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Der vorliegende Text ist die achte These unserer Broschüre „Ein Sturm zieht auf – Thesen zu Krieg, Imperialismus und Widerstand“. Die vollständige Broschüre mit neun weiteren Thesen ist beim Letatlin Verlag bestellbar.



Wir wollen gegen den imperialistischen Krieg kämpfen. Dafür brauchen wir praktische Konzepte für hier und heute, für die aktuelle Situation der Gesellschaft und der Linken in Deutschland. Nicht abstrakt, sondern konkret; nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch; nicht utopisch, sondern realpolitisch; nicht nostalgisch, sondern im Hier und Jetzt. Im Folgenden wollen wir Vorschläge praktischer Organisierungs- und Handlungsansätze machen, mit denen wir beginnen können, unsere Seite zu organisieren und aufzubauen. Mit unserer Seite meinen wir die anti-imperialistisch-sozialistische Linke und alle Teile der Gesellschaft, die für eine Antikriegsbewegung gewonnen werden können, insbesondere die prekarisierte lohnabhängige Klasse. 

Verantwortliche und Profiteure als Hauptfeinde anvisieren

Es macht Sinn, konkrete Ziele und Schwerpunkte zu setzen, auf die man seine Arbeit konzentriert und bestimmte Akteure und Personen als Hauptfeinde ins Auge zu fassen. Die Verstrickungen des Imperialismus sind komplex und die herrschende Klasse in Deutschland und international besteht aus vielen unterschiedlichen Akteuren, denen wir nicht allen die gleiche Aufmerksamkeit zukommen lassen können, aber es gibt klare Verantwortliche und große Profiteure der Kriegspolitik in Deutschland und diese sollten wir zu Hassfiguren machen. Das deutsche Kapital und der Imperialismus haben Gesichter, die wir in der Öffentlichkeit adressieren sollten. Die Hauptadressaten unseres Widerstandes sind Akteure des militärisch-industriellen Komplexes – Rüstungsindustrie, NATO und politische Verantwortungsträger des Staats. Figuren wie Merz, Pistorius, Papperger und ähnliche sind objektiv die Hauptakteure des Krieges der deutschen Politik und Wirtschaft und eignen sich als Charaktere hervorragend, um Hassobjekte zu werden. Durch Kampagnen und Öffentlichkeitsarbeit müssen die Machenschaften der NATO, Politiker und Konzerne aufgedeckt werden und der schamlose Profit am Töten und Sterben bei gleichzeitigem Zusammenkürzen des Sozialstaats skandalisiert werden. Dabei können wir viele Anknüpfungspunkte nutzen: Den wirtschaftlichen Boom der Rüstungsindustrie mit steigenden Lebenshaltungskosten in Verbindung setzen oder die Notwendigkeit von neuen Panzerfabriken bei gleichzeitiger Schließung von Krankenhäusern hinterfragen. Es ist ja nicht zu leugnen, es reicht ein Blick auf die nüchternen Zahlen, um festzustellen dass Armin Papperger (CEO von Rheinmetall), Oliver Dörre (CEO der Hensoldt AG), Oliver Burkhard (CEO von ThyssenKrupp Marine Systems), Jean-Paul Alary (CEO von KNDS) und andere Angehörige des militärisch-industriellen Komplexes jährlich neue Rekordgewinne einstreichen und zeitgleich für die gemeine Bevölkerung alles teurer wird und Lohnsteigerungen für Arbeiter:innen wenn überhaupt gerade so einen Inflationsausgleich bringen. Widerstand gegen den Kriegskurs ist eine gesellschaftliche Konfrontationssituation und es ist dafür wichtig, klar zu identifizieren, wer Gegner ist und wer nicht. Gegen wen kämpft man, wen erklärt man zum Feind? Macht es Sinn, dass Sozialist:innen sich auf das opportunistische Verhalten der Linkspartei einschießen und hauptsächlich auf ihr herum hacken oder sind die Hauptfeinde bei aller berechtigten Wut über die Linkspartei nicht doch andere? Als weiteren Arbeitsschwerpunkt schlagen wir das Gesundheitssystem vor, natürlich nicht als Feind, sondern als strategisches, systemrelevantes Feld, welches stark mit dem Krieg in Berührung kommen wird und in welchem die Chancen, Möglichkeiten und Sympathien für eine Kritik an der herrschenden Politik, alternative Vorschläge und widerständige Handlungen aus unserer Sicht vielversprechend sind – und das auch nicht erst seit der Pandemie oder im Krieg.

