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Nach fast 100 Prozesstagen ist im Antifa-Ost-Verfahren gestern, am 31.05.2023, ein Urteil gefallen. Lina wurde zu fünf Jahren Knast verurteilt, die anderen drei Angeklagten zu jeweils zwei Jahren und fünf Monaten, drei Jahren und drei Jahren und drei Monaten. Während die Bundesanwältin, der diese Urteile vermutlich neue Karrieresprünge eröffnen, sich bei der Urteilsverkündung ihr Dauergrinsen nicht verkneifen konnte, wechselten sich angesichts der Ausführungen, die der vorsitzende Richter in den folgenden Stunden von sich gab, bei den Zuschauern Wut, Fassungslosigkeit und Erschöpfung ab.

Der vorsitzende Richter Schlüter-Staats, personifizierter erhobener Zeigefinger, wäre gerne souveräner als er ist. Aber es ist offensichtlich, dass ihm ein Prozess, in dem die Verteidigung ihren Job macht, auf die Nerven gegangen ist. In seinem Resumé des Prozesses erklärt er etwa vorwurfsvoll, dass die Verteidigung ja die ganze Zeit damit zugebracht habe, die Ermittlungen der Polizei in Zweifel zu ziehen. Die bürgerliche Presse ist da ganz an seiner Seite. In der FAZ kann man lesen, dass es dem Richter wohl ein besonderes Bedürfnis sei, „endlich mal die ungeteilte Aufmerksamkeit“ zu haben, nachdem er im Prozess von der Verteidigung „ständig und teilweise unflätig unterbrochen wurde“. Weil in einem guten Prozess werden des guten Ton halbers den Gottkönigen des Gerichts die Stiefel geleckt. Dementsprechend sparte der vorsitzende Richter nicht mit Spitzen gegen die Verteidiger, die das über sich ergehen lassen mussten – während der Urteilsverkündung, dem Moment mit der größten medialen Aufmerksamkeit, hat der Richter das Wort. Die Vorwürfe sind hart: Es fehle an juristischen Grundkenntnissen und einer der Verteidiger, der – zurecht – von politischer Justiz gesprochen hatte, solle doch die Gedenkstätte in Hohenschönhausen besuchen, wenn er wissen wolle, was politische Justiz sei.

Die kognitive Dissonanz, die hier an den Tag gelegt wurde, ist beachtlich. Das Urteil als politisch zu bezeichnen, wäre eigentlich fast schon ein Kompliment. Die mündliche Urteilsbegründung hat es nämlich in sich. Für diese nahm sich der vorsitzende Richter ausgiebig Zeit. Von 10 bis 20 Uhr dozierte er darüber, warum die Angeklagten verurteilt werden. Der Teufel liegt ja bekanntlich im Detail. Und die Details in diesem Prozess sind die wahnwitzigen Argumentationen, die das Gericht heranzieht, um die Angeklagten zu verurteilen. Auch wenn es, wie die Bundesanwaltschaft in ihrem Plädoyer schon gesagt hatte, keine „smoking gun“, a.k.a. Beweise gebe.

Der Berliner Angeklagte etwa wurde unter anderem verurteilt, weil er sein Auto verliehen hatte, welches dann in Eisenach eingesetzt wurde, um den Neonazi Leon R. auszuspionieren und anzugreifen. Ob er wusste, dass das Auto dafür eingesetzt wurde, konnte ihm nicht nachgewiesen werden. Ist aber egal. Der vorsitzende Richter Schlüter-Staats führte aus, dass, wenn es sich um etwas anderes gehandelt hätte, wie etwa Graffiti oder zum See fahren, der Angeklagte dann ja gefragt hätte, ob er mitkommen könne. Da er das nicht gemacht habe, müsse er gewusst haben, wofür er das Auto verliehen habe, und habe sich dementsprechend der Unterstützung der kriminellen Vereinigung, die das Gericht de jure mit diesem Urteil geschaffen hat, schuldig gemacht. So einfach kann man es sich wohl nur im Staatsschutzsenat machen.

Die Bundesanwaltschaft BAW hat sich in seinem Fall sowieso nicht mit Ruhm bekleckert. Für eine der ihm ursprünglich vorgeworfenen Tatbeteiligungen hatte er ein handfestes Alibi: Aus einem anderen, von der selben Bundesanwältin geführten Verfahren geht hervor, dass er gar nicht beteiligt gewesen sein kann: Sein Telefon wurde abgehört, und die Gesprächsprotokolle zeigten, dass er in Berlin war. Dieses Wissen musste allerdings von den Verteidiger*innen in den Prozess eingebracht werden, die BAW hätte ihn wider besseren Wissens oder aus Versehen auch deswegen verurteilt.

Ein weiteres Beispiel für die absurden Begründungen der Verurteilungen: Lina soll an einem Angriff auf einen Kanalarbeiter, der eine Mütze der Nazi-Marke Greifvogel-Wear getragen hatte, beteiligt gewesen sein. Zum Verhängnis wird ihr hierbei, dass sie eine ca. 1,75 m große Frau ist. Weil eine 1,75 m große Frau war anscheinend dabei. Weitere Beweise: Der Richter führte aus, dass der „Modus Operandi“ der der Vereinigung gewesen sei. Vor allem die Abgeklärtheit, und dass an anderer Stelle auch eine Frau ein Pfefferspray dabei gehabt habe. Außerdem wohne Lina in der Nähe. Und weil man davon ausgehe, dass ihr Partner bei der Aktion dabei gewesen sei, gehe man davon aus, dass die 1,75m große Frau Lina gewesen sein müsse. Selbst als zynischer Linksradikaler bleibt man bei so einem Quatsch fassungslos zurück.

Die gleiche Argumentation lieferte das Gericht bei einem anderen Fall. Bei einem Angriff auf die Neonazi-Kneipe Bulls Eye sei nachgewiesen, dass ihr Partner an der Aktion teilgenommen habe; es war eine Frau dabei; und weil es ja eine Vereinigung gebe, müsse das Lina gewesen sein. Und schon kommen fünf Jahre Knast zusammen.

Dass so ein nach logischen Maßstäben komplett irres Urteil gefällt werden kann, liegt maßgeblich am Verräter Johannes Domhöver. Dieser war auch angeklagt, nachdem aber Vergewaltigungsvorwürfe gegen ihn öffentlich gemacht wurden, beschloss er sich dem VS, dem LKA und eben auch dem Gericht anzudienen, um eine für ihn günstigere Strafe herauszubekommen. Das hat er erreicht. Sein Verfahren wurde abgetrennt und er bekam vor dem Landgericht Meiningen eine Bewährungsstrafe für seine Beteiligung an einem Angriff auf die Nazikneipe Bulls Eye.

Domhöver, den das Gericht für glaubwürdig hält, hatte die nötige Munition geliefert, damit eine kriminelle Vereinigung nach § 129 konstruiert werden konnte. Unter anderem wegen diesem Aspekt wurde das Verfahren auch als Testballon für den 2017 reformierten Schnüffelparagrafen bezeichnet. Nun gilt eine Vereinigung als ein „auf längere Dauer angelegter, von einer Festlegung von Rollen der Mitglieder, der Kontinuität der Mitgliedschaft und der Ausprägung der Struktur unabhängiger organisierter Zusammenschluss von mehr als zwei Personen zur Verfolgung eines übergeordneten gemeinsamen Interesses.“ Damit definiert der Staat dann quasi jeden politischen Zusammenhang, der sich nicht auf bloße Lippenbekenntnisse beschränkt, als potenziell kriminelle Vereinigung.

Nur unter Zuhilfenahme dieses juristischen Werkzeugs war es möglich, den Angeklagten die der Organisation angelasteten Taten anzukreiden. Und da der Organisationsbegriff juristisch maximal schwammig formuliert ist, kann man davon ausgehen, dass es weitere Verfahren geben wird. Der sächsische Innenminister Armin Schuster (CDU) hat schon angekündigt, dass weiter „ermittelt“ werde und dass er zuversichtlich sei, „weitere Straftäter“ vor Gericht bringen zu können. Scheint realistisch, die für Verurteilungen nötige Beweislage ist ja offensichtlich wahnsinnig dünn und es gibt willige Gerichte, die den Auftrag der Exekutive umsetzen.

Was bleibt angesichts dieses absurden Theaters, das als Prozess bezeichnet wird? Innenministerin Nancy Faeser äußerte sich dahingehend, dass „die Radikalisierungs- und Gewaltspirale“ sich nicht weiterdrehen dürfe. Als würden Neonazis und Faschisten keine Gewalt mehr ausüben, wenn man sie nur in Ruhe lässt. Trotz der Repression in Dresden bleibt antifaschistischer Selbstschutz notwendig. Daran ändert auch dieses Urteil nichts. Genauso wenig wie die Verurteilungen von Jo, Dy und Findus in Baden-Württemberg. Denn man kann sich, wie so oft gesagt, im Kampf gegen Nazis nicht auf den Staat verlassen.

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Gastbeitrag der Kampagne „NS-Verherrlichung stoppen!“

Der diesjährige „Tag der Ehre“ in Budapest fand auch außerhalb antifaschistischer Kreise in der BRD erhöhte Aufmerksamkeit. Grund dafür war jedoch nicht der paramilitärische Aufmarsch europäischer Neonazis mit SS-Symbolen. Vielmehr sorgte ein im Netz verbreitetes Video, das zeigte, wie mehrere Personen eine Person in Tarnkleidung angriffen und zu Boden brachten, für Aufsehen. Nach mehreren Festnahmen in Budapest folgte eine mediale Hetzjagd, ausgelöst durch die Bild-Zeitung, die die Namen der Festgenommenen veröffentlichte, denen vorgeworfen wurde, an insgesamt acht Angriffen auf Teilnehmer des Tags der Ehre beteiligt gewesen zu sein. Seitdem ist viel passiert: Es gab länderübergreifend mehrere Festnahmen, Identitätsfeststellungen, Öffentlichkeitsfahndungen, Razzien in Berlin, Leipzig, Jena und zunächst vier Personen in Untersuchungshaft, von denen zwei immer noch in Ungarn einsitzen. Dort wird die Repression von einer Hetze gegen den Antifaschismus an sich begleitet. Die größte regierungsnahe Zeitung des Landes „Magyar Nemzet“ bezeichnete Antifaschismus als Terrorismus, „der von extremen, lebensfeindlichen Ideologien angetrieben wird“. Und weiter hieß es, es sei „eine moralische Pflicht, sich dem Antifaschismus entgegenzustellen“. Diese Äußerungen sind bezeichnend für die Medienlandschaft, die fast ausschließlich von Orban und seinem Umfeld kontrolliert wird.

Der „Tag der Ehre“- Ein faschistisches Vernetzungstreffen seit 1997

Um zu verstehen, warum der „Tag der Ehre“ ein legitimes Ziel in der Feindbestimmung aktiver Antifas ist, muss man sich mit der Geschichte dieses Nazi-Events vertraut machen. Der sogenannte „Tag der Ehre“ existiert seit 1997 und ist ein wichtiges Ereignis für die Neonazis von Blood & Honour, Hammerskins und deren Sympathisant:innenkreis. Das Wochenende um den 11. Februar ist dem Gedenken an zwei Divisionen der Waffen-SS und einer SS-Gebirgsjägereinheit gewidmet, die sich im Dezember 1944 in Budapest vor der anrückenden Roten Armee verschanzten und einen kläglich gescheiterten Ausbruchsversuch aus dem Budapester Kessel unternahmen. In der Schlacht um Budapest starben auf Seiten der Wehrmacht und ihren ungarischen Kollaborateuren über 100.000 Soldaten. Das NS-Gedenken an den gescheiterten Ausbruch aus dem „Budapester Kessel“ ist an diesem Wochenende nur eine Veranstaltung. Neben Rechtsrock-Konzerten steht am Wochenende ein 60 Kilometer langer Nachtmarsch auf dem Programm, der die Fluchtroute der Nazis nachzeichnet. Über 3.000 NS Nostalgiker:innen nahmen in diesem Jahr an der „Wanderung“ teil, die bei Neonazis beliebt ist, weil sie dort trotz eines offiziellen Verbots von SS-Symbolik und Hakenkreuzen ihre NS-Insignien weitgehend ungestört zur Schau stellen können. Der ungarische Tourismusverband „Hazajáró Honismereti és Turista Egylet“ bewirbt und unterstützt die Wanderung „Kitörès“ unter dem Slogan „Gedenken an die heldenhaften Verteidiger unseres Landes und Europas“. Dazu passend ist der nachträgliche Bericht über die Wanderung illustriert mit Bildern voller NS-Symbolik u. a. von einem Kontrollpunkt mit Hakenkreuzfahne und Hitler-Portrait.

Seit 1997 gibt es marginale Proteste gegen den Tag der Ehre von einer Handvoll engagierter Budapester Antifaschist:innen. Lokale Antifaschist:innen haben in den letzten Jahren immer wieder darauf hingewiesen, dass das westliche Narrativ, das Victor Orban als personiifiziertes Problem ausmacht, zu kurz greift und die Kritik nicht auf seine Person reduziert werden sollte. Ein lokaler Aktivist, der die Proteste in diesem Jahr mitorganisiert hat, weist darauf hin, dass die liberale Demokratie in Osteuropa an der„kapitalistischen Hemisphäre“ nur eine „vorübergehende Erscheinung“ sei. Die Verhältnisse in Ungarn sind verfestigt autoritär. So sei es in Ungarn in den letzten 150 Jahren nur selten gelungen, die regierenden Parteien demokratisch abzulösen. Die Orban-Regierung sei das „natürliche Kennzeichen dieses semiperipheren Kapitalismus“. Tatsächlich ist das Regime in Ungarn sehr stark vom hegemonialen kapitalistischen System geprägt und mit ihm verbunden. Die Regierung Orban ist bemüht, diesen Kapitalismus möglichst geräuschlos zu verwalten. Das führt auch dazu, dass soziale Bewegungen wie die LGBTIQ-Bewegung oder die kleine Antifa-Szene möglichst klein gehalten werden sollen. Das kapitalistische System wird in Ungarn, wie auch in den meisten postsozialistischen Staaten Osteuropas nationalistisch und autoritär gemanaged. 

Auch geschichtspolitisch täuscht Orban die Menschen, indem er versucht, den Realsozialismus mit dem Faschismus gleichzusetzen.  Diese Umdeutung der Geschichte ist ein Versuch, von seinem maroden System abzulenken. Durch die Verbreitung rechter Narrative ist Ungarn eine der treibenden Kräfte des Geschichtsrevisionismus in Europa. Dies drückt sich in Budapest auch städtebaulich aus. So ließ Orban in den vergangenen Jahren nationalistische Denkmäler des Horthy-Regimes wie z.B. das Nationale Märtyrerdenkmal originalgetreu wieder aufbauen. Es hat seinen Grund weshalb sich Neonazis in Ungarn so wohl fühlen und mit keinerlei Gegenwind rechnen müssen. Das Motiv der Neonazi-Szene, die alljährlich zum Tag der Ehre pilgert, ist dem der ungarischen Regierung sehr ähnlich. Denn es geht ihnen darum, den Ausbruch aus dem Budapester Kessel als Akt der Verteidigung Europas gegen den Vormarsch der Kommunist:innen umzudeuten.

Der Tag der Ehre 2023 

In diesem Jahr gelang es durch antifaschistische Raumnahme mit zwei Gegenkundgebungen an der Burg, das Nazi-Gedenken von Blood&Honour und Legio Hungaria aus Budapest zu verbannen. Das Vorgehen der ungarischen Behörden steht im Kontext der erfolgreichen antifaschistischen Mobilisierung der letzten Jahre. Es ist den Nazis nicht mehr möglich, ihr ritualisiertes Gedenken in der Budapester Innenstadt abzuhalten, so dass das offizielle Nazigedenken in einen Wald außerhalb Budapests ausweichen musste. Damit wurde zum ersten Mal ein faschistisches Gedenken in der Innenstadt verhindert, was vor Ort als sehr großer Erfolg gewertet wird. Dieser Erfolg war auch nur durch den unermüdlichen Einsatz einiger lokaler Aktivist:en möglich, denen es in den letzten Jahren gelungen ist, ein internationales Netzwerk mobiler antifaschistischer Gruppen einzubinden.

Repression

Sinn und Zweck staatlicher Repression ist es, organisierte antagonistische Strukturen zu kriminalisieren und letztlich zu zerschlagen. Am Beispiel des Tags der Ehre in Budapest ist es deswegen folgerichtig, dass sowohl die ungarischen Behörden als auch im Wege der Amtshilfe die deutsche Polizei mit großem Ermittlungseifer den Widerstand gegen den Tag der Ehre verfolgen und kriminalisieren. In Ungarn liegt dies daran, dass der Gegenprotest nationale Geschichtsmythen wie die Unterjochung unter „zwei Diktaturen“ in Frage stellt. Zudem liegt es in der Natur jedes Staates Organisation außerhalb des vom Staat vorgegebenen Rahmens zu verfolgen, unabhängig dessen, wie militant im Detail agiert wird. Vor diesem Hintergrund lehnen wir eine Einteilung in „gute“ und „böse“ Antifas ab. Wir solidarisieren uns mit allen, die sich gegen dieses geschichtsrevisionistische Gedenken an die Waffen-SS organisieren und aktiv werden. Die Repression darf nicht dazu führen, dass sich weniger Menschen an den Protesten gegen den Tag der Ehre beteiligen. Vielmehr sollten wir das gestiegene Interesse nutzen, um die faschistische Gefahr aufzuzeigen, die von diesem internationalen Faschist:innentreffen ausgeht.

Die Kampagne „NS-Verherrlichung stoppen!“ lässt sich von zunehmender Repression nicht einschüchtern, denn diese ist immer eine Begleitmusik antifaschistischer Arbeit. Wir werden weiterhin die Notwendigkeit des Aufbaus internationaler antifaschistischer Netzwerke forcieren und geschlossen auftreten.

Wir sammeln Spenden für von Repression Betroffene.

