In der Nacht auf den 21. Juni 2020, auf dem Höhepunkt der Covid-19 Kontaktbeschränkungen und Versammlungsverbote, stellten sich in Stuttgart nach einer Drogenkontrolle eines 17-Jährigen hunderte junge Menschen der Polizei entgegen und reklamierten öffentliche Plätze für sich. Die Polizei beantwortete dies mit harscher Gewalt. Die Jugendlichen wehrten sich, beschädigten Streifenwagen und zogen später durch die Innenstadt, wo sie Geschäfte plünderten. Der 22-jährige Yan wurde in erster Instanz zu drei Jahren und neun Monaten Haft verurteilt, gegen das Urteil wurde Berufung eingelegt. Am 2. Februar beginnt nun seine Berufungsverhandlung. Wir haben anlässlich seiner Verhandlung und der verstärkten Repression in Stuttgart mit ihm und Petra, die im „Solidaritätskreis Krawallnacht“ aktiv ist, gesprochen.
Vor welchem Hintergrund und wieso kam es im Juni 2020 zu Widerstand gegen die Polizei und Plünderungen in Stuttgart?
Yan: Es gibt eine vordergründige Sichtweise, die wenig erklärt, aber von den meisten Medien so oder ähnlich aufgegriffen wurde: Weil alle Clubs geschlossen waren, hätten sich gelangweilte Jugendliche im Schlosspark getroffen, Alkohol getrunken und eine Drogenkontrolle sei dann irgendwie aus dem Ruder gelaufen. So wurde eine ominöse „Partyszene“ konstruiert, die die Krawalle quasi aus Spaß an der Zerstörung gestartet hätte. Vermischt wurde das sehr schnell mit rassistischen Zuschreibungen. Schnell veröffentlichte man den Migrationshintergrund der vermeintlichen Täter:innen, die Stuttgarter Polizei stellte Stammbaumforschungen an, um zu überprüfen, wie „deutsch“ die Festgenommenen wirklich waren. Tatsächlich gibt es strukturelle Mechanismen, die viel bedeutender waren: Die Stuttgarter Innenstadt ist ein von der Polizei stark kontrollierter Raum. An jeder Ecke stehen Streifen- oder Mannschaftswägen, die z.B. Obdachlose vertreiben. Als sich während dem ersten Höhepunkt der Pandemie dann an den Wochenenden hunderte oder tausende proletarische Jugendliche in der Stadt versammelten, reagierte die Polizei mit noch mehr Kontrollen und Schikanen als sonst. Andererseits hatten viele der Jugendlichen schon entsprechende Erfahrungen mit den Bullen gemacht: Weil sie aus dem falschen Viertel kommen oder schlicht die falsche Hautfarbe haben.
Petra: Stuttgart war auch nicht die einzige Stadt, in der es zu größeren Konflikten zwischen Jugendlichen und der Polizei kam. In Frankfurt, Mannheim und Augsburg kam es auch zu größeren Krawallen und auch in etlichen anderen Städten und Ländern wie etwa in der Schweiz kam es zu Auseinandersetzungen.
An den Protesten waren vor allem migrantische Menschen beteiligt. Welche Rolle spielen Schikane und struktureller Rassismus? Welche Rolle spielt die Klassenzugehörigkeit?
Petra: Struktureller Rassismus ist sicher für sehr viele, die an diesem Abend in der Stadt waren, ein gemeinsamer Erfahrungshintergrund. Es gab in der „Krawallnacht“ aber auch Beispiele von unmittelbarem Rassismus: Im Nachhinein ist der Funkspruch eines Polizeihauptmeisters bekannt geworden, in dem er von „Krieg“ sprach und dass „nur Kanacken“ die Gegner wären. Während der Ermittlungen wurde nicht nur die Nationalität der Beschuldigten festgehalten, sondern auch die „Migrationsgeschichte“ der Familien untersucht. Alles, um die rassistische Erzählung, von „gewalttätigen, schlecht integrierten Migrant:innen“ zu legitimieren.