Klassenfrage stellen und sozialistische Alternativen benennen

Die Antwort und Strategie gegen Militarisierung und Imperialismus, die – wie in These 4 ausgeführt – eine Verschärfung des Klassenkampfes von oben durch Autoritarisierung und Prekarisierung der Verhältnisse darstellen, muss Klassenkampf von unten sein. Das heißt: das aktive und bewusste Stellen sozialer, ökonomischer und politischer Macht- und Verteilungsfragen – im Kern die Frage nach dem Eigentum und der Verfügung über die gesellschaftlichen Produktionsmittel. So hoch gegriffen oder fern das auch klingen mag, so simpel ist es eigentlich. Wenn der Charakter des Kapitalismus so deutlich und offen zutage tritt wie jetzt gerade und für Viele in der Gesellschaft evident oder naheliegend wird, dass diese Politik ungerecht ist und sie dabei die Verlierer sind – wegen der Kürzungen und weil sie bald vielleicht in einem Krieg sterben sollen – dann muss unsere Antwort darauf ausnahmsweise klar und simpel sein: Das Eigentum der herrschenden Klasse und ihre Interessenpolitik infrage stellen und gerechte, realpolitische Gegenmaßnahmen in den Raum stellen.

Damit meinen wir nicht eine realitätsferne radikalistische Forderung nach der sofortigen bewaffneten Revolution. Dafür hätte unsere Bewegung bei Weitem nicht die Stärke und wir sollten uns dessen bewusst sein und für den Erfolg unserer Politik und die Glaubwürdigkeit bei den Menschen realistisch und langfristig denken. Worum es jetzt geht, ist antikapitalistische Aufklärung, Alternativen vorschlagen, Widerstandsformen entwickeln und die Schaffung erster organisatorischer Ansätze, das Legen von Grundsteinen für eine antimilitaristische Bewegung der ausgebeuteten Klasse. Dafür eignet sich die aktuelle Kriegspolitik; die Frage von Krieg und Frieden sollte mit der Klassen-, Verteilungs-, Eigentums- und Demokratiefrage verbunden werden.

Widerstandsformen gegen Krieg und Militarisierung müssen mit der sozialen Frage und Vorschlägen einer alternativen Sicherheitspolitik1 verbunden werden, um für die Gesellschaft eine ernstzunehmende Stimme zu sein, die nicht als weltfremde oder gar unverantwortliche Träumerei erscheint, sondern der man zuhören und folgen möchte.

Strategie der „Revolutionären Realpolitik“

Für eine ernsthafte sozialistische politische Kraft ist entscheidend, dass diese nicht nur utopistische Traumschlösser malt, abstrakte Ideale predigt und damit den Menschen vermittelt, wie schön und gleichzeitig unerreichbar und weltfremd ihre Ziele sind, sondern dass man praktisch umsetzbare Maßnahmen auf politisch realisierbarem Weg in verständlicher Sprache als Meilensteine und Wegmarker in Aussicht stellt. Dabei gilt es, auch die real existierenden systemischen Strukturen zu nutzen, da diese meist die größte Sichtbarkeit, wie auch die legale Möglichkeit der (Gegen)Machtausübung bieten. Frei nach Rosa Luxemburg also das Konzept der Revolutionären Realpolitik2. Auch Lenin plädierte als guter Politiker, Realist und Materialist in seiner Broschüre ‚Der linke Radikalismus’3 für die Arbeit der Revolutionäre in den reformistischen Parteien und Gewerkschaften, solange man nicht eigene Strukturen mit der nötigen Stärke und Massenanhang habe, da das radikalistische Sich-Abgrenzen der Revolutionäre von allem „Nicht-Revolutionären“ nur zur Selbstisolation und Entfremdung von den Massen führt. Dabei ist es jedoch wichtig, sich über die Machtverhältnisse und die begrenzten Möglichkeiten im Rahmen des DGB oder der Linkspartei bewusst zu sein und deswegen die Arbeit in und mit diesen Organisationen nicht als die alleinige Strategie, sondern als Teil einer sozialistischen Gesamtstrategie zu handhaben. Die Strategie der Revolutionären Realpolitik muss also staatliche Politik und den Aufbau eigener Strukturen, inner- und außersystemische Elemente in einer Bewegung gegen den Krieg miteinander verbinden. Rosa Luxemburg sah darin keinen Widerspruch, sondern eine Wechselwirkung. Wir sollten das auch tun.