Konto: Netzwerk Selbsthilfe
Stichwort: NS Verherrlichung stoppen
IBAN: DE1210 0900 0040 3887 018
Kontakt: nsverherrlichungstoppen@riseup.net

# Titelbild: vvn-bda, Gegenprotest gegen den Tag der Ehre 2023

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Von Bahram Ghadimi
Übersetzung von Haydar Paramaz

Leila Hosseinzadeh ist Masterstudentin der Anthropologie. Sie hat hauptsächlich an der Universität, als Aktivistin der Studentenbewegung gearbeitet und ist als eine der kämpfenden und widerständigen Frauen im Iran bekannt. Zusammen mit einer Gruppe von studentischen Aktivist:innen wurden sie Ende der 2000er Jahre Zeugin des Scheiterns der „Grünen Bewegung“ an der Universität und erlebte das anschließende erstickende Klima der Gesellschaft. Sie alle waren politisch Links orientiert und in der Regel waren sie Kinder der Arbeiterklasse. Folgendes Interview mit Leila Hosseinzadeh, entstand nur wenige Tage nach ihrer bedingten Entlassung aus dem Gefängnis, unter ständiger Bedrohung durch Regierungskräfte. Damit beabsichtigen wir einen weiteren Teil der sozialen Bewegung im Iran, mit den Worten der Aktivist:innen vor Ort, vorzustellen. (Triggerwarnung: Im Interview erzählt Leila von ihrer Haftzeit und beschreibt Folter und sexualisierte Gewalt.)

Du hast lange Zeit politisch im universitären Umfeld gearbeitet. Wie kam es dazu, dass Deine Arbeit diesen Bereich verließ und ein viel breiteres Spektrum an Menschen ansprach?

Während wir Verbindungen innerhalb von Universitäten knüpften, stellten wir fest, dass unsere Schicksalsgenossen nicht nur an Universitäten sind; Wenn wir das Recht auf kostenlose Bildung wollen, sind wir bereits Verbündete der Lehrergewerkschaftsbewegung, wenn wir gegen Privatisierung sind, sind wir Verbündete der Arbeiterbewegung; Wenn in der Universität der Slogan skandiert wurde: „Student, Lehrer, Arbeiter, Einheit! Einheit!“, hatte es nicht nur eine theoretische oder ideelle Grundlage. Wir setzten eine gemeinsame Verteidigung und einen konkreten Widerstand praktisch um. Als die Regierung Mitte der 2010er Jahre den Praktikumsplan für Hochschulabsolventen und den Kaufplan für Lehrdienstleistungen durchführte, wurde diese Verbindung konkreter.

Mit diesem Plan setzte die Regierung Hochschulabsolventen ein, um die Beschäftigungs- und Gehaltssituation der Erwerbstätigen zu prekarisieren. Jetzt waren wir Studenten, Lehrer und Arbeiter in der selben Lage und stellten uns entsprechend gemeinsam auf. Die Kampagne gegen die Arbeitsausbeutung wurde von Studenten, Arbeitern, Lehrern, Journalisten, Intellektuellen und Rentnern durchgeführt. Aufgrund des starken Drucks unserer Bewegung wurde der Praktikumsplan schließlich abgesagt.

Aber diese Kampagne und Versammlung hatte auch darüber hinaus Wirkung. Die gemeinsame Teilnahme an drei Straßenprotestversammlungen für die Freilassung eines Gewerkschaftsarbeiters, Reza Shahabi, aus dem Gefängnis zum Beispiel. Eine der letzten Nachrichten, die in der Telegram-Gruppe der Kampagne 2017 gepostet wurde, war: „Lasst uns unter dem Eingang der Teheraner Universität versammeln“, Wenige Minuten später wurde der Ort zum einzigen Sammelpunkt in Solidarität mit dem Volksaufstand vom „Dezember 2017- Januar 2018“. Zwei grundlegende Parolen wurden dort zum ersten Mal gerufen: „Reformisten, Fundamentalisten, es ist vorbei“ und „Wir wollen keinen König, wir wollen keinen Mullah, wir wollen die Gründung von Räten“. Ersterer wurde zum Hauptslogan des Aufstands. Sehr bald waren die Mainstream-Medien der Regierung und der Opposition mit dieser Frage beschäftigt, ob es wirklich „vorbei“ sei.

Diese Frage konnte man allerdings nur stellen, wenn man die soziale Situation im Iran irgnorierte.

Das es vorbei sei, war keine Vorhersage der Zukunft, sondern eine Beschreibung des damaligen Stands der iranischen Politik. Diese Parole wurde aus den Herzen jener Kraft geschrien, die jahrelang versucht hatte, die einheitliche Rolle des Staates in der politischen Ökonomie aufzuzeigen  und darlegen wollte dass der Dualismus zwischen Reformlager und konservativen nur ein Scheinverhältnis ist. Es waren die jungen Studenten, die Anfang der 2010er Jahre, besonders mit der Amtseinführung von Rohanis Regierung, zusammen mit vielen anderen Menschen zu der allgemeinen Einsicht gelangt waren, dass diese Kabinette alle gleich sind.

Nach den Aufstandstagen im Januar 2018 schrieben einige in den sozialen Medien mir diesen Slogan zu. Das ist falsch. Die Parole kam aus dem Herzen einer kollektiven Kraft und war das Ergebnis jahrelanger kollektiver Kämpfe und Bemühungen. Die zweite Parole für die Gründung der Räte konnte sich leider nicht durchsetzen, da sie medial boykottiert wurde. Nichtsdestotrotz werden, wo immer es geht, Räte als Machtorgane gegründet: in Gilan, Aserbaidschan, Kurdistan, in der turkmenischen Sahara, in Fabriken, Universitäten etc.

Wie siehst Du, angesichts des hohen Anteils von Studentinnen, die Rolle der Frau in dieser Bewegung?

Als die Studentenbewegung Fortschritte machte und wuchs, konnte sie mit Hilfe einer klaren Klassenlinie ihre objektive Schicksalsgemeinschaft mit anderen unterdrückten Gruppen besser verstehen. Von Anfang an spielten Frauen eine aktive Rolle bei der Entstehung dieser Bewegung und sie kämpften für die Abschaffung der Geschlechterunterdrückung. Das Ergebnis dieses Kampfes war, dass in allen Stellungnahmen der Studentenbewegung Gender-Forderungen betont und Gender-Unterdrückung gesondert und mit Nachdruck dargestellt wurden. Parolen wie „Mädchenwohnheim: Gefängnis!“ gehörten neben anderen Slogans zu den Parolen, die von den ersten Versammlungen der Bewegung erhoben wurden. Der Frauenwiderstand im Herzen der Studentenbewegung brachte auch konkrete Erfolge: Die Wohnheimbewohnerinnen des Mädchenwohnheims der Universität Teheran ignorierten mit kollektiven Protestaktionen in den Jahren 2018-2019 die gesetzlichen Ein- und Ausgangszeiten

Im Mai 2018 organisierte die Studentenbewegung als Reaktion auf die Gründung einer Sittenpolizei auf dem Kampus der Universität Teheran eine Versammlung von 2.000 Studenten, deren Hauptslogan „Brot, Arbeit, Freiheit! Freiwillige Kleidung!“ lautete. Die Studentenbewegung schritt mit einem Verständnis über die Schicksalsgenossenschaft der unterdrückten Gruppen und der Notwendigkeit ihrer Einheit voran. Am Studententag 2017 erzählten in einer Protestversammelung unter dem Titel „Wir sind die Stimme der Geschichte“, Studenten, Arbeiter, Lehrer, Frauen und Vertriebene (wegen Wasserknappheit) über ihre Unterdrückung und über ihren Widerstand und riefen schließlich gemeinsam: „Wir sind die Stimme der Geschichte“. Bei der Protestaufführung in der Allameh-Universität und der Universität Teheran im Jahr 2019, stießen Menschen, die von Nationaler und religiöser Unterdrückung betroffen sind und Migranten dazu. Ich selbst wurde 2018 tagelang in meiner Haft verhört, um preiszugeben, wer den Text der Protestperformance am Studententag verfasst hatte.

Warum wurdest Du verhaftet?

Ich wurde im Januar 2018 wegen meiner Teilnahme an der Kundgebung am 30. Dezember 2017 am Eingangstor der Universität Teheran im Zusammenhang mit dem Volksaufstand verhaftet. Außer mir wurden etwa 50 weitere Studenten im Zusammenhang mit dieser Kundgebung festgenommen. Ich wurde wegen meiner gesamten Tätigkeitsgeschichte bis Dezember 2017 verhört, und schließlich verurteilte mich das Gericht zu sechs Jahren Haft. In der Anklageschrift gegen mich stand, dass ich Sozialistin bin, an Kundgebungen der Studentenbewegung teilgenommen habe, an Kundgebungen für die Freilassung des inhaftierten Arbeiters Reza Shahabi teilgenommen haben, an der Gründung einer Kampagne gegen Arbeitsausbeutung beteiligt war und an der Versammlung im Zusammenhang mit dem 2017-2018 Aufstand teilgenommen habe.

Mit massiven Verhaftungen nach dem Januar-Aufstand wurde die Studentenbewegung stark unter Druck gesetzt. Allein an einer Universität wurden Studenten zu mehr als 100 Jahren Haft verurteilt. Damals dachten wir, die Arbeit der Studentenbewegung sei beendet. Einige kritisierten die Ereignisse und sagten, man hätte eine organisierte soziale Bewegung nicht für einen Straßenaufstand verausgaben sollen. Als ich und eine Gruppe anderer mit der gleichen Haltung dachten, dass die Arbeit erledigt war, und als wir an die langen Jahre unserer Gefangenschaft dachten, sagten wir uns, dass es sich trotzdem gelohnt hatte. Wir hatten unsere historische Pflicht, Studenten zu sein, erfüllt und den unterdrückten Massen zur Seite gestanden. Einige von uns waren nicht dafür gewappnet, diesen hohen Preis zu zahlen. Die Repression war hart. Wir hätten nicht einmal gedacht, dass die Universität nach dieser Repression aufstehen und Widerstand leisten könnte, aber so ist es gekommen. Von März 2018 bis Mai 2018 organisierten mehr als 40 Universitäten und Hochschulen machtvolle Kundgebungen und Proteste, um gegen die hohen Haftstrafen von studentischen Aktivisten zu protestieren.

In der Studentenbewegung haben wir mit leeren Händen begonnen und wir haben die Erhöhung der Sozialkosten für zwei Jahre gestoppt, wir haben die Privatisierung der Wohnheime gestoppt, wir haben die Anzahl der kostenlosen Bildungsjahre mit unserem Widerstand etwas erhöht, aber wir haben uns im Hinterkopf immer einsam gefühlt, zumal all diese Fortschritte nicht nur unter Repression, sondern auch unter schlimmster Stigmatisierung erkämpft wurden. Dann stellten wir fest, dass wir nicht allein waren. Im Gegensatz zu dem, was viele von uns dachten, war die Universität nicht am Ende, sie wehrte sich und ihr Widerstand zahlte sich aus. Die Urteile der Studenten wurden gekippt und viele Urteile konnten nicht vollstreckt werden. Meine Haftstrafe wurde auf zweieinhalb Jahre reduziert.

Die Studentenbewegung ist in Abwesenheit vieler von uns, die sie begonnen hatten, bis Ende 2020 vorangeschritten und erst mit der Sicherheitsschließung der Universitäten von Ende 2020 bis Mai 2022 konnten sie das Voranschreiten der Studentenbewegung abbremsen. Gegen den Widerstand der Universität wurde ihre Schließung durchgesetzt. Aber selbst die Schließung der Universität funktionierte am Ende nicht, und mit der Wiedereröffnung im Mai 2022 nahmen die Studenten ihre Aktivitäten wieder auf und leisteten einen einzigartigen und aktiven Widerstand im Jina Aufstand.

Wurdest Du erneut festgenommen?

Ich wurde im Sommer 2019 erneut verhaftet, diesmal von den Revolutionsgarden, sie fragten nach den Protesten und Streiks der Haftpeh-Arbeiter im November 2018. Damals wurde eine Reihe von Kundgebungen an verschiedenen Universitäten zur Unterstützung von Haftpeh abgehalten. Der Hauptslogan war: „Wir sind die Kinder der Arbeiter, wir stehen an ihrer Seite“.  Sie verhörten mich über marxistische Gruppen und Medien und verurteilten mich schließlich zu 5 Jahren Gefängnis. Die Vorwürfe waren: abhalten einer Kundgebung zur Unterstützung des inhaftierten Derwisch Studenten Mohammad Sharifi Moghadam. Dieses schwere Urteil erschien allen absurd, denn wir hatten lediglich für unseren inhaftierten Freund eine Geburtstagsfeier vor der Sharif University of Technology abgehalten. Mit dieser neuen Akte schickten sie mich ins Gefängnis und vollstreckten die Gefängnisstrafe im Zusammenhang mit der Verhaftung von 2018. Im Gefängnis wurde bei mir eine unheilbare Autoimmunerkrankung diagnostiziert, zwei Monate nach Auftreten der Symptome wurde ich aus medizinischen Gründen beurlaubt. Meine Augen wurden von der Krankheit befallen und mir drohte die Erblindung. Die Rechtsmediziner bescheinigten, dass ich nicht haftfähig bin und meine Freilassung wurde beschlossen.

Im November 2021, als ich mich auf einer Urlaubsreise befand, wurde ich dann erneut vom Geheimdienst in Shiraz festgenommen. Ich wurde im Untersuchungsgefängnis des Shiraz-Geheimdienstes schwer körperlich misshandelt. Die Vernehmungsbeamten übten viel körperlichen und seelischen Druck aus. Sie hatten mich ohne Anklage festgenommen und planten, durch die Inhalte meines Telefons und mit einem Geständnis ein Verfahren gegen mich einzuleiten. Ich habe mich in beiden Fällen dagegen gewehrt. Sie konnten das Passwort des Telefons nicht knacken und ich sagte ihnen: „Ich werde vor euch nicht einmal gestehen, dass ich atme.“ Nach einem Monat psychischer und physischer Misshandlung, wegen denen meine Krankheit wieder ausgebrach, ließen sie mich aufgrund des öffentlichen Drucks gegen eine hohe Kaution frei. Zwei Monate nach meiner Entlassung erfuhr ich, dass ich eine neue Autoimmunerkrankung hatte. Die Repression ließ jedoch nicht nach, sie eröffneten ein Verfahren gegen meinen Bruder und luden ihn vor und sie belästigten meinen Vater immer und immer wieder. Im August 2022 wurde ich in Teheran vor meinem Haus gewaltsam festgenommen.

Dieses Mal weigerte ich mich am Eingang des Teheraner Geheimdienstgefängnisses sogar, meine Personalien preiszugeben. Ich weigerte mich, verhört zu werden, und sie hielten mich rechtswidrig fünf Monate lang in Untersuchungshaft. Sie sagten, dass ich mit einer Gruppe politischer Gefangener bestrebt wäre, eine Erklärung zu veröffentlichen. Sie legten mir den Text der Erklärung vor, es war eine Fünf-Punkte-Erklärung, die die Prinzipien des Kampfes und einer alternativen Regierung spezifizierte. Ich sagte ihnen, wenn ein Text veröffentlicht wird und mein Name darauf steht dann lasst uns reden, aber das war nicht der Fall.

Nach fast einem Monat wurde ich ins Adel-Abad-Gefängnis in Shiraz gebracht, tatsächlich kam ich in eine Art inoffizielle Verbannung, weil Shiraz weder mein Wohnort noch meine Heimat war und auch nichts mit den Anschuldigungen in meiner neuen Akte zu tun hatte. Sie versuchten mich so viel wie möglich zu quälen und zu entrechten. Seit meiner Verhaftung war es mir einen Monat lang verboten gewesen, Kontakte zu haben und als sie mir endlich erlaubten, jemanden anzurufen, entzogen sie mir das Recht, meinen Anwalt zu kontaktieren. Sie entzogen mir medizinische Behandlung und zwangen mir einen Arzt auf, bei dem ich mich gezwungen sah in einen Medikamentenstreik einzutreten. Davor war ich wegen der Verhängung der strenger Einschränkungen schon einmal in einen Hungerstreik getreten, diesen beendete ich als die Auflagen aufgehoben wurden. Diesmal hatte mich die Regierung dank eines Briefes meiner ehemaligen Mitgefangenen aus dem Frauentrakt des Evin-Gefängnisses, der Unterzeichnung einer Petition durch Studenten und Professoren, der Abhaltung von Protestkundgebungen an meiner Fakultät und öffentlichem Protest auf Twitter nach fünf Monaten der rechtswidrigen Inhaftierung freigelassen.

Der Geheimdienst hat mich letzte Woche (3. bis 11. März 2023) erneut vorgeladen. Ich habe gesagt, dass eine telefonische Vorladung illegal ist. Sie sagten, dass sie kommen und mich mitnehmen würden, noch ist nicht klar, wann sie ihre Drohung wahrmachen werden. Als ich vorübergehend im Gefängnis von Adel Abad inhaftiert war, gaben sie mir einen Bescheid über die Vollstreckung der fünfjährigen Haftstrafe. Sie betrachteten mich als abwesend und als flüchtig, weil ich nicht zum Haftantritt erschienen war und jetzt haben sie eine Anordnung erlassen, mein Eigentum zu beschlagnahmen. Jetzt muss ich ihnen erklären, dass ich nicht ins Gefängnis gekommen bin, um die fünfjährige Haftstrafe zu verbüßen, weil ich wegen eines anderen Falls in einem anderen Gefängnis inhaftiert war und nicht von Gefängnis zu Gefängnis kommen konnte.

Wie behandelten die Regierungstruppen Dich und andere Gefangene zum Zeitpunkt der Verhaftung und später in den Gefängnissen?

Die Art und Weise der Behandlung hängt ganz davon ab, wer welcher politischen Kraft angehört und wo man festgehalten wird und auch, wie viel in den Nachrichten über jemanden berichtet wird. Abgesehen davon hängt es auch mit der Zeit der Inhaftierung zusammen. Alle diese Parameter bestimmen das Ausmaß der Gewalt und des Drucks.  Die Situation außerhalb von Teheran ist sehr schlecht. Manche Gefängnisse sind viel schlimmer als andere. In Teheran sind die Haftbedingungen für politische Gefangene besser als in anderen Städten, aber die Bedingungen sind nicht für alle gleich und die Tatsache, dass die Bedingungen besser sind, bedeutet nicht, dass die Bedingungen gut sind. In den letzten Jahren wurden Bektash Abtin und Behnam Mahjoubi im Evin-Gefängnis getötet, indem sie keine medizinische Versorgung erhielten und ihnen die falschen Medikamente verabreicht wurden und das im Evin Gefängnis, das über die besten Einrichtungen unter den iranischen Gefängnissen verfügt.