Yan: Und natürlich spielt die Klassenzugehörigkeit eine große Rolle. Wer ein schönes Haus am Killesberg hat, kann auch während einer Pandemie im Hobbykeller oder im Garten entspannen wenn alle anderen sozialen Treffpunkte geschlossen sind. Für viele, die sonst in Jugendhäusern, Clubs oder Bars ihren Freiraum und ihren sozialen Zusammenhalt gefunden haben, war der öffentliche Raum der letzte Rückzugsort. Ein Rückzugsort, der ihnen von der Polizei immer mehr genommen wurde.
Das Reklamieren öffentlichen Raums und Plünderungen hat es auch im Zuge der Proteste gegen G20 2017 in Hamburg gegeben. Warum ist es 2020 in Stuttgart zu dieser in Deutschland eher unüblichen Protestform gekommen?
Yan: Das war keine gezielt gewählte Protestform. Die Polizei hatte wohl schlicht und einfach keine Kontrolle über große Teile der Stuttgarter Innenstadt.
Petra: Das ist kein Ausdruck von entwickeltem Klassenbewusstsein gewesen. Vielmehr hat sich den Versammelten die Chance geboten, sich in einer Situation, in der die Polizei sich ausnahmsweise mal vor ihnen zurückziehen muss, zu nehmen, was sie sonst nicht haben können. Wir denken aber, dass Plünderungen der Entstehung von Klassenbewusstsein auch nicht entgegenstehen müssen. Und Plünderungen waren auch nicht das dominierende Moment, viel mehr hat der Straßenkampf mit den Bullen diese Nacht geprägt.
Wie hat sich nach den Ereignissen und der politischen und medialen Hetze gegen die Beteiligten die Polizeipräsenz und Repression in Stuttgart verändert?
Yan: Es gab sehr breite Reaktionen seitens der Stadt und der Bullen. Direkt im Anschluss an die Krawallnacht wurde die Polizeipräsenz in der Innenstadt massiv ausgebaut und auch über die nächsten Wochen hinweg aufrechterhalten. Und das nicht nur abends und nachts, sondern auch tagsüber. In den Wochen nach der Krawallnacht war es kaum möglich, nachts durch die Stadt zu gehen, ohne nicht mindestens einmal von der Polizei angehalten zu werden. Zeitgleich wurden die Auseinandersetzungen dazu genutzt, Kameraüberwachung in der Innenstadt einzuführen, die es zuvor nicht gab. Es wurden verschiedene Sammelpunkte wie die Freitreppe auf dem Schlossplatz oder der Marienplatz und der Feuersee ganz oder ab bestimmten Uhrzeiten gesperrt. Die Repression gegen angebliche Beteiligte der Krawallnacht war heftig. Es gab kaum Urteile, die zumindest in der ersten Instanz nicht zu Haft oder mindestens Bewährung geführt haben, auch bei harmloseren Delikten wie Sachbeschädigung. Eine zweite Schiene, die von der Lokalpolitik gefahren wurde, war die der Beruhigung. So wurden neue Stellen für Sozialarbeiter:innen geschaffen und beispielsweise eine Musikbox zur allgemeinen Benutzung auf dem Schlossplatz aufgestellt. Dieser Ansatz, der vor allem von Linken Gemeinderät:innen durchgesetzt wurde, ist gerechtfertigt und stellt sich auf die Seite der Jugendlichen, gleichzeitig entpolitisiert er aber den Konflikt. Statt von legitimem Widerstand gegen rassistische Bullen und soziale Verdrängung wird dann von schlechter Kommunikation zwischen Polizei und Jugendlichen geredet.
Petra: Bemerkenswert ist, dass es trotz aller Befriedungs- und Droh-Maßnahmen in den Wochen nach der Krawallnacht an manchen Stellen erneut geknallt hat. Letzten Endes war es die massive Bullenpräsenz, die verhindert hat, dass eine zweite Krawallnacht entstanden ist.