Linkspartei und DGB

Im Unterschied zur Zeit des 1. Weltkriegs gibt es heute keine große Arbeiter:innenbewegung in Deutschland. Jedoch sind die systemischen Organisationen, welche noch am ehesten die Inhalte und Mitgliederstärke dafür haben, die Linkspartei, die SPD und die verschiedenen Gewerkschaften des DGB. So unbefriedigend deren Dynamiken auch sind, werden wir in den nächsten Monaten weder eine neue Partei noch eine Gewerkschaft mit revolutionärem Programm und Massenanhang aus dem Hut zaubern. Natürlich macht Verrat – wie etwa das opportunistische Verhalten der Linken-Länderspitzen von Bremen und Mecklenburg-Vorpommern bei der Bundesratsabstimmung über das 500-Milliarden-Paket, das Verschieben der Gaza-Demo der Linkspartei mitten im Genozid auf nach der Sommerpause oder die ständigen Deals der Gewerkschaftsspitzen mit den Konzernbossen – wütend und desillusioniert. Aber es bringt nichts, sich danach monatelang nur in Artikeln darüber zu zerreißen, wie reformistisch diese Partei und diese Gewerkschaften sind, ohne funktionierende Alternativvorschläge zu machen. Es gilt vielmehr, eine Bewegung zu schaffen, die die Kraft hat, den öffentlichen Diskurs zu beeinflussen und den nötigen Druck auszuüben, sodass sich opportunistische Abgeordnete dreimal überlegen, ob sie wissentlich gegen den Willen ihrer Basis und einer starken Bewegung stimmen. Das Ziel wäre dabei, die Linkspartei von einer schwankend-opportunistischen Partei, die zum politischen Establishment dazugehören will, durch Druck von unten in eine antagonistische parlamentarische Rolle gegen den Kriegskurs zu zwingen. Wichtig ist dabei die Rolle, die revolutionäre Kräfte haben.

Unsere Aufgabe ist es nicht, in der Hoffnung auf Regierungsbeteiligung Merz und Spahn in den Arsch zu kriechen oder für einen guten Posten in der Gewerkschaft die Sozialpartnerschaft mit den Arbeitgebern zu suchen. Unsere Aufgabe ist es, immer auf Seiten der unteren Klassen und Unterdrückten zu stehen, die Basis zu radikalisieren und in den Organisationen Druck zu machen, um sie in eine sozialistische und antiimperialistische Richtung zu drängen. Dafür sollte man auch den vorgegebenen Rahmen der Parteistrategie oder des restriktiven deutschen Gewerkschafts- und Streikrechts infrage stellen und wenn möglich brechen. Damit erreicht man eine lebendige politische Bewegung, die gesellschaftlich wahrgenommen wird, ihren eigenen Willen unabhängig von opportunistischen Führungsebenen ausdrückt und das Potenzial hat, Wirkungsmacht zu entfalten. Die Formel ist sozusagen ein Zusammenwirken aus Systempolitik und dem Aufbau einer eigenen gesellschaftlichen Kraft. Sozialist:innen sollten sich aber auch außerhalb dieser Organisationen organisieren, um die Arbeit in ihnen reflektieren und planen zu können. Dieser Punkt und dass die Linkspartei oder der DGB nur begrenztes Widerstandspotenzial und Handlungsspielraum bergen und wir uns nicht auf diese Organisationen verlassen oder unsere Kraft allein mit der Arbeit in ihnen verausgaben dürfen, führt uns zu dem Punkt der außerparlamentarischen Organisierung antiimperialistischer, sozialistischer Kräfte sowie demokratischer, gesellschaftlicher Verbündeter, die gegen den Krieg sind.

