerade erst informierte die Rote Hilfe e.V. zum Tag der politischen Gefangenen am 18. März darüber, dass in Deutschland aktuell mindestens 15 Menschen wegen ihrer politischen Betätigung im Knast sitzen. Die Antifaschistin Lina ist trotz geringer Beweislast seit über 500 Tagen inhaftiert. Der linke Aktivist Jan aus Nürnberg ist seit sechs Monaten in Haft, acht weitere hat er laut Urteil noch vor sich. Allein im Raum Stuttgart saßen in den letzten Monaten, teils bis heute, mit Findus, Dy und Jo drei aktive Linke im Knast. Ebenso mehrere kurdische Aktivist*innen, darunter Merdan – für den Vorwurf einer Mitgliedschaft in der PKK, deren Kriminalisierung dem türkischen Staat in die Hände spielt. Am kommenden Freitag, 25.03., ist der Prozess des Kommunisten Chris angesetzt, bei dem von der Anklage mehrere Monate Haft ohne Bewährung gefordert werden. Vorgeworfen wird ihm, nach jahrelanger Kriminalisierung seines politischen Einsatzes, eine Beteiligung an den Silvesterspaziergängen an der JVA Stuttgart-Stammheim, die dort seit den Zeiten der RAF-Gefangenen Tradition haben.

„Ganz allgemein und konkret im Fall von Chris geht es bei staatlicher Repression nicht nur darum, Einzelne für angebliche Straftaten zu verurteilen; den Verfolgungsbehörden geht es um viel mehr“, schreibt das Solibündnis zu Chris‘ Prozess. „Politische Strömungen der Linken, die Widerstandsformen entwickeln und anwenden, die das Maß des Konformen überschreiten, werden mit Repression überschüttet. Sobald Proteste und Strukturen als potenzielle Gefahr wahrgenommen werden, wird zugelangt und in akribischer Kleinarbeit alles verfolgt, was kriminalisierbar ist.“

Gefängnisstrafen stellen die momentan extremste Forme der Repression gegen linke Aktive in der BRD dar, denen verschiedene andere vorausgehen: von Kontrollen, Geldstrafen und Arbeitsstunden über Einträge im Führungszeugnis, Hausdurchsuchungen bis hin zu Gewahrsam und Bewährung. Das Vorgehen der BRD gegen antikapitalistische und antifaschistische Bewegungen scheint seit Jahren an Aggression zuzunehmen. Auffällig sind die Bündelung unzusammenhängender Tatvorwürfe sowie immer häufigere absurd hohe Strafmaße, die Kriminalisierung von Praktiken, welche früher gerade so als Ordnungswidrigkeiten galten, und Paragraphen, die offensichtlich vor allem der Überwachung linker, antiimperialistischer, revolutionärer Gruppierungen dienen.

Dabei sollte unsere Empörung über all diese Umstände keineswegs als Überraschung missverstanden werden. Revolutionäre linke Praxis stellt die herrschende Ordnung nicht nur in Frage, sondern greift sie an. Die Staatsgewalt, die der Aufrechterhaltung des kapitalistischen Systems dient, wird natürlich gegen diejenigen Aktivist*innen und Bewegungen gerichtet, die ihm gefährlich werden können. Die Krisen des Kapitalismus spitzen sich zu und mit ihnen wächst der Widerstand, der von den Repressionsorganen des Staates niedergeschlagen werden soll.

Diese Vorgehensweisen sind vor allem Spaltungs- und Einschüchterungsversuche, denen wir nicht nachgeben dürfen. Wir müssen ihre Unterteilung in „gute und schlechte“ Protestformen, in „legitimen und kriminellen“ Widerstand ablehnen, denn diese Unterteilung folgt den Definitionen des bürgerlichen Staates. Konsequenter linker Widerstand wird unumgänglich in Konfrontation mit der Staatsgewalt geraten, da er sich gerade gegen diese richtet. Fügen sich Teile der linken Bewegung der staatlichen Einteilung unserer Protestformen, entfernen wir uns voneinander. Die einen sollen in reformistische Bahnen gelenkt werden, bis sie nicht mehr im Antagonismus zum herrschenden System stehen, die anderen werden weiter die volle Brutalität des Staates zu spüren bekommen und damit in ihrer Praxis gehindert.

Das Aufgeben revolutionärer antikapitalistischer Politik darf keine Option sein. Ein organisierter Umgang mit Repression gegen unsere Genoss*innen und konsequenter Zusammenhalt ist stattdessen unsere Antwort auf staatliche Angriffe. Das äußert sich in den zahlreichen Solikreisen, die sich für die Betroffenen bilden, in der Arbeit der Roten Hilfe und insgesamt in der Fortsetzung antifaschistischer, antimilitaristischer, klassenkämpferischer und nicht zuletzt revolutionärer Praxis.

„Wir dürfen uns nicht von ihren Schikanen und Machenschaften einschüchtern lassen, sondern gemeinsam Widerstand leisten. Ihr draußen, ich drinnen.“ – Dy, inhaftierter Antifaschist aus dem „Wasen-Verfahren“

Dass die revolutionäre Bewegung in Deutschland sich nicht einschüchtern lässt und handlungsfähig bleibt, zeigt sich auch in den direkten Antworten auf die Hausdurchsuchungen in Baden-Württemberg am vergangenen Dienstag. Nachdem den Betroffenen schon direkt am Morgen von ihren Genoss*innen Beistand geleistet wurde und es erste Solidaritätsbekundungen aus zahlreichen anderen Städten gab, kam es noch am Abend desselben Tages zu spontanen Kundgebungen, Aktionen und Demonstrationen unter anderem in Stuttgart, Tübingen, Magdeburg und Hamburg. Mehrere hundert Menschen, aus verschiedenen Spektren und mit verschiedenen Hintergründen, gingen in Stuttgart als direkte Reaktion gemeinsam auf die Straße und machten klar, dass sie sich nicht abschrecken lassen und auch hinter der verfolgten Praxis stehen.

Unsere Parolen sind keine leeren Phrasen, wenn wir sie umsetzen. Zeigt euch also solidarisch, indem ihr weitermacht!

# Titelbild: indymedia, Knastspaziergang 2021/22 in Stuttgart Stammheim

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Maria lebt seit langem in Deutschland, hat ihren Lebensmittelpunkt hier. Die politisch aktive Frau besucht Demonstrationen und beteiligt sich an Veranstaltungen. Dann kommt der Repressionsschlag: Ohne irgendeinen Vorwurf einer konkreten Straftat wird sie zur „gefährlichen“ Person erklärt, aus der Bundesrepublik ausgewiesen und erhält ein Einreiseverbot: für zwei Jahrzehnte! Wir haben mit dem Unterstützer:innenkreis „Grupo Internacional“ der Genossin über die Hintergründe dieses Falls gesprochen.

Eure Genossin Maria hat einen Bescheid deutscher Behörden erhalten, dass sie die Bundesrepublik verlassen muss und 20 Jahre nicht wieder einreisen darf. Was ist die Begründung für diese ungewöhnliche Strafe?

Die Begründungen sind lächerlich. Entscheidend dafür ist, dass unserer Genossin vorgeworfen wird, sie stelle eine Gefahr für den deutschen Staat dar. Dieser Vorwurf wird mit völlig normalen Aktivitäten gerechtfertigt, etwa dem Besuch von Kundgebungen oder Demonstrationen. Außerdem wird in der Hauptbeschuldigung auf ihre politische Arbeit in Solidarität mit der kurdischen Freiheitsbewegung und ihr Engagement in Sachen linker Politik erwähnt und argumentiert, dass ihr Aufenthalt in der BRD ausschließlich politisch motiviert sei.

Anscheinend soll sie unter anderem damit gegen ihre Aufenthaltsrechte als EU-Bürgerin verstoßen haben. Absurd ist, wie versucht wird, sie mit allen Mitteln zu kriminalisieren. Zum Beispiel werden ihre akademischen IT-Kenntnisse oder ihre sprachlichen Fähigkeiten für diese Begründung herangezogen. Für uns sind die Erklärungsansätze an den Haaren herbeigezogen, es wird alles versucht, um einer politisch aktiven Frau die Grenzen aufzuweisen und sie mundtot zu machen. Es handelt sich um eine Machtdemonstration mit grotesken Folgen.

Diese Maßnahme ist ja ein Novum in der BRD. Warum trifft das genau María? Was macht sie so „gefährlich“ für den deutschen Staat? Will man ein Exempel statuieren?

Jede*r Bürger*in der Europäischen Union hat ja angeblich das Recht zur Freizügigkeit. Ein längerfristiges Aufenthaltsrecht in einem anderen EU-Staat hat bestimmte Voraussetzungen (z.b Arbeitssuche, arbeiten, Studium, Ehe). Der Verlust tritt entweder ein, wenn die jeweiligen Voraussetzungen entfallen oder aber, wie im Fall unserer Genossin, der Verlust nach 6 Abs. 1 FreizügG/EU festgestellt wurde, aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit.

Nur unter dieser Bedingung, unsere Genossin zu einer potenziellen Gefahr zu erklären, konnten die deutschen Behörden ihr das Recht auf Freizügigkeit entziehen und ein Reise- und Aufenthaltsverbot gegen sie verhängen. Wieder einmal zeigt sich, dass die EU hinter ihren so genannten liberalen und demokratischen Werten immer eine Lücke in ihren Gesetzen lässt, die sie für ihre eigenen Interpretationen offen hält. Man ermöglicht so, diese Gesetze für die eigenen politischen Interessen zu nutzen. Der Vorwurf, dass politisch Aktive eine Bedrohung seien, wird in allen EU-Ländern und insbesondere in Deutschland immer häufiger erhoben, um revolutionäre Tendenzen politischer Bewegungen zu bekämpfen. In diesem Fall begründen sie diese Vorwürfe gegen María damit, dass sie in die Strukturen der PKK (Partiya Karkerên Kurdistan/ Arbeiterpartei Kurdistans) in Deutschland eingebunden wäre und daher eine angeblich terroristische Vereinigung unterstütze. Gleichzeitig werfen sie ihr vor, sich politisch in der linksextremen Szene zu engagieren und damit eine Verbindung zwischen den PKK-Strukturen und der deutschen Linken herzustellen.

Menschen, die sich den Ideen und Aktivitäten der kurdischen Freiheitsbewegung nur annähern, laufen in diesem Staat schon Gefahr, dass man ihnen die Unterstützung einer terroristischen Vereinigung vorwirft. Wir müssen verstehen, dass dies aufgrund des bestehenden Gesetzes möglich ist, das die PKK in Deutschland seit 1993 als terroristische Vereinigung verbietet. Der deutsche Staat nutzt dieses Gesetz mit allen Mitteln und Methoden, um die kurdische Freiheitsbewegung und die internationalistische Solidarität mit ihr zu unterdrücken. Unter dem PKK-Verbot werden zum Beispiel jedes Jahr viele kurdische Aktivist*innen ins Gefängnis gesteckt oder verhaftet, weil sie Protestkundgebungen, Seminare oder kulturelle Veranstaltungen organisieren, die sich mit dem Kampf für die Autonomie ihres eigenen Volkes befassen. Auch viele andere, die sich solidarisch zeigen, werden vor Gericht gestellt, weil sie Fahnen oder Transparente zur Unterstützung des Freiheitskampfes in Kurdistan zeigen. Und in diesem Fall unserer Genossin María ist wiederum das PKK-Verbot allein der Hauptgrund, unter dem sie als europäische Staatsbürgerin zu einer potentiellen Gefahr erklärt und aus Deutschland zwangsausgewiesen werden kann. Einmal mehr wird die Angst des deutschen Staates deutlich, dass die Ideen der sozialistischen und Frauenrevolution in Kurdistan innerhalb seiner eigenen Grenzen Einfluss nehmen. Eine Rolle spielt auch, dass die BRD ideologisch, politisch und wirtschaftlich eng mit der Türkei zusammenarbeitet und die faschistischen und imperialistischen Pläne ihres treuen Alliierten Erdogan im Nahen Osten und im mediterranen Raum unterstützt.

Andererseits wissen wir, dass die BRD eine lange Tradition in der Unterdrückung nicht nur internationaler revolutionärer Bewegungen, insbesondere im Rahmen des § 129b – Unterstützung einer ausländischen terroristischen Vereinigung – , sondern vor allem der revolutionären und linken Tendenzen im eigenen Land hat. Durch gezielte Kriminalisierungskampagnen verschiedener sozialer Kämpfe und nachfolgende politische Propaganda in den Massenmedien bombardiert der deutsche Staat seine Gesellschaft ständig mit der angeblichen Bedrohung einer gewalttätigen, extremistischen, linksradikalen und antifaschistischen Bewegung und schafft den Boden für Vorwürfe, wie sie in diesem Fall erhoben wurden. Die Teilnahme unserer Genossin María an der Verteidigung des Hambacher Forsts oder die Teilnahme an der Demonstration für die Freiheit der Frauen am 8. März sind für die deutsche Behörden Grund genug, eine potentielle Gefahr zu beschwören.

Logo der Kampagne „Grupo Internacional“

Also ja, dieser Fall ist ein Novum. Denn zum ersten Mal wird diese Entscheidung gegen eine EU-Bürgerin getroffen, die in Deutschland nie wegen irgendeiner Straftat angeklagt oder verurteilt wurde. Alle Vorwürfe, die erhoben werden, sind Attribute ihrer Person und ihrer öffentlichen Aktivitäten, hauptsächlich in Solidarität mit der kurdischen Freiheitsbewegung in Deutschland. Die Tatsache, dass es María trifft, liegt auch in der Staatslogik der BRD. Sie wird kriminalisiert, weil sie ein Leben gewählt hat, das nicht den Normen der patriarchalen und kapitalistischen Logik entspricht. Durch ihre klare Haltung und den von ihr gewählten Lebensweg, ein politisches Leben zu führen, wird sie vom deutschen Staat als Gefährderin betrachtet.

An dem Fall von María soll ein Exempel statuiert werden. Wir sehen, dass der deutsche Staat eine neue Methode der Repression dass nicht nur an die kurdische Freiheitsbewegung und mit ihr in Solidarität stehenden Internationalist*innen adressiert werden, sondern potenziell an alle politischen EU-Bürger*innen bzw. Aktivist*innen ohne deutschen Pass, deren Aufenthalt in irgendeiner Form angezweifelt werden kann. Auf diese Weise wird versucht, einen Präzedenzfall zu schaffen. Die Wirkung gleicht einem politischen Betätigungsverbot. Politisch aktive Menschen sollen isoliert und eingeschränkt werden, indem ihr Aktionsradius eingegrenzt wird. Mit Hilfe der europäischen Gesetze und der Ausrede, dass Aktivist*innen aufgrund ihres politischen Engagements eine nationale Bedrohung darstellen, versuchen sie, politische Ideologien, die für den Staat ein Problem darstellen, zu verhindern und außerhalb ihrer Grenzen zu halten. In diesem Fall ist es besonders die Ideologie und das politische Modell der kurdischen Freiheitsbewegung.

Welche Behörde steckt eigentlich hinter diesem Beschluss? Ist das polizeilich, Geheimdienst, das Ministerium?

Dahinter steht ein gemeinsames Vorgehen verschiedener repressiver Institutionen des Staates. Die Hauptakteure mit dem politischen Interesse dahinter, die die gesamte Verantwortung für diesen Fall tragen, sind die Bundespolizei und die Ausländerbehörde von Magdeburg. Die Bundespolizei leitete ein Ermittlungsersuchen gegen unsere Genossin María ein und übergab es an die Ausländerbehörde von Magdeburg. Diese hat die Ermittlungen weitergeführt und mit Hilfe des Landeskriminalamts (LKA) und Verfassungsschutz Sachsen-Anhalt Informationen über ihr politisches Engagement und ihren Aufenthaltsstatus in Deutschland zusammengetragen.

Es ist wichtig, hier die einfache und schnelle Zusammenarbeit zwischen diesen beiden Institutionen in Fragen der Repression und des Informationsaustauschs sowie die Macht und Rolle, die die Ausländerbehörde haben kann, zu bemerken. Denn obwohl die Polizei den Fall eingeleitet hat und die verschiedenen Polizeibehörden die Informationen weitergegeben haben, wären ohne die politische Motivation der Ausländerbehörde dieser Fall und die Entscheidung über die Zwangsausweisung und das 20-jährige Reise- und Aufenthaltsverbot nicht möglich gewesen.