Die Justiz begründet Dein harsches Urteil von drei Jahren und neun Monaten unter anderem damit, dass der Angeklagte im vollen (politischen) Bewusstsein gehandelt habe. Was soll mit diesem und folgenden Urteilen erreicht werden?
Yan: Die Urteile folgen gezielt der Konstruktion der Bullen, nach dem „Linke“ den Krawall „ab einem gewissen Zeitpunkt“ strukturiert und gelenkt hätten. So wird in den Prozessakten immer wieder auf organisierte Kerne hingewiesen. Wirkliche Belege dafür gibt es nicht. Dass einige Beteiligte Sturmhauben getragen haben, wird so interpretiert, dass sie vorbereitet, also organisiert, also Linke gewesen seien. Ein paar Staatsschutz-Beamte haben einen Kreis von knapp 20 Linken benannt, die häufiger auf Demos gehen und angeblich oft beieinanderstehen würden. Dann haben sie diese Genoss:innen einfach einer Anzahl vermummter und unkenntlicher Personen zugeordnet die in der Nacht gefilmt wurden. Weil ich recht groß bin, behaupten die Bullen, ich sei eine Person, über die sie selbst nicht viel mehr sagen können, als dass sie „relativ groß“ sei. Eine weitere Genossin wurde im Januar verurteilt, weil sie „relativ kleiner als die Umstehenden“ und schlank sei und das auch auf eine vermummte Person bei der Krawallnacht zutreffen würde. Obwohl das keinerlei juristischen Maßstäben entspricht, sind die Bullen zumindest in erster Instanz mit dieser Methode durchgekommen.
Petra: Die Urteile sind eine klare Einschüchterungspolitik gegen Linke. Auch wenn die Krawalle keine bewusste politische Aktion waren, waren sie eine intuitive Gegenwehr gegen die herrschenden Zustände und ein Moment, in dem Gegenmacht für Menschen aus unserer Klasse sicht- und erlebbar wurde. Das sind Momente aus denen eine revolutionäre Linke lernen kann und in denen sie präsent und sichtbar sein muss. Dass die Herrschenden und ihre Klassenjustiz das verhindern wollen und deshalb versuchen uns mit harten Urteilen abzuschrecken, überrascht uns nicht.
Ist das Urteil ein Einzelfall oder fügt es sich in verstärkte staatliche Repression gegen Linke in der Region ein?
Petra: Aktuell sitzen drei Linke aus der Region Stuttgart im Knast. Hauptsächlich wegen antifaschistischen Aktionen. Die Krawallnacht betreffend gibt es bereits drei Urteile gegen Linke. Einmal zu drei Jahren und zwei Monaten Haft gegen einen Genossen, dann das Urteil gegen Yan mit drei Jahren und neun Monaten und dann ein weiteres von einem Jahr und acht Monaten gegen eine Genossin, das wegen Jugendstrafrecht zur Bewährung ausgesetzt wurde. Darüber hinaus gibt es jede Menge aktueller Bewährungsstrafen und einige Genoss:innen, bei denen Verfahren laufen und bei denen Haftstrafen ganz konkret im Raum stehen. Hinzu kommt eine Tendenz zu massenhaften Verfahren anhand von Bildern, auf denen Bullen behaupten, Personen zu erkennen, ohne dass es dafür handfeste Beweise gibt.
Die aktuelle Verschärfung der Repression findet aber nicht nur auf der Ebene von Knaststrafen statt. So gab es beispielsweise am 8. März letzten Jahres – der in Stuttgart auch Streiktag im Sozial- und Erziehungsdienst war – eine sehr große Demonstration, die von Feminist:innen, Beschäftigten und Ver.di gemeinsam vorbereitet und getragen wurde. Die Bullen waren auf der Demonstration von Anfang an massiv präsent und haben die Demonstrant:innen schikaniert. Am Abend haben sie sogar Gewerkschafter:innen vor dem DGB-Haus angegriffen. Im Nachhinein kam es auch hier zu einer ganzen Reihe an Verfahren wegen absoluter Bagatellen.