Eine Rätestruktur für die Antikriegsbewegung

Was heißt Organisierung? Organisierung heißt, Kräfte zu bündeln. Eine gemeinsame organisatorische Form, die ermöglicht, die Kraft des Handelns unterschiedlicher Einzelakteure, Gruppen und Strukturen auf der Grundlage eines gemeinsamen Programms in die gleiche Richtung zu kanalisieren und damit größtmögliche Kraft und (Gegen)Macht zu entfalten.

Für die sozialistische und antiimperialistische Linke in Deutschland ist das Rheinmetall Entwaffnen-Camp ein Raum, an dem seit 7 Jahren zusammengekommen wird; darüber hinaus bestehen verschiedene internationalistische, antiimperialistische, kommunistische, sozialistische, anarchistische Netzwerke, Kampagnen und Zusammenhänge in unterschiedlichen Konstellationen. In den letzten Jahren hat sich in Deutschland dabei ein bestimmtes Spektrum zusammengefunden und vergrößert, was sozialistische und antiimperialistische Grundsätze wieder zur selbstverständlichen Grundlage ihrer Politik nimmt. Insbesondere auf den letzten beiden RME-Camps hat sich dieses gezeigt. Wir denken, dass das Potenzial hat, ausgebaut zu werden. Wir denken es braucht eine über das jährliche RME-Camp hinausgehende, kontinuierlich kooperierende Arbeit linker Strukturen, um eine wirkmächtige Kraft gegen die Militarisierung zu werden. Zunächst kann das ein Antikriegsbündnis sein, was kontinuierlich arbeitet und sich aus den schon bestehenden Bekanntschaften und politischen Vernetzungen zusammensetzt. Dies sollte aber nicht das Ziel oder das Ende sein, sondern erst der Anfang, sozusagen ein Aufbaukomitee.

Das Ziel könnte ein Bundesweiter Friedensrat sein und regionale, lokale Komitees in den Städten und Landkreisen, aus denen gewählte Delegierte die Bundesebene der Räte bilden.

Dieser Struktur sollte ein inhaltliches Programm, ein verschriftlichter antiimperialistischer (Minimal)Konsens zugrunde liegen, dessen gemeinsame Anerkennung die Grundlage der Zusammenarbeit bildet. Denn das Ziel einer solchen Rätestruktur sollte die Einbindung breiterer gesellschaftlicher Teile sein als es das Rheinmetall Entwaffnen-Camp und die meisten linksradikalen Strukturen schaffen. Wir sollten über die Szene hinaus denken und uns Mühe geben, statt nur der üblichen verdächtigen linken Kleingruppen ein breiteres Spektrum an klassenkämpferischen, demokratischen, friedenspolitischen, gesellschaftlichen, kulturellen, ökologischen, religiösen Gruppen, Initiativen, Communities und Einzelpersonen einzubinden. Das kann von sozialistischen Gruppen, Gewerkschaften, Jugendverbänden und politischen Exilgruppen über Nachbarschaftsinitiativen, die Linksjugend, die Naturfreunde, Kulturvereine, die evangelische Gemeinde oder Stadtteilgruppen bis zum kurdischen Verein und Refugee-Gruppen theoretisch jede:r sein, der:die sich auf die gemeinsame inhaltliche Grundlage stellen kann.