Wie geht es der Genossin mit dieser Situation? Und was bedeutet das für euch?

Sowohl wir als auch unsere Genossin María betrachten diesen Fall nicht als Einzelfall, sondern als einen weiteren Schritt in der kontinuierlichen Kriminalisierung der Solidarität mit der kurdischen Freiheitsbewegung und die derzeitige europäische Tendenz, die sozialen und politischen Rechte immer mehr zu beschränken.

Mit diesem Fall sendet der deutsche Staat auch eine sehr klare Botschaft an alle, die sich mit dem Kampf des kurdischen Volkes solidarisieren, aber auch an die kurdische Bevölkerung in Deutschland. Sie versuchen, kurdische Menschen, die nicht einmal einen europäischen Pass haben, einzuschüchtern und so davon abzuhalten, ihre Stimme in Deutschland zu erheben und an öffentlichen Aktivitäten im Zusammenhang mit dem Kampf für Freiheit und Frieden in ihrem eigenen Land teilzunehmen.

Und deshalb ist für María und für uns klar, dass wir uns gegen diesen Angriff wehren werden. Wir werden nicht zulassen, dass der deutsche Staat einen Präzedenzfall gegen andere europäische Aktivist*innen in Deutschland schafft. Dies würde nicht nur die Solidarität mit der kurdischen Freiheitsbewegung betreffen, sondern könnte perspektivisch gegen alle politisch aktiven Menschen gerichtet sein, die keine deutsche Staatsangehörigkeit haben und sich offen engagieren. Es liegt in unserer Verantwortung, nicht zuzulassen, dass man Angst schürt, wenn Solidarität mit der kurdischen Befreiungsbewegung gezeigt wird. Mehr denn je müssen wir heute die Notwendigkeit eines sozialen Protests für ein freies, würdiges und gerechtes Leben für alle zu verteidigen.

Wie wollt ihr gegen diese Repression vorgehen und wie kann man euch dabei unterstützen?

Durch den Widerstand gegen diesen Fall werden wir zeigen, dass internationale Solidarität alle Grenzen überwinden kann und nicht mit den Repressionsmitteln des Staates gestoppt werden kann. So rufen wir als Unterstützungsgruppe „Grupo Internacional“ dazu auf, Solidarität mit dem Kampf in Kurdistan zu zeigen und den Angriff gegen unsere Genossin María zu einem gemeinsamen Widerstand gegen den Repressionsapparat des deutschen Staates und das europäische Grenzsystem zu machen.

Wir haben Informationsflyer in verschiedenen Sprachen vorbereitet und laden lokale Gruppen ein, dieses Material zu nutzen, um über den Fall zu informieren und die politischen Konsequenzen zu diskutieren, sowie ihre Solidarität in lokalen Mobilisierungen und Aktivitäten zu zeigen.

Abschließend möchten wir uns für all die Solidarität und Unterstützung bedanken, die wir in den letzten Wochen nicht nur aus Deutschland erhalten haben. Wenn das eigentliche Ziel der Repression immer darin bestand, zu isolieren, zu verängstigen und zu spalten, kann unsere Antwort nur sein, unsere revolutionäre Organisierung, unseren aktiven Widerstand und unsere internationale Solidarität mehr denn je zu intensivieren.

# Flyer der Soli-Kampagne für den Download:

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Wer A sagt, muss auch B sagen. Das scheint die unausgesprochene Devise der Herrschenden gewesen zu sein, als sie die juristischen Grundlagen der Repression immer wieder nachgeschärft haben. Die Rede ist vom Paragraphen 129 des Strafgesetzbuches, der die „Bildung einer kriminellen Vereinigung“ unter Strafe stellt. Seit seinem Erscheinen im Reichsstrafgesetzbuch von 1871 hatte er vor allem den Zweck, Widerstand niederzuhalten – ob im Kaiserreich, in der Weimarer Republik oder in den Jahren des Faschismus. Nach 1945 hielt man den Paragraphen in Ehren, konnte man ihn doch noch gebrauchen, etwa im Kampf gegen die KPD. Im Jahr 1976 wurde mit Blick auf die RAF der §129a („Bildung einer terroristischen Vereinigung“) eingefügt. Und gut 26 Jahre später, im August 2002, gesellte sich als Reaktion auf die Anschläge vom 11. September 2001 noch der Paragraph 129b dazu, der im Großen und Ganzen die gleichen Handlungen unter Strafe stellt wie der §129a, sich aber auf „terroristische Vereinigungen im Ausland“ bezieht.

Dass sich die Herrschenden mit diesen beiden Gummiparagraphen Instrumente gebastelt haben, um Kritiker mundtot zu machen, jeden und jede kriminalisieren und Strukturen nach Herzenslust ausforschen zu können, ist zumindest unter Linken kein Geheimnis. Der §129a ist bekanntlich zuletzt wieder von Staatsanwaltschaften fleißig genutzt worden. Noch hemmungsloser wurde in den zurückliegenden Jahren aber der §129b eingesetzt.W. Und zwar hauptsächlich, um kurdische und türkische Oppositionelle hinter Gitter zu bringen. Damit machen sich die Justiz und der deutsche Staat immer wieder zum Erfüllungsgehilfen der Türkei, des diktatorischen Regimes von Recep Tayyip Erdoğan machen.

Ein besonders krasses Beispiel ist der so genannte TKP/ML-Prozess vor dem Oberlandesgericht München. Ein grotesker, politisch motivierter Schauprozess, bei dem zehn Aktivist*innen – neun Männer und eine Frau – zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt wurden. Und das nur wegen ihrer Mitgliedschaft in der TKP/ML (Kommunistische Partei der Türkei/Marxistisch-Leninistisch), die lediglich in der Türkei, nicht jedoch in der BRD, verboten ist. Wie in ähnlichen Verfahren wurden den Angeklagten keine konkreten strafbaren Handlungen vorgeworfen. Allein ihre politische Arbeit, die in Organisierung von Veranstaltungen, Spendensammlungen sowie normaler Vereinsarbeit bestand, reichte aus, um sich in Deutschland als Beschuldigte in einem der größten „Terrorprozesse” wiederzufinden und im Knast zu landen.

Die lange Vorrede erscheint in diesem Fall sinnvoll, denn nur so lässt sich verstehen, warum der Aktivist Musa Aşoğlu – um den es in diesem Beitrag eigentlich geht – in Hamburg im Knast sitzt und wie er dort behandelt wird. Im Februar war Musa vom Hanseatischen Oberlandesgericht (OLG) nach dem Paragraphen 129b zu sechs Jahren und neun Monaten verurteilt worden, heute sitzt er in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Billwerder ein. Aşoğlu wurde in der Türkei geboren, besitzt aber die niederländische Staatsangehörigkeit. Die USA und die Türkei hatten ein hohes Kopfgeld auf ihn ausgesetzt, bezeichneten ihn als „Terroristen“. Am 2. Dezember 2016 wurde Musa in Hamburg verhaftet und verbrachte über neun Monate in Totalisolation im Untersuchungsgefängnis Holstenglacis.

In der JVA Billwerder wird dem Aktivisten das Leben nach Kräften schwer gemacht. Bei der traditionellen Silvesterknastkundgebung vor der Anstalt beim zurückliegenden Jahreswechsel 2021/22 wurden diese Schikanen gegen Musa thematisiert und ihre sofortige Beendigung gefordert. Seit seiner Inhaftierung 2016 sei er Sonderhaftbedingungen ausgesetzt, hieß es aus diesem Anlass in einer Erklärung des „Netzwerks Freiheit für alle politischen Gefangenen Hamburg“. Erst sei der Gefangene der Isolationsfolter im Untersuchungsgefängnis ausgesetzt gewesen, jetzt in Billwerder der Strafhaft und einer starken Zensur. Besuchszeiten würden willkürlich gekürzt, Brief- oder Zeitungssendungen verzögert oder gar nicht an ihn ausgehändigt. Seit Herbst 2020 habe Musa Artikel aus bürgerlichen türkischsprachigen Zeitungen wegen eines angeblich „zu hohen Kontrollaufwands“ nicht mehr erhalten. Später seien die Gefangeneninfo und sogar Postkarten mit politischen Motiven von den Zensoren nicht mehr übergeben worden.

Wie ein Aktivist des Netzwerks in einem Interview in der Tageszeitung junge Welt am 30. Dezember mitteilte, hat die Anstaltungsleitung die Zensurmaßnahmen gegen den Gefangenen offenbar zuletzt erheblich verschärft. Bisher hätte er Bücher und politische Schriften über den linken Schanzenbuchladen beziehen. Das gehe jetzt nicht mehr. Im Dezember habe der Schanzenbuchladen das Netzwerk angesprochen und erklärt, alle Postsendungen an die JVA seien seit etwa zwei Monaten mit dem Vermerk „Annahme verweigert“ zurückgekommen. Aşoğlu habe zudem aus dem Knast berichtet, es sei eine Verordnung ausgehängt worden, laut der nur noch zwei bürgerliche Buchläden in die Anstalt liefern dürfen, Thalia in der Spitalerstraße und die Buchhandlung Christiansen in Altona. Auch über Amazon dürfe offenbar nichts mehr geliefert werden. Angeblich seien auf diesem Weg Drogen in den Knast geschmuggelt worden.

Mit einer schriftlichen Anfrage wandte sich das Lower Class Magazine an die Pressestelle der Hamburger Behörde für Justiz und Verbraucherschutz. Die stellvertretende Pressesprecherin, Valerie Meister, ging in ihrer Antwort auf die konkreten Zensurmaßnahmen nicht ein: Gefangene könnten Artikel bei einer Vielzahl von Versandfirmen bestellen, die zuvor überprüft und zugelassen worden seien, „darunter auch bei diversen Buchhandlungen“, schrieb sie. Ohne vorherige Zulassung und Prüfung sei der Erhalt von Sendungen von Versandhändlern „aus Sicherheitsgründen nicht möglich“. Aus Gründen der Sicherheit und des Persönlichkeitsschutzes könne man „grundsätzlich keine Auskünfte zu einzelnen Gefangenen geben“. 

Kurz vor dem Jahreswechsel war bekannt geworden, dass es noch eine weitere Schikane gegen Musa Aşoğlu gegeben hat. Das Netzwerk informierte, dass sein Genosse Faruk Ereren ihn nicht besuchen darf. Ereren saß selbst neun Jahre in der Türkei im Knast und dann noch mal sieben Jahre in der BRD in Untersuchungshaft, bevor er freigesprochen wurde. 

Welchen Hintergrund all diese Schikanen haben, macht eine Erklärung deutlich, die Musa im Mai 2021 vor dem OLG in einer nicht-öffentlichen Verhandlung abgegeben hat, bei der es um eine Entlassung nach zwei Dritteln der Haftzeit ging. Er berichtete dort, dass ihm eine Abteilungsleiterin der JVA in einem Gespräch zur Gestaltung seines Vollzugplans im Juni 2020 folgendes gesagt hat: „Ich werde ehrlich zu Ihnen sprechen. Pflegen Sie bitte keine Hoffnungen! Sowohl die Zweidrittelentlassung als auch der offene Vollzug und die gelockerten Maßnahmen sind für Sie ausgeschlossen. Ihre gesamte Strafe werden Sie unter strengen Haftbedingungen verbüßen. So erscheinen mir die Befehle von oben.“

Diese Sätze sind eine erneute Bestätigung, dass Musa Aşoğlu – wie viele andere in deutschen Knästen – ein politischer Gefangener ist. Und, dass der lange Arm des Erdogan-Regimes jedenfalls mittelbar bis in deutsche Justizvollzugsanstalten reicht.

Foto: Wikimedia commons

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Demokratische Opposition wird in der Türkei brutal verfolgt – insbesondere, wenn Kurdinnen ihren Platz im politischen Raum einnehmen wollen. Deutschland unterstützt diese Repression. Ein Gespräch mit der HDP-Politikerin Besime Konca

Kannst du dich zuerst unseren Leser:innen vorstellen?

Mein Name ist Besime Konca. Ich arbeite seit 28 Jahren in der kurdischen Befreiungsbewegung und mit kurdischen Frauen. Ich war lange Zeit politische Gefangene in der Türkei. Man hat mich verhaftet, als ich für die DTB aktiv war, später auch, als ich für die HDP aktiv war. Zuletzt wurde ich vor einigen Jahren als HDP-Parlamentarierin für Sirte gefangen genommen. Ich war zu der Zeit als Gast in Europa, aber weil mir in der Türkei erneut Gefängnis drohte, musste ich bleiben. Derzeit halte ich mich als politische Geflüchtete in Deutschland auf. Ich bin also seit etwa drei Jahren in der Diaspora.

Wie bist du politisch aktiv geworden und zur HDP gekommen?

Die HDP ist ein politisches Projekt, das die in der Türkei seit 100 Jahren bestehende Politik verändert hat. In der HDP gibt es zum einen das System der geschlechterparitätischen Doppelleitung, es gibt autonome Fraueninstitutionen, in denen sich Frauen organisieren. In der HDP haben alle Bevölkerungsgruppen einen Platz gefunden, denen es in der Türkei verboten war, demokratische Politik zu machen – Kurd:innen, Armenier:innen, Syrer:innen, Tscherkess:innen, Alevit:innen. Die HDP ist ein umfassendes Projekt zur Demokratisierung der Türkei. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, das demokratisch-ökologische Paradigma und die Freiheit der Frauen zu beschützen. Für mich war entscheidend, dass ich als kurdische Frau, als Feministin und als Demokratin Politik machen wollte. Deshalb bin ich in die HDP eingetreten.

2017 wurde du in der Türkei deines Amtes enthoben. Was war die Vorgeschichte dieses Angriffs?

Im November 2015 ist die HDP ins Parlament eingezogen. Aber vorher schon habe ich für die kurdische Partei BDP gearbeitet. Zu diesem Zeitpunkt war die HDP vergleichsweise neu aufgebaut worden, die Geschichte der Partei reichte erst 6 Jahre zurück. Damit die kurdische Frage in der Türkei gelöst werden konnte, hatte Abdullah Öcalan das Paradigma der Demokratischen Nation entworfen. Die HDP war zwischen der politischen Sphäre in der Türkei, den Debatten auf Imrali und der kurdischen Befreiungsbewegung in einer Vermittlungsrolle gewesen. Deshalb hatte ich großen Respekt vor ihr und große Hoffnungen, dass sie die kurdische Frage lösen und die Türkei demokratisieren können würde.

Im Juni 2015 schaffte es nun die HDP zum ersten Mal als kurdische Partei über die 10-Prozent-Hürde ins türkische Parlament – zuvor waren immer nur Einzelkandidat:innen eingezogen. Sie erreichte 13 Prozent. Deshalb akzeptierte der türkische Staat diese Wahlen nicht und strebte Neuwahlen an. Und der Staat begann Kriegsoperationen gegen die Kurd:innen. Im Rahmen dieses Krieges kam es auch zu Angriffen auf die HDP. Der türkische Staat akzeptiert die Kurd:innen seit 100 Jahren nicht, also wollte er nicht, dass die Kurd:innen ihren Platz in der Politik einnahmen. 2016 wurden die Co-Vorsitzenden der HDP , Selahattin Demirtas und Figen Yüksedag, sowie eine große Zahl von Parlamentarier:innen gefangen genommen. Einen Monat später haben sie auch mich ins Gefängnis geworfen.

Man muss dazu sagen, in diesen Jahren kam es auch in Rojava zu einem sehr wichtigen Widerstand. Ganz Rojava erhob sich gegen den Islamischen Staat. Und gleichzeitig griff die Türkei militärisch in ganz Kurdistan Städte an – Cizre, Sur, Nusaybin. Dagegen positionierte sich die HDP. Wir vertraten die Auffassung, dass die kurdische Frage sich nur durch eine Demokratisierung lösen ließe. Wir leisteten auch außerhalb des Parlaments, bei den Unterdrückten im Volk, viel Widerstand – sowohl in Nordkurdistan, wie in Rojava.