Machen Regimekräfte einen Unterschied im Umgang mit politischen Gefangenen und Gefangenen, denen keine politische Aktivität vorgeworfen wird?

Ja. Abgesehen von den Festgenommenen aus Massenprotesten, bei denen die Sicherheitskräfte keine Gewaltanwendung scheuen, ist in anderen Fällen die systematische Gewalt der Polizei gegen nichtpolitische Häftlinge, insbesondere bei Mord- und Drogendelikten, weitaus höher als bei politischen Gefangenen. Das gilt jedoch nicht für politische Gefangene von marginalisierten Völkern wie Kurden, Arabern und Belutschen sowie einige andere politische Gefangene, gegen die sehr schwere Anklagen erhoben werden. Wir haben politische Häftlinge, die des Attentats oder der Sabotage angeklagt sind und deren Folterniveau unvergleichlich ist. Häftlinge, denen Mitgliedschaft in politischen Organisationen vorgeworfen wird erleben in der Regel sehr lange Phasen der Isolationshaft und des Drucks. Auch in Haftfällen, die in das Spannungsfeld zweier Geheimdienstbehörden geraten, wie z.B. bei Umweltaktivisten, ist das Ausmaß des Drucks und die Dauer der Inhaftierung in der Sicherheitshaftanstalt sehr sehr hoch.

Diejenigen, die wegen unpolitischen Anschuldigungen festgenommen werden, erfahren jedoch ein höheres Maß an systematischer Gewalt als diejenigen, die als Aktivisten auf ziviler Ebene und mit medialer Berichterstattung festgenommen werden, insbesondere wenn es keine Straßenproteste gibt.

Gibt es einen Unterschied in der Repression gegenüber männlichen, weiblichen & transgender Gefangenen ?

Die Erfahrung der letzten Jahre zeigt, dass der Vernehmungsdruck auf weibliche Inhaftierte um ein Vielfaches gestiegen ist. In den jüngsten Aufständen waren viele Frauen sogar sexueller Belästigung und Übergriffen ausgesetzt. Abgesehen davon wurden viele Frauen beschimpft oder mit moralischen Argumenten stark unter Druck gesetzt. Ich weiß nichts über die Bedingungen von Transgender-Häftlingen, aber ich vermute, sie werden einer größeren Gewaltanwendung ausgesetzt sein als männliche Häftlinge. Das Problem ist nicht, dass Männer nicht Gewalt und Druck ausgesetzt sind, sie werden sogar häufiger geschlagen und körperlich angegriffen. Aber Demütigung, Druck und schlechte Behandlung von Frauen haben stark zugenommen.

Hatten die politischen Gefangenen Kontakt zu denen, die nicht politischer Aktivität beschuldigt wurden? Haben sie sich gegenseitig beeinflusst?

Es hängt davon ab, in welchem Gefängnis man inhaftiert ist und ob es in diesem Gefängnis politische Gefangene gibt oder nicht. In den Gefängnissen, in denen es eine politische Abteilung gibt, wird versucht, die Interaktionen zwischen politischen Gefangenen und nichtpolitischen Gefangenen so weit wie möglich zu minimieren. Es gibt ein Gesetz zur Trennung von Straftaten, das in einigen Gefängnissen streng umgesetzt wird, aber wo immer es eine Möglichkeit für Kontakt gibt, sofern es ein gesunder Kontakt ist, kommt es definitiv zu nachhaltigen gegenseitigen Auswirkungen. Gefängnisbeamte versuchen, politische Gefangene vor nichtpolitischen Gefangenen schlecht aussehen zu lassen. Einerseits versuchen sie, indem sie politischen Gefangenen wenige Privilegien einräumen, ihren Protestgeist zu kontrollieren, andererseits täuschen sie mit diesen Privilegien vor den Augen nichtpolitischer Gefangener Ungleichheit vor. Auf der Grundlage dieser Ungleichheit versuchen sie, politische Gefangene als „Herren“ darzustellen, die nichts über den Schmerz sozialer Gefangener wüssten. Dies ist ein allgemeiner Mechanismus, sie verwenden auch spezifischere Mechanismen. Als sie mich zum Beispiel in die Gemeinschaftszelle der Drogendelikt-Gefangenen schicken wollten, warnten sie die Gefangenen durch den Vertreter des Raums, dass ich psychologische Probleme hätte und verrückt sei. Deshalb sollten sie mich meiden. Die anderen Häftlinge hatten zufällig die Neuigkeiten, die es über mich gab, von ihren Familienangehörigen gehört. Das überzeugte sie, dass ich nicht verrückt war und sie mit mir befreundet sein können.

Schreiben Folterüberlebende Berichte über die Aktionen des Regimes? Wenn nicht, hältst Du es für notwendig, diese Zeugnisse aufzuzeichnen?

Einige schreiben und dennoch erzählen viele von denen, die Folter und Druck erlitten haben, aufgrund des Drucks der Polizei nichts. Andererseits finde ich es wichtig, wie man Druck- und Foltererfahrungen erzählt. Seit vielen Jahren ist im Narrativ über die Folter, die Skandalisierung des Staates hegemonial. Natürlich sollten die Folterer mit jeder Erzählung entlarvt werden, aber wenn der dominierende Diskurs in der Erzählung nur diese Skandalisierung ist, werden andere Aspekte der Erzählung vernachlässigt oder mit der Zeit unwichtig. Eine festgenommene gefolterte Person wird zum reinen „Opfer“, die Fortsetzung dieses Ansatzes führt zum Verlust ihrer revolutionären politischen Bedeutung. Der Skandal stößt an dem Punkt an seine Grenzen, wenn es dem Staat nicht mehr um die Aufrechterhaltung der Legitimität geht und dieses Feld bereits verlassen hat.

In einer solchen Situation ist vielleicht wichtiger als Dokumentationen, den Zugang zur Erzählung zu ändern: Das Erzählen von Folter und Druck sollte Möglichkeiten und Strategien des Widerstands aufzeigen. Wir müssen das Narrativ der Kämpfer aufbauen, die Druck, Folter und Misshandlungen ausgesetzt waren und trotz intensivsten Leidens standgehalten haben, damit wir den Mut und die Bereitschaft in uns selbst stärken, die nötig sind, um Folter und Unterdrückung zu eliminieren. Wir sollten uns mit der Eskalation der Wut über das Verbrechen und der Stärke unserer Hoffnung und unseren Mutes beschäftigen. Dann sind wir in der Lage, die Folterer zu beschämen, während wir uns ermächtigt fühlen, sie zu vernichten. Wir müssen unseren Schmerz und unser Leid, dass uns die Unterdrücker aufgezwungen haben, teilen, um weiter voranzukommen, weiterzumachen und mutiger zu sein, nicht wegen der Hoffnung auf Rache oder der Angst vor dem Monster des Folterers. Wir müssen von Folter und Misshandlungen erzählen, damit wir das Foltersystem als etwas besiegbares begreifen.

Kannst Du uns etwas über die Solidarität und den Widerstand politischer Gefangener erzählen, im Gefängnis oder nach ihrer Entlassung?

Ich denke, dass ein Grund für die Freilassung politischer Aktivisten während einer Generalamnestie darin besteht, dass der Sicherheitsapparat leider besser und früher als die Aktivisten selbst, ihre Potenziale und Möglichkeiten erkennt. Der Prozess, der seit Anfang dieses Jahres stattfindet und bei dem die meisten politischen Aktivisten bereits vor Beginn des Jina-Aufstands auf unterschiedliche Weise ins Gefängnis kamen, schuf Potenziale im Gefängnis. Im Laufe der Zeit wurden diese Potentiale sichtbarer. Kürzlich haben wir gesehen, wie Gefangene kollektive Solidaritätsbotschaften aneinander sendeten und aus verschiedenen politischen Spektren zusammenkamen, um sich gegenseitig zu verteidigen. Diese Solidaritätsbekundungen zwischen verschiedenen Gefängnissen könnten und sollten meiner Meinung nach eine größere und radikalere Ebene annehmen. Es war möglich, dass die Solidarität allmählich und mit dem Fortschritt der Gespräche in den Gefängnissen übergehen würde in die Thematisierung strategischer Punkte. Ich glaube, dass die Regierung diese Gefahr früher als die politischen Gefangenen selbst erkannt hat und deshalb der Freilassung der politischen Gefangenen zugestimmt hat.

Diejenigen, die unter den schlimmsten Belastungen und Leiden zusammengelebt haben, sollten sich nach der Freiheit logischerweise nicht einfach verlassen. Aus diesem Grund bringt das Gefängnis mit all seinen Leiden, Nähe und Sympathie und schafft neue Bindungen. Das heißt, es schafft neue Möglichkeiten auch in der Freiheit. Ich spreche hier vom Gefängnis nach 2018, einem Gefängnis voller junger Menschen, offen und gesprächsbereit, insbesondere in den Frauengefängnissen, wo Sympathien für die aktuellen Probleme des Gefängnisses oft die Barriere früherer Distanzen durchbrechen können. Um ehrlich zu sein, selbst wenn ich frei bin, kann ich nicht umhin, mir Sorgen um Niloufar Bayani oder Mahosh Zabet zu machen. Viele von uns bleiben nach der Haft befreundet und sprechen über politisches Handeln. Diese einfachen Dinge bergen Möglichkeiten. Möglichkeiten, die viele von uns nicht sehen wollen. Ich spreche von der Möglichkeit, andere Kräfte zu sehen und zu berücksichtigen und neuen Aktivismus zu schaffen, einen Dialog zwischen Kräften zu führen, die nicht vereint sind, sich aber in einigen Bereichen gegenseitig unterstützen können. Das ist die Möglichkeit, die das Gefängnis innerhalb und außerhalb seiner selbst für die Solidarität unterschiedlicher Aktivisten schafft.

Wie wirkt sich Deiner Meinung nach die Patenschaft durch Parlamentarier und westliche Staatsmänner auf die Lage der Gefangenen des jüngsten Aufstands und die Abschaffung der Todesstrafe aus?

In meinem Fall habe ich der Diskussion um eine Patenschaft nicht zugestimmt, weil für mich keine unmittelbare Lebensgefahr besteht. Gleichzeitig wollte jemand aus dem Bundestag netterweise meine Patenschaft übernehmen. Für mich blieb die Frage über das Verhältnis zwischen diesen Vertretern und der deutschen Regierung, welche Repressionsinstrumente an die iranische Regierung verkauft, unbeantwortet. Insbesondere, da es hier auch um die SPD geht. Ich kenne mich nicht mit der aktuellen deutschen Innenpolitik aus, aber eine junge Studentin im Iran vergisst nie, dass die deutsche Revolution 1919 von der sozialdemokratischen Regierung unterdrückt wurde und das unter der Herrschaft der SPD Luxemburg und Liebknecht ermordet wurden. Dies war ein wichtiger historischer Moment für das Schicksal des Sozialismus in der Welt. Ich habe die informierten Leute gefragt, und sie sagten, die deutsche Sozialdemokratie sei heute nicht kritischer und linker als damals. Für mich ist das der Grund für meine Ablehnung einer Patenschaft. Ich denke bei Fällen, wo das Leben in Gefahr ist, sollte man bestehende Möglichkeiten nutzen.

Beim jüngsten Massenaufstand im Iran gab es sehr viele Verhaftungen und Folter. Haben sich in einer solchen Situation die Haftbedingungen für politische Gefangene geändert?

Sowohl für die Regierung als auch für die Gefangenen sind die Bedingungen schwieriger geworden. Die Regierung kämpft jeden Tag mehr mit der Haushaltskrise, und die Befriedigung des unersättlichen Hungers der Wirtschafts- und Militärmafia verschlingt einen immer größeren Teil des Budgets. Die Proteste werden breiter und die Unterdrückungsinfrastruktur in vielen Städten reicht nicht aus. Dadurch werden die Bedingungen für die Inhaftierten noch unmenschlicher. Die Bevölkerungsdichte nimmt zu, die Haftplätze sind gering und sie verwenden ungeeignete Orte, um die Häftlinge festzuhalten, diese sind mit Nahrungsmangel konfrontiert und so weiter. Dies war einer der Gründe für die Freilassung der Gefangenen, zumal ich denke, dass die Regierung neue Proteste kommen sah und mit dieser Vielzahl an Gefangenen mit einer ernsten Krise konfrontiert werden würde. Darüber hinaus bringt das Festhalten von Demonstranten unter solchen Bedingungen das Risiko von Ausschreitungen innerhalb des Gefängnisses mit sich.

Was hat Dich ermutigt und Dir Kraft gegeben, auch im Gefängnis Widerstand zu leisten?

Vieles hat mich am Laufen gehalten. Als ich 2019 im Gefängnis war, ging ich in Gedanken Schritt für Schritt zum logischen Ende von allem. Oft habe ich mir folgende Fragen gestellt: Wie weit will ich noch weitermachen und wozu? Ich suchte in meinem Kopf und das ausschlaggebendste Bild, das meine Frage beantwortete, war das Bild meiner Eltern. Diejenigen, die mir ständig und jedes Mal sagten, ich solle wegen ihnen aufhören mit meinem Aktivismus, ich solle abbrechen und aussteigen. Sie waren mein Hauptgrund, zu überleben und weiterzumachen. Mein Vater hatte gearbeitet, seit er sechs Jahre alt war, er hatte die Schule wegen der Arbeit versäumt. Aber nicht nur wegen der Arbeit. Sein Vater hatte ihn zur Einschulung mitgenommen, der Schulleiter hatte Geld verlangt, das sein Vater nicht zahlen konnte und er hat deswegen die Schule versäumt. Später lernte er von seinem Vorarbeiter lesen und schreiben und noch später nahm er an Abendschulprüfungen teil. Er hat immer gesagt, dass er bereit ist, alles zu geben, damit wir studieren können und er war wirklich bereit und ist es noch heute, wo er fünfundachtzig Jahre alt wird.

Meine Mutter hat wie mein Vater ihr ganzes Leben lang gearbeitet, nicht nur im Haushalt, sondern seit ihrer Kindheit Teppiche geknüpft. Sie hat Teppiche geknüpft, bis die Nerven in ihren Händen geschädigt wurden, sie Rückenleiden bekam, ihre Augen schwächer wurden und sie an Lungenproblemen erkrankte. Auch sie hat es versäumt, zur Schule zu gehen, denn sie wurde sehr schnell verheiratet und hat ihr ganzes Leben lang dafür gearbeitet, dass sich unser Leben ändert. Nein! Ich mag es wirklich nicht, dass die Welt so weitergeht, wo manche Menschen die einfachsten Gaben des Lebens und der Gesellschaft verpassen und ihr ganzes Leben lang arbeiten. Als ich an meine Eltern dachte, wollte ich kämpfen, bis ich sterbe. Und auch wenn wir nicht gewinnen, bin ich froh, dass ich für eine gerechtere Welt gekämpft habe.

In Adel Abad brauchte es keine Vorstellungskraft und Bilder, denn die Not der Frauen stand vor meinen Augen. Ich war unter den Drogengefangenen, und vor meinen Augen waren die Sehnsucht nach Schule, die Arbeitslosigkeit, die Kinderehe, die Nöte der Alleinerziehung. Ich war mitten in der Hölle, gegen die ich kämpfte. Viele Male, besonders wenn mich das Leiden meiner Schwestern im Gefängnis wütend machte, dankte ich in meinem Herzen der Regierung dafür, dass sie mich hergeschickt hatte, um Zeuge jener Hölle zu werden, die sie für das Leben der Menschen geschaffen hat. Einmal sah ich eine Frau in Adel Abad, die minderjährig verheiratet worden war (wie die meisten inhaftierten Frauen in Adel Abad), ihr Mann hatte sie jahrelang vergewaltigt und sie durfte sich nicht scheiden lassen. Wenn ich „Vergewaltigung“ sage, ist das keine Metapher, ich übertreibe nicht, ich verwende dieses Wort nicht symbolisch. Im Laufe der Jahre hatte ihr Mann kein einziges Mal Vaginalsex mit ihr, er hatte sie mit Gewalt zu Analsex gezwungen. Um die Geschichte zusammenzufassen: Sie war wegen des Verbrechens der erzwungenen Scheidung zu 25 Jahren Haft verurteilt worden. Ja, wegen des Verbrechens der erzwungenen Scheidung, weil sie ihren Ehemann als Geisel genommen und einen Mullah entführt hatte, damit er das Scheidungsurteil erlässt. Ihr Komplize wurde hingerichtet.

Dies ist eine der traurigsten Geschichten von Frauen im Adel-Abad-Gefängnis. Sag mir, warum wir  nicht bis zum Tod kämpfen sollten? Was wollen wir außer einer menschlicheren Situation, außer einer gerechten Situation, in der die politische und wirtschaftliche Struktur und der Staat die Menschen nicht zu Wölfen machen? Unsere Hände sind leer, wir haben nichts außer unseren müden und leidenden Körpern. Was haben wir zu verlieren? Unsere Leben? Ist sich irgendjemand dieses elenden Lebens sicher genug, um sich zurückziehen? Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass meine Wut, mein Glaube und mein Kampfgeist gewachsen sind, als ich meine Schwestern in Adelabad sah.

#Titelbild: eigenes Archiv.

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In der Nacht auf den 21. Juni 2020, auf dem Höhepunkt der Covid-19 Kontaktbeschränkungen und Versammlungsverbote, stellten sich in Stuttgart nach einer Drogenkontrolle eines 17-Jährigen hunderte junge Menschen der Polizei entgegen und reklamierten öffentliche Plätze für sich. Die Polizei beantwortete dies mit harscher Gewalt. Die Jugendlichen wehrten sich, beschädigten Streifenwagen und zogen später durch die Innenstadt, wo sie Geschäfte plünderten. Der 22-jährige Yan wurde in erster Instanz zu drei Jahren und neun Monaten Haft verurteilt, gegen das Urteil wurde Berufung eingelegt. Am 2. Februar beginnt nun seine Berufungsverhandlung. Wir haben anlässlich seiner Verhandlung und der verstärkten Repression in Stuttgart mit ihm und Petra, die im „Solidaritätskreis Krawallnacht“ aktiv ist, gesprochen.