An manchen Orten kann dabei vielleicht sogar an Überbleibsel der Friedensbewegung der 80er-Jahre angeknüpft oder mit ihren Akteuren zusammen gearbeitet werden. Es bietet das Potenzial, weit über das eigene Mitglieder- und Sympathisant:innenklientel hinaus zu wirken, einer Antikriegsbewegung organisatorisch zur Entstehung zu verhelfen und ihr eine zumindest in Teilen linke, sozialistische Prägung zu geben. Ein gesellschaftlicher Charakter und kein neues Szene-Selbstbespaßungsbündnis sollte dabei das klare Ziel sein. Dafür ist es jedoch wichtig, dass wir in der Lage zu demokratischen Auseinandersetzungen und Kompromissen mit Kräften sind, die keine Kommunist:innen oder Revolutionär:innen sind, weswegen das Grundlagenpapier eines Antikriegsrates kein kommunistisches Maximalprogramm sein kann. Es kann und sollte aber soziale Forderungen und antiimperialistische Inhalte wie die Verurteilung des israelischen Kriegs in Palästina oder auch des russischen Angriffs auf die Ukraine voraussetzen, um lähmenden Diskussionen zuvor zu kommen und eine inhaltlich richtige Grundlage zu schaffen, indem es gewisse Prinzipien festlegt und somit gewährleistet, dass die Stoßrichtung gegen Imperialismus, für Frieden und soziale Gerechtigkeit bleibt. Es geht um demokratische Politik und den Aufbau einer Bewegung mit verschiedenen gesellschaftlichen Kräften, die ein grundsätzliches Interesse an Frieden und sozialer Gerechtigkeit teilen. Das wirkt als Vorstellung und Zielsetzung vielleicht zu groß und schön, als dass es realistisch sein könnte, aber das Potenzial ist da. Zur Umsetzung ist es nur nötig, dass Sozialist:innen es schaffen, aus ihren eigenen festgefahrenen Dynamiken heraus zu kommen, die sektiererische Mentalität zu überwinden und auf andere Menschen zuzugehen, mit ihnen zu reden, ihnen zuzuhören und sich an der praktischen Organisierungsarbeit zu versuchen.

Ohne größenwahnsinnig oder illusorisch zu werden, ist eine solche Rätestruktur natürlich, wenn auch nicht in ihrer Größe und Wirkmacht so doch in ihrer Idee, eine Hommage an die Arbeiter- und Soldatenräte am Ende des 1. Weltkrieges. Wir halten es für ein richtiges Organisierungskonzept der Selbstermächtigung; die Kunst und Aufgabe der Arbeit dieser Räte/Komitees wäre es, ihre Praxis so zu gestalten, dass die Räte zu lokalen Räumen des Zusammenkommens, der Diskussion und der Organisierung von Aufklärung und Widerstand werden können. Wir können dabei auf die geschichtlichen Erfahrungen in Deutschland mit einer aus der Ablehnung des imperialistischen Krieges entstandenen Rätestruktur verweisen – von der Bayerischen bis zur Bremer Räterepublik, der Roten Ruhrarmee und den Arbeiter- und Soldatenräten ganz Deutschlands. Gleichzeitig proben wir darin zusammen mit den Krieg ablehnenden Elementen der Bevölkerung Volksdemokratie und Selbstorganisation, was für die Arbeiter:innenklasse in Deutschland und auch für sozialistische Revolutionäre wertvolle, bildende politische Erfahrungen wären, auf denen in der Zukunft aufgebaut werden kann.

Ob mit oder ohne eine solche Rätestruktur, die nur ein Vorschlag unter vielen Möglichkeiten organisierter und koordinierter Vernetzung und Widerstandes antimilitaristischer Kräfte ist, gibt es ein breites Feld an Handlungsansätzen, welche lokal und zentral verwirklicht werden können.