Gerade für die weiblichen Abgeordneten im Parlament war der Kampf schwer, denn das Patriarchat ist dort tief verankert. Sie beschnitten die Rechte von Frauen, brachten religiöse, rückwärtsgewandte Gesetze ins Parlament. Dagegen leisteten wir Widerstand. Es gab eine Gruppe von Frauen im Parlament, die sich zum Beispiel dafür einsetzte, dass ein Frauenministerium geschaffen wird. Und gegen die Gesetzesentwürfe der AKP, beispielsweise zur Legalisierung der Verheiratung von Minderjährigen oder zur Zwangsverheiratung von Vergewaltigten mit ihren Vergewaltigern – dagegen haben wir Widerstand geleistet. Das türkische Parlament ist kein klassisches Parlament wie in anderen Ländern. Man muss dort Widerstand leisten und es ist ein wichtiger Kampf um Sein oder Nichtsein der eigenen politischen Existenz.

Du lebst seit 2018 in Deutschland. Wie kannst du von hier aus deine politische Arbeit fortführen?

Als ich im Gefängnis war, habe ich begonnen, mich sehr für die Freiheit der Frauen zu interessieren. Als Parlamentarierin habe ich diese Arbeit fortgeführt. Es geht darum, die Gesellschaft nach dem Paradigma der Freiheit und der Frauenbefreiung zu organisieren. Und auch wenn der türkische Staatdas nicht anerkennt, sieht mich die Bevölkerung, die mich gewählt hat, noch als ihre Abgeordnete. Ich bin ja seit 28 Jahren für die Freiheit des kurdischen Volkes, für jeden Widerstand und alle Kämpfe der Frauen aktiv. Und das möchte ich auch hier fortsetzen. Ich habe dann in der Diplomatie der Frauenbewegung gearbeitet. Und heute arbeite ich in der kurdischen Gesellschaft in Europa, mit den Frauen hier, die viel Widerstand leisten. Es ist auch wichtig aufzuzeigen, dass alle Staaten Europas – Frankreich, Italien, Deutschland – heute Gehilfen des türkischen Staates sind. Sie unterstützen den AKP-Faschismus.

Die Mehrzahl des kurdischen Volkes in der Diaspora ist heute in Deutschland. Mehr als eine Million Kurd:innen sind in der Bundesrepublik. Es ist das Recht der Kurd:innen in Deutschland an der Politik teilzuhaben. Es ist das Recht der Kurd:innen, dass auch die Gesellschaft in Deutschland, die Jugend, die Politik sehen, wie das Leben in Kurdistan ist. Und in der Gesellschaft Deutschlands gibt es viele Freund:innen der Kurden. Gerade wir als Frauen nehmen an vielen Bewegungen teil und haben dort unseren Platz.

Was ist deine Perspektive auf die deutsch-türkischen Beziehungen?

Die Politik Deutschlands hat Einfluss auf die aller europäischer Staaten. Und Deutschland hat nicht erst seit Kurzem, sondern seit dem osmanischen Reich intensive Beziehungen zur Türkei. Die Politik der kapitalistischen Moderne und der Unterdrückerstaaten ist immer an Interessen, am eigenen Nutzen ausgerichtet und das prägt auch diese Beziehungen. Das ist eine falsche und gegen die Völker gerichtete Politik. Eine Politik der Waffenexporte, eine Politik des Profits und eine antidemokratische Politik. Gerade Deutschland will gar keine demokratische Entwicklung in der Türkei. Die Bundesrepublik befürwortet den Krieg.

Das ist eine falsche Politik. Die Länder Europas sehen die Türkei als eine Art Depot für Geflüchtete. Sie fürchten sich vor den politischen Aktionen der Türkei.

Aber die Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei sind nicht erst seit dem AKP-Faschismus von dieser Art. Auch davor gab es ja diese Beziehungen. Die Regierungen in der Türkei wechselten, aber nicht die grundsätzliche Politik des Staates. Und in diesen Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei spielten Demokratie oder Menschenrechte nie eine Rolle. Es geht allein um den wirtschaftlichen Nutzen. Und dieser wächst durch Krieg. Und er wächst in Krisen.

Es werden zahlreiche Massaker gegen Kurd:innen verübt, heute werden sogar Chemiewaffen eingesetzt, jeden Tag bombardieren sie mit Drohnen kurdische Wohngebiete, Menschen werden getötet. 5000 Frauen wurden vom IS in Sengal entführt. In Afrin, Kobane, Gire Spi haben die Türken mit Unterstützung Europas angegriffen und die Bevölkerung massakriert. Sie respektieren den Willen der Kurd:innen, den Gesellschaftsaufbau der Kurd:innen nicht. Das verletzt die Kurd:innen.

Ich will auch betonen, dass sich selbst hier der deutsche Staat wie die Türkei gegenüber den Kurd:innen verhält. Er verbietet ihre Organisationen, Jugendliche werden verhaftet, es gibt eine Reihe von Verboten. Die Farben und Fahnen der Kurd:innen werden auf Demonstrationen kriminalisiert. Das, was die Türkei tut, versucht die BRD auch in Europa durchzusetzen. Es ist ja so, dass die Kurd:innen nicht freiwillig ihr Land verlassen haben. Wir haben unsere Geschichte, unsere Zukunft und Vergangenheit dort. Wir wurden durch genau diese Politik vertrieben und mussten nach Deutschland kommen.

Titelbild: ANF

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„Sein Gewissen war rein. Er benutzte es nie.“ Angesichts dieses mir schon lange vertrauten Zitats des polnischen Aphoristikers Stanislaw Jerzy Lec muss ich immer zuerst an den Mann denken, der vor ein paar Tagen zum Bundeskanzler dieses Landes gewählt worden ist. Olaf Scholz erscheint mir wie ein Prototyp dieses von Lec beschriebenen Menschenschlags. Was bürgerliche Medien bei dem Sozialdemokraten als „Pragmatismus“ bejubeln, lässt sich wohl eher als kalte Arroganz der Macht beschreiben. In Scholz‘ politischer Karriere gibt es genug Ereignisse, die diese Einschätzung bestätigen – aber wohl keines so deutlich wie der Fall Achidi John.

Es ist ein irgendwie seltsam anmutender – aber auch bezeichnender – Zufall, dass der frühere Hamburger Bürgermeister ausgerechnet am 9. Dezember 2021 zum Bundeskanzler gewählt worden ist. Das war auf den Tag genau 20 Jahre nach den Vorgängen im Institut für Rechtsmedizin des Hamburger Universitätsklinikums (UKE), die den Nigerianer Michael Paul Nwabuisi, der sich Achidi John nannte, das Leben kosteten. Mit großer Brutalität wurde dem als Kleindealer verdächtigten und erst 19 Jahre alten Mann am 9. Dezember 2001 dort zwangsweise ein Brechmittel verabreicht, um verschluckte Drogenkügelchen zu Tage zu fördern. John erlitt einen Herzstillstand, fiel ins Koma. Drei Tage später wurde er auf einer Station des UKE für tot erklärt.

Der 20. Todestag von Achidi John wurde in den bürgerlichen Medien, von Ausnahmen abgesehen, in den vergangenen Tagen geflissentlich beschwiegen. In der überbordenden Berichterstattung über die Kanzlerwahl und die neue Bundesregierung, fanden die Verstrickungen von Scholz in die Affären um die Cum-Ex-Deals und Wirecard oder seine Rolle beim G-20-Gipfel im Sommer 2017 in Hamburg gelegentlich Erwähnung. Aber mit dem Thema Brechmittel und seinem Anteil an der Sache wollte man dem neuen mächtigsten Mann im Staat offenbar nicht kommen. Dabei sagen die Vorgänge vermutlich mehr über ihn aus, als vieles andere.

Denn Achidi John kann ohne Übertreibung als direktes Opfer des machiavellistischen Politikansatzes des Olaf Scholz bezeichnet werden. Dazu muss man wissen, dass Scholz im Mai 2001 zum Innensenator Hamburgs ernannt worden war. Damals stand eine Bürgerschaftwahl im September bevor und der SPD und den Grünen drohte der Machtverlust. Die bürgerlichen Medien der Stadt arbeiteten fleißig daran, allen voran die Springerblätter Hamburger Abendblatt (inzwischen Funke-Gruppe), Bild und Welt. Die Kleindealer auf St. Pauli, in St. Georg und im Schanzenviertel, fast durchweg Afrikaner, wurden zum Hauptproblem der Stadt hochstilisiert. Zugleich baute die Presse den durch überharte Urteile aufgefallene Amtsrichter Ronald Schill, den man „Richter Gnadenlos“ getauft hatte, zum Heilsbringer auf.

Scholz versuchte der Schill-Partei, die mit dem Richter als Zugpferd gegründet worden war und rückblickend als Vorläufer der AfD bezeichnet werden kann, das Wasser abzugraben. Und zwar indem er einen harten Law-and-Order-Kurs fuhr. Dazu gehörte auch, dass er die zwangsweise Verabreichung von Brechmitteln gegen als Drogendealer verdächtigte Menschen erlaubte, obwohl es auch damals schon medizinische Bedenken gegen den Einsatz des Brechsirups Ipecacuanha gab. Mit diesem gewissenlosen Profilierungsversuch gab Scholz letzlich nur der rassistischen und protofaschistischen Schill-Partei recht, die folglich bei der Bürgerschaftswahl im September 2001 sensationelle 19,4 Prozent einfuhr und der CDU unter Ole von Beust an die Macht verhalf. Als Achidi John starb, war Schill bereits Innensenator.

Noch heute läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken, wenn ich Schilderungen der Foltertortur lese, die der junge Mann im Institut für Rechtsmedizin am 9. Dezember 2001 erleiden musste. Der Nigerianer wehrte sich verzweifelt gegen die Verabreichung des Sirups. Aber das half ihm nicht. Zuletzt fixierten ihn fünf Polizeibeamte. Mit auf dem Rücken gefesselten Händen hielten sie ihn auf dem Boden fest. Erst nach mehreren Versuchen gelang es der Rechtsmedizinerin Ute L., John eine Magensonde durch die Nase einzuführen und ihm 30 Milliliter des Brechsirups Ipecacuanha sowie Wasser einzuflößen. Später gab es Vorwürfe, L. und die Beamten hätten den Nigerianer anschließend liegen lassen ohne sich um ihn zu kümmern und die Reanimation zu spät eingeleitet. Dieser Verdacht ließ sich aber offenbar nicht wirklich erhärten. 

Weder Ute L. noch einer der beteiligten Beamten wurden jemals angeklagt. Die Staatsanwaltschaft stellte ein Vorermittlungsverfahren gegen die an dem Einsatz Beteiligten im Juni 2002 ein. Ein Klageerzwingungsverfahren des Vaters von Achidi John wurde vom Hanseatischen Oberlandesgericht im Juli 2003 wegen angeblicher Formfehler abgelehnt. Natürlich gab es weder von Olaf Scholz, noch von Klaus Püschel, dem kürzlich pensionierten Leiter des IfR, auch nur das geringste Wort des Bedauerns oder gar eine Entschuldigung. Unter Püschels Leitung wurden auch nach dem Tod von John die Brechmitteleinsätze noch bis ins Jahr 2006 fortgeführt. 

Erst danach wurde die zwangsweise Verabreichung in Hamburg eingestellt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte im Juli 2006 geurteilt, dass die erzwungene Vergabe von Brechmitteln gegen das Folterverbot des Artikels 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention verstößt. Nach Angaben der Hamburger „Initiative zum Gedenken an Achidi John“ wurden zwischen 2001 und 2006 insgesamt 530 Menschen – fast ausschließlich schwarze junge Männer – von der Polizei dem Institut zugeführt und mit einer Zwangseinflößung des Brechmittels bedroht, respektive malträtiert. Was wenig bekannt ist: Die „freiwillige“ Einnahme von Brechmitteln wurde noch bis 2020 fortgesetzt. Wobei von Freiwilligkeit nicht wirklich gesprochen werden kann, wenn einer Straftat Verdächtigte unter Druck gesetzt und Vorteile bei „Kooperation“ versprochen werden.

Die „Initiative zum Gedenken an Achidi John“ hat aus Anlass seines 20. Todestages dem Vorstand des Universitätsklinikums Eppendorf geschrieben und ihn unter anderem gefragt, „wie er heute zu der damaligen menschenrechtswidrigen Praxis am IfR steht, und ob zumindest eine medizin-ethische Aufarbeitung am UKE stattgefunden habe“. Die Antwort des UKE in einem Schreiben vom 12. August sei keine, erklärte die Initative in einer Mitteilung. Das UKE habe lediglich auf Bürgerschaftsdrucksachen verwiesen. „In den Räumen des Instituts für Rechtsmedizin ist gefoltert worden“, wird der Sprecher der Initiative, Daniel Manwire, zitiert. Püschel und seine Mitarbeiter hätten sich den Einsätzen verweigern können und müssen.


Ebenso wie die Linksfraktion in der hamburgischen Bürgerschaft fordert die Initiative eine Entschuldigung der Verantwortlichen und die Einrichtung eines „würdigen Gedenkortes“ für Achidi John und die anderen von der Brechmittelfolter Betroffenen auf dem Gelände des UKE. Daraus dürfte aber nichts werden. Ein entsprechender Antrag der Linken in der Bürgerschaft wurde abgebügelt. Von Vertreter*innen der SPD und der Grünen gab es Worte des Bedauerns, entschuldigen wollten sie sich nicht.

Olaf Scholz wird vermutlich weiterhin gut schlafen können, da er sich wohl – wie immer – nichts vorzuwerfen hat. Das Hermetische seiner Auffassungen macht Angst, mir jedenfalls. Ein langjähriger Abgeordneter der Linken in der Bürgerschaft erzählte mir einmal eine Begebenheit, die viel über den Sozialdemokraten aussagt. Er habe versucht, Scholz seinen Standpunkt zu erläutern, darauf habe dieser zu ihm gesagt: „Das weiß ich doch alles schon. Da sagen Sie mir nichts Neues.“ Diese felsenfeste Überzeugung, alles besser zu wissen, kann gefährlich sein – vor allem wenn jemand an den Hebeln der Macht sitzt. 

#Foto: Wikimedia Commons

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24. November 2016: Vor genau fünf Jahren unterzeichnete der kolumbianische Staat ein Dokument, welches einen 50 Jahre langen aufständischen Bürgerkrieg beenden sollte. Die Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens, besser bekannt als FARC-EP, setzten sich mit ihren jahrzehntelangen Feinden zusammen an den Verhandlungstisch.

Während 7.000 Guerrilerxs der FARC-Guerilla ihre Waffen in der aufrichtigen Hoffnung auf Frieden abgaben, hatte der Staat seine ganz eigene Motivation. Die kolumbianische Elite erkannte: Ein Krieg gegen Kommunisten ist schlecht fürs Geschäft.

Das Abkommen machte den Menschen Hoffnung auf Frieden und Wandel, gleichzeitig badete sich der derzeitige Präsident Juan Manuel Santos im Rampenlicht der internationalen Presse; Santos wurde mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.

Jetzt, 2021, ist am vergangenen Montag der UN-Generalsekretär im Land eingetroffen, um sich mit den Opfern des bewaffneten Konfliktes, Regierungsdelegierten und ehemaligen hochrangigen Führern der FARC-EP zu treffen. Am Mittwoch, dem 24. November, dem fünften Jahrestag der Unterzeichnung des Friedensabkommens, wird es einen großen Festakt geben. Was genau gefeiert wird ist unklar, denn Frieden gibt es in Kolumbien keinen.

Im Jahr 2016 war die FARC-EP bereit, ihre Waffen abzugeben. Jetzt werden unbewaffnete, ehemalige FARC-Veteranen erschossen. Systematische Morde an ehemaligen FARC-Guerilleros erschüttern das Land. Wenn der derzeitige Trend der gezielten Tötungen anhält, werden etwa 1.600 ehemalige FARC-Gueriller@s bis Ende 2024 ermordet werden, teilte das kolumbianische Tribunal für Übergangsjustiz am 28. April 2021 mit. Bereits jetzt wurden seit dem Friedensvertrag über 260 ehemalige FARC Mitglieder ermordet. Ehemalige FARC-EP-Gueriller@s fürchten um ihr Leben, während die Überzeugung, dass das so genannte Friedensabkommen auf einer Illusion beruht, immer mehr an Popularität gewinnt.

Nicht alle fügen sich diesem Schicksal. Der bittere Verrat am Friedensvertrag seitens des Staates war für viele ehemalige Mitglieder, Kommandeur:innen und Gueriller@s der FARC-EP und der mit ihrem verbundenen Kommunistischen klandestinen Partei Kolumbiens (PCCC) der Anlass, den bewaffneten Kampf wieder aufzunehmen. Derzeit sind die Strukturen der „neuen“ FARC-EP landesweit in 138 Gemeinden präsent, was auf ein enormes Wachstum seit 2016 hinweist, dem Jahr, in dem der Friedensprozess zwischen der „alten“ FARC-EP und der kolumbianischen Regierung abgeschlossen wurde.