Wir sehen die Repression als Reaktion der Herrschenden auf eine Linke, die sich in der Pandemie zumindest lokal nicht zurückgezogen hat, sondern versucht hat in den gesellschaftlichen Widersprüchen präsent zu sein, die versucht auch außerhalb der eigenen Szene zu wirken und langfristige Strukturen aufzubauen. Eine Linke, die nicht das Bürgerliche Gesetzbuch als Maßstab für ihr Handeln nimmt und versucht, in Ansätzen so etwas wie Gegenmacht der Arbeiter:innenklasse aufzubauen.
Schließlich noch eine Frage, die die gesamte Bewegung betrifft: Wie kann sich die revolutionäre Linke angesichts jahrelanger Haftstrafen organisieren und was bedeuten solche Urteile langfristig für unsere Praxis?
Petra: So abgedroschen es klingt: Wenn der Gegner uns angreift, heißt das auch, dass ein Teil unserer Politik richtig war. Es war richtig, dass auf dem Höhepunkt der Querdenken-Demos versucht wurde, die Faschos in ihre Grenzen zu weisen und es ist richtig, dass wir uns in die gesellschaftlichen Widersprüche einmischen, überall dort wo sie aufbrechen. Und das im Idealfall nicht als Individuen oder als loser Zusammenhang, sondern organisiert und verbindlich. Gerade im Kontext der Krise, in der immer mehr Menschen erkennen, dass sie im Kapitalismus, nichts zu gewinnen haben, werden die Herrschenden alles daran setzen, diejenigen zu bekämpfen, die eine Alternative aufzeigen und beginnen, proletarische Gegenmacht aufzubauen, sie auch – wenn auch im Kleinen – erlebbar zu machen.
Dass die Repression zunimmt, bedeutet nicht, dass wir das einfach so über uns ergehen lassen müssen. Es gilt immer, die Fehler der Vergangenheit zu studieren und nicht zu wiederholen. Wir müssen die eigenen Strukturen so aufbauen, dass sie auch der kommenden Repression standhalten können, dazu gehört neben Verbindlichkeit und Kontinuität auch das richtige Maß an Klandestinität. Doch auch trotz all unserer Schutzmaßnahmen: Zu unserer Antwort auf Repression gehört auch, dass wir uns individuell und strukturell darauf vorbereiten müssen, dass Haft (wieder) ein größerer Teil linker Politik werden könnte. Wichtig ist dabei: Haft ist scheiße – so ehrlich müssen wir sein – aber sie ist nicht das Ende der Fahnenstange. Weder politische Arbeit noch kollektive Momente hören mit der Haft auf. Die Haft ist nicht das Ende des Kampfes, sondern der Anfang eines neuen.
Gibt es noch etwas, was Ihr hinzufügen möchtet?
Petra: Yan, die drei bisherigen Gefangenen, deren Urteile noch ausstehen und die Solidaritätsstruktur brauchen Öffentlichkeit, Solidarität und Geld. Die Rote Hilfe ist dabei so etwas wie unser Rückgrat, ohne das wir unsere Arbeit kaum leisten könnten. Es braucht aber die Aktivität von viel mehr Leuten: Schreibt den Gefangenen und versucht, sie in eure Kämpfe mit einzubeziehen! Macht sie präsent und sorgt dafür, dass sie nicht auf sich allein gestellt sind – das ist letztlich das wirksamste Mittel gegen die Repression.
[Aktuell wird vor allem viel Geld für die Prozesskosten von Jo und Dy, die Haftstrafen von viereinhalb und fünfeinhalb Jahren absitzen, benötigt. Infos dazu findet ihr hier: www.notwendig.org. Auch die Rote Hilfe e.V., die seit 1975 Anti-Repressionsarbeit leistet, braucht Unterstützung. Hier könnt Ihr Mitglied werden. Hier könnt ihr die Prozesse verfolgen]
#Titelbild: eigenes Archiv.