Verschiedene Widerstandsformen als Mosaik der Bewegung

1. Aufklärung und Volksdemokratie

Ein zentrales Arbeitsfeld ist die öffentliche Aufklärung und Agitation. Was heißt Agitation? Agitation muss nicht durch einen Vollzeit-Parteikader geschehen, der vor den Toren der Fabrikhallen die Arbeiter:innen zum Streik aufruft, sondern ist im Prinzip jede politische Diskussion, die wir im Alltag führen – in der Supermarktschlange, mit der Nachbarin, unseren Eltern, Arbeitskolleg:innen oder Freund:innen. Dabei geht es darum, unsere Analysen und Narrative zu den Gründen der zunehmenden Militarisierung sowie unsere Vorschläge für alternative Wege zu verbreiten – und sie in den Köpfen der Menschen zu verankern. Dafür sollten Veranstaltungen organisiert werden – an Schulen, Universitäten und mit Gemeinschaften und Verbänden, aber auch in der Öffentlichkeit. Angesichts der Brisanz des Themas, welches vielen wenn nicht allen Menschen Sorge bereitet, kann es fruchtbar sein, Veranstaltungen und Diskussionen über den Krieg auf öffentlichen Plätzen im Stadtteil zu organisieren. Dabei sind Sprache und Ästhetik wichtig (wie bei allem, was wir tun). Es kommt sowohl darauf an, was wir sagen, als auch wie wir es sagen. Die klassischen Kundgebungen linker Gruppen mit 10 Teilnehmenden und 20 Fahnen sind wenig attraktiv, sowohl vom Aussehen, als häufig auch von der Sprache. Wir sollten davon absehen, einfach nur linke Parolen zu rufen, Phrasen ins Mikrophon zu dreschen und dabei alle -Ismen, die wir ablehnen, aneinanderzureihen. Es sollten fundierte inhaltliche Vorträge und (Podiums)Diskussionen sein, die in verständlicher Sprache stattfinden, aber eben auch eine tiefere Analyse liefern. Denn häufig sind linksradikale Traditionsphrasen gar kein Ausdruck von Stärke, sondern nur davon, selbst unzureichende Antworten auf die praktischen, realen politischen Probleme der Zeit zu haben.

Sowohl die Analysen als auch alternative Perspektiven müssen wir uns erarbeiten und darlegen. Wenn man das weiterdenkt, kann man auf Elemente der Volksdemokratie hoffen, die aus solchen lokalen Versammlungen und Räten entstehen – ein wünschenswertes Szenario, das eine Antikriegsbewegung im Stil der Platzbesetzungsbewegungen nach der Finanzkrise 2008/2011, wie Occupy Wall Street in den USA, 15M in Spanien, den Gezi-Park in der Türkei oder den Tahrir-Platz in Ägypten hervorbringen könnte.

2. Arbeit und Streik

Falls Deutschland 2029 tatsächlich offen in einen Krieg eintritt, sollte eine Gesamtstrategie von Linkspartei, Gewerkschaften und außerparlamentarischer Bewegung auf einen Generalstreik hinarbeiten. Auch zuvor sind Betriebsstreiks, Reproduktionsstreiks und Schul- und Universitätsstreiks wirksame Mittel, um Menschen zu mobilisieren und den Protest auszuweiten. Das restriktive deutsche Streikrecht verbietet jedoch den politischen Streik, auch den Generalstreik, weswegen die Herausforderung wäre, diese Regeln zu durchbrechen und Menschen aus der Arbeiter:innenklasse an verschiedenen Punkten dazu zu bringen, sich selbst zu ermächtigen. Streiks in Betrieben und Branchen werden durch Arbeit in und mit Gewerkschaften möglich, Schul- und Universitätsstreiks durch gezielte Jugendarbeit an und um die Orte der Bildung und Erziehung.Das Thema der Arbeitsplätze in der kriegsrelevanten Industrie muss hierbei berücksichtigt werden! Man kann schlecht Arbeiter:innen bei VW für eine Antikriegsposition gewinnen, wenn man ihnen in Aussicht stellt, dafür ihre Jobs zu verlieren. Auch hier sind Aufklärungs- und Diskussionsveranstaltungen mithilfe der Gewerkschaft ein Mittel, ins Gespräch zu kommen, um Überzeugungsarbeit zu leisten. Dafür muss man natürlich überzeugende Vorschläge einer Konversion von Rüstungs- und fossiler Produktion in gesellschaftlich notwendige und nachhaltige Güter haben. Das sind Themen, mit denen wir uns beschäftigen müssen. Eine Veränderung ohne den Willen der politischen Verantwortlichen, Geld und Ressourcen ins Gesundheits-, Transport- und nachhaltige Energiesystem zu investieren, wird nicht einfach werden. Aber genau diese Bruchstellen gilt es weiter aufzumachen und Arbeiter:innen der vom Krieg erst mal profitierenden Industrien alternative Vorschläge für die Zukunft anzubieten, wenn auch sie die Folgen des Krieges nicht mittragen und verantworten möchten.