Vor welchem Hintergrund und wieso kam es im Juni 2020 zu Widerstand gegen die Polizei und Plünderungen in Stuttgart?

Yan: Es gibt eine vordergründige Sichtweise, die wenig erklärt, aber von den meisten Medien so oder ähnlich aufgegriffen wurde: Weil alle Clubs geschlossen waren, hätten sich gelangweilte Jugendliche im Schlosspark getroffen, Alkohol getrunken und eine Drogenkontrolle sei dann irgendwie aus dem Ruder gelaufen. So wurde eine ominöse „Partyszene“ konstruiert, die die Krawalle quasi aus Spaß an der Zerstörung gestartet hätte. Vermischt wurde das sehr schnell mit rassistischen Zuschreibungen. Schnell veröffentlichte man den Migrationshintergrund der vermeintlichen Täter:innen, die Stuttgarter Polizei stellte Stammbaumforschungen an, um zu überprüfen, wie „deutsch“ die Festgenommenen wirklich waren. Tatsächlich gibt es strukturelle Mechanismen, die viel bedeutender waren: Die Stuttgarter Innenstadt ist ein von der Polizei stark kontrollierter Raum. An jeder Ecke stehen Streifen- oder Mannschaftswägen, die z.B. Obdachlose vertreiben. Als sich während dem ersten Höhepunkt der Pandemie dann an den Wochenenden hunderte oder tausende proletarische Jugendliche in der Stadt versammelten, reagierte die Polizei mit noch mehr Kontrollen und Schikanen als sonst. Andererseits hatten viele der Jugendlichen schon entsprechende Erfahrungen mit den Bullen gemacht: Weil sie aus dem falschen Viertel kommen oder schlicht die falsche Hautfarbe haben.

Petra: Stuttgart war auch nicht die einzige Stadt, in der es zu größeren Konflikten zwischen Jugendlichen und der Polizei kam. In Frankfurt, Mannheim und Augsburg kam es auch zu größeren Krawallen und auch in etlichen anderen Städten und Ländern wie etwa in der Schweiz kam es zu Auseinandersetzungen.

An den Protesten waren vor allem migrantische Menschen beteiligt. Welche Rolle spielen Schikane und struktureller Rassismus? Welche Rolle spielt die Klassenzugehörigkeit?

Petra: Struktureller Rassismus ist sicher für sehr viele, die an diesem Abend in der Stadt waren, ein gemeinsamer Erfahrungshintergrund. Es gab in der „Krawallnacht“ aber auch Beispiele von unmittelbarem Rassismus: Im Nachhinein ist der Funkspruch eines Polizeihauptmeisters bekannt geworden, in dem er von „Krieg“ sprach und dass „nur Kanacken“ die Gegner wären. Während der Ermittlungen wurde nicht nur die Nationalität der Beschuldigten festgehalten, sondern auch die „Migrationsgeschichte“ der Familien untersucht. Alles, um die rassistische Erzählung, von „gewalttätigen, schlecht integrierten Migrant:innen“ zu legitimieren.

Yan: Und natürlich spielt die Klassenzugehörigkeit eine große Rolle. Wer ein schönes Haus am Killesberg hat, kann auch während einer Pandemie im Hobbykeller oder im Garten entspannen wenn alle anderen sozialen Treffpunkte geschlossen sind. Für viele, die sonst in Jugendhäusern, Clubs oder Bars ihren Freiraum und ihren sozialen Zusammenhalt gefunden haben, war der öffentliche Raum der letzte Rückzugsort. Ein Rückzugsort, der ihnen von der Polizei immer mehr genommen wurde.

Das Reklamieren öffentlichen Raums und Plünderungen hat es auch im Zuge der Proteste gegen G20 2017 in Hamburg gegeben. Warum ist es 2020 in Stuttgart zu dieser in Deutschland eher unüblichen Protestform gekommen?

Yan: Das war keine gezielt gewählte Protestform. Die Polizei hatte wohl schlicht und einfach keine Kontrolle über große Teile der Stuttgarter Innenstadt.

Petra: Das ist kein Ausdruck von entwickeltem Klassenbewusstsein gewesen. Vielmehr hat sich den Versammelten die Chance geboten, sich in einer Situation, in der die Polizei sich ausnahmsweise mal vor ihnen zurückziehen muss, zu nehmen, was sie sonst nicht haben können. Wir denken aber, dass Plünderungen der Entstehung von Klassenbewusstsein auch nicht entgegenstehen müssen. Und Plünderungen waren auch nicht das dominierende Moment, viel mehr hat der Straßenkampf mit den Bullen diese Nacht geprägt.

Wie hat sich nach den Ereignissen und der politischen und medialen Hetze gegen die Beteiligten die Polizeipräsenz und Repression in Stuttgart verändert?

Yan: Es gab sehr breite Reaktionen seitens der Stadt und der Bullen. Direkt im Anschluss an die Krawallnacht wurde die Polizeipräsenz in der Innenstadt massiv ausgebaut und auch über die nächsten Wochen hinweg aufrechterhalten. Und das nicht nur abends und nachts, sondern auch tagsüber. In den Wochen nach der Krawallnacht war es kaum möglich, nachts durch die Stadt zu gehen, ohne nicht mindestens einmal von der Polizei angehalten zu werden. Zeitgleich wurden die Auseinandersetzungen dazu genutzt, Kameraüberwachung in der Innenstadt einzuführen, die es zuvor nicht gab. Es wurden verschiedene Sammelpunkte wie die Freitreppe auf dem Schlossplatz oder der Marienplatz und der Feuersee ganz oder ab bestimmten Uhrzeiten gesperrt. Die Repression gegen angebliche Beteiligte der Krawallnacht war heftig. Es gab kaum Urteile, die zumindest in der ersten Instanz nicht zu Haft oder mindestens Bewährung geführt haben, auch bei harmloseren Delikten wie Sachbeschädigung. Eine zweite Schiene, die von der Lokalpolitik gefahren wurde, war die der Beruhigung. So wurden neue Stellen für Sozialarbeiter:innen geschaffen und beispielsweise eine Musikbox zur allgemeinen Benutzung auf dem Schlossplatz aufgestellt. Dieser Ansatz, der vor allem von Linken Gemeinderät:innen durchgesetzt wurde, ist gerechtfertigt und stellt sich auf die Seite der Jugendlichen, gleichzeitig entpolitisiert er aber den Konflikt. Statt von legitimem Widerstand gegen rassistische Bullen und soziale Verdrängung wird dann von schlechter Kommunikation zwischen Polizei und Jugendlichen geredet.

Petra: Bemerkenswert ist, dass es trotz aller Befriedungs- und Droh-Maßnahmen in den Wochen nach der Krawallnacht an manchen Stellen erneut geknallt hat. Letzten Endes war es die massive Bullenpräsenz, die verhindert hat, dass eine zweite Krawallnacht entstanden ist.

Die Justiz begründet Dein harsches Urteil von drei Jahren und neun Monaten unter anderem damit, dass der Angeklagte im vollen (politischen) Bewusstsein gehandelt habe. Was soll mit diesem und folgenden Urteilen erreicht werden?

Yan: Die Urteile folgen gezielt der Konstruktion der Bullen, nach dem „Linke“ den Krawall „ab einem gewissen Zeitpunkt“ strukturiert und gelenkt hätten. So wird in den Prozessakten immer wieder auf organisierte Kerne hingewiesen. Wirkliche Belege dafür gibt es nicht. Dass einige Beteiligte Sturmhauben getragen haben, wird so interpretiert, dass sie vorbereitet, also organisiert, also Linke gewesen seien. Ein paar Staatsschutz-Beamte haben einen Kreis von knapp 20 Linken benannt, die häufiger auf Demos gehen und angeblich oft beieinanderstehen würden. Dann haben sie diese Genoss:innen einfach einer Anzahl vermummter und unkenntlicher Personen zugeordnet die in der Nacht gefilmt wurden. Weil ich recht groß bin, behaupten die Bullen, ich sei eine Person, über die sie selbst nicht viel mehr sagen können, als dass sie „relativ groß“ sei. Eine weitere Genossin wurde im Januar verurteilt, weil sie „relativ kleiner als die Umstehenden“ und schlank sei und das auch auf eine vermummte Person bei der Krawallnacht zutreffen würde. Obwohl das keinerlei juristischen Maßstäben entspricht, sind die Bullen zumindest in erster Instanz mit dieser Methode durchgekommen.

Petra: Die Urteile sind eine klare Einschüchterungspolitik gegen Linke. Auch wenn die Krawalle keine bewusste politische Aktion waren, waren sie eine intuitive Gegenwehr gegen die herrschenden Zustände und ein Moment, in dem Gegenmacht für Menschen aus unserer Klasse sicht- und erlebbar wurde. Das sind Momente aus denen eine revolutionäre Linke lernen kann und in denen sie präsent und sichtbar sein muss. Dass die Herrschenden und ihre Klassenjustiz das verhindern wollen und deshalb versuchen uns mit harten Urteilen abzuschrecken, überrascht uns nicht.

Ist das Urteil ein Einzelfall oder fügt es sich in verstärkte staatliche Repression gegen Linke in der Region ein?

Petra: Aktuell sitzen drei Linke aus der Region Stuttgart im Knast. Hauptsächlich wegen antifaschistischen Aktionen. Die Krawallnacht betreffend gibt es bereits drei Urteile gegen Linke. Einmal zu drei Jahren und zwei Monaten Haft gegen einen Genossen, dann das Urteil gegen Yan mit drei Jahren und neun Monaten und dann ein weiteres von einem Jahr und acht Monaten gegen eine Genossin, das wegen Jugendstrafrecht zur Bewährung ausgesetzt wurde. Darüber hinaus gibt es jede Menge aktueller Bewährungsstrafen und einige Genoss:innen, bei denen Verfahren laufen und bei denen Haftstrafen ganz konkret im Raum stehen. Hinzu kommt eine Tendenz zu massenhaften Verfahren anhand von Bildern, auf denen Bullen behaupten, Personen zu erkennen, ohne dass es dafür handfeste Beweise gibt.

Die aktuelle Verschärfung der Repression findet aber nicht nur auf der Ebene von Knaststrafen statt. So gab es beispielsweise am 8. März letzten Jahres – der in Stuttgart auch Streiktag im Sozial- und Erziehungsdienst war – eine sehr große Demonstration, die von Feminist:innen, Beschäftigten und Ver.di gemeinsam vorbereitet und getragen wurde. Die Bullen waren auf der Demonstration von Anfang an massiv präsent und haben die Demonstrant:innen schikaniert. Am Abend haben sie sogar Gewerkschafter:innen vor dem DGB-Haus angegriffen. Im Nachhinein kam es auch hier zu einer ganzen Reihe an Verfahren wegen absoluter Bagatellen. 

Wir sehen die Repression als Reaktion der Herrschenden auf eine Linke, die sich in der Pandemie zumindest lokal nicht zurückgezogen hat, sondern versucht hat in den gesellschaftlichen Widersprüchen präsent zu sein, die versucht auch außerhalb der eigenen Szene zu wirken und langfristige Strukturen aufzubauen. Eine Linke, die nicht das Bürgerliche Gesetzbuch als Maßstab für ihr Handeln nimmt und versucht, in Ansätzen so etwas wie Gegenmacht der Arbeiter:innenklasse aufzubauen.

Schließlich noch eine Frage, die die gesamte Bewegung betrifft: Wie kann sich die revolutionäre Linke angesichts jahrelanger Haftstrafen organisieren und was bedeuten solche Urteile langfristig für unsere Praxis?

Petra: So abgedroschen es klingt: Wenn der Gegner uns angreift, heißt das auch, dass ein Teil unserer Politik richtig war. Es war richtig, dass auf dem Höhepunkt der Querdenken-Demos versucht wurde, die Faschos in ihre Grenzen zu weisen und es ist richtig, dass wir uns in die gesellschaftlichen Widersprüche einmischen, überall dort wo sie aufbrechen. Und das im Idealfall nicht als Individuen oder als loser Zusammenhang, sondern organisiert und verbindlich. Gerade im Kontext der Krise, in der immer mehr Menschen erkennen, dass sie im Kapitalismus, nichts zu gewinnen haben, werden die Herrschenden alles daran setzen, diejenigen zu bekämpfen, die eine Alternative aufzeigen und beginnen, proletarische Gegenmacht aufzubauen, sie auch – wenn auch im Kleinen – erlebbar zu machen.

Dass die Repression zunimmt, bedeutet nicht, dass wir das einfach so über uns ergehen lassen müssen. Es gilt immer, die Fehler der Vergangenheit zu studieren und nicht zu wiederholen. Wir müssen die eigenen Strukturen so aufbauen, dass sie auch der kommenden Repression standhalten können, dazu gehört neben Verbindlichkeit und Kontinuität auch das richtige Maß an Klandestinität. Doch auch trotz all unserer Schutzmaßnahmen: Zu unserer Antwort auf Repression gehört auch, dass wir uns individuell und strukturell darauf vorbereiten müssen, dass Haft (wieder) ein größerer Teil linker Politik werden könnte. Wichtig ist dabei: Haft ist scheiße – so ehrlich müssen wir sein – aber sie ist nicht das Ende der Fahnenstange. Weder politische Arbeit noch kollektive Momente hören mit der Haft auf. Die Haft ist nicht das Ende des Kampfes, sondern der Anfang eines neuen.

Gibt es noch etwas, was Ihr hinzufügen möchtet?

Petra: Yan, die drei bisherigen Gefangenen, deren Urteile noch ausstehen und die Solidaritätsstruktur brauchen Öffentlichkeit, Solidarität und Geld. Die Rote Hilfe ist dabei so etwas wie unser Rückgrat, ohne das wir unsere Arbeit kaum leisten könnten. Es braucht aber die Aktivität von viel mehr Leuten: Schreibt den Gefangenen und versucht, sie in eure Kämpfe mit einzubeziehen! Macht sie präsent und sorgt dafür, dass sie nicht auf sich allein gestellt sind – das ist letztlich das wirksamste Mittel gegen die Repression.

[Aktuell wird vor allem viel Geld für die Prozesskosten von Jo und Dy, die Haftstrafen von viereinhalb und fünfeinhalb Jahren absitzen, benötigt. Infos dazu findet ihr hier: www.notwendig.org. Auch die Rote Hilfe e.V., die seit 1975 Anti-Repressionsarbeit leistet, braucht Unterstützung. Hier könnt Ihr Mitglied werden. Hier könnt ihr die Prozesse verfolgen]

#Titelbild: eigenes Archiv.

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Was sich vor, während und nach linken Großdemonstrationen oder Protestaktionen in der Öffentlichkeit vollzieht, lässt sich mittlerweile als eingespieltes Ritual bezeichnen. Die Vorgänge um die Räumung des Dorfes Lützerath im rheinischen Braunkohlerevier sind da keine Ausnahme. Bevor es losging, gab es erst mal von vielen Seiten unverbindliche Sympathiebekundungen für die Anliegen der Klimaschützer*innen, verbunden mit Appellen, die Räumung doch bitte friedlich über sich ergehen zu lassen. Die Polizei erklärte sinngemäß, dass es ihr furchtbar leidtäte, dass sie Lützerath räumen müsse. Sie sei aber nun mal gehalten, Recht und Gesetz Geltung zu verschaffen. Während des Einsatzes gab es dann eine überbordende Berichterstattung, Liveticker und jede Menge Videoschnipsel in den sozialen Netzwerken.

Nach der Räumung schließlich stand, wie immer, Aussage gegen Aussage. Die Aktivist*innen klagten in einer Pressekonferenz über Polizeigewalt und haufenweise Verletzte. Die Polizei wies das zurück und macht ihre eigene Bilanz von 70 verletzten Beamt*innen auf, wobei dabei bekanntlich schon leichte Kopfschmerzen oder ein eingerissener Fingernagel als Verletzung gewertet werden. Die Bild-Zeitung, die Polizeigewerkschaften und reaktionäre Politiker*innen von SPD bis Union und AfD fanden – auch wie immer -, dass die Gewalt von den Aktivist*innen ausgegangen sei und die Polizei einen guten Job gemacht habe. Damit ist das Ritual vollendet und die bürgerliche Öffentlichkeit geht zur Tagesordnung über – bis zum nächsten größeren linken Protest.

Auch wenn diese Feststellung ein wenig resigniert klingen mag, ist das nicht die Absicht. Es geht vielmehr darum, sich keinen Illusionen hinzugeben, wer in dieser Gesellschaft die Ansagen macht. Dass die öffentliche Debatte um mehr oder weniger linke Protestaktionen immer so gleich, so ritualisiert verläuft, ob nach 1.-Mai-Demonstrationen oder den Ereignissen beim G-20-Gipfel im Sommer 2017 in Hamburg, ist systembedingt. Man muss sich immer wieder in Erinnerung rufen, dass Konzernmedien und die staatstragenden öffentlichen Rundfunkanstalten die Öffentlichkeit dominieren – und die simulieren einen kritischen Diskurs nur. An den Grundpfeilern des Kapitalismus wie dem Eigentum wird nicht gerüttelt.

Auch rund um die Räumung Lützeraths hat sich wieder gezeigt, dass vor allem das Thema Gewalt immer dann medial nach vorn geschoben wird, wenn die bürgerlichen Sympathien für linken oder links erscheinenden Protest drohen, zu groß zu werden. Kein Thema eignet sich besser, um Widerstand zu diffamieren und zu delegitimieren, einen Keil in Bewegungen zu treiben. So werden Steinwürfe auf Polizeibeamt*innen skandalisiert, die Polizeigewalt erscheint dabei in der Regel als Reaktion auf die angebliche Gewalt von Aktivist*innen.

Die Polizei weiß, dass sie sich auf ihre Unterstützer*innen in Politik und Medien verlassen kann. In Lützerath war das auch daran zu erkennen, dass die Cops den Protest gegen die Räumung erbarmungslos niederknüppelten, vor allem bei der Großdemonstration am 14. Januar. Man störte sich nicht im Geringsten daran, dass sämtliche Medien der Republik vor Ort waren und überall Kameraobjektive präsent waren, um das Geschehen abzufilmen. Die Beamt*innen sprühten Pfefferspray im Strahl auf friedliche Demonstrant*innen, schlugen mit dem Schlagstock gezielt auf den Kopf oder in die Kniekehlen. Warum auch nicht, sind juristische oder personalrechtliche Konsequenzen für Polizist*innen in der BRD doch extrem selten.