Tausende zerrissen den Vertrag in zwei Teile und griffen wieder zu den Waffen. Die „Partei der Rose“, die legale Partei aus ehemaligen FARC Mitgliedern, verlor viele ihrer Mitglieder. Die einflussreichsten FARC-Kommandeure Jesus Santrich und Iván Márquez kehrten in die Berge zurück, um die Gründung der FARC-EP bekannt zu geben: Die Zweite Marquetalia. Fast täglich gibt es Gefechte. Frieden in Kolumbien eine Illusion.

Frieden gibt es in dem Land schon allein deswegen keinen, weil die FARC und der Staat nicht die einzigen Parteien im Krieg sind, und rechte Paramilitärs, die für die überwiegende Anzahl an politischen Morden verantwortlich sind, Kartelle und der Staat selbst immer noch einen bewaffneten Kampf gegeneinander und das Volk führen. Wie instabil der Status Quo aktuell ist, wurde während des Nationalstreiks 2021 und dem anschließenden Volksaufstand als Reaktion auf Polizei- und paramilitärischer Gewalt deutlich. Mindestens 84 Menschen wurden getötet, über 1.790 verwundet und 3.274 verhaftet. Dazu kommen 106 geschlechtsspezifische Gewaltakte.

Der Besuch von dem UN-Generalsekräter António Guterres findet inmitten einer Welle der Gewalt statt. Allein 2021 wurden  mehr als 150 Aktivisten und seit der Unterzeichnung des Friedensabkommens 1270 sozialen Aktivisten ermordet. In Kolumbien gibt es das Sprichwort: „Es ist weniger gefährlich in die Berge zu gehen (sich der Guerilla anzuschließen), als eine Gewerkschaft zu gründen.“ Die kolumbianische Bevölkerung und vor allem die Revolutionäre Bewegung ist sich bewusst, dass über die verfaulte bürgerliche Demokratie die korrupte Herrschaft der Oligarchen nicht überwunden werden kann. Aus diesem Grund sind die einzigen konstanten Kriegsparteien in dem über 50 Jahre dauernden Bürgerkrieg die Kommunistischen Guerilla und der Staat. 

# Titelbild: Juan Manuel Santos, ehem. Präsident von Kolumbien und Rodrigo Londoño Echeverri, alias «Timoleón Jiménez“ von den FARC, 2016

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In der Schweiz beginnt ein großer politischer Prozess. Andrea, Kommunistin, Mitglied des Revolutionären Aufbaus Schweiz und Sekretärin der Roten Hilfe International, soll sich ab dem 18. November vor Gericht u.a. für Angriffe auf Institutionen des türkischen Staates verantworten. Ein Prozess, der nicht nur von den Schweizer Sicherheitsbehörden forciert wird.
Ein Interview mit der Angeklagten.

Erst einmal viel Kraft für den nun beginnenden Prozess gegen dich. Was wird dort eigentlich verhandelt?

Es geht hauptsächlich um zwei Sachen: Ein Angriff mit Pyrotechnik gegen das türkische Generalkonsulat in Zürich im Winter 2017 und verschiedene Delikte während Mobilisierungen in Zürich während des Covid-Lockdowns im Frühling 2020. Der Prozess findet vor dem Bundesstrafgericht in Bellinzona statt, weil beim Angriff gegen das Konsulat sog. „Unkonventionelle Brand- und Sprengvorrichtungen“ zum Einsatz kamen, bei denen jeweils der Bund die Ermittlungen und Strafverfolgung übernimmt.

In welchem Kontext fanden die Angriffe auf türk. Institutionen statt?

Der Angriff auf das türkische Generalkonsulat fand zeitgleich mit dem „World Economic Forum“ in Davos statt, dem jährlichen internationalen Stelldichein der Herrschenden. Damals waren hochrangige Minister der AKP in den Bündner Bergen zu Besuch, um ihre wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zu pflegen und sich grünes Licht für ihre Angriffskriege bei den anwesenden imperialistischen Kräften zu holen – wie ein Jahr später gegen Afrin.

Welche Rolle spielt der türkische Staat bei diesem Prozess?

Der türkische Staat ist die treibende Kraft in diesem Verfahren. Er hielt über seine diplomatischen Vertreter_innen in der Schweiz den Druck im Verfahren stets aufrecht: Angesichts der kümmerlichen Beweislage bezüglich dem Angriff gegen das türkische Generalkonsulat versuchte die Bundesanwaltschaft mehrfach diesen Teil des Verfahrens einzustellen. Stets intervenierte die türkische Diplomatie, um eine solche Einstellung zu verhindern.

Derlei Interventionen sind kein Alleinstellungsmerkmal des Prozesses gegen mich oder andere Genossen und Genossinnen. Vielmehr ist allgemein zu beobachten, dass Versuche der Kriminalisierung der praktischen internationalen Solidarität in Westeuropa eine Front des türkischen Staats in ihrem Krieg niedriger Intensität gegen die kurdisch-türkische Linke ist. Wir verweisen dazu auf die Erklärung der Roten Hilfe International, welche diese Zusammenhänge ausführlich beleuchtet – der Prozess zielt auf Andi, bedeutet aber einen Angriff auf Rojava.

Was bedeutet dieser Prozess der Klassenjustiz für die revolutionären Kräfte in der Schweiz?

Hier könnte man zwei Sachen ansprechen. Erstens: Getroffene Hunde bellen – die Angriffe gegen die Institutionen des türkischen Staats treffen ins Schwarze, provozieren große Reaktionen. Wieso? Weil es ihren Nimbus der Macht durchbricht, weil es ihre Propaganda als hohl entlarvt, weil es aufzeigt, dass die Front jene, die gegen ihre Politik stehen, breit ist.

Zweitens: Die Dinge sind volatiler als man denkt – entsprechend die Reaktion des bürgerlichen Staats in der Covid-Pandemie. Die Widersprüche spitzen sich weltweit zu einer historischen politischen Krise zu, das ist nicht nur in der Schweiz so. Darin ist der Ausbau von Instrumenten zur präventiven Aufstandbekämpfung – wie Staatsschutz, Polizei, Militär – nur ein Ausdruck. Diese «Brüche» sollten wir als Linke genau verfolgen, antizipieren und unsere Strategien entsprechend ausrichten.

Wie ist eure Prozessstrategie?

Es ist klar, dass dieser Prozess ein politischer Prozess ist – die Konfrontation vor den Schranken der Klassenjustiz beschränkt sich nicht auf eine juristische Ebene, sondern ist hochpolitisch. Mit der Kampagne zum Prozess wollen wir diesem Charakter Rechnung tragen – wir kehren den Spieß um und richten den Angriff auf den Kapitalismus, den schweizer und den türkischen Staat! Dazu gehört zum Beispiel die Vertiefung der internationalen Solidarität mit Rojava – nicht nur angesichts der aktuellen akuten Bedrohung eines neuen Angriffskriegs in Nordostsyrien durch das türkische Militär oder der Giftgaseinsätze in den nordirakischen Bergen, wo die freien Berge der PKK-Guerilla liegen, sondern auch angesichts der Bedeutung des revolutionären Prozesses in Rojava, welcher seit bald zehn Jahren weltweit ausstrahlt und die revolutionäre Linke inspiriert.

Dazu gehört auch die konsequente Kritik des bürgerlichen Staats als Herrschafts- und Gewaltinstrument der bürgerlichen Klasse, dessen Charakter im Umgang mit der Covid-Pandemie für viele fassbar wird – ihrem Schutz der Interessen des Kapitals stellen wir den selbstorganisierten Schutz der Menschen gegenüber, also ein System, in dem der Schutz des schwächsten Gliedes der Gesellschaft im Zentrum, steht oder wo die schwächeren Länder und Kontinente durch die reicheren in den Zentren solidarisch getragen werden. Eine Gesellschaftsformation, in der wir die Dinge in die eigenen Hände nehmen. Dazu haben wir jeweils inhaltliche Veranstaltungen organisiert, zudem treffen laufend Solidaritätsaktionen ein, die auf unserer Homepage gesammelt werden.

Was sind eurer Meinung nach die Aufgaben der revolutionären Kräfte in Europa im Bezug auf die internationalen Kämpfe, beispielsweise in Kurdistan? Wie ist das jeweilige Verhältnis und welche Aufgaben resultieren daraus für euch?

Wenn wir den großen geostrategischen Kontext mit all seinen Widersprüchen und kriegerischen Auseinandersetzung betrachten und darin wiederum die Rolle der sich entwickelnden reaktionären, faschistischen Strömungen, anschauen, dann erkennen wir ohne Zweifel, dass in der historischen Phase von «Sozialismus oder Barbarei» alle revolutionären Kräfte sich zwingend einheitlicher und geschlossener positionierend aufstellen müssen. Es geht darum, die Einheit ins Zentrum zu setzen und den objektiven Bedingungen wie auch subjektiven Ungleichzeitigkeiten Rechnung tragend, einen internationalen strategischen Strang zu entwickeln. In diesem Strang lässt sich der revolutionäre Prozess im eigenen Land mit solchen wie in Kurdistan dialektisch aufeinander beziehen und sich auch hier konkret niederschlagen. Bestimmt ist davon ein Teil auch der sich ausbreitende türkische Faschismus. Kampagnen wie #riseup4rojava oder #fight4rojava sind Ansätze dazu.

Die letzten Worte gehören dir.

Lasst uns uns gemeinsam gegenüber den konterrevolutionären Angriffen auf alles, was sich in diesem und anderen Kontexten entwickelt, aufstellen, vereint den Spieß umdrehen und unsere internationalen Prozesse verstärken.

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Am 27. November findet in Berlin eine Demonstration der Initiative „PKK-Verbot aufheben!“ für die Entkriminalisierung der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) statt. Das LowerClassMagazine sprach mit der Initiative über ihre Ziele, Forderungen und die letzten Informationen zum Stand der Vorbereitungen.

Was für Ziele verfolgt ihr als Initiative „PKK-Verbot aufheben!“?

Wir sind ein Netzwerk von politisch aktiven Menschen, die der Meinung sind, dass das PKK-Verbot in Deutschland umgehend aufgehoben werden muss. Und dass die PKK umgehend aus der EU-Terrorliste genommen werden muss. Wir möchten über das PKK-Verbot, seine Geschichte und Auswirkungen sowie den politischen und juristischen Kampf dagegen informieren. Um ein bisschen konkreter zu werden und Zahlen zu nennen: Aufgrund des PKK-Verbots haben alleine in den letzten fünf Jahren über 800 Verfahren wegen Mitgliedschaft und Unterstützung einer terroristischen Vereinigung stattgefunden, 18 Menschen haben aufgrund des Verbots hier in Deutschland ihr Leben verloren, wie zum Beispiel der 17-jährige Halim Dener, der 1994 beim Plakatieren gegen das Verbot von hinten erschossen worden war. Allgemein stellt das PKK-Verbot eine staatlich institutionalisierte Diskriminierung der kurdischen Gesellschaft hier in Deutschland dar, so wurde in den neunziger Jahren pauschal in jedem Bericht der deutschen Medien über die kurdische Gesellschaft von „den Terrorkurden“ geredet, gleichzeitig verhindert die Bundesrepublik somit gezielt, dass sich demokratische Lösungen für die kurdische Frage weiterentwickeln können.

Deswegen ist es ein weiteres großes Ziel unserer Initiative, dass wir Menschen dazu ermutigen, selbst aktiv zu werden und ihre Mitmenschen über die Auswirkungen des Verbots zu informieren. Wir wollen die Menschen dazu aufrufen sich mit der PKK an sich auseinanderzusetzen und anhand dessen eine Diskussion zu führen, statt weiterhin pauschal die stumpfe Diffamierung unkritisch zu übernehmen.

Am 27. November ladet ihr zu einer bundesweiten Demonstration gegen das PKK-Verbot ein. Was sind eure Forderungen?

Wenn man sich das Motto unserer Demonstration „PKK-Verbot aufheben! Krieg beenden – politische Lösung fördern!“ genauer anschaut, werden unsere Forderungen schnell offensichtlich sein. Das Betätigungsverbot der PKK muss umgehend aufgehoben werden. Sprich alle Organisationen und Unterorganisationen der Arbeiterpartei Kurdistans müssen umgehend legalisiert werden. Alle politischen Gefangenen müssen umgehend freigelassen werden, die laufenden Verfahren müssen fallen gelassen werden und der §129 a/b des Strafgesetzbuches muss gestrichen werden.

Mit „Krieg beenden – politische Lösung fördern!“ meinen wir, dass der militärische Krieg der in Kurdistan gegen die PKK, welcher massiv durch deutsche Waffenlieferungen und militärisches Know-How vorangetrieben wird, sowie der Kampf der Behörden hier in Deutschland gegen die kurdische Freiheitsbewegung sofort eingestellt werden muss. Der Staat muss sich auf den Dialog um eine demokratisch-friedliche Lösung auf die kurdische Frage, welchen die PKK immer wieder angeboten hat, einlassen. Wir fordern also konkret, dass der deutsche Staat die von ihm vorangetriebene Gewaltspirale anhält, sich auf den Dialog mit der PKK einlässt um somit politische Lösungen für die knapp eine Million in Deutschland lebenden Kurdinnen und Kurden aufzubauen. Denn das ist die einzige Möglichkeit um für Frieden, Demokratie und Selbstbestimmung in Kurdistan zu sorgen. 

Im Vorfeld der Demonstration habt ihr in einer Erklärung die Einschränkungen von Grundrechten scharf kritisiert. Könnt ihr uns schildern mit was für Repressionen ihr konkret konfrontiert seid?

Richtig, wir hatten bereits in unserer Erklärung allgemein darüber berichtet, wie der deutsche Staat seit 1993 jegliche Versuche, gegen das PKK-Verbot Öffentlichkeit zu schaffen, zu verhindern und zu diffamieren suchte. Auch wir als Entkriminalisierungsinitiative waren direkt selbst wieder von Kriminalisierung betroffen.

Der Internethost „Strato“ wurde dazu gedrängt unsere Webseite verbot-aufheben.de vom Netz zu nehmen, was ganz klar einen Verstoß gegen unser gutes Recht auf freie Meinungsäußerung darstellt. Monatelange Arbeit und Recherche für diese Webseite wurde somit zunichte gemacht. Dort fanden sich dutzende Artikel zu Entwicklungen bezüglich des Verbots in diesem Jahr sowie unzählige Prozessberichte. Desweiteren mehrere Dossiers, in denen die Auswirkungen des Verbots in den letzten 28 Jahren klar ausgearbeitet wurden, sowie Diskussions-Leitfäden, die es einfach ermöglichten gegen die staatliche Diffamierung der PKK argumentieren zu können. Auch allgemein alle Informationen bezüglich der Demonstration waren dort gesammelt. Nun haben wir zwar einen neuen Blog (https://verbotaufheben.noblogs.org/), doch wird es vermutlich dauern, bis wir wieder so viele Inhalte vorbereiten können.

Auf der anderen Seite wurde auch die Mobilisierung in den sozialen Medien massiv attackiert. Unsere eigenen Accounts wurden gesperrt, die Posts, Tweets und Beiträge solidarischer Gruppen wurden ebenfalls zensiert und teilweise wurden auch ihre Accounts temporär gesperrt. Eine Begründung dafür haben weder wir, noch die anderen Freund:innen erhalten, denn weder wurden verbotene Symbole gezeigt, noch wurde zu Straftaten oder Ähnlichem aufgerufen. Bei allem handelte es sich lediglich um Aufrufe zu unserer Demonstration am 27. November in Berlin. Auch hier werden uns die Grundrechte der Meinungs- und der Versammlungsfreiheit verwehrt. Denn zur Ausübung dieser Grundrechte ist es notwendig im öffentlichen Raum die Forderung der Aufhebung des Verbots lautstark aussprechen zu können. Und auch die Mobilisierungstätigkeit im Vorfeld der Demonstration ist grundrechtlich geschützt, was jedoch auch hier nicht eingehalten wurde.

Könnt ihr uns nochmal den aktuellen Stand der Vorbereitungen schildern? Wo findet man mehr Infos?