Einen sehr zentralen Platz in jeder Gesellschaft und besonders in einer Gesellschaft im Krieg nimmt das Gesundheitswesen ein. Die Menschen, die hier arbeiten, werden vorrangig mit den unmittelbaren Folgen des Krieges in Berührung kommen ohne selbst Soldat zu sein. Am Gesundheitssystem zeigt sich schon in Friedenszeiten und nicht erst seit der Pandemie die Ungerechtigkeit der Zwei-Klassen-Medizin und die katastrophalen Arbeitsbedingungen und Zustände des Kapitalismus, der auf Kosten des Lebens und der Gesundheit der Menschen Profit macht. Menschen, die hier arbeiten, werden die Auswirkungen des Krieges auf die Bevölkerung, auf Soldaten wie Zivilist:innen in seinen Abgründen zu sehen bekommen. Das ist eine Chance, Arbeiter:innen des Gesundheitswesens gegen den Krieg zu mobilisieren und im Kriegsfall Kontakt zu verwundeten Soldat:innen und Zivilist:innen herzustellen – eine politisch wichtige Position.

3. Jugend- und Studierendenbewegung

Jugendliche und Studierende werden einen zentralen Platz in einer antimilitaristischen Bewegung einnehmen. Die junge Generation bringt dabei einiges mit, auf was aufgebaut und was ausgeweitet und weiterentwickelt werden kann. Erst letztes Jahr sahen wir gegen den Genozid in Palästina die vielleicht größte globale studentisch-geprägte Antikriegsbewegung seit dem Vietnamkrieg. Die Protestcamps und Uni-Besetzungen, welche sich im April 2024 von der Columbia University in New York ausgehend innerhalb weniger Tage in den USA und dann in wenigen Wochen wie ein Lauffeuer über die Welt verbreiteten, entfachten eine neue junge Protestbewegung in Solidarität mit dem palästinensischen Volk und zeigten das Potenzial der jungen Generation. Die Proteste und Besetzungen waren von den USA bis in den Irak, von Indien bis Australien, Deutschland bis Japan und Brasilien bis nach Indonesien ein weltweites Phänomen, reihten sich damit ein in die Anti-Vietnamkriegsproteste der 1960er- und die Anti-Apartheid-Bewegung der 1980er-Jahre und zeigte, dass die Campus leben. Die Camps und besetzen Räume waren Orte kollektiver Diskussion, Bildung, Politisierung, Radikalisierung, Professionalisierung und praktischen Widerstands. Angriffen von Nazis, Zionisten und Cops ausgesetzt, im Nachhinein mit Repression wie Exmatrikulation, Aberkennung von Stipendien oder Abschiebung ausländischer Studierender aus den USA überzogen, hat hier ein Teil der aktuellen Generation Studierender für internationale Solidarität mit Palästina und antikolonialen Widerstand ihre bürgerliche Karriere, ihre Freiheit und körperliche Unversehrtheit in die Waagschale geworfen. Das ist nicht geringzuschätzen! Universitäten als Orte der Kritik und Studierende als politisierte Subjekte sind für den Widerstand gegen den deutschen Imperialismus zentral. Sie können Proteste organisieren, in die Bewegung wirken, eine Generation prägen, den öffentlichen Diskurs beeinflussen und durch Druck auf Universitäten deren Unterstützung des Krieges beenden – und so dem deutschen Imperialismus in den Rücken fallen. Beispiele wie die weltweite Schüler:innenbewegung Fridays for Future, die erst vor wenigen Jahren für ein Anliegen der Zukunft und sozialen Gerechtigkeit Millionen mobilisierte, zeigen, wie groß das Potenzial junger Menschen ist. Dieses Potenzial gilt es nicht nur bei Studierenden und Schüler:innen, sondern auch bei Auszubildenden zu