Im Innenausschuss des Landtags von Nordrhein-Westfalen waren in der Woche nach dem Einsatz alle Parteien von Bündnis 90/Die Grünen bis AfD voll des Lobes über das Verhalten der Polizei.

Innenminister Herbert Reul (CDU) wollte Fehlverhalten einzelner Beamt*innen nicht ausschließen, suchte die Schuld dafür nach dem oben geschilderten Muster aber bei den Demonstrant*innen. Er machte „Linksextremisten“ aus, die aus der Demo ausgebrochen seien, und die Auseinandersetzung mit der Polizei gesucht hätten. Denen sei es ja gar nicht um Klimaschutz gegangen, so Reul, der mit diesem Auftritt exemplarisch vorführte, wie die Spaltungspolitik der bürgerlichen Parteien funktioniert.

Immerhin war dieser Einsatz dafür gut, dem einen oder der anderen die Augen zu öffnen. Er sollte auch der letzten naiven Klimaschützer*in vor Augen geführt haben, wer in diesem System das Sagen hat. Wenn es um Interessen von Konzernen wie RWE geht, wirft der Staat seine ganze Repressionsmaschine an und kennt kein Pardon. Es ist zu hoffen, dass die Räumung in Lützerath zumindest zur Radikalisierung von Aktivist*innen beigetragen hat.

#Titelbild: Libertinus 

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Fast genau zehn Jahre nach dem Attentat auf drei Genoss:innen der kurdischen Freiheitsbewegung 2013 in Paris kam es am 23. Dezember zu einem erneuten Mordangriff auf Kurd:innen.

Hubert Maulhofer sprach mit Konstantin von der internationalen Kampagne „Defend Kurdistan“ über das Geschehene und die Hintergründe.

Kannst du uns kurz etwas zur aktuellen Situation und dem Attentat des 23. Dezember geben?

Am 23. Dezember kam es mitten am Tag im Stadtzentrum von Paris, dort wo sich das kurdische Kulturzentrum „Ahmet Kaya“ befindet, zu einem blutigen Attentat. Der Täter schoss auf mehrere Menschen, die sich vor dem Kulturzentrum und in einem anliegenden Restaurant und Friseursalon befanden.

Drei Menschen sind dabei getötet worden, weitere teilweise schwer verletzt. Der Angreifer konnte durch den Mut einiger Menschen schließlich überwältigt werden, noch bevor die Polizei eintraf. Im Zuge dieses Anschlags kam es zu wütenden Protesten in ganz Europa, die dieses Attentat als eine Folge der anti-kurdischen Politik anprangern, welche sich immer weiter zuspitzt. Am 24. Dezember fand eine Großdemonstration in Paris statt. Die Demonstrationen wurden mehrfach von der französischen Polizei angegriffen und es kam zu Straßenschlachten.

In der kurdischen Community und in internationalistischen Zusammenhängen wird aktuell über eine Verbindung des Täters zum türkischen Staat bzw. dessen Geheimdienst MIT diskutiert und eine Parallele zu den Mordanschlägen von 2013 auf drei Genoss:innen in Paris gezogen. Was kannst du uns dazu sagen?

Wir sehen, dass dieses Attentat sich einreiht in eine anti-kurdische Politik. Von der Türkei und Nordkurdistan, wo tausende Menschen der Oppositionspartei HDP verhaftet werden, über die Giftgas-Angriffe der türkischen Armee in Südkurdistan bis zu den Angriffen auf Nord-Ost-Syrien, Rojava und die autonome Selbstverwaltung, bei denen gezielt zivile und lebensnotwendige Infrastruktur zerbombt wurde.

Auch in Europa existiert eine anti-kurdische Politik in Form der Kriminalisierung der kurdischen Freiheitsbewegung und ihrer Unterstützer:innen. Die Repression durch europäische Staaten wie die BRD und Frankreich nimmt immer weiter zu. Einen Tag vor dem Attentat in Paris wurde beispielsweise in Nürnberg ein Genosse inhaftiert, das dortige kurdische Kulturzentrum durchsucht. Diese Politik ermöglicht ein Klima, in welchem Anschläge, wie der von Paris, stattfinden können. Gleichzeitig sehen wir aber auch eine Kontinuität in diesem Attentat zu der Ermordung der Genossinnen Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez die im gleichen Stadtteil 2013 durch einen Agenten des türkischen Geheimdienstes ermordet wurden. Das Attentat jetzt fand zudem zu einem Zeitpunkt statt, in dem das jährliche Gedenken für die 2013 ermordeten Genossinnen im Pariser Kulturzentrum stattfanden. Wir werten den Angriff daher als einen gezielten Anschlag.

Was wissen wir über den Täter?

Es handelt sich um einen 69-jährigen Mann. Er hat bereits in der Vergangenheit Geflüchtete in einem Camp mit einem Schwert angegriffen und saß deshalb im Gefängnis. Er wurde aber vor elf Tagen aus dem Gefängnis entlassen. Die Tatsache, dass das Attentat in Paris in dem von mir oben angeführten Kontext stattfindet, und auch die Tatsache, dass er diese Tat mitten am Tag in einer Stadt wie Paris durchführen konnte, zeigt entgegen den Aussagen vieler bürgerlicher Medien, dass es sich hierbei nicht um eine Einzeltat handelt. Es geht um einen rassistischen, anti-kurdischen Mord. Das war ein gezielter Angriff auf die Aktivitäten der kurdischen Freiheitsbewegung in Europa. Wir sehen den türkischen Staat in der Verantwortung für diesen Mord.

Wir glauben, dass der französische Staat erneut „ein Auge zugedrückt“ hat, so ein Anschlag findet nicht einfach so statt. Der französische Staat hat kein Interesse daran, gegen die Aktivitäten des türkischen Geheimdienstes in Frankreich vorzugehen. Die mangelnde Aufklärung im Rahmen der Ermordung der drei Genossinnen 2013 bekräftigt dies und unsere Annahme, dass der 23. Dezember 2022 die Fortführung des Jahres 2013 ist.

Was wissen wir über die ermordeten Genoss:innen?

Bei den Gefallenen handelt es sich um Emine Kara, M. Şirin Aydın und Abdurrahman Kızıl.

Emine Kara war eine Genossin die aktiv in der kurdischen Frauenbewegung war und sich bereits seit 1989 in der Bewegung engagierte. In den Bergen und an vielen Orten in Kurdistan war sie aktiv und hat vor allem auch in Rojava eine große Rolle beim Aufbau der dortigen Selbstverwaltung gespielt. Sie half aktiv mit bei der Unterstützung der Jesid:innen nach den Massakern des sogenannten Islamischen Staats im Schengal. 2019 ist sie nach Europa gegangen, hat vor allem in Frankreich gewirkt und war aktiver teil des Vorbereitungskomitees für die Gedenkdemonstration an Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez in Paris.

Abdurrahman Kızıl war ein heimatverbundener Kurde, der sich in der Diaspora aktiv für die Rechte des kurdischen Volkes eingesetzt und an der demokratischen Gesellschaftsföderation in Frankreich beteiligt hat.

M. Şirin Aydın war ein kurdischer Musiker. Er war in der Diaspora bekannt für seine Lieder und ein Symbol der Vielfalt des Widerstands und der kurdischen Kultur.

Wie geht es jetzt weiter?

Der kurdische Dachverband in Europa „KCDK-E“ hat den Ausnahmezustand ausgerufen. Am 24. Dezember fand daraufhin in Paris eine erste Großdemonstration statt, auch Busse aus Deutschland sind angereist.

Gleichzeitig wird es in den kommenden Tagen überall in Europa zu Aktionen kommen. Die Hauptproteste werden jedoch vorerst in Frankreich und Paris stattfinden, um eine Verschleppung des Falls durch den französischen Staat zu verhindern.

Auch viele internationalistische Kräfte haben sich bereits solidarisiert und ihre Unterstützung ausgedrückt. Es ist an der Zeit, dass all diejenigen die hinter dem kurdischen Volk, der kurdischen Freiheitsbewegung und der Revolution stehen, für all diejenigen, die den türkischen Faschismus, seine europäischen Unterstützer und den Imperialismus bekämpfen, auf die Straße gehen und zur Aktion schreiten. Gerade jetzt in der Weihnachtszeit ist es wichtig, diese Geschehnisse nicht aus den Augen zu verlieren.

Update: Alle sind eingeladen nach Paris zu kommen und ihre Solidarität auszudrücken. Es gibt eine ständige Mahnwache vor dem Ahmet Kaya Kulturzentrum. Es wird aufgerufen überall dezentral Aktionen zu organisieren, um die Trauer und Wut zum Ausdruck zu bringen. Es wird eine große Beerdigung und Verabschiedung der Leichname in Paris geben. Alle sind aufgerufen und eingeladen daran teilzunehmen, allerdings ist noch unklar, wann die Leichname freigegeben werden. Sollte das vor dem 07.01.2023 passieren, wird für den 07.01. zu dezentralen Aktionen aufgerufen. Ansonsten wird am 07.01.2023 in Paris die alljährliche Gedenkdemonstration für Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez stattfinden. Wir rufen alle jetzt dazu auf an dieser Demonstration teilzunehmen und den nun sechs in Paris ermordeten Genoss:innen zu Gedenken.

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Kriegsgegner:innen haben in Russland erhebliche Repression zu befürchten. Trotzdem gibt es keine legalen Einreismöglichkeiten für sie nach Deutschland. Peter Klusmann ist Anwalt in der Gelsenkirchener Kanzlei Meister & Partner und vertritt einen geflüchteten Genossen im Asylverfahren.

Sie vertreten einen Mandanten aus Russland, der in seiner Heimat den Wehrdienst
verweigert und in der BRD Asyl beantragt hat. Warum ist ihr Mandant aus Russland
geflüchtet?

Unser Mandant ist aus Russland geflüchtet, da er als Mitglied der Russischen Maoistischen Partei (RMP) politische Verfolgung befürchtet. Der Mandant selbst trat bei verschiedenen Aktionen und öffentlichen Versammlungen der RMP in Erscheinung. Bereits im Januar 2021 wurde er kurzzeitig in Polizeigewahrsam genommen, nachdem er aus Anlass des Todestages von Lenin am 21. Januar Blumen an dessen Denkmal in Tscheljabinsk (eine russische Großstadt am Ural, d. Red.) niedergelegt hat. Der Mandant erhob dagegen bei der Staatsanwaltschaft ohne Erfolg Beschwerde. Auch weitere Mitglieder der RMP waren respektive sind Verfolgungsmaßnahmen durch die russischen Behörden ausgesetzt.

Gab es auch weitere Repression gegen Ihren Mandanten?

Ja. Am 27. Februar 2022 beteiligte er sich an einer Demonstration in Tscheljabinsk gegen den russischen Angriff auf die Ukraine. Unser Mandant trug dabei ein Transparent mit der Aufschrift „Maoisten gegen den Krieg! RMP“ Bei dieser Versammlung wurde er unter dem konstruierten Vorwurf des Widerstands gegen die Polizei festgenommen, in Gewahrsam genommen und am nächsten Tag in einem Schnellverfahren zu einer Geldbuße verurteilt. Unser Mandant wurde im Polizeigewahrsam menschenrechtswidrig behandelt, er wurde beleidigt und bedroht. Aufgrund dieser Behandlung erlitt er einem Zusammenbruch und musste medizinisch versorgt werden.

Da unser Mandant weitere Repressionen erwartete, ist er im April dieses Jahres zunächst in die Türkei ausgereist. Er ging dabei davon aus, dass er durch die polizeilichen Maßnahmen und seine Verurteilung als Regierungs- und insbesondere Kriegsgegner registriert ist und die russischen Behörden dies früher oder später zum Anlass nehmen würden, erneut gegen ihn vorzugehen. Im Hinblick darauf, dass unser Mandant in der Türkei auf Dauer keinen effektiven Schutz erlangen konnte, wurde ihm dringend nahegelegt, die Türkei zu verlassen und in Europa Schutz zu suchen.

In ihrer Mitteilung sprechen sie von „Putins Angriffskrieg“ und erwähnen die Interessen
der USA und ihrer NATO-Partner im Ukraine-Krieg nicht. Ist das nicht ein etwas einseitiger
Blick auf den Konflikt?

Keineswegs, aber die konkreten Fluchtursachen unseres Mandaten liegen in Putins Angriffskrieg. In der Presseerklärung heißt es, dass die Russische Maoistische Partei (RMP) eine konsequente Linie gegen alle imperialistischen Mächte verfolgt. Hierzu hat die RMP in einer Erklärung vom 3. März 2022 folgendes ausgeführt: „Im aktuellen Konflikt vertritt die russische maoistische Partei (RMP) eine konsequente antikriegerische und antiimperialistische Haltung gegen die Kriegstreiber auf beiden Seiten (NATO/EU und Russland), gegen die imperialistische Aggression in der Ukraine (die berüchtigte „militärische Sonderoperation“, die nicht einmal als Krieg bezeichnet werden darf) gegen den Bürgerkrieg in der Ukraine (zwischen der Ukraine und dem Donbass) in Form einer „antiterroristischen Operation“ (ATO).“

Auf seiner Flucht hat ihr Mandant in der deutschen Botschaft in Ankara ein Visum
beantragt, was abgelehnt wurde. Was war die Begründung und was kritisieren sie an dieser
Ablehnung?

Unser Mandant hatte sich um einen Botschaftstermin bemüht, um ein Visum zu bekommen. Dort verwies man formalistisch auf die Zuständigkeit der deutschen Auslandsvertretungen in Russland und ignorierte damit vor allem die Gefährdung unseres Mandanten bei einer Rückkehr. Das widersprach auch einer Ankündigung des Auswärtigen Amtes und des Bundesinnenministeriums, gefährdeten Personengruppen aus Russland zu helfen. Erst Ende Juni 2022 teilte das Bundesinnenministerium dann mit, dass „im Einzelfall die Möglichkeit einer Aufnahme nach Deutschland zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland auf der Grundlage von Paragraph 22 Satz 2 Aufenthaltsgesetz“ bestehe.

Sie fordern, dass die Bundesregierung ihre Ankündigung, den russischen Kriegsdienstverweigerern effektiven Schutz zu gewähren, „endlich in die Tat umsetzen muss“. Was muss jetzt konkret geschehen?

Notwendig ist die Schaffung legaler Einreisemöglichkeiten für verfolgte fortschrittliche Oppositionelle und Kriegsgegner aus Russland sowie die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus. Die bisherige Beschränkung auf „handverlesene“ Einzelfälle, die der Bundesregierung politisch opportun erscheinen – „Wahrung politischer Interessen“ -, wird dem nicht gerecht.

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Interview mit Meisam Al-Mahdi, Arbeiter und Mitorganisator der Proteste der Arbeiter der Stahlfabrik Ahwaz

Die Ahwaz National Steel Industry Group nahm ihre Tätigkeit 1963 mit einer Abteilung für die Produktion von Rohren und einer zweiten Abteilung für die Produktion von Eisenträgern auf. Später kamen nach und nach die Metallurgie (Herstellung von Zäunen und Schranken), die Stahlproduktion und schließlich die Abteilung Kousar für die Herstellung von Drähten und Bewehrungsstäben (Baustäbe) hinzu. Ahwaz Steel ist das erste Werk für Walzstahlerzeugnisse im Iran. Nach der Montage der erforderlichen Maschinen und der Installation der notwendigen Ausrüstung wurde 1967 eine neue Produktionslinie eingerichtet. Im Zuge der Privatisierung öffentlicher Vermögenswerte wurde die Zahl der Beschäftigten von siebentausend auf viertausend reduziert und die Ausbeutungsrate in der Fabrik erhöht. Seit 2013 streiken und protestieren die Beschäftigten dieser Fabrik regelmäßig, um die Einhaltung ihrer Rechte zu fordern.

Meisam Al-Mahdi ist einer der Arbeiter der Ahwaz National Steel Group. Er begann 2007 in der Fabrik zu arbeiten, zunächst als Tagelöhner im Restaurant und dann mit befristeten Verträgen in der Produktionsabteilung. Bis zu dem Tag, an dem er in den Untergrund gezwungen wurde und den Iran verlassen musste. Bahram Ghadimi sprach mit ihm über die Kämpfe dieser Arbeiter.

(Anm.d.Red.: Das Interview wurde vor der derzeitigen Welle von Aufständen geführt, weshalb aktuelle Bezüge fehlen. Wir erarchten es dennoch als wichtigen Einblick in die Kämpfe im Iran)

War die Ahwaz Steel Factory vor den Privatisierungen in staatlichem Besitz?

Ja, bis zur Präsidentschaft von Ahmadinejad war es eine staatliche Fabrik. Die Privatisierung der großen Fabriken wurde in der Zeit von Ahmadinejad umgesetzt. Deshalb erhielten wir nie unbefristete, sondern immer auf drei Monate befristete Verträge. Plötzlich war die Rede davon, dass einige Fabriken bankrott seien. Sie wurden ohne Mitsprache der Arbeiter an den privaten Sektor verkauft. Diejenigen, die die Unternehmen übernommen haben, gehörten zu den kapitalistischen Banden, die mit Ahmadinedschad verbunden sind. Arya Mansur war einer von ihnen und übernahm nicht nur das Stahlwerk, sondern auch die iranischen Eisenbahnen und die Damash-Gruppe. Er wurde später wegen Veruntreuung hingerichtet. Aber alle Arbeiter wissen, dass er hingerichtet wurde, damit er diejenigen nicht verrät, die gemeinsam mit ihm die massiven Unterschlagungen zu verantworten hatten.

Zudem wurden während der Präsidentschaft von Ahmadinejad zahlreiche Industriekorridore und Freihandelszonen geschaffen. Die Struktur dieser Zonen ist gegen die Arbeiterklasse gerichtet. Ich habe in einer von ihnen, der Region Arwand, gelebt und weiß, was mit den Arbeitern passiert, wenn eine Zone zur Freihandelszone erklärt wird und Privatisierungen stattfinden.

Was bedeuten diese Freihandelszonen?