Wir befinden uns mittlerweile knapp 2 ½ Wochen vor der Demonstration in der intensivsten Phase der Vorbereitung. Die Demonstration ist angemeldet, wird sich um 12 Uhr sammeln, ab 13 Uhr mit einer Auftaktkundgebung am Hermannplatz beginnen und bis zum Oranienplatz laufen. Aktuell finden bundesweit in vielen verschiedenen Städten Seminare und Informationsveranstaltungen bezüglich der PKK und des PKK-Verbotes statt, parallel dazu werden Busse aus nahezu allen größeren Städten in der Bundesrepublik organisiert, um es für Menschen und Aktivist:innen aus ganz Deutschland zu ermöglichen an der Demonstration teilzunehmen. Desweiteren sind wir gerade damit beschäftigt eine neue Informationsplattform aufzubauen, nachdem, wie ich ja oben oben beschrieben hatte, all unsere Kanäle blockiert wurden. Bisher haben wir dafür im Austausch mit der Nachrichtenagentur ANF viele Informationen und Statements veröffentlichen können, doch nun wird vor allem unser neuer Blog https://verbotaufheben.noblogs.org/ unser zentrales Sprachrohr sein. Alle Informationen bezüglich der Demonstration, der Route, der Busse und der Veranstaltungen werden dort zu finden sein. Für weitere Nachfragen sind wir als Initiative stets unter der Email info@verbot-aufheben.de zu erreichen.

Was kann man jenseits der Demonstration gegen das Verbot tun?

Es gibt sehr viele Möglichkeiten sich sinnvoll gegen das PKK-Verbot einzusetzen. Anfangs sind wir ja bereits auf ein paar Punkte eingegangen. So ist es vor allem wichtig, dass die Menschen mehr aufeinander zugehen, ein Diskurs muss geschaffen werden, in dem man sich mit der PKK und ihren Zielen, Vorstellungen und Praxis auseinandersetzt.

Dabei ist es auch wichtig zu betonen, dass sich das Verbot nicht „nur“ gegen Kurd:innen richtet, sondern allgemein gegen alle Menschen, die sich für einen demokratischen, fortschrittlichen Wandel einsetzen. Wir sehen die klare Verbindung zwischen den §129-Verfahren, mit den wir konfrontiert sind, zu den §129-Verfahren, die gerade in Stuttgart, Frankfurt, Dresden und sonstwo laufen.

Aber auch unabhängig davon sind Prozessbeobachtungen, kleine Aktionen, sowie Demonstrationen zentral wichtig. Dafür ist kein Expertenwissen notwendig und so wird dafür gesorgt, dass die Thematik auf die Agenda der Menschen hier in Deutschland kommt und Druck auf die Regierung ausgeübt wird. Die Wirkung von kleinen solidarischen Aktionen sollte nicht unterschätzt werden und im Gegenteil viel mehr zur Praxis werden. Der Kreativität sind dabei keine Grenzen gesetzt.

Konkret auf die Demonstration bezogen ist aber vor allem auch die Aktionswoche, vom 22. bis zum 26. November, vor der Demo ein guter Rahmen, selbst aktiv zu werden. Es wird bundesweit Bannerdrops, Infostände, Sit-In‘s etc. geben und in den Städten, wo noch nichts geplant ist, rufen wir die Menschen dazu auf, selbst Initiative zu ergreifen. Am letzten Tag der Aktionswoche und am Tag der Demonstration selbst, wird es auf social media einen Twitterstorm geben. Auch dies ist eine Möglichkeit sowohl für Menschen, die sich bereits mit der Thematik auseinandergesetzt haben, aber auch für Menschen, für die das Thema noch komplett neu ist, einfach aktiv zu werden.

Mehr Informationen:

https://verbotaufheben.noblogs.org/

Kontakt:

info@verbot-aufheben.de

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So ziemlich alle in diesem Land dürften mittlerweile wissen, was mit dem Begriff „Streisand-Effekt“ gemeint ist. Für diesen Umstand und für eine überragende bundesweite Bekanntheit seiner selbst hat der Hamburger Innensenator und rechte Sozialdemokrat Andy Grote gesorgt. So gut wie kein Medium lässt es sich nehmen, unter dem Schlagwort „Pimmelgate“ in meist süffisantem Tonfall über die Vorgänge zu berichten, um die es hier geht. Weil er sich von einem harmlosen Tweet bei Twitter vor einigen Monaten beleidigt fühlte, trat Grote eine Lawine los, die ihn jetzt überrollt – so lustig das Ganze auf den ersten Blick wirkt, sollte der Vorgang nicht dazu führen, den Mann nur noch als Clown zu sehen und die Folgen seiner Politik aus dem Blick zu verlieren.

Ehe jetzt jede Menge Leser*innen hektisch zu Wikipedia wechseln, sei der Begriff „Streisand-Effekt“ hier kurz erklärt. Dazu ist es zielführend, den ersten Satz des entsprechenden Artikels der Online-Enzyklopädie wörtlich zu zitieren „Als Streisand-Effekt wird das soziologische Phänomen bezeichnet, wenn der Versuch, eine unliebsame Information zu unterdrücken, das Gegenteil erreicht, indem das ungeschickte Vorgehen eine öffentliche Aufmerksamkeit erzeugt, die das Interesse an der Verbreitung der Information deutlich steigert.“ Besser und treffender kann man nicht ausdrücken, was der auch früher schon nicht durch geschicktes Agieren aufgefallene Grote losgetreten hat.

Woher der Begriff „Streisand-Effekt“ kommt, sei hier auch noch erläutert. Er geht zurück auf einen Vorgang, der von der US-amerikanischen Sängerin, Schauspielerin und Regisseurin Barbra Streisand 2003 ausgelöst wurde, als sie einen Fotografen und die Website Pictopia.com erfolglos auf Zahlung von 50 Millionen US-Dollar Schadensersatz verklagte. Und zwar ging es ihr darum, dass auf einer der auf der Website veröffentlichten 12.000 Luftaufnahmen der Küste Kaliforniens, die die Küstenerosion für das „California Coastal Records Project“ dokumentierten, Streisands Haus zu sehen war. Natürlich hatte das keine Sau gewusst – erst durch die Klage verbreitete sich das Foto lawinenartig im Internet und alle wussten, wo das Luxusanwesen der guten Barbra steht. Früher nannte man das ein klassisches Eigentor, ab da halt „Streisand-Effekt“.

Wie das bei Grote lief, dürfte allgemein bekannt sein. Der Account einer Fankneipe des FC St. Pauli schrieb bei Twitter in Richtung des Senators: „Du bist so 1 Pimmel.“ Es folgte ein Strafantrag Grotes gegen diese „Beleidigung“ und eine Hausdurchsuchung, die dem vermeintlichen Autor des Tweets galt. Richtig Fahrt bekam die Sache, als Aufkleber mit dem Slogan auf St. Pauli auftauchten, die Polizisten abkratzen mussten, und der Satz aus dem Tweet schließlich Ende Oktober groß auf einer Plakatwand des autonomen Zentrums Rote Flora im Schanzenviertel landete. Zweimal rückte die Polizei an, um ihn zu übermalen, die Aufschrift wurde jedesmal erneuert, so dass die Polizei das Übermalen schließlich aufgab.

Natürlich ist Schadenfreude über das saudämliche Verhalten von Andy Grote durchaus angebracht. Auf der anderen Seite ist es nicht ganz ungefährlich, dass der Vorgang die Beurteilung des Sozialdemokraten ins Lächerlich-Harmlose verschiebt. Denn was der Mann, der im rechten Flügel der insgesamt schon rechten Hamburger Sozialdemokratie sozialisiert wurde, in den vergangenen Jahren angerichtet hat, ist nicht harmlos. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, sei hier darauf verwiesen, dass er der verantwortliche Senator für den gigantischen Polizeieinsatz zur Absicherung des G-20-Gipfels im Sommer 2017 gewesen ist.

Unvergessen ist Grotes faustdicke Lüge, der Gipfel werde ein „Festival der Demokratie“ sein. Tatsächlich wurden Grundrechte massiv eingeschränkt, etwa durch die Einrichtung einer großen Demo-Verbotszone. Die Polizei ging gegen Camps von Gipfelgegnern vor, auf die massive Gewalt gegen Demonstrant*innen von Anfang bis Ende des Gipfels und auf die Zustände in der Gefangenensammelstelle muss hier nicht näher eingegangen werden, weil darüber bereits genug geschrieben wurde. Der Hamburger Innensenator bekam damals zu Recht einen Spitznamen verpasst: „Verbote-Grote“. Er erwies sich damals als braver Kettenhund seines „Masters“, des damaligen Ersten Bürgermeisters Olaf Scholz, der sich gerade anschickt, Bundeskanzler zu werden. Das sollte man bei allem berechtigten Gelächter über „Pimmelgate“ nicht vergessen.

Was der G-20-Gipfel und auch die nachfolgende Fahndungswut der Soko „Schwarzer Block“ vor allem gezeigt haben: Grote und seine Polizei sind nicht zimperlich, wenn es gegen Linke geht. Da schert man sich nicht um die Gesetze, wie zum Beispiel die fragwürdigen Öffentlichkeitsfahndungen nach Gipfelgegnern gezeigt haben. Auch bei Demonstrationen wird im Zweifelsfall ordentlich hingelangt, wie sich etwa bei der Auflösung der „Welcome to hell“-Demo zu Beginn des Gipfels gezeigt hat. Und das ist eigentlich der Punkt: Es ist mehr als grotesk, wenn ein Politiker und eine Polizei, die dermaßen austeilen, sich über die Bezeichnung „Pimmel“ aufregen.

Selbst Andy Grote geht zum Schlagermove, trägt dort eine bunte Kette und einen dummen Hut –
Selbst Andy Grote geht zum Schlagermove, pisst vor seine eig’ne Haustür –
Was für ein Idiot! Was für ein Idiot! Was für ein Idiot!“ (Oidorno, 2019)

# Titelbild: Rasande Tyskar, Hamburg, 24.10.21, Attribution-NonCommercial 2.0 Generic (CC BY-NC 2.0)

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Kann sich noch jemand an den Türknauf des Todes erinnern? Am 29. Juni 2017 wurde der Kiez- und Nachbarschaftsladen Friedel54 geräumt. Die Polizei behauptete während der Räumung auf twitter, die Besetzer*innen des Ladens hätten einen Türknauf unter Strom gesetzt: „Lebensgefahr für unsere Kolleg. Dieser Handknauf in der #Friedel54 wurde unter !Strom! gesetzt. Zum Glück haben wir das vorher geprüft.“ Dass das natürlich frei erfundener Quatsch war, war egal. Ist die Sache erst Mal in der Welt, gerade von einer privilegierten Quelle, wie der Polizei, wurde das Gerücht in die Welt gesetzt und verbreitete sich wie ein Lauffeuer.

Die Liste an absurden Falschbehauptungen der Polizei ist lang, gerade wenn es um vermeintliche „linke Gewalttäter“ geht. In Säure getunktes Konfetti, Clowns, die Säure mit Wasserpistolen versprühen, Molotov-Cocktail-Würfe im Schanzenviertel während der G20-Proteste usw. usf. Dennoch gilt die Polizei, wie gesagt, als privilegierte Quelle, das heißt, Quellen, von denen Journalist*innen annehmen können sollen, dass ihre Angaben der Wahrheit entsprechen. Polizeibehörden, Staatsanwaltschaft und auch Nachrichtenagenturen gehören dazu.

Die Wirkmacht dieser Priviligierung zeigt sich aber auch über das Verbreiten von Falschmeldungen hinaus. Vergangenen Sonntag gab es in Berlin-Schöneberg ein Straßenfest von demlinken Hausprojekt Rote Insel. Dort kam es nach übereinstimmenden Berichten, sowohl von der Polizei, als auch von Augenzeug*innen zu einer Festnahme. Ab hier unterscheiden sich die Darstellungen aber gewaltig. Die Polizei (und die bürgerliche Presse) berichten von Angriffen auf Polizeibeamt*innen, die Springerpostille BZ schreibt ein Mob habe die Polizei durch die Straßen gejagt.

Ein Augenzeuge, mit dem das lowerclassmagazine sprach und der anonym bleiben will, schilderte die Situation anders: „Eigentlich war das ganze Fest ziemlich entspannt, […] bis dann die Polizei einen Typen festgenommen hat. Das war ganz schön brutal, die saßen zu dritt auf ihm drauf. Das war dann eigentlich auch noch kein Drama, die Leute standen halt drumherum und haben gepöbelt.“

„Dann kam ein ziemlicher großer Bulle und und hat links und rechts Faustschläge ausgeteilt. Das war dann die Situation, wo es eskaliert ist. Danach waren die Leute halt sauer, auch weil die anderen Bullen auch angefangen haben Schläge zu verteilen und zu pfeffern.“

Dieses Statement deckt sich weitestgehend mit einem vom Jugendclub Potse veröffentlichten Tweet: „Gegen 17 Uhr rannte ein Trupp Polizisten auf den Spielplatz in der Mansteinstr. auf welchen zu dem Zeitpunkt Kinder gespielt haben und nahmen eine Person brutal fest. Das Gesicht der Person wurde in den Sand gedrückt, nachdem ihm ins Gesicht geschlagen wurde. Menschen die sich über die massive Gewalt beschwert haben wurden von der Polizei mit Schlägen und Tritten traktiert. Dabei nahm die Polizei eine weitere Person fest. Als die Polizei die Menschen in den Mannschaftswagen gebracht hat, wurden sie von einer empörten Menge aus der Straße gedrängt. Beide der festgenommen Personen wurden in der Wanne mehr mehrfach von verschiedenen Polizisten misshandelt. So wurde der Kopf einer der Personen mehrfach gegen die Scheibe geschlagen, die andere Person lag auf dem Boden des Wagens und ihr wurde auf den Kopf getreten.“

Auch dass der Festgenommene im Polizeiwagen misshandelt wurde, konnte bestätigt werden. Ein dem lowerclassmagazine zugesandtes Video zeigt eindeutig, wie der Kopf der gefesselten Person mehrfach gegen das Fenster geschlagen wird:

https://twitter.com/LowerClassMag/status/1424768987699814404

Jetzt kann man sagen, dass das was bisher in der bürgerlichen Presse veröffentlicht wurde, und weitestgehend ein Nachplappern der Polizeimeldung, bzw. dem Stuss der Polizei“gewerkschaft“ GdP, besteht, keine Falschmeldung wie die eingangs beschriebenen ist. Schließlich wurde die Polizei offensichtlich angeschrien und verfolgt, schließlich wurde ja – beide Seiten kommen zu Wort – der Tweet der Potse zitiert. Aber wenn Statements, wie das vom Jugendclub Potse zitiert werden, passiert dies unter der Prämisse, dass erst einmal die Behauptungen der Polizei widerlegt werden müssen.

Ohne Einordnung und Ergänzung durch Infos, wie dem uns zugespielte Video oder die Nachfrage bei Leuten vor Ort, Pressemitteilungen von linken Kollektiven, wie der Roten Insel usw., wird dann im Endeffekt wegen der „Privilegierung“ der Polizei als Quelle am Ende die halbe Wahrheit und zwar die der Polizei verbreitet. Denn diese hat darüber hinaus wegen Ihrer zunehmend professionellen Pressearbeit und dem traditionell guten Draht zu bürgerlicher Presse wie Tagesspiegel, rbb, dpa oder reaktionären Hetzern wie der BZ (die alle Artikel zum Vorfall am Sonntag veröffentlichten) sowieso einen Vorsprung in Reichweite, Schnelligkeit und Kontakten, den auch social media nicht ausgleichen können. So wird am Ende immer Polizeigewalt legitimiert, weil die Logik der Polizei immer mehr Gewicht bekommt, als die Erfahrungen und Einschätzungen von Menschen, die Polizeigewalt erfahren oder sie beobachten und sich immer erst durch das Dickicht an gesponnenen Halbwahrheiten durchschlagen müssen, bevor sie gesehen oder gehört werden.

Deswegen dokumentieren wir unten stehend die Pressemitteilung der Roten Insel zu den Geschehnissen am Sonntag, wer wissen will, was die Polizei zu der ganzen Sache sagt, kann die bürgerliche Presse lesen. Der Tweet zum Türknauf des Todes übrigens wurde erst gelöscht, als zwei Kollektivmitglieder des Friedel54 Kollektivs dagegen klagten.