In Ahwaz wurden wir mehrmals mit Landkonfiszierungen konfrontiert. Sie begannen zur Zeit der Pahlavi-Dynastie und dauert bis heute an. Während der Präsidentschaft von Rafsanjani wurde Land für die Zuckerproduktion beschlagnahmt. Rafsanjani erfand seine eigene Art und Weise, das Land der Menschen zu beschlagnahmen: Sie machten das Land unbrauchbar für den Anbau; zum Beispiel bauten sie Staudämme an Flüssen und sorgten dafür, dass das Wasser des Golfs in das Land der Menschen eindrang und es versalzte, so dass es nicht mehr bestellbar war. Nach und nach verödeten diese Ländereien und die Kapitalisten kauften sie dann von den Menschen zu sehr niedrigen Preisen. Diejenigen, die Widerstand leisteten, wurden inhaftiert; einige kämpfen noch heute und haben trotz des erzwungenen Verkaufs ihrer Ländereien nicht aufgegeben.

Wie hoch war der Anteil der persischen und arabischen Arbeiter in eurer Fabrik?

In vielen der neuen Fabriken oder Ölgesellschaften wurden arabische Arbeiter:innen eindeutig diskriminiert, weil die Fabrikbesitzer eine nationalistische und rassistische Haltung einnehmen. Sie fragten uns direkt, ob wir Araber sind oder wenn sie sahen, dass wir ursprünglich arabische Namen oder Nachnamen wie Al-Mahdi, Tamayomi, Bani Torof usw. haben, stellten sie uns nicht ein. Arabische Arbeiter sind gezwungen, ihren Nachnamen zu ändern, um einen Arbeitsplatz zu erhalten. In der Stahlfabrik gab es hingegen eine beträchtliche Anzahl arabischer Arbeiter, was außergewöhnlich war.

Wie wurden die arabischen Arbeiter in der Fabrik behandelt?

Ich hatte zum Beispiel viel Erfahrung als Techniker für blooming, eine der außergewöhnlichsten Maschinen dort, aber weil ich Araber bin, gab man mir nicht das Recht, diese Arbeit zu machen, und ein nicht-arabischer Arbeiter, der die Maschine nicht gut kannte, war mein Vorgesetzter. Das fand ich nach einiger Zeit heraus, und ich fand auch heraus, dass dieser Arbeiter, der meine Stelle übernommen hatte, doppelt so viel verdiente wie ich. Diese Verhaltensweisen waren sehr verbreitet. Selbst arabische Facharbeiter, die Metallurgie, Maschinenbau oder andere produktionsbezogene Fachgebiete studiert hatten, arbeiteten unter der Aufsicht von Personen, die nicht aus demselben Fach stammten und ihre Position durch Günstlingswirtschaft erlangt hatten. Unser Chefingenieur zum Beispiel war ein Spezialist für landwirtschaftliche Bewässerung, während es in der Fabrik arabische Ingenieure und Arbeiter gab, die sich auf Metallurgie spezialisiert hatten; aber keiner von ihnen erreichte hohe Positionen, weil die Bauunternehmer dachten, dass Araber, wo immer sie hingehen, ihre Massen mitnehmen und sich selbst organisieren; deshalb haben sie uns immer an den Rand gedrängt, damit wir keine Gelegenheit hatten, uns zu organisieren.

Wie hat der Kampf der Arbeiter der Ahwaz Steel Factory begonnen?

Bei Ahwaz Steel begannen die Arbeitskämpfe nach der Privatisierung der Fabrik. Als bekannt wurde, in welchem Umfang Unterschlagungen stattgefunden hatten und die Justiz die Fabrik beschlagnahmte. Während der Beschlagnahmung landeten die Gewinne aus unserer Produktion auf den Konten der Justiz. Die Haltung unserer Proteste war: wenn die Fabrik auf Raten an einen anderen Kapitalisten verkauft werden soll, ziehen wir Arbeiter es vor, an den Versteigerungen teilzunehmen und sie selbst zu kaufen, auch wenn dies eine Senkung unserer Löhne bedeuten würde. Wir können die Fabrik leiten und wir beherrschen die technische Seite viel besser als die Kapitalisten und Manager.

Letztendlich ist der Moment des Beginns der Proteste aber in der Regel der Protest gegen die Löhne. Die Ungleichheiten und Unterdrückungen der Arbeiter sind zahlreich, aber die Löhne sind ein guter Ansatzpunkt, um alle Arbeiter um ein zentrales Thema zu versammeln. Im Verlauf der Proteste können dann viele andere Themen diskutiert werden.

Im ersten Jahr der Proteste hatten sie uns sechs Monate lang keine Gehälter gezahlt. Es war unser erster Protest und Streik außerhalb der Fabrik. Er fand Ende 2016 und Anfang 2017 statt. Wir verließen die Fabrik für 17 Tage und schlossen alle Türen. Kein Produkt ging raus und nichts kam rein, bis wir drei Monatslöhne nachgezahlt bekamen.

Aber die Proteste beschränkten sich nicht auf die Frage der Löhne. Bei unserem letzten Streik schuldete uns die Fabrik keine Zahlungen. Wir waren in die nächste Phase unseres Kampfes eingetreten: den Kampf gegen die Stahlmafia. Wir waren über die kleinen, eher alltäglichen Forderungen – Arbeitshandschuhe, Gesundheit, Sicherheit am Arbeitsplatz usw. – hinausgegangen.

Wie verlief der Streik?

Die Sache war die, dass die Fabrik mehrere Abteilungen hatten (Produktion von Rohren, Stahl, Eisenträgern, Drähten, Maschinen usw.) und jede Abteilung hatte ihren eigenen Chef. Derjenige in Abschnitt 1 zahlte keine Löhne, derjenige in Abschnitt 2 zahlte zwar Löhne, bot aber keine Versicherungen an usw. Zu Beginn war es uns nicht möglich, uns auf ein gemeinsames Problem zu einigen.

Das erste Ziel, auf das wir uns konzentrieren mussten, war also die Reduktion der Anzahl der Chefs. Anschließend wurden die Löhne zum zentralen Thema. Zwischen 2015 und 2016, als die Fabrik auf den Konkurs zusteuerte, waren unsere Proteste auf ihrem Höhepunkt.

Ich war Techniker an den Blooming-Maschinen, das ist eine Maschine, die das erste Eisen aus dem Ofen nimmt und die 200-mm-Blöcke in 150-mm-Blöcke umwandelt, die dann in die Walzen zur Herstellung von Eisenträgern gelangen.

Ich war kein Bediener und habe nicht mit der Maschine gearbeitet, sondern war für den mechanischen Teil zuständig. An empfindlichen Maschinen gibt es immer einen versteckten Schalter, und der Arbeiter, der vor mir an dieser Maschine als Techniker gearbeitet hatte, hatte mir gezeigt, wo der Schalter war. Eines Tages, als ich sehr frustriert war, drückte ich diesen Schalter und die ganze Fabrik blieb stehen. Egal, wie sehr sie sich bemühten, die Maschine funktionierte nicht. Sie haben Maschinenbauingenieure, Elektroingenieure usw. geholt, aber niemand konnte etwas tun.. Jedenfalls stand ich da, rauchte meine Zigarette und sah zu, wie sie sich die Köpfe einschlugen. Es war Zeit, nach Hause zu gehen; ich wollte mich gerade umziehen, als der Ingenieur mich fragte, wohin ich gehen würde. Ich sagte ihm, dass ich nach Hause gehen würde. Er sagte: „Die Maschine funktioniert immer noch nicht“. Ich sagte: „Na und? Bin ich dafür verantwortlich?“ Er antwortete: „Ja!“ Ich sagte: „Ich bin vielleicht dafür verantwortlich, aber ich besitze die Maschine nicht. Soll doch der Besitzer kommen und es zum Laufen bringen!“

Kein anderer Arbeiter war bereit, die Maschine zu starten, obwohl viele von dem versteckten Schalter wussten. Ich wurde befördert und wurde zum Bediener genau dieser Maschine. Es vergingen ein paar Wochen. Eines Tages, als ich bei der Arbeit war und lernte, wie man die Walzen benutzt, sah ich, dass ich eine Sprechanlage an meinem Arbeitsplatz hatte, die in der ganzen Fabrik zu hören war. Etwas viel Besseres als soziale Medien, dachte ich mir, denn dreihundert Arbeiter würden mich gleichzeitig hören können. Am nächsten Tag warf ich das Bügeleisen in die Maschine. Der Ingenieur fragte mich über den Sender, warum ich nicht arbeite. Während alle Arbeiter meiner Antwort zuhörten, sagte ich ihm: „Meine Frau und meine Kinder haben nichts zu essen. Warum sollte ich arbeiten? Warum sollte ich hier schwitzen und mein Leben und meinen Geist aufreiben, wenn es nichts an dieser Arbeit gibt, was mich glücklich macht oder meiner Familie Glück bringt?“ Er fragte: „Drohst du mir?“ Ich antwortete: „Nein, ich streike!“. Er fragte: „Streiken Sie alleine?“ Plötzlich ertönte es in der ganzen Fabrik „Nein, er ist nicht allein, wir sind alle bei ihm“.

Wie hat das Regime reagiert und wie war die Reaktion der Fabrikbesitzer und Auftraggeber?

Sie gingen auf zweierlei Weise gegen uns vor. Innerhalb des Unternehmens wurden wir von den Managern entlassen oder mit Entlassung bedroht und außerhalb der Fabrik wurden wir von der Polizei und den staatlichen Nachrichten- und Sicherheitskräften verfolgt. Beide handelten koordiniert und folgten sehr klaren Regeln. Ich selbst wurde eine Zeit lang gefoltert und ich wurde mehr als vier oder fünf Mal verhaftet.

2015 war ich in einem Kerker und wurde dort einen Monat lang gefoltert. Im Jahr 2016 nutzten sie eine andere Form der Repression. Sie riefen die Menschen an, und wenn Sie nicht ans Telefon gingen, kamen sie zu Ihnen nach Hause und nahmen sie fest. Einmal haben sie mich angerufen und ich hatte nicht abgenommen. Dann riefen sie meine Frau an, nannten ihr die Adresse der Schule unserer Tochter und drohten implizit, dass unsere Tochter möglicherweise einen Unfall haben könnte. Wenn wir das nicht wollen würden, sollte ich beim nächsten Mal ans Telefon gehen sollte.

Ein anderes Mal wurde ich in der Fabrik verhaftet. Vor den Augen aller Arbeiter zogen sie mir einen schwarzen Sack über den Kopf und brachten mich weg. Es kamen zudem ständig Agenten des Geheimdienstministeriums und belästigten uns bei der Arbeit.

Was hat man dir bei deiner Verhaftung vorgeworfen?

Man warf uns vor, radikalen, arabischen und bzw. oder nationalistischen Bewegungen anzugehören, radikale religiöse Tendenzen zu haben usw. Sie haben mir ins Gesicht gesagt: Wir werden dich brandmarken und deinen Namen in der Gesellschaft zerstören. Oder sie sagten, dass sie uns einfach beschuldigen könnten, mit was immer sie wollen, und uns ins Gefängnis bringen könnten.

Sie sagten uns, dass wir nicht das Recht hätten, uns gewerkschaftlich zu organisieren, nicht einmal innerhalb der Fabrik, weil sie wussten, dass die Löhne nur ein Ausgangspunkt waren, um andere Punkte anzustoßen. Sie hatten immer große Angst vor unserer Organisierung und selbst wenn sie uns unter anderen Vorwänden verhafteten, fragten sie uns bei den Verhören immer nach den Aktionen der Organisation und der Rolle, die wir darin spielten.

Warum musstest du aus dem Iran fliehen?

Lass mich zunächst erklären, wie mein Leben im Untergrund begann. Sie haben viele Verhaftungen vorgenommen. Hin und wieder haben sie einen Arbeiter aus seiner Wohnung entführt, um an Informationen zu gelangen, die ihnen helfen sollten, die Bewegung zu zerschlagen. Als sie mich verhafteten, zwangen sie mich, vor einer Kamera zu sitzen und Dinge zu gestehen, die ich nicht getan hatte. Sie drohten mir mit einem Stromschlag und stellten mich vor eine Kamera. Ich musste Geständnisse ablegen. Dann setzten sie mich mit verbundenen Augen auf einen Stuhl und fesselten mich an Händen und Füßen. Sie sagten mir: „Da es dieses Video gibt, solltest du morgen zu der Demonstration gehen, eine Rede halten und den Arbeitern sagen, dass der Streik beendet ist und sie zurück in die Fabrik gehen sollen”. Ich habe ihnen gesagt, dass ich das, was sie von mir verlangen, tun werde, wenn sie mich gehen lassen. Gegen vier oder fünf Uhr am nächsten Morgen setzten sie mich in der Nähe meines Hauses ab.

Als ich nach Hause kam, waren alle meine Kameraden da. Wir haben die Demonstration besucht. Während der gesamten Demonstration waren Polizisten in Zivil unter uns. Als ich meine Rede halten wollte, waren die Genossen besorgt. Sie dachten, ich könnte Angst haben und etwas sagen, das alles ruiniert. Ich sagte: „Wir haben nichts zu verlieren, und wir haben unsere Brust schon vor langer Zeit zum Schutzschild für ihre Kugeln gemacht. Der Klang ihrer Schüsse bricht nur die Angst in unseren Herzen. Wir werden bis zum Ende Widerstand leisten!“ Als ich diese Worte sagte, wuchs die Begeisterung unter den Arbeitern. Von diesem Moment an ging ich nicht mehr in mein Haus zurück und war ständig unterwegs.

Ich konnte mich fünf Tage lang im Keller der Fabrik verstecken. Danach musste ich sieben Monate lang untertauchen. Während dieser Zeit wurden alle meine Bankkonten gesperrt. Sie gaben bekannt, dass ich aus der Fabrik entlassen worden war. Als ich untergetaucht war, kam die Polizei oft zu unserem Haus, und meine Kinder konnten nicht in Ruhe zur Schule gehen. Die Polizei folgte ihnen zur Schule und fragte die Lehrer, ob ihr Vater dort aufgetaucht sei. Meine Frau leidet an Multipler Sklerose, normalerweise erhält sie kostenlose Medikamente von der iranischen Lebensmittel- und Medizinorganisation und dem Roten Halbmond. Als sie mich nicht aufhalten konnten, verweigerten sie meiner Frau ihre Medikamente. Das Regime hat sogar den Roten Halbmond infiltriert, die Arbeit dieser internationalen Organisation wird von der iranischen Regierung kontrolliert und gegen Aktivisten wie mich eingesetzt. Vier Jahre sind bereits vergangen und wir müssen ihre Medikamente immer noch viermal so teuer auf dem Schwarzmarkt kaufen.

In welchem Verhältnis stehen eure Kämpfe zu anderen Kämpfen im Iran?

Im Jahr 2018 erreichten wir bei den Protesten einen Punkt, an dem sich die Klassensolidarität auf der Straße manifestierte. Anstatt ein Kommuniqué herauszugeben oder einen offenen Brief zur Unterstützung der verhafteten Arbeiter zu schreiben, waren wir auf der Straße, unterstützten sie, schrien und protestierten gegen die Verhaftungen. Diese Proteste dauerten 37 Tage und waren einer der längsten Straßenstreiks der damaligen Zeit. Als wir eines Tages erfuhren, dass die Lehrer verhaftet worden waren, änderten wir die Richtung des Marsches und gingen zum Bildungsministerium. Dort, vor dem Ministerium, riefen wir den Slogan der Gewerkschaft der Arbeiter und Lehrer. Auch als die Studenten an der Universität Teheran eine Aktion zu unserer Unterstützung abhielten und einige von ihnen verhaftet wurden, hörten wir nachts davon und am nächsten Morgen, als wir auf die Straße gingen, sangen wir das Lied „Mein Klassenkamerad“. Das war der Wendepunkt, der zeigte, dass unsere Gewerkschaft nicht nur auf dem Papier stand, sondern real war, auf der Straße.

Eines der Industriezentren, das eurer Fabrik am nächsten liegt, ist Haft-Tappeh Agro-Industrial. Ich habe gehört, dass ihr eine Zeit lang gemeinsame Aktionen durchgeführt haben. Kannst du dazu mehr erzählen?

Um die Bedeutung dieser Verbindung zu verstehen, muss man sich die Geschichte der Kämpfe in beiden Fabriken ansehen. Das Unternehmen Haft-Tappeh blickt auf eine lange Geschichte von Kämpfen und aus ihnen hervorgegangene Persönlichkeiten der Arbeiterbewegung zurück. Auch das Stahlwerk hatte seine eigene Geschichte des Kampfes. In den 1980er-Jahren gab es dort aktive Arbeiter, von denen viele von den Kräften der Islamischen Republik verhaftet, gefoltert und entlassen wurden. Wir waren zwei große protestierende Fabriken. Als wir unsere Proteste und Streiks durchführten, stellten wir fest, dass unsere Streiks und die Streiks von Haft-Tappeh jedes Mal innerhalb einer Woche zusammenfielen. Wir beobachteten die Streikankündigungen von Haft-Tappeh und versuchten, unsere Proteste mit dieser Bewegung in Einklang zu bringen. Haft-Tappeh hat dasselbe getan. Sie haben zugesehen, wenn wir zum Streik aufgerufen haben, und haben ihre Aktionen mit unseren abgestimmt.

Im Verlauf der Zeit verspürten wir das Bedürfnis, gemeinsam zu denken und nach und nach wuchsen wir. Als der Kampf voranschritt und die Zeit verging, basierte alles auf Entscheidungen, die wir gemeinsam trafen. Was auch immer geschah, wir haben uns gegenseitig konsultiert. Es war wichtig, dass alle wussten, welche Maßnahmen wir ergreifen würden, denn wir standen dem Kapitalismus und seiner Mafia gegenüber, die vom Staat unterstützt wurden. Der Staat ist der Eigentümer der Polizei, der Eigentümer der Diktatur.

Deshalb mussten wir gemeinsam handeln, denn unsere Macht beruht auf der Tatsache, dass wir eine große Masse sind, und in dieser Vereinigung finden wir unsere Klassenidentität. Deshalb müssen wir gemeinsam denken, um Vertrauen in uns selbst zu gewinnen, um unsere Macht zu erlangen. Wir konnten keine individuellen und irrationalen Handlungen riskieren.

Denkst du, dass eure Proteste eine Form der Organisation geschaffen haben, die es vorher nicht gab?

Die Verhaltensweisen, die wir heute in der iranischen Arbeiterklasse beobachten, haben ihre Wurzeln in den Erfahrungen der Stahlarbeiter. Eine geteilte Erfahrung der Arbeiter ist die der Demütigung, die Erfahrung der Unbedeutsamkeit ihrer eigenen Existenz. Es gibt Arbeiter, die denken, dass ihre Stimme nichts bewirkt. In der Struktur der Islamischen Republik wurde ihnen ihre Stimme immer gestohlen. Ob sie nun wählen oder nicht, ihre Stimme ist gestohlen. Sie haben also das Gefühl, dass ihre Stimme wertlos und unbedeutend ist.

Aus diesem Grund haben wir uns vorgenommen, kleine Ausschüsse zu bilden. Das heißt, wenn wir fünf Abteilungen in der Fabrik hatten, haben wir in jeder Abteilung zwei oder drei kleine Ausschüsse gebildet. An diesen Ausschüssen, die in die Struktur der Fabrik und ihrer Abteilungen eingebettet waren, waren viele Arbeiter beteiligt. Themen wie Gesundheit, Sicherheit usw. waren die Anliegen der Arbeiter selbst, und sie brachten sogar die Probleme zur Sprache, die einige Arbeiter außerhalb der Fabrik hatten, und versuchten, Lösungen dafür zu finden. In diesen kleinen Ausschüssen ist es uns gelungen, die Arbeiter zusammen zu bringen und der Zersplitterung ein Ende zu setzen.

Die Idee zur Gründung dieser Ausschüsse wurde nicht in einer Nacht erdacht. Sie wurde aus unserem täglichen Leben und unseren Problemen abgeleitet. In vielen Fällen wurden die Schlussfolgerungen, zu denen wir kamen, von der Geschichte der Kämpfe der Arbeiterklasse genährt. Es ist nicht so, dass wir neue Konzepte geschaffen haben, aber wir haben neue Formen und Strukturen hervorgebracht.

Nach der Bildung der Ausschüsse und im Verlauf unserer Proteste kamen wir zu dem Schluss, dass diese Ausschüsse zusammenkommen, sich beraten und Ideen austauschen sollten. So entstand die Notwendigkeit, eine Generalversammlung innerhalb der Fabrik zu gründen, um sich zusammenzusetzen und die Wochen, in denen wir protestiert hatten, zu analysieren und über die Zukunft und aktuelle Fragen zu diskutieren. Beispielsweise darüber, wie wir auf die staatlichen Sicherheitsmaßnahmen reagieren sollten.

Was waren eure Überlegungen gegen die staatliche Repression?

Ich erinnere mich, dass wir irgendwann während unserer Proteste zu dem Schluss kamen, dass bei jeder Demonstration eine andere Person sprechen sollte. Wenn wir bei allen Protesten dieselbe Person als Rednerin oder Redner mitnehmen würden, könnte die Polizei sie identifizieren, sie angreifen und verfolgen. Deshalb haben wir beschlossen, bei jedem Protest eine andere Person aus einem anderen Ausschuss sprechen zu lassen. Nun konnte der Staat nicht nur eine Person verhaften und um alle Sprecher zu verhaften, musste er ein Manöver mit höheren Medienkosten durchführen. Auf diese Weise würden wir in der Gesellschaft besser bekannt sein, denn wenn nur ein oder zwei Arbeiter verhaftet würden, hätte die Nachricht nicht so viel Reichweite, aber die Verhaftung von dreißig oder vierzig würde eine massive Reaktion in den Medien hervorrufen. Auf diese Weise haben wir auch den Individualismus innerhalb der Ausschüsse selbst vermieden; wir haben es vermieden, bekannte Persönlichkeiten zu schaffen, denn es bestand die Möglichkeit, dass dieselben Ausschüsse in der Zukunft die Richtung ändern und gegen die Arbeiter und die Generalversammlung arbeiten würden. Es bestand also ein Bedarf an Abwechslung, um Gleichheit und Gleichgewicht zu schaffen. Und das Wichtigste war, dass alle Arbeiter das Gefühl hatten, dass sie an den Entscheidungen und Maßnahmen beteiligt waren.

Wir hatten damit gerechnet, dass unsere Proteste lang sein würden, wir mussten Rotationen entwickeln, um Ermüdung und Burnout zu vermeiden. Wir spürten, dass die Proteste die Frage der Löhne hinter sich gelassen hatten und wir direkt gegen die Regierung und die von ihr protegierte Mafia kämpften. Wir wussten, dass es anstrengend werden würde und dass die Repressionen stärker werden würden.

Die Proteste haben uns zwar Verhaftungen eingebracht, aber auch den Vorteil, dass unsere Stimme in der Gesellschaft Gehör gefunden hat. Ich glaube, dass unsere Stimme heute nicht mehr auf Ahwaz oder den Iran beschränkt ist. Die Stimme unserer Bewegung ist jetzt international. Wir haben gesehen, wie Stahlarbeiter in Argentinien oder in Europa ihre Fahnen zu unserer Unterstützung erhoben haben. Das waren mit die schönsten Momente, die wir erlebt haben, Momente, die uns ein Lächeln ins Gesicht gezaubert haben, denn wir haben gesehen, dass unsere Stimme nicht nur die Straßen und Fabriken erreicht, in denen wir leben, sondern dass sie gewachsen und international geworden ist.

Sind diese genannten Formen der Organisierung heute noch gültig?

Aufgrund der großen Repression werden diese Organisationsformen heute halb klandestin praktiziert. Wir glauben, dass beispielsweise die jüngsten Streiks der Tagelöhner weitgehend von der Struktur unserer Organisation inspiriert wurden, die aus mehreren Ausschüssen und einer Generalversammlung besteht.

Bei den Protesten der einzelnen Arbeiter kann man nicht gerade von Komitees sprechen, aber verschiedene und verstreute Sektionen streiken und dann versuchen dieselben Sektionen Versammlungen in verschiedenen Städten zu bilden. Durch die Beziehungen, die wir mit den Genossen der Ölarbeiter haben, wissen wir, dass ihre Organisationsform auch von unserer inspiriert ist. Außerdem wurden sechs Monate nach der Gründung unserer Organisation, als es in Ahwaz eine Überschwemmung gab, Volkskomitees gebildet. Wir als Arbeiter unterstützten diese Komitees, indem wir Dämme bauten und die Menschen mit dem Nötigsten versorgten. Obwohl die Islamische Republik uns unterdrückt, wachsen unsere Ideen von Tag zu Tag und wir sehen unsere Art der Organisation in der Gesellschaft. Wir wollen aber bewusst nicht, dass diese Form der Organisation auf unseren Namen eingetragen wird. Wir haben es mit einem diktatorischen Staat zu tun, und wenn wir verkünden, dass diese Form der Organisation die unsere ist, können wir angegriffen werden und werden Verluste erleiden.

In Anbetracht der aktuellen Lage im Iran, wie siehst du die Zukunft unserer Gesellschaft und die Zukunft der Stahlwerker?

Wir haben Hoffnung. Wenn wir auf unser Handeln in den letzten zehn Jahren zurückblicken, stellen wir fest, dass wir anfangs zu zweit waren, dann fünf, zehn und schließlich Tausende von Menschen. Wir sehen, wie dieses allmähliche Wachstum, diese Bündelung der Kräfte, verlaufen ist. Ich erinnere mich, als wir vor fünf Jahren vor dem Bildungsministerium protestierten, kam ein Lehrer und hielt eine Rede.

Als wir protestierten, versuchten die Rentner, eine noch neue Bewegung, sich besser zu organisieren. Ich will nicht sagen, dass unsere Proteste die Achse aller sozialen Proteste im Iran sind, aber wir glauben, dass in diktatorischen Staaten die Traditionen des Straßenkampfes weitergegeben werden. Das heißt, als wir auf die Straße gingen, haben wir etwas von den Bewegungen der Lehrer und Rentner gelernt. Vielleicht ergänzen wir sie. Wenn wir die Rentnerbewegung im Rahmen des diktatorischen Systems im Iran betrachten, sehen wir ein sehr wichtiges Potenzial.

Die Lebensweise der Rentner verleiht ihrer Bewegung ein großes Potenzial; auch wenn dieses Potenzial nicht konstant ist und ihre Organisation jung ist, haben wir es mit Menschen zu tun, die mindestens dreißig Jahre in den Fabriken gearbeitet haben. Heute haben wir einen älteren Menschen vor uns, der radikal ist. Seine Redeweise und seine Literatur sind radikaler als die der Arbeiter, weil er nichts zu verlieren hat. Was wir heute brauchen, ist ein Dialog zwischen der Arbeiter- und der Rentnerbewegung. Nicht nur, um Verbindungen zu schaffen, sondern auch, um uns daran zu erinnern, dass beide Bewegungen nahe beieinander liegen und ein großes Potenzial haben.

Die letzten Worte gehören dir…

Ich möchte noch einmal betonen, dass wir heute in jeder Gesellschaft, wenn wir eine Organisation auf praktischer Ebene gründen wollen, die psychologischen Bedingungen der Gesellschaft und die systematische Demütigung, die die Menschen erleiden, nicht ignorieren dürfen. Und wenn wir sie berücksichtigen, sehen wir, dass es viel Hoffnung für diese Proteste und Organisationen gibt, zu wachsen. Die protestierende iranische Gesellschaft ist in zwei Gruppen geteilt. Ich denke, dass es derzeit eines der Hauptanliegen der rechten und der monarchistischen Strömungen ist (1), die Nachrichten, die die Arbeiter betreffen,zu kontrollieren und den politischen Diskurs der Arbeiter zu unterdrücken. Es kann gesagt werden, dass die Verschwörung der Medien sehr klar und offensichtlich ist. Sie versuchen immer, die Basis, die Arbeiterbewegung und die Demonstranten zu „zusätzlichen“ Akteuren zu machen und ihre Errungenschaften zuvereinnahmen. Daher ist es sehr wichtig, dass wir nicht nur unsere Stimme im Protest erheben, sondern auch unsere Ideen und unseren politischen Diskurs erklären und verbreitern. Die Arbeiterbewegung hat eine schwierige Aufgabe, aber es wird ein sehr guter Kampf sein.

# Titelbild: https://shahrokhzamani.com/2018/12/20/free-ahvazsteel/

Anmerkungen

(1) Zu den rechten Strömungen gehören sowohl die staatlichen rechten Strömungen als auch die bürgerliche Opposition im Ausland (z. B. die Monarchisten). In jeder Periode, in der Proteste auf die Straße gehen, versucht die Seite, die gerade nicht an der Regierungsmacht ist, die an der Macht befindliche Seite dafür verantwortlich zu machen und zu behaupten, dass die Proteste auf die Korruption oder die Unzulänglichkeiten der anderen Seite zurückzuführen sind. Auf diese Weise wird das gesamte System von der Klinge der Proteste verschont und die Proteste werden für die Interessen der verschiedenen Seiten genutzt. Ebenso versuchen die kapitalistischen Banden, die im Ausland gegen das Regime der Islamischen Republik opponieren und sich um den Sohn des letzten iranischen Königs geschart haben, von diesen Bewegungen zu profitieren, um das Regime zu verurteilen, als ob es während der Herrschaft des Monarchen Pahlavi keine Ausbeutung und Unterdrückung gegeben hätte.

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Thailand als Land der Semiperipherie befindet sich irgendwo in der Schwebe zwischen Zentrum und Peripherie. Wir haben einen Text der thailändischen Genoss:innen von dindeng übersetzt, der sich die Frage stellt, wie Staat, Macht und Gewalt sich in ihrem Kontext auf ihre Kämpfe auswirken.

Autor: Yung Kay

Wir sind hier an der Schnittstelle zwischen Zentrum und Peripherie, und wenn es irgendwo möglich sein sollte, diese in Einklang zu bringen, dann sicherlich hier. Nicht nur Thailand, sondern auch andere Regionen, die in der gleichen globalen ökonomischen Gruppe des mittleren Einkommens gefangen sind. Kann es eine Interaktion zwischen der Peripherie und dem Zentrum geben?

Im Moment befinden wir uns in Nordthailand. Hier sind wir zwischen der Peripherie und dem Zentrum gefangen. Wir haben Geflüchtete von jenseits der Grenze gesehen, die von den Eiswägen aus in die tadellos sauberen  Co-Working Spaces liefern und mühelos an den professionellen E-Mail-Schreibern in ihren klimatisierten Räumen vorbeigleiten.

Thailand selbst ist zwischen der Peripherie und dem Zentrum gefangen. Noch heute ist es ein „wichtiger Nicht-Nato-Verbündeter“, der gegenüber unseren Genossen in Peking endlos Lippenbekenntnisse abgibt. In Wirklichkeit sind unsere Glanzzeiten als kolonialer Vorposten des Kalten Krieges längst vorbei. Thailand bröckelt langsam vor sich hin und ist ein Relikt der alten bipolaren Welt, erdrückt von autoimperialistischer Aufblähung und gefangen in längst überholten, vom Ausland aufgezwungenen Dogmen.

Wie kann man das unter einen Hut bringen?

Lokal

Um mit einer Versöhnung zu beginnen, müssen wir zunächst versuchen zu bestimmen, was die Peripherie und was das Zentrum ist. Eine einfache Möglichkeit, dies zu tun, ist ein Blick auf die Verteilung des BIP im gesamten Königreich zu werfen. Bangkok verzehrt alles. Ein schwarzes Loch, das Wohlstand und Arbeit aus dem ganzen Land ansaugt. Fast 50 Prozent des Reichtums des Landes liegen in Bangkok, während nur 22 Prozent der Bevölkerung dort leben, von denen ein Großteil inländische oder ausländische Wanderarbeiter*innen sind. Von diesem Reichtum befindet sich natürlich der größte Teil in den Händen der Bourgeoisie. 

Seit seiner Gründung in der Mitte des 18. Jahrhunderts hat Bangkok seine Außenposten im ganzen Königreich ausgebaut. Chiang Mai im Norden, Khon Kaen und Korat im Isaan, Had Yai und Nakorn Si Thammarat im Süden. Diese Außenposten dienen dem Zweck, die Peripherie ins Zentrum zu integrieren. Die Thaifizierungspolitik der explizit faschistischen Regierung in den 1930er Jahren war nicht nur ein kultureller Imperialismus, sondern auch ein wirtschaftliches Programm, mit dem sie die Peripherie und den Kern miteinander versöhnen wollte, indem sie die Peripherie in den ökonomischen Einflussbereich des Kerns aufnahm.

Der Norden ist pro Kopf die ärmste Region, was vor allem auf die Armut in Mae Hong Son zurückzuführen ist – zweifellos die Provinz, welche geografisch, wirtschaftlich, kulturell und in Bezug auf die Reichweite der Regierung am weitesten vom Kern entfernt ist – die Einheimischen sagen oft, dass Mae Hong Son nicht Thailand ist. Mae Hong Son ist der Ort, aus dem viele der oben erwähnten subalternen Arbeiter stammen oder durch den sie kommen. Sie sind alle auf die eine oder andere Weise Flüchtlinge, sowohl diejenigen, die im Inland geboren sind, als auch diejenigen, die von jenseits der Grenze kommen, denn die Grenze bedeutet sehr wenig, wenn sie so weit draußen in der Peripherie liegt. 

International

Bangkok ist zwar das imperiale Zentrum Thailands, wird aber selbst immer mehr Teil der globalen Peripherie des Kapitals. Einst war es das Bollwerk des amerikanischen Imperiums im Kampf gegen den Kommunismus in Südostasien – Milliarden von Dollar wurden in die Hauptstadt gepumpt, um sie vor den Bauern zu schützen, die sie erobern und ihren Reichtum umverteilen wollten.

Zu diesem Zeitpunkt wurde der „tiefe Staat“ im eigenen Land geschmiedet. Der republikanische Faschismus, der Thailand von den dreißiger Jahren bis in die frühe Nachkriegszeit hinein beherrschte, wurde von einer mehr auf die Dritte Welt ausgerichteten, bündnisfreien Stimmung bedroht. Die republikanischen Elemente des früheren offen faschistischen Regimes wurden verworfen, auch wenn viele ihrer Ideale erhalten blieben und der Republikanismus wurde durch ein Programm zur Aufwertung der Monarchie ersetzt, um sie zur wohlwollenden Fassade der Nation zu machen. Man machte sich ihre religiösen und feudalen Patronagenetze zunutze und kombinierte sie mit dem nationalistischen militaristischen Faschismus der vorangegangenen Generation von Führern. Das Militär, die Monarchie und das Kapital verbündeten sich gegen die Arbeiter und den Kommunismus, ein Bündnis, das vom globalen Kapital über die Fänge des US-Imperiums heftig unterstützt und ermöglicht wurde.

Das Königreich wurde zu einer wichtigen Operationsbasis, von der aus Aggressionen gegen Nachbarstaaten gestartet wurden. Obwohl das Kapital in Vietnam, Laos und Kambodscha kleinere Rückschläge hinnehmen musste, war diese Aggression letztlich erfolgreich. In den 90er Jahren, als die Bedrohung durch die Arbeiter nachließ, wurde Bangkok weitgehend sich selbst überlassen, die Schmiergelder waren gestrichen worden und die imperiale Aufblähung begann. Heute ist der Verfall in ganz Bangkok offensichtlich: eine absurd überfüllte Stadt, deren Boulevards mit leeren Ladenfronten buchstäblich versinken, während sich das Meer langsam das Land zurückholt, auf dem immer noch glitzernde neue Einkaufszentren und Eigentumswohnungen errichtet werden.

Für das obere Ende der Bourgeoisie musste sich jedoch nichts ändern. In dem Unterbietungswettlauf des Kapitals, immer auf der Suche nach neuen Möglichkeiten für die Gewinnung von so viel Überschuss wie möglich, stagniert Thailand jedoch. Die brutale Gewinnausbeutung kann in nahe gelegenen Ländern wie Bangladesch und Birma billiger durchgeführt werden. Heute gleiten makellose Teslas mühelos über die rissigen Straßen und an den verfallenden Slums vorbei – ihre Fahrer sind sich der Fäulnis, die sie umgibt, überhaupt nicht bewusst und wissen nicht, dass sie nur noch mit Abgasen fahren, dass das Kapital sie im Stich lässt, obwohl der Gestank bleibt.