# Titelbild: Polizist schlägt gefesselten Festgenommenen, Quelle: privat

Pressemitteilung: Brutaler Polizei-Übergriff bei linkem Straßenfest

Am 08. August 2021 kam es in der Nähe des „Rote Insel“-Festes unter dem Motto „Kiezkultur von unten“ zu Angriffen der Berliner Polizei. Gegen 17 Uhr verfolgten mehrere Polizeikräfte eine Person, die sich in der Nähe der Kundgebung aufhielt und warfen diese auf einem Spielplatz in der Mansteinstraße brutal zu Boden. Dabei drückten sie deren Gesicht in den Sand und knieten mit mehreren Beamten auf dem Kopf und dem oberen Halsbereich. Zudem schlugen sie auf die wehrlose Person ein. Kinder, die kurz zuvor noch dort gespielt hatten, rannten verängstigt mit ihren Eltern vom Spielplatz. Laut eines der festnehmenden Beamten erfolgte die Maßnahme wegen eines vermeintlich geklebten Stickers auf einem Straßenschild. Schnell solidarisierten sich zahlreiche Menschen mit der am Boden liegenden Person. Es kam zu verbalen Auseinandersetzungen, die von den Polizeikräften mit Schlägen, Tritten und Pfefferspray beantwortet wurden. Auf diese Weise trugen die Beamt:innen massiv zur Eskalation der Situation bei. Besonders der laut Presseberichten später verletzte Beamte schlug laut Augenzeug:innenberichten zuvor willkürlich auf Personen mit der Faust ein. Auf jetzt veröffentlichten Videos ist zu sehen, wie eine der festgenommenen Personen im Polizeifahrzeug vom Beamten mit der Nummer 11331 mehrfach ohne Grund mit dem Kopf gegen Seitenscheibe und Sitz geschlagen wird. Eine andere festgenommene Person berichtet laut Jugendzentrum Potse von Tritten gegen ihren Kopf im Einsatzfahrzeug. Während die festnehmenden Kräfte kurzzeitig den Bereich verließen, verblieben andere Beamte ohne Probleme auf dem Straßenfest. Nach dem Zwischenfall wurde die bis dahin ebenfalls ruhige Kundgebung ohne weitere Vorkommnisse fortgeführt. Im späteren Verlauf wurde eine dritte Person festgenommen und von der Polizei kriminalisiert.

Zu der Eskalation der Polizeigewalt sagt Anna Schönberg, Sprecherin des Organisationskreises des „Rote Insel“-Fests: „Es ist entsetzlich mit welcher Gewalt die Berliner Polizei selbst auf einem Kinderspielplatz gegen Personen wegen einer vermeintlichen Ordnungswidrigkeit vorgeht. Das widerspricht jeglicher Verhältismäßigkeit. Und jetzt wird versucht, die Tatsachen zu verdrehen. Berlin hat kein Problem mit Gewalt gegen die Polizei, sondern ein Polizeiproblem. Jeder Angriff am Sonntag ging von den Polizeikräften aus, die danach noch wehrlose Gefangene vermutlich aus Rache misshandelten. Es scheint inzwischen eine regelrechte Taktik zu sein, linke Veranstaltungen unter fadenscheinigen Gründen zu zerschlagen und deren Teilnehmende zu drangsalieren. Die gleiche 11. Hundertschaft hat schon am 05. Juni friedliche Menschen bei den Protesten gegen den AfD-Landesparteitag ins Krankenhaus geprügelt.“

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Vor 20 Jahren haben wir uns mit hunderttausenden Menschen aus der ganzen Welt in Genua getroffen. Wir haben den selbsternannten Repräsentanten des globalen Nordens, den politischen Vertretern der acht reichsten Industrienationen und der multinationalen Konzerne, die sie vertreten – den sogenannten „G8“ – unser „NEIN!“ entgegen geschleudert. Unser „NEIN!“ zu ihrer Plastikwelt, die jegliches Allgemeingut zu Ware macht, an der Menschen nur noch als Produzent*innen des Reichtums für einige Wenige teilnehmen dürfen. Unser „NEIN!“ zu ihrer patriarchalen Welt, auf der nur ein kleiner Teil der Bevölkerung das Recht auf Ernährung, Bildung, körperliche wie psychische Unversehrtheit hat. Unser „NEIN!“ zur tödlichen Logik des Kapitalismus.

Wir, die wir uns in Genua trafen, waren geeint durch die Hoffnung und die Entschlossenheit für eine andere Welt zu kämpfen. Wir waren inspiriert von den Stimmen der zapatistischen Befreiungsbewegung aus dem lakadonischem Urwald, die 1994 „Eine andere Welt ist möglich!“ ausrief. Wir waren inspiriert von den Protesten in Seattle, Göteborg und Prag, waren Teil der Weltsozialforen und unserer jeweiligen lokalen, sozialen Kämpfe.

Wir erinnern uns an die Aufbruchstimmung, das Gefühl von Hoffnung und unseren starken Willen, ein Zeichen der Solidarität zu setzen, welches in den Ländern des globalen Südens gehört wird. Gehört von denen, die vom Profit der neuen modernen Marktwirtschaft ausgeschlossen werden. Unser „NEIN!“ war unser Statement, dass das, was hier geplant wird, nicht in unserem Namen geschieht.

Heute schauen wir auf die ersten 20 Jahre des neuen Jahrtausends zurück. Eine Zeit, von der die Generationen, die vor uns soziale Kämpfe geführt haben, hofften, dass die Menschheit reif genug wäre, ein Leben in Freiheit, Würde, sozialer und ökologischer Gerechtigkeit zu leben. Wir erlebten den Beginn des neuen Jahrtausends mitten in einem rasanten globalpolitischen, industriellen, technologischen und geopolitisch-militärischen Wandel.

Eine Zeit im Umbruch, von der wir wussten, dass sie eine Fortführung der Ausbeutung armer Länder mit modernsten Mitteln, der Plünderung und Verwüstung der Erde in nie da gewesenem Ausmaße, eine Profitmaximierung für die ohnehin schon wohlhabenden Teile der Welt bedeuten wird. Eine Zeit, von der sie sagten, dass sie das „Ende der Geschichte“ sei, dass sich global die freie Marktwirtschaftsordnung und der Wettbewerb durchsetzen werden. Die Zeit des globalen Neoliberalismus, den sie uns als Allheilmittel gegen Armut, Krankheit und Krisen in der Welt verkaufen wollten.

Zu alldem haben wir kollektiv „NEIN!“ gesagt. Wir, die Bewegung der neuen globalen außerparlamentarischen Opposition, die zwar kein gemeinsam definiertes Ziel, aber ein gemeinsames Gefühl einte: „Es muss jetzt etwas passieren!“.

Die Antwort der Herrschenden in Genua folgte ihrer eigenen brutalen Logik: Auf die Köpfe, die sie nicht gewinnen konnten, schlugen sie ein, die lauten Stimmen für eine andere Welt sollten zum Schweigen gebracht, die wachsende „Bewegung der Bewegungen“ zerschlagen werden. Carlo wurde erschossen. Tausende wurden verletzt, Hunderte verhaftet und Dutzende gefoltert. In der Bolzaneto-Kaserne, in der Diaz-Schule, auf den Polizeistationen und im Gefängnis Marrassi
Das haben wir nicht vergessen – und auch nach 20 Jahren nicht vergeben.

Wir leben mit der Erinnerung an diese Tage in den Straßen von Genua und denken dabei nicht nur an die Menschenjagden der Carabinieri, die Angst und die Ohnmacht und Ihre entfesselte Gewalt. Wir leben mit der Erinnerung an die Tage der Folter und der tristen Wochen in den Gefängnissen Pontedecimo und Marassi und denken dabei an Freundschaft und Solidarität. Wir leben mit der Erinnerung an die Demütigung und die Schmerzen, die sie uns zugefügt haben und denken dabei an die Schönheit entschlossener Menschen in Bewegung.

Wir haben in den letzten 20 Jahren viele Herrscher*innen kommen und gehen gesehen, konservative Regierungen, die für autoritäre Rollbacks sorgten und ihre sogenannten Oppositionen, die Hoffnungen weckten und nach einem schnellen Strohfeuer nur Glut und Asche hinterließen. Wir haben die Finanzkrisen gesehen, ausgelöst durch skrupellose Trader, die an den Roulette-Tischen der Börsen ihr Spiel nach den Regeln des freien Marktes auf Kosten der Allgemeinheit zocken. Wir haben das Kommen und Gehen der Wunschkandidaten der Märkte gesehen, ihr Handeln und ihr Wirken, das Erstarken neuer rechter Bewegungen, angeführt von Horrorclowns, die soziale, feministische und progressive Ansätze bekämpfen. Rund um den Globus befanden sich Menschen im Aufstand gegen ihre Regierungen, ihre Niederlagen hatten oft noch mehr Staatsterror, Bürgerkriege und totalitäre Regime zu Folge.

Wir erleben aber auch, das progressive und feministische Gesellschaftsmodelle zukunftsfähig sein können, wenn sie ausgebaut, diskutiert, hinterfragt, verteidigt werden und internationale Solidarität erfahren. Wir grüßen von hier aus die permanente Revolution in Rojava, die in Nordsyrien eine basisdemokratische, säkulare Gesellschaft erschafft und natürlich die zapatistischen Compas aus Mexico, die derzeit als Träger*innen des Virus der Rebellion die sieben Kontinente bereisen.

Wir grüßen die Aktivist*innen, die in diesen Zeiten das Richtige tun und Menschen, die sich auf ihrer Flucht vor Hunger, Krieg und Perspektivlosigkeit auf den Weg nach Europa machen, im Mittelmeer vor dem Ertrinken retten. Wir grüßen die jungen Menschen, die rund um den Globus für Klimagerechtigkeit demonstrieren. Wir grüßen die Aufständischen in Chile, die das Vorzeigeland des Neoliberalismus erschüttern. Wir grüßen die Menschen, die in ihrer Region der Erde für eine menschenwürdige, gerechte Zukunft kämpfen.

Das, was im Sommer 2001 schlecht war, ist heute noch beschissener. Wir leben inmitten einer weltweiten Pandemie und dem Beginn einer Klimakatastrophe, deren Auswirkungen wir nur erahnen können. Die Hauptleidtragenden sind diejenigen, die am Wenigsten zur Ausbeutung des Planeten beigetragen haben und nun den Folgen ungeschützt ausgeliefert sind.

In atemberaubender Geschwindigkeit funktionieren weltweite Produktions-, Liefer- und Handelsketten, abgesichert durch miese Abkommen, die den Industrienationen Überfluss, Ressourcen und gigantische Profite garantieren und den Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas Hunger, Armut und Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen bescheren. Die, deren Medien-Show wir im Sommer 2001 in Genua verhindern wollten, hinterlassen eine Spur der Verwüstung, die Teile unseres Planeten schon jetzt unbewohnbar macht. Die Bilder, die wir in den Nachrichten sehen, erzeugen ein Schleudertrauma. Unsere Hoffnung, dass sich dieses System selber zu Fall bringen würde, erfüllte sich bislang leider nicht. Wir sehen eine Minderheit habsüchtiger, korrupter Krimineller, die dem Rest der Menschheit und der ganzen Erde den Krieg erklärt hat. Außer unserem „NEIN!“ haben wir ihnen auch heute nichts zu sagen. Wir wollten nicht als NGO anerkannt werden, wollten keine Vorschläge zur Verbesserung der WTO des IWF, der G8 und der G20 machen. Wir halten das gesamte Weltwirtschaftssystem für ungerecht und für nicht reformierbar und sagen „NEIN!“ zu ihren Grenzen, ihrer Gewalt, ihrer Macht, ihren Patenten, ihren Abkommen, ihrer Arroganz, ihrem Überfluss und ihrem Müll. „NEIN!“ zu ihrem falschen Verständnis von Wohlstand, Kultur und Freiheit.

War vor 20 Jahren unser „NEIN!“ richtig, so ist es das heute erst recht!

Sie sagen uns, daß es sich bei der Globalisierung um einen unvermeidlichen Prozess handle, der wie die Schwerkraft wirke. Darauf antworten wir: Dann müssen wir eben die Gesetze der Schwerkraft außer Kraft setzen.“
Subcomandante Marcos / Chiapas

Es lebe die Rebellion, die „NEIN!“ sagt!
Es lebe das Leben!
Tod dem Tod!

# Text: Alex – Malavida Music und Sven – Disorder Rebel Store
# Titelbild: seven_resist, CC BY-NC-SA 2.0, Carlo-Giuliani-Park in Berlin

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Tamil*innen und Muslim*innen haben am 3. Februar einen friedlichen fünftägigen Marsch von Tamil Eelams südlicher Grenze Pottuvil, Amparai zur nördlichsten Spitze Pollikandi, Point Pedro mobilisiert, um die schlimme Situation von Tamil*innen und Muslim*innen zu thematisieren, die sich nun weiterhin unter der Präsidentschaft Gotabaya Rajapaksa und seinem Bruder, dem Premier- und Finanzminister Mahinda Rajapaksa verschärft. Dieser 459 km lange Marsch führte durch alle acht Distrikte des Tamil Eelams im Nordosten, die das tamilische Heimatland ausmachen. Der Protestmarsch fiel mit dem Unabhängigkeitstag Sri Lankas zusammen. Dieser wurde von der sri- lankisch-singhalesischen Regierung mit großen Feierlichkeiten begrüßt, unter anderem mit einerMilitärparade und Ansprachen des wegen Kriegsverbrechen angeklagten Präsidenten Gotabaya Rajapaksa.

Unterstützt wurde der Protest von mehreren zivilgesellschaftlichen Organisationen, darunter prominente tamilische und muslimische Politiker und eine Vielzahl von religiösen Führer*innen. Dazu gehören zahlreiche Abgeordnete der Tamil National Alliance (TNA).

Zentrale Forderungen des Marsches richteten sich an die UN und die internationale Gemeinschaft, die den Ungerechtigkeiten und den strukturellen sowie institutionellen Genozid an Tamil*innen Beachtung schenken und aktiv für Gerechtigkeit und Verantwortlichkeit für Tamil*innen sorgen soll.

Es wurden insgesamt 10 Hauptforderungen formuliert.

1. Beendigung von Landraub und Sinhalisierung

2. Beendigung der militärischen Besetzung des tamilischen Homelands

3. Beendigung der gezielten Verfolgung von Journalist*innen und Aktivist*innen der Zivilgesellschaft

4. Schutz der Rechte tamilischer Bäuer*innen

5. Schutz des Rechts der Tamil*innen, ihrer Kriegstoten zu gedenken

6. Abschaffung des Gesetzes zur Verhinderung von Terrorismus

7. Beendet die Zwangsverbrennungen

8. Freilassung tamilischer politischer Gefangener

9. Antworten für die Familien der Verschwundenen geben

10. Erhöhung der Löhne der tamilischen Plantagenarbeiter

Mit den tamilischen Nationalfarben – rote und gelbe Streifen – sowie schwarzen Fahnen im Gedenken an die Vermissten und Verschwundenen während des Bürgerkrieges protestierten viele gegen diese kontinuierliche Gewalt. Trotz Einschüchterungen und Bedrohungen der sri-lankischen Sicherheitskräfte, die auch einstweilige Verfügungen gegen den Protest erwirkten, den Marsch versuchten aufzulösen und mit Straßensperren und Legung von Schienen auf den Straßen den Protestmarsch versuchten zu stören und zu sabotierten, ließen sich Demonstrant*innen nicht davon abhalten und konnten am 7. Februar trotz derartiger Unterbrechungen und Sabotagen ihren Zielort erreichen.

Einem Demonstranten zufolge, der zu Tamil Guardian sprach: „Die Nägel haben unsere Reifen beschädigt und wir sind auf der Straße und können unsere Proteste nicht fortsetzen. Der Polizeiwagen vor uns, der zur Sicherheit bereitgestellt wurde, scheint in keiner Weise zu helfen. Vorhin, während unseres Protestmarsches, haben Leute Steine auf den Bus geworfen. Sie versuchten, die Autos [der Demonstranten] mit Benzinkanistern in Brand zu setzen und entkamen nur knapp dem Tod. Wir fordern alle Menschenrechtsorganisationen auf, diese Taten zu verurteilen! Wir werden diese abwehren und weiter protestieren.“

Srilankische Gerichte im Nordosten – Jaffna, Point Pedro, Mannar, Batticaloa und Vavuniya – versuchten Demonstrationsverbote zu verhängen. Dabei wurde eine Vielzahl von Gründen genannt, wie Verstoß gegen COVID-19-Richtlinien oder öffentliche Belästigung. In Batticaloa wurde wegen Förderung von kommunaler Disharmonie ein Demonstrationsverbot versucht zu verhängen.

Das Gericht in Batticaloa erklärte, dass diese Proteste ein Versuch seien, „den UNHRC zum Handeln gegen Sri Lanka anzustiften“ und „die Menschen gegen die srilankische Regierung aufzubringen.“ Zudem versuchte die srilankische Polizei mit Petitionen die Proteste zu stoppen, doch die Magistrate von Chavakachcheri und Mallakam wiesen diese zurück mit der Begründung, dass Menschen das Recht auf Rede- und Versammlungsfreiheit besitzen.

Der Protestmarsch ging durch zahlreiche Städte, dessen Orte geprägt sind von Repressalien und srilankisch-singhalesischem Genozid an Tamil*innen. Insgesamt zeigten Familien im Nordosten Sri Lankas Solidarität mit den Demonstrant*innen, die immer noch nach ihren während des srilankischen Bürgerkrieges verschwundenen Geliebten suchen und eine Antwort auf die Frage nach dem Verbleib der vermissten Angehörigen von der srilankischen Regierung fordern. Sie gingen in den Hungerstreik.

Als Reaktion auf die Feierlichkeiten des Unabhängigkeitstages hissten Familien von spurlos Verschwundenen schwarze Fahnen in Mullaitivu. Sie fordern die internationale Gemeinschaft auf, Gerechtigkeit und Rechenschaft für die Opfer und Überlebenden des Bürgerkrieges und des Tamil Genozides sicherzustellen. So haben in Vavuniya ebenfalls Familien von Verschwundenen mit schwarzen Fahnen und Kleidung vor dem alten Busbahnhof demonstriert. In Jaffna fand ein ähnlicher Protest statt, begleitet von Einschüchterungen und Bedrohungen der Polizei, denen die Demonstrant*innen jedoch trotzten.

Auf Druck von srilankischen Autoritäten wurde im Zusammenhang mit dem fünftägigen Marsch auf Instagram die hashtags #eelam und #tamileelam entfernt. Diese Entscheidung von Instagram unterstützt den völkermordenden Staat Sri Lanka und die kontinuierliche Diskriminierung und Unterdrückung von Tamil*innen. Tamil Eelam ist das traditionelle Heimatland von Tamil*innen in Sri Lanka. Diese hashtags verstoßen nicht gegen die Richtlinien Instagrams. Tamil Eelam ist nicht gewaltvoll, sondern der srilankisch-singhalesische Staat betreibt weiterhin einen strukturellen und institutionellen Genozid an Tamil*innen. Nicht nur Instagram sondern auch Spotify, der weltgrößte Musik Streaming Dienstleiter hat angefangen Lieder zu Tamil Eelam zu entfernen. Nach großer Empörung funktionieren nach wenigen Tagen die hashtags #tamileelam #eelam auf Instagram wieder. Diese Entfernung von hashtags wird jedoch nicht das letzte Mal bleiben, da Instagram regelmäßig hashtags zu Tamil Eelam entfernt.

Der Protestmarsch von Pottuvil nach Pollikandi ist der größte tamilische Protest seit dem Ende des bewaffneten Konflikts im Nordosten. Die internationalen Akteur*innen trieben die Versöhnung zwar etwas voran doch ihre eigentlichen Absichten sind, ihre eigenen geopolitischen Interessen zu sichern.

# Titelbild: Symbolbild Protest gegen die Offensive Sri Lankas gegen die Tamil Tigers, 2009
Fraser in Flickr (Tamil protests in Newcastle City Centre, 2009), CC BY-NC 2.0

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Vier Monate in Athen – so könnte eine Podcast-Folge von Reise-Bloggern heißen. Arash Dosthossein sitzt jedoch auf ungewisse Zeit in Athen fest. Deutsche Behörden lassen ihn trotz gültigem Aufenthaltsrecht in Deutschland nicht zurück reisen.

Seit acht Jahren lebt Arash Dosthossein nun schon in Deutschland. Das sind acht Jahre des Kampfes auf Anerkennung des Asylrechts, acht Jahre des Kampfes gegen Einschränkungen bei der Wahl seines Wohnortes, seiner Bewegungsfreiheit, seines Arbeitsrechtes. Unermüdlich geht er seit 2012 mit tausenden zur Flucht Gezwungenen für diese grundlegenden Rechte auf die Straße und nimmt immer wieder Repression in Kauf.

Als er sich im August 2020 entscheidet für drei Wochen nach Griechenland zu reisen, will er zur Ruhe kommen. Sonne, Meer, Strand – Frappé. Aber er will sich auch mit politischen Kontakten treffen. Seine Fiktionsbescheinigung, ein von der Ausländerbehörde ausgestelltes Ausweisdokument, erlaubt ihm das. Doch kaum ist er in Athen, wird ihm seine Geldbörse gestohlen. Mit all seinen Dokumenten. Was nun folgt, ist für deutsche Bürger:innen undenkbar. Zunächst wird ihm der Zutritt zur deutschen Botschaft verweigert. Erst als eine Person mit deutschem Pass vor der Tür der Botschaft in Athen steht, kann Dosthossein Kontakt mit der Behörde aufnehmen. Die deutsche Botschaft und die Ausländerbehörde in München verweigern ihm ein ums andere Mal die Ausstellung neuer Papiere. Woche für Woche wird er in der Ipsilantou-Straße 10 vorstellig, Woche für Woche wird ihm gesagt, dass es noch dauere und man auf die Überprüfung aus München warte.

In München heißt es wiederum, man müsse den Vorgang prüfen und wegen Corona ginge es nicht schneller. „Natürlich steckt dahinter der verlängerte Arm der deutschen Repressionsbehörden. In verwackelten Polizeivideos können mich die Behörden in Deutschland vor Gericht angeblich identifizieren. Jetzt tun sie so, als ob sie mich nicht kennen.“ , erzählt Dosthossein. Diese Hinhaltetaktik läuft nun schon vier Monate lang. In dieser Zeit hat er seine Wohnung in München und seinen Unterstützungsanspruch nach dem Sozialgesetz verloren. In Athen muss er sich eine Wohnung suchen und ist seitdem auf Spenden aus dem Bekanntenkreis angewiesen. In Griechenland kann er sich nicht anmelden. Sein Antrag auf Asyl hat Dosthossein in Deutschland gestellt, hier ist er auch zum ersten Mal auf europäischem Boden registriert worden. Deutschland ist somit nach europäischem Recht dazu verpflichtet sein Asylrecht umzusetzen.

Und wie kann es anders sein: Arash Dosthossein ist kein Einzelfall. In den Parks von Athen treffen sich Menschen mit ähnlichen Geschichten. Asylsuchende mit deutschem Aufenthaltsstatus auf Familien- oder Freund*innenbesuch oder einfach im Urlaub, ohne Papiere, weil diese geklaut oder verloren wurden. Für Monate von der deutschen Botschaft in die Warteschleife gesetzt. Eine Warteschleife, die die hart erarbeitete Existenz in Deutschland zerbrechen lässt und ein Leben auf einer Athener Parkbank bedeutet.

Wie wir ja alle spätestens seit der Finanzkrise wissen, sind es die griechischen Behörden, die inkompetent und arbeitsscheu sind – nicht die deutschen. Wie kann es also sein, dass eine deutsche Behörde innerhalb von vier Monaten daran scheitert, einen Drucker zu bedienen, einen Umschlag zu frankieren und diesen zur Post zu bringen? Greift der Fachkräftemangel schon so weit um sich? Wohl kaum. Struktureller Rassismus ist die erste Erklärung, die einem dazu einfällt. Nicht-Deutschen wird es um ein Vielfaches schwerer gemacht, ihre Rechte, für die sich der bürgerliche Staat ja weltweit verbürgt, wahrzunehmen und zu bekommen.

Es gibt zahlreiche Beispiele für Diskriminierung durch einzelne Beamte oder Angestellte, sei es beim Jobcenter, in der Verwaltung oder in der Ausländerbehörde. Die deutsche und europäische Gesetzgebung trägt hierzu ihr Übriges dazu bei. Auch wenn Rassismus nicht allein ökonomisch begründet werden kann, ist die Ökonomie des Rassismus ein Schlüssel zum Verständnis hinter solchen Vorgängen. Seit Jahrzehnten können wir in Deutschland beobachten, wie der Abbau staatlicher Infrastruktur nach und nach voranschreitet. Gerade im öffentlichen Dienst sind mehrere Millionen Stellen wegrationalisiert worden. Deutsche Ämter und damit der öffentliche Dienst sind seit Jahren chronisch unterbesetzt.

Nicht umsonst versuchten die Angestellten im öffentlichen Dienst in der diesjährigen Tarifrunde das Thema der katastrophalen Personalsituation zur Diskussion zu stellen. Aber weder die Gewerkschaftsführung noch die regierende SPD unterstützte die Kolleg:innen bei Forderungen zur Behebung des Personalmangels. Im Gegenteil: das Münchner SPD-Regierung strich direkt nach Abschluss der Verhandlungen gleich mal 1000 Stellen bei der Stadt. Die (Teil-)Privatisierung der Arbeits- und Sozialämter sowie die Austeritätspolitik der „schwarzen Null“ haben dazu geführt, dass die soziale Infrastruktur von Kommunen, Bund und Ländern einem Spardiktat unterliegt. Das wirkt sich bis an die Schreibtische der einzelnen Angestellten aus. Der Sparzwang wird umso aggressiver gegenüber Asylsuchenden und nicht-Deutschen Staatsbürger*innen durchgesetzt. Sei es durch bürokratische Diskriminierung, Lagerpflicht oder Abschiebungen.

Wenn also Arash Dosthossein seit Monaten keine Papiere erhält, die ihm zustehen, er sein Wohngeld und Sozialleistungen dadurch verliert, dann spart sich der deutsche Staat Sozialausgaben. Wenn die Münchner Stadtregierung tausende Stellen streicht, spart sie sich Gehälter, die dazu nötig wären, in Zeiten der Krise die dringend notwendige Infrastruktur aufrecht zu erhalten. Allein in München gibt es zehntausende Anträge auf Sozialwohnungen. Diese werden durch weniger Mitarbeiter*innen nicht schneller behandelt werden können. Und durch Corona droht noch mehr Menschen der Weg in die Armut. Die Verschlankung des Staates, besonders im sozialen Bereich, eröffnet der Privatisierung Tür und Tor. Es ermöglicht die Rekapitalisierung staatlicher Infrastruktur. Diese Rekapitalisierung ist für die deutsche Wirtschaft im Speziellen, für das europäische Kapital im Allgemeinen, von entscheidender Bedeutung, um im globalen Wettstreit nicht weiter an Boden zu verlieren. Für die Arbeiter:innen in Deutschland bedeutet das einen graduellen Rückschritt in die Zeiten vor den Revolutionen des 20. Jahrhunderts.

Der Fall von Arash Dosthossein kann daher nicht als Einzelfall betrachtet werden, sondern muss im Gesamtkontext der derzeitigen Entwicklung verstanden werden. Um der generellen Entwicklung etwas entgegen zu setzen, braucht es strategische Diskussionen. Die Unterstützung und die Politisierung der Auseinandersetzungen im öffentlichen Dienst, sei es beim Nahverkehr, in den Krankenhäusern oder an den Universitäten, stellt dabei einen zentralen Punkt dar. Ein Kampf für mehr Personal und gegen Privatisierungen kann zu einem Kampf gegen Rassismus und Sozialabbau werden. Die aktuelle Situation von Arash Dosthossein verlangt aber auch nach kurzfristiger Unterstützung: die Kampagne „Grenzenlose Solidarität mit Arash“ hat daher zu Spenden aufgerufen. Unter folgendem Link kann man ihn unterstützen:

Grenzenlose Solidarität mit Arash | betterplace.me
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Vier Wochen lang belagerten die Cops die Felder und den Wald um das Dorf Dannenrod, bis sie die Schneise für die zukünftige Autobahn A49 gerodet hatten. Bisweilen schaffte es die hessische Polizei dabei, mehrere Aktivist_innen pro Woche mit teilweise schweren Verletzungen ins Krankenhaus zu befördern. Drum herum: Viele leichte Verletzungen, unnötige Schmerzgriffe, Tasereinsätze in mehr als 20 Meter Höhe, unzählige Angriffe auf die Pressefreiheit, willkürliche Festnahme einer Sanitäterin inklusive Brechen ihres Armes – das wäre unter anderen Umständen übrigens ein Kriegsverbrechen – durch die Beamt_innen, eine kirchliche Beobachterin wird ohne ersichtlichen Anlass von einer BFE angegriffen, ständig werden Bäume nur wenige Meter neben besetzten Traversen gefällt und so die Besetzenden in Lebensgefahr gebracht. Bei Protestaktionen werden Teilnehmende und Journalist_innen von Einsatzkräften massiv beleidigt, auch lachend geschlagen und zu Boden geworfen. Einem Menschen auf einem Tripod wird „Wenn du fällst, bist du selber Schuld!“, zugerufen, während das Kletter-SEK sich am Sicherungsseil zu schaffen macht. Ein paar Tage zuvor spielten bereits einige BFEler mit einer Säge an einer anderen nur wenige Meter entfernten Tripodsicherung herum. Die Liste ließe sich noch eine ganze Weile fortsetzen, und neben den Vorgängen im Wald selbst dürfen auch die Folterbedingungen, unter denen Unterstützende in der Untersuchungshaft festgehalten wurden und werden, nicht unerwähnt bleiben.

Exakt das, was von den hochmilitarisierten Riotcops dieses Staates zu erwarten ist? Ja klar, auch. Aber bei aller Desillusioniertheit über das alltägliche Verhalten der Staatsgewalt sollte nicht ausgeblendet werden, dass so etwas nicht nur passiert, weil die Funktion „Polizist_in“ logischerweise von Waffengewalt nicht abgeneigten Menschen ausgeführt wird, sondern es sich insbesondere im Rahmen einer solchen Großprotestaktion um eine bewusste Brutalitätsstrategie handelt.

Die Verstöße der Polizist_innen gegen Versammlungs- und Presserechte sowie simpelste Grundlagen zwischenmenschlicher Ethik wurden vielfach dokumentiert und veröffentlicht. Dass die Einsatzleitung nicht davon weiß, welche ihrer Einheiten wann wo wie eskaliert hat, kann getrost ausgeschlossen werden. Des Weiteren fanden in den Wochen der Räumung mehrmals deutlich beobachtbare Wechsel des Aggressionslevels der eingesetzten Beamt_innen statt. So agierten sie beispielsweise in den ersten Tagen oder auch der ersten Dezemberwoche der Räumungs- und Rodungsarbeiten – also in Zeiträumen mit viel Aufmerksamkeit durch Tagespresse und sonstige Öffentlichkeit – spürbar vorsichtiger, kommunikativer und weit weniger eskalativ als in der Zeit zwischen diesen Punkten, vor allem in der Hauptphase des Einsatzes Ende November.

Da passierte dann der überwiegende Teil der oben beschriebenen Polizeibrutalität. Auch kamen dort vermehrt die für ihr besonders gewalttätiges Verhalten bekannten BFEs 38, 58 und 68 zum Einsatz und machten ihrem Ruf alle Ehre. Dem bekannten Demospruch entsprechend zogen sie wie gut ausgestattete Hooligans durch den Wald, zerschlugen auf dem Boden zurückgelassene Strukturen von Sitzmöglichkeit bis Pizzaofen, lauerten in der Nacht umherlaufenden Personen auf und pfeffersprayten aus etwas kindergartenhafter Bosheit heraus das Klopapier. Gegen Ende der Räumung sieht man diese Einheiten kaum noch, und auch sonst schlagen die Cops einen weit weniger aggressiven Ton gegenüber Aktivist_innen und Unterstützenden an. Offensichtlich war es also möglich, das Verhalten der Polizeitruppen zu regulieren, und folglich muss die wochenlange Inkaufnahme von teils Menschenleben gefährdenden Grausamkeiten durch die Einsatzkräfte als strategisches Mittel der Einsatzplanung gelesen werden.