Diejenige, die die Fäulnis aus erster Hand kennen, ist natürlich die Arbeiterklasse. Die jüngsten Zahlen zeigen, dass die Verschuldung der thailändischen Haushalte inzwischen 90 % des BIP übersteigt und damit an elfter Stelle in der Welt steht, wobei der Großteil dieser Schulden auf Haushalte mit niedrigem Einkommen entfällt.

Die Wirtschaft braucht dringend massive Investitionen und eine Generalüberholung, aber die Säulen, die die Nation stützen, sind am Wanken. Das Militär, die Monarchie, die Bürokratie und das Parlament sind allesamt völlig unfähig, etwas anderes zu tun als den Status quo aufrechtzuerhalten. Diese Institutionen sind durch ihre aufgeblähten Klientelnetzwerke verankert und gebunden und werden durch den tiefen Staat eingeengt, der seinerseits durch das Dogma der thailändischen Vergangenheit aus der Mitte des 20. Jahrhunderts gebunden ist. Heute aber ist er kein wichtiger Außenposten des globalen Imperiums mehr, sondern nur noch ein Relikt.

Der einzige sinnvolle Reformversuch kam in Gestalt von Thaksin Shinawatra. Im Guten wie im Schlechten war Thaksin eine revolutionäre Kraft in der thailändischen Wirtschaft, politisch wollte er die Nation ins 21. Jahrhundert bringen. Obwohl seine Politik immer noch fest im Dienste der Bourgeoisie stand, wurde er als zu große Bedrohung für die bereits erwähnten aufgeblähten dogmatischen Institutionen des Staates und des Kapitals angesehen. Sie setzten ihn gewaltsam ab und arbeiteten unermüdlich daran, jegliche Überreste von Reformen zu vernichten, und bewiesen damit ihre Unfähigkeit, sich dem Tempo des globalen Kapitals anzupassen.

Wir sind nicht allein

Diese Gefahr ist weltweit keine Seltenheit. Haltet Ausschau nach Ländern mit einer großen Bevölkerung, die hauptsächlich vom Land kommt und die im letzten halben Jahrhundert eine massive Verstädterung erfahren und eine Produktionsbasis entwickelt haben. Achtet auf die verräterischen Anzeichen von sich ausbreitenden Städten, die sowohl eine wehrhafte einheimische Elite als auch eine massive Slumbevölkerung beherbergen. Beachtet die geografische Peripherie, d. h. die Teile des Landes, die vom Zentralstaat praktisch nicht regiert werden. Schaut auch die politische Gewalt an, auf der diese zeitgenössischen Versionen des Staates aufgebaut wurden, wobei US-Geheimdienstmitarbeiter im Hintergrund lauerten. Brasilien, Indonesien, Südafrika, Mexiko, usw.

Diese Länder dienen als eine Art Vermittler zwischen dem Kern und der Peripherie. Niedrige Unterleutnants des globalen Kapitals. Nur wenige erklimmen die Leiter in die oberen Ränge, wobei Südkorea eine der wenigen großen Nationen ist, die in die Bruderschaft des Zentrums eingetreten ist. Thailands Führer blicken neidisch dort hin und fragen: „Warum können wir das nicht haben?“

Die Antwort ist, dass Südkorea im Auftrag des Kapitals, genauer gesagt seiner Vollstrecker, des US-Imperiums, gezwungen wurde, jegliche Souveränität aufzugeben. Südkorea, ein Staat mit einer so absurden Geschichte, voller grotesker Gewalt und brutaler Unterwerfung, wurde weitgehend mit Gewalt und als Ergebnis eines außergewöhnlichen Ereignisses in der Geschichte des 20. Jahrhunderts zum perfekten kapitalistischen Staat geformt. Ein paar andere Fälle in Ostasien, nämlich Taiwan und Singapur, basieren mehr auf Zufällen der Geschichte als auf geschickter innenpolitischer Führung oder klugem Wirtschaftsmanagement. Eine Gemeinsamkeit besteht jedoch darin, dass die Souveränität im eigenen Land fast völlig fehlt und in Wirklichkeit in den Händen des Westens und des globalen Kapitals liegt.

Die thailändischen Eliten waren nicht bereit, dieses Maß an Souveränität aufzugeben, wie wir 1973 gesehen haben, oder vielleicht wurde ihnen auch nie die Gelegenheit dazu gegeben. Wie auch immer, es scheint, dass sie am Ende an ihr eigenes Märchen von einem „besonderen“, tapferen kleinen Staat glaubten, der in der Lage war, sich gegen Kolonialreiche zu behaupten. In Wirklichkeit hat Thailand lediglich Platz gemacht für das britische Empire und dessen Nachfolger, das Kapital des 20. Jahrhunderts, unterstützt von seinem Vollstrecker, dem US-Imperium. Als Thailand nach dem Kalten Krieg nicht mehr von Nutzen war, verlor das Imperium das Interesse. Zum Glück für die koreanische und taiwanesische Bourgeoisie sorgten unsere Genossen weiter nördlich dafür, dass sie in den Augen des Imperiums relevant blieben, und so wurden sie in den Kern, die Bruderschaft der „fortgeschrittenen Volkswirtschaften“, aufgenommen.

„Warum können wir das nicht haben?“ – schreit der thailändische tiefe Staat dem Kapital zu.

„Weil ihr zu irrelevant seid“, antwortet das Kapital beiläufig und stößt auf taube Ohren.

Gewalt

Um die Politik in diesen Ländern mit mittlerem Einkommen im Vergleich zur wahren Peripherie und zum wahren Zentrum zu definieren, müssen wir die Gewalt verstehen. In den Ländern des Zentrums ist explizite politische Gewalt selten. Natürlich gibt es diese Art von permanenter unterschwelliger Gewalt und Unterwerfung, die man in fortgeschrittenen Volkswirtschaften findet, aber sie bricht selten in massenhafter politischer Brutalität aus. Die wahre Peripherie ist jedoch von Gewalt geprägt. Gleich jenseits unserer westlichen Grenze ist Gewalt im Alltag allgegenwärtig, sie ist der wichtigste Faktor bei fast allen Entscheidungen der Arbeiterklasse. In unserem Erleben gibt es jedoch ein unbehagliches Verständnis von Gewalt, ein Verständnis, das sie erlebt hat und nur äußerst ungern noch einmal erleben möchte.

Die thailändische Politik ist gespickt, aber nicht übersät mit politischen Massakern, einige sichtbar, andere nicht. Phumi Bhoon, Thammasat, Black May, Tak Bai, Krue Se und Ratchaprasong sind in den Köpfen des Proletariats fest verankert. Dies sind Fälle, in denen der Staat gezeigt hat, dass er bereit und in der Lage ist, öffentlich Massengewalt anzuwenden. Viele in der Arbeiterklasse erinnern sich auch an die Gewalt des Krieges gegen die Drogen Mitte der 2000er Jahre, an die Verhaftungen, die spontanen brutalen Verhöre und die massenhaften, fast unsichtbaren außergerichtlichen Morde – die so weit verbreitet und doch irgendwie so unauffällig waren. Im vorigen Jahrhundert sahen sich diejenigen, die den Revolutionären des Aufstands Unterschlupf gewähren wollten, mit Morden und staatlicher Brutalität konfrontiert, die öffentlich bis heute völlig ignoriert werden, an die sich aber diejenigen, die sie erlebt haben, noch erinnern.

Wenn man bereit ist, die Macht des Staates herauszufordern, ist Gewalt auf individueller Ebene nicht so sehr eine Bedrohung, sondern eine Unvermeidlichkeit. Wie viele Aktivist*innen wurden allein in den letzten zehn Jahren geschlagen, gefoltert oder in überfüllte sadistische Gefängnisse geworfen? Ihre Geschichten und Erfahrungen, ihr Blut, sind eine abschreckende Botschaft für alle anderen, die mutig genug sind, es ihnen gleichzutun. Sie sind die Überlebenden, viele andere wurden einfach ermordet, entsorgt, manchmal am Telefon mit ihren Angehörigen, ihre Leichen wurden in den Mekong geworfen.

Natürlich ist die Gewalt in Thailands innerer Peripherie eine weitaus allgegenwärtigere Facette des täglichen Lebens. Diejenigen, welche auf „Land leben, das ihnen nicht gehört“, sind der ständigen Gefahr einer gewaltsamen Vertreibung ausgesetzt. Für Migrant*innen, die in das Zentrum reisen um ihre Arbeitskraft zu verkaufen, ist das Leben von Gewalt am Arbeitsplatz und in den städtischen Slums geprägt. Insbesondere Frauen sind in der Sexindustrie, einem historischen Hort frauenfeindlicher Barbarei, der übrigens im Dienste der aus den USA importierten Kolonialtruppen des letzten Jahrhunderts errichtet wurde, entsetzlicher Gewalt ausgesetzt – heute führen die Söhne und Enkel dieser Truppen das Erbe ihrer Vorfahren fort.

Diese Art von Gewalt, sowohl die gegenwärtige als auch die historische, sowohl die sichtbare als auch die unsichtbare, stellt eine ständige Bedrohung für diejenigen dar, die ihre gegenwärtigen Bedingungen ändern wollen. Im August, in den ersten Tagen der Protestbewegung 2020 Bangkok und fast 50 Jahre nach dem Massaker an der Thammasat-Universität, kämpften Student*innen auf der Straße gegen die Polizei. Für viele von ihnen war es die erste Erfahrung mit staatlicher Gewalt. Als sie in der Chulalongkorn-Universität Zuflucht vor dem Tränengas suchten, hallte im ängstlichen Flüstern die Erinnerung an die Thammasat-Universität wider: „Könnten sie es wieder tun? Ich glaube, sie könnten es wieder tun?“ Die Angst ist weit verbreitet und berechtigt – eine Angst, die im globalen Zentrum unbekannt ist, aber nur allzu bekannt in der wahren Peripherie.

In unserer Lebenswelt hat der Staat unter Beweis gestellt, dass er die Fähigkeit zu expliziter Massengewalt hat, diese jedoch im Kontext eines allgemeinen Friedens existiert. Diejenigen, die den Status quo in Frage stellen wollen, geraten in eine schwierige existenzielle Lage.

Wie lässt sich das unter einen Hut bringen?

Eine Chance

Vielleicht sind wir nicht zwischen einem Tiger und einem Alligator gefangen, sondern befinden uns vielmehr in der besten der beiden Welten.

Der Kapitalismus, wie wir ihn kennen, geht allmählich in den Todeskampf über. Vor allem aber wird das US-Imperium immer weniger in der Lage sein, die Rolle des Vollstreckers zu spielen. Aber was passiert mit der halben Peripherie, wenn der Kern zusammenbricht? Wenn die Westgoten Rom plündern? …eine Gelegenheit bietet sich. 

Wir kennen die brutale Unterdrückung gut genug um zu ahnen, womit wir es zu tun haben. Der Reichtum der Bourgeoisie präsentiert sich im gleichen Rahmen wie die Notlage der Arbeiterklasse, und zwar auf eine Weise, wie sie es weder im Zentrum, noch in der wahren Peripherie wagen würde. Die bröckelnde Wirtschaft ist eine Bedrohung für das Proletariat, aber auch für die Bourgeoisie – eine Bourgeoisie, die immer selbstgefälliger, langsamer und aufgeblähter wird, steht einem Proletariat gegenüber, das ungeduldig, unzufrieden und immer mutiger wird.

Die Arbeiteraristokratie des Kerns ist nicht in der Lage, das Kapital wirklich herauszufordern ohne ihre materiellen Annehmlichkeiten zu verlieren. Hier, im Norden, im Isaan, haben wir Bangkok im Visier. Wir haben das Potenzial, den Reichtum des Zentrums in die Hände der Peripherie zu bringen, ein Potenzial, das für einen Großteil des übrigen Planeten unerreichbar ist.

Gleichzeitig bedeutet diese mittlere Malaise aber auch, dass wir vorerst wenig Handlungsspielraum haben. Wir sind darauf angewiesen, dass der Zusammenbruch des globalen Zentrums uns die Gelegenheit bietet, mit dem Kapital, mit unserem heimischen Zentrum, in Konflikt zu geraten. Hier warten wir ab und bereiten uns still vor. Wenn es irgendwo passieren kann, dann sicherlich hier.

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Von Bahram Ghadimi und Shekoufeh Mohammadi

Unter dem Schutz von Schreien, welche die Nacht durchdringen, nimmt eine Frau ihr Kopftuch ab und wirft es tanzend in das auf der Straße lodernde Feuer, damit aus dem Herzen von mehr als vier Jahrzehnten Unterdrückung und Repression ein Weg zu Licht, Freiheit und Gerechtigkeit eröffnet werden kann. Es gibt viele solcher Brände und unzählige dieser Frauen, welche die Flammen mit dem Schleier nähren, der ihnen vom Regime der Islamischen Republik Iran als Kleiderordnung auferlegt wurde, um sie zu unterdrücken. Unerschrocken weben sie mit ihren Haaren ein Seil aus Bewusstsein und Widerstand, um den Gefängniszaun zu umgehen, der uns seit Jahren mit Mauern der Armut, Dächern der Erniedrigung und Fenstern aus Lügen gefangen hält.

Der Funke dieses Feuers wurde entzündet, als das Lächeln im Gesicht einer kurdischen Frau namens Mahsa (Gina) Amini ausgelöscht wurde. Eine 22-jährige Frau, die mit ihrem Bruder nach Teheran gereist war, um Verwandte zu besuchen, wurde von der Sittenpolizei der Islamischen Republik unter dem Vorwand verhaftet, sie halte sich nicht an die Kleiderordnung. In Gewahrsam schlug ihr ein Polizist auf den Kopf, so dass sie das Bewusstsein verlor. Mahsa wurde ins Krankenhaus eingeliefert und starb einige Stunden später. Schon in den ersten Stunden des Wartens und der Protestaktionen vor dem Kasra-Krankenhaus in Teheran war die Familie von Mahsa Amini nicht allein; die Mütter aller anderen Wegbereiter auf dem Weg in die Freiheit haben sie begleitet, damit dieser Kampf ein weiterer Stern am Himmel dieser dunklen Nacht wird, in der seit Jahren der Traum von einem hellen Horizont geträumt wird: mit dem Aufstand der Hungrigen im Winter 2018, mit den Protesten im Herbst 2019, mit dem Aufstand der Durstigen (Proteste gegen Wasserknappheit) im Sommer 2021 und mit Hunderten von Protesten und Streiks von Arbeitern, Lehrern, Rentnern, Studenten und Gewerkschaftern im ganzen Iran. So wird der Schrei „Tod dem Diktator“ und die Parole „Brot, Arbeit, Freiheit“ zu einer gemeinsamen Stimme, der die Ohren der Unterdrücker nicht mehr entkommen können.

Und wir können unsere Mobiltelefone keinen Moment aus den Augen lassen: Telegram ist der Kanal, der uns mit einer Heimat verbindet, die wir vor Jahren zurücklassen mussten und in die wir immer noch zurückkehren wollen. Jeden Augenblick erhalten wir von unseren Freunden im Iran Nachrichten über die Geschehnisse in verschiedenen Städten und Ortschaften, ein Foto, ein Video, eine Meldung:

Eine Person wird in Teheran verhaftet. Wir haben diesen Satz noch nicht zu Ende gelesen, als die Nachricht der Verhaftung von Aktivisten in der Provinz Aserbaidschan eintrifft… dann wird Minu Majidi in Kermanshah durch einen direkten Schuß der Polizei getötet… die Studentenwohnheime der Universität von Shiraz werden angegriffen… in Ashnaviyeh greift die Polizei die Menge an und tötet zwei Menschen…in Izeh wird der Belagerungszustand ausgerufen… überall im Iran schlagen Flammen aus den Barrikaden und die Menschen sind auf den Straßen… in Quchan wird das Gebäude der Staatsanwaltschaft in Brand gesteckt… in Anzali hat das Volk die Stadt erobert… in Esfarayen reißen sie die riesigen Transparente mit Bildern von Khamenei und anderen Persönlichkeiten des Regimes herunter… in Ahvaz, wo sich die Menschen seit Jahrzehnten gegen die rassistische staatliche Repression wehren und der Kampf der Arbeiter immer noch stark ist, verwandelt die Solidarität mit den Protestierenden in anderen Städten, insbesondere in Kurdistan, die Straßen in ein Schlachtfeld… Die Stadt Qom, eines der religiösen Symbole des Regimes, ist zu einem Kriegsgebiet geworden, und in der konservativen Stadt Mashhad, einem der wichtigsten Stützpunkte des Staates, wird ein Polizeipräsidium angegriffen und mit allen darin befindlichen Patrouillen in Brand gesetzt… In Teheran wird von einem Polizeipräsidium aus auf Demonstranten geschossen, einige Stunden später steht das Gebäude in Flammen.

Die Parole „Frau, Leben, Freiheit“, welche der Ruf der ersten spontanen Proteste war, umfasst immer noch die wichtigsten Forderungen des iranischen Volkes. Dieser Slogan, einer der wichtigsten Slogans der Frauen von Rojava gegen den männlichen Chauvinismus, hat aus symbolischen Gründen ein starkes Echo im Iran gefunden: In der kurdischen Sprache hat Gina eine gemeinsame etymologische Wurzel mit dem Wort Jian, das Leben bedeutet. Gleichzeitig ist es eine Parole gegen den staatlichen Machismus, der seit mehr als vierzig Jahren im Namen des Islam die verschiedenen Mechanismen des Kapitalismus im Iran anführt: Privatisierung, die Schaffung von Freihandelszonen und Industriekorridoren, unkontrollierte Ausbeutung und die Zerstörung des Lebens von Arbeitern und verarmten Menschen. Gleichzeitig ist die Ermordung von Gina ein weiteres Beispiel für die von der Islamischen Republik unterstützten Feminizide; und schließlich ist seit dreiundvierzig Jahren die Freiheit, sowohl politisch als auch gesellschaftlich, eine der zentralen Forderungen im Iran.

Und wir warten immer noch auf Nachrichten, die aufgrund der landesweiten Blockade des Internetzuganges durch den iranischen Staat nur tröpfchenweise kommen. Währenddessen steigt die Zahl der verletzten und getöteten Demonstranten weiter an.

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