Ziel von solchen durch nichts zu rechtfertigenden Brutalitätsaktionen ist es, Menschen durch Angst mundtot zu machen; das zeigt ein Blick auf die Geschichte jeder beliebigen linken Bewegung. Für eine solche Strategie findet die Polizei hier im Wald das perfekte Kampffeld, denn er stellt einen von der Öffentlichkeit praktisch komplett abgeschirmten Raum dar. Zu groß ist das Konfliktgebiet, zu langsam der Informationsfluss, um auch mit doppelt und dreifach so viel Presse jeden Vorfall adäquat dokumentieren zu können.

Die Cops wissen um solche öffentlichkeitsfernen Räume und setzen sie als strategisches Mittel ein, um mit möglichst weitreichender Willkür agieren zu können. Das trifft auf den Wald genauso zu wie auf den Bus, der regelmäßig Aktivist_innen zu Mahnwachen und Demonstrationen fuhr. Letzterer konnte keine Tour machen, ohne begründungslos aus dem Verkehr gezogen zu werden. Aber in einem Bus gibt es halt keine neugierigen Zuschauenden, die die Polizei bei ihrem Verhalten kontrollieren könnten – und im Wald auch nicht. Dort schufen sie sich diese Situation, indem sie die Presse von den Orten des Geschehens so weit weghielten, dass Beobachtung der Ereignisse im Detail unmöglich war. Zeitweise war es praktisch unmöglich, sich ohne polizeiliche Pressebegleitung durch den Wald zu bewegen – betreutes Berichten sozusagen.

Und so konstruierten sich die Cops Räume, in denen sie unbeobachtet und konsequenzbefreit Protestierende als „Stück Scheiße“ bezeichnen konnten, während sie deren Leben durch mindestens bewusst fahrlässiges Verhalten gefährdeten. Solche verbale, physische und psychische Brutalität ist die Produktion einer Botschaft an die Menschen im Wald, ihre potentiellen Unterstützer_innen und allzu kritische Beobachter_innen/Journalist_innen: Die Cops können euch antun, was sie wollen; niemand wird sie aufhalten oder auch nur sehen; und auch ihr seid mögliches Ziel für die nächste Ladung Pfefferspray, den nächsten Schlagstockhieb oder die nächste Entführung in die GeSa. Am Ende bleiben die verstreuten Berichte der Betroffenen, vereinzelte Pressebilder und das diffuse Wissen aller, sich durch die von jedweder Negativkonsequenz für ihr Handeln befreiten Einsatzkräfte in dauerhafter, latenter Gefahr für Leben und Freiheit zu befinden.

Natürlich steht solches Verhalten im kompletten Bruch zum von der Propagandaabteilung der Polizei verbreiteten Erzählung eines besonnen, rücksichtsvoll, transparent-kommunikativ ausgeführten Einsatzes. Während sie in Pressekonferenzen innerhalb der Besetzung zum running-gag gewordene Sprüche wie „Sicherheit vor Schnelligkeit“ vom Stapel ließen, gaben sich ihre Truppen an der tatsächlichen Frontlinie betont menschenverachtend und aggressiv. Wichtiger: Diese Strategie der eskalativen Grausamkeit folgte auf eine ausnehmend friedliche, kommunikative und für die Polizei ungefährliche Besetzung. Das grundlegende Kampfmittel der Aktivist_innen war das Besetzen von Bäumen und verschiedener Strukturen, die zwar mit einigem Aufwand, aber eben ohne Gefährdung für die ausführenden Cops geräumt werden mussten, bevor die Rodung fortgesetzt werden konnte. Jedes relevante Seil war markiert, und auch der dümmlichsten BFE dürfte klar sein, dass Leute, die in ihrem Baumhaus sitzend ohne Fluchtmöglichkeit auf die Räumung warten, aller Wahrscheinlichkeit nach keine Gehwegplatten herunterwerfen werden. Die Cops hätten ohne Probleme so agieren können, wie sie es so gerne über ihren Twitter-Account behaupten, und hätten ihr Einsatzziel dennoch erreicht. Sieht man sich aber ihr tatsächliches Verhalten an, sollte man meinen, tagtäglich würden Polizist_innen von Scharfschützenfeuer niedergestreckt, Wasserwerfer von panzerbrechender Munition zerlegt und ihr Logistikzentrum mit Raketen beschossen. Kurzer Realitätsabgleich: Die einzigen ernstzunehmenden Verletzungen gab es auf aktivistischer Seite und es war die Staatsgewalt, die nachts durch den Wald rannte und Jagd auf Menschen machte. Diese Dissonanz zwischen den tatsächlichen Einsatzbedingungen und dem Verhalten der Einsatzkräfte bestätigt die These von oben: Die Eskalationsstrategie ist bewusst; the cruelty is the point.

Diese unberechenbare Brutalität gegen die Menschen im Wald spiegelte auch das Vorgehen bei der Rodung der geplanten Autobahnschneise insgesamt: Auf der einen Seite wurden Aktivist_innen mit körperlicher und physischer Gewalt sowie hanebüchenen Straftatvorwürfen ausgebrannt, auf der anderen Seite wurde in den ersten Wochen des Einsatzes oft an drei Fronten gleichzeitig agiert, um Widerstand durch Überlastung zu unterbinden. Und bedauerlicherweise muss eingestanden werden, dass diese Strategie aufging: Schneller, als die meisten gedacht hätten, fraßen sich die Maschinen von Norden und Süden durch den Dannenröder Wald, zerrissen Baumhaus um Baumhaus und zerstörten in einigen Wochen, was in mehr als einem Jahr aufgebaut wurde. Was bleibt, ist ein riesiger Erfahrungsschatz, den vor allem ein großer Teil der Fridays-for-Future-Aktivist_innengeneration in dieser Schlacht um den Dannenröder Forst sammeln konnte. Und es wurde gezeigt, dass weder die eingespielten noch die neuen Aktivist_innen sich von der Kälte des Winters und einer Polizeiarmee, die bereitwillig ihre Leben bedroht, vom Kämpfen gegen die Klimakatastrophe und für eine lebenswerte Zukunft abbringen lassen werden. Man darf davon ausgehen, dass sie angemessene Antworten auf die alltäglichen Grausamkeiten der Staatsgewalt finden werden.

# Titelbild: Channoh Peepovicz, Wasserwerfereinsatz hinter Stacheldraht im Danni

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In Frankreich werden die Diskussion um das autoritäre neue „Sicherheitsgesetz“ immer heftiger. Dieses soll verbieten, Filmaufnahmen von Polizist:innen zu veröffentlichen, was einen enormen Angriff auf die Pressefreiheit darstellt. Spätestens seit den Protesten der Gilets Jaunes, sorgen Bilder heftiger Polizeigewalt auf Demonstrationen oder gegen Schwarze und People of Colour für Empörung. Dass Polizeigewalt aufgedeckt wird, ist eher eine Seltenheit. Noch seltener ist, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Durch den Korpsgeist innerhalb der Polizei und die Rückendeckung in der Politik, wird es nahezu unmöglich gemacht auf rechtlicher Ebene dagegen vorzugehen. Wir kennen dieses Phänomen nur allzu gut aus der BRD. Die Liste der „Einzelfälle“ ist lang – sehr lang. Nachfolgend zwei aktuelle Beispiele, die die Menschenfeindlichkeit und den tief verankerten Rassismus in der französischen Polizei verdeutlichen.

Vorfall I: 21. November 2020

Der 41-jährige Michel Zacler steht vor seinem Musikstudio. Er sieht eine Polizeistreife und da er keine obligatorische Atemschutzmaske trägt, entschließt er sich, zurück ins Studio zu gehen. Das Studio befindet sich in dem bourgeoisen 17. Arrondissement von Paris. Dass ein Schwarzer aus dem 92. Arrondissement (Bagneux), also aus den Pariser Banlieus, sich in diesem schicken Viertel von Paris aufhält, ist einigen Polizisten wohl schon zu viel. Die Message ist klar: DU gehörst hier nicht her!

Drei Polizisten, einer davon in zivil, folgen ihm ins Studio, packen ihn und versuchen ihn aus dem Laden zu ziehen. Er fragt die Polizisten, warum sie ihn festnehmen wollen und da beschimpft ihn einer der Polizisten als „sale nègre“ (Übersetzung: Drecks-N***er). Diese Beleidigung wird er einige Male hören, wie Michel sagt. Die Polizisten schlagen ihn mit dem Schlagstock und versuchen ihn auf den Boden zu ringen. Michel wehrt sich mit all seiner Kraft und ruft nach Hilfe. Das was in seinem Kopf in diesem Moment vorging schildert er so: „Ich darf nicht auf den Boden. Ich muss mit allen Mitteln verhindern auf den Boden gebracht zu werden, denn sonst stehe ich nie wieder auf.“

Michel öffnet die Tür zu den Kellerräumen des Studios und schreit weiter nach Hilfe. Dort sind weitere Menschen, die von dem, was oben vor sich geht, nichts mitbekommen haben. Darauf helfen die teils erst Jugendlichen Michel aus den Händen der Polizisten zu befreien. Die Polizisten werden aus dem Studio gedrängt, schmeißen danach jedoch eine Tränengasgranate in das Lokal und so schaffen sie es dann doch noch, Michel aus dem Laden zu bringen. Auf der Straße wird er dann weiter verprügelt. Nachdem ihn die Polizisten festgenommen haben, greifen sie sich die im Lokal Verbliebenen, die dann auch noch vor der Tür verprügelt werden.

Einer der Polizisten schreit „Kamera“, da die Szene von den Balkonen gefilmt wurde. Daraufhin wurden die Schläge sofort eingestellt. Was die Polizisten zu diesem Moment nicht wussten, ist, dass in dem Lokal eine Überwachungskamera die ganze Szene mitgefilmt hatte. Dieses Video veröffentlichte das Onlinemagazin Loopsider auf seiner Plattform. Michel wurde festgenommen und verbrachte u.A. wegen des Vorwurfs der Körperverletzung 48 Stunden auf der Polizeiwache. Alle anderen aus dem Studio wurden nach einer Personalienfeststellung freigelassen.

Vorfall II: 30. April 2019

Etwas über eine Woche nach dem brutalen Übergriff von Pariser Polizisten an den 41-jährigen Michel Z. und schon die nächste Enthüllung von Polizeigewalt durch eine Videoaufnahme. Das Video, datiert auf den 30. April 2019, wurde letzten Sonntag von Mediapart veröffentlicht.

Sechs Jugendliche im Alter von 16 bis 22 Jahren fahren in der Nacht vom 30. April 2019 mit dem Auto nach Hause. An einer roten Ampel werden sie dann von drei Fahrzeugen umzingelt. Acht Männer in Zivil, einige von Ihnen bewaffnet, steigen aus. Da die Jugendlichen glauben, dass es sich um einen Raub handelt, fährt der Fahrer zurück, doch sein Auto wird von einem der Fahrzeuge an der Rückseite angehalten. Einer der Männer gibt zwei Schüsse auf das Auto ab, wovon eine der Kugeln durch die Seitenscheibe nur einige Zentimeter neben dem Gesicht des Fahrers Paul vorbeischießt. Er sagte Mediapart, dass „die Kugel in der Karosserie ein paar Zentimeter neben meinem Kopf stecken blieb“ und dass er „dachte, ich würde sterben“.

Also nochmal von vorne. Drei Polizeiwagen in zivil, umzingeln das Fahrzeug ihres „Tatverdächtigen“ ohne eines der vorgeschriebenen Erkennungszeichen, wie Blaulicht oder Armbinden und schießen ohne Vorankündigung auf die Jugendlichen. Der Hintergrund des Einsatzes war ein Handtaschendiebstahl, der ohne Überzeugungsarbeit der selbigen Polizisten von der Betroffenen erst gar nicht zur Anzeige gebracht worden wäre. Die einzigen Informationen, die die Polizisten hatten, war ein Nummernschild wie sie sagen und dass einer der beiden Tatverdächtigen „afrikanischen Typs“ sei, so der major Patrick O.. Dass sich die Szene, wie im Fall Michel Z., in einem wohlhabenden Viertel von Paris abspielt, ist bestimmt kein Zufall. Das 16. Arrondissement zählt zu den teuersten und wohlhabendsten Residenzvierteln ganz Frankreichs. Auch hier will die Exekutive klar machen, wer in welchem Viertel willkommen ist und wer sich dort nicht aufhalten darf.

Gegen die Polizisten wurde zwar bereits im Mai 2019 eine Untersuchung eingeleitet, die übrigens noch im Gange ist, doch die Polizeipräfektur ist sich der Unschuld der Polizisten wohl sicher und teilte Mediapart mit, dass „die Staatsanwaltschaft zu dem Schluss kam, dass es sich um Notwehr handelte“.

Paul kam nicht so einfach davon. Zwar wurde seine Anzeige wegen Diebstahl relativ schnell eingestellt, er verbrachte jedoch sechs Monate in Haft wegen „vorsätzlicher Gewalt gegen eine Amtsperson“. Er wurde erst am 4. November mit einer Entschädigung von 1.000 Euro freigelassen.

„Ich wurde strafrechtlich verfolgt und erst im November letzten Jahres freigelassen“, sagte Paul, gegenüber den Online-Medien. „Der Polizist, der auf mich geschossen hat, läuft jedoch weiterhin mit seiner Waffe herum. Ich habe eine Beschwerde eingereicht, aber die Untersuchung dauert noch an“, während das Video nach mehrfachen Anfragen erst im Juni 2020 an den Anwalt des 22-Jährigen weitergeleitet wurde.

Auch die psyschischen Folgen für Paul sind drastisch. Er musste u.A. sein Studium wegen „impulsiver Explosionen“, „Weinkrämpfen“ und „den Gedanken, dass er hätte sterben können“ unterbrechen, sagte der psychiatrische Experte während der Untersuchung.

Das Sicherheitsgesetz

Somit zeigt sich wieder wie der Staatsapparat mit solchen Vorfällen umgeht. Man gewährt Polizist:innen vollkommene Narrenfreiheit, beschützt sie vor jeglichen kritischen Stimmen und denunziert die Betroffenen als „Kriminelle“, vor denen man sich „schützen“ müsse. Die rassistische Ideologie ist in den Polizeibehörden so tief verankert, dass die Polizisten wahrscheinlich selbst glauben, das „richtige“ und „gute“ zu tun.

Der Fall von Michel Zacler, die brutale Rämung eines Camps von Geflüchteten im Zentrum von Paris und der Vorfall der sechs Jugendlichen kommt für die Regierung reichlich ungelegen. Sie versucht gerade mit einem neuen Gesetz, dem „allgemeinen Sicherheitsgesetz“, Videoaufnahmen von Polizist:innen zu kriminalisieren. Denn zahllose Videos von brutaler Polizeigewalt haben in letzter Zeit das Image der Polizei näher an die tatsächliche Praxis dieser gerückt. Es ist offensichtlich, dass das neue Gesetz vor allem dazu dienen soll, dass die sowieso schon kaum zur Rechenschaft gezogenen Polizist:innen ihre Schmutzarbeit für den Staat ohne jegliche Kontrolle der Öffentlichkeit machen können sollen.

Nicht nur wegen dieser aktuellen Fälle gingen am Samstag, den 28. November in ganz Frankreich – trotz grassierender Corona-Pandemie – mehrere Hunderttausende auf die Straße um gegen das Gesetz zu demonstrieren. Am 30. November musste die Regierung dann doch etwas zurückrudern und sprach davon, den umstrittenen Artikel 24 des Gesetzentwurfes noch einmal umzuschreiben. Das es sich hier nicht um eine Streichung des Artikels geht, machte der Vorsitzende der Partei Macrons La République en Marche, Christophe Castaner, bei einer Pressekonferenz gestern klar – „Es handelt sich weder um eine Rücknahme noch um eine Aussetzung, sondern um eine völlige Neufassung des Textes“.

Auch schon in den Jahren zuvor haben die Regierungen versucht die Proteste durch solche Mittel zu befrieden, so z.B. bei dem Widerstand gegen die Arbeitsrechtsreform (loi El Khomri) im Jahr 2016 oder bei den „gilets jaunes“ (Gelbwesten) seit Ende 2018. Die Widerstandskultur der letzten Jahre in Frankreich hat jedoch gezeigt, dass ein Großteil der Bevölkerung sich nicht mit den heuchlerischen Versprechen der Regierenden abspeisen lässt. So können wir davon ausgehen, dass die Proteste auch nach dieser Ankündigung fortgesetzt werden.

# Titelbild: gemeinfrei, Demo in Rouen am 21. November 2020, „Wer beschützt uns vor der Polizei?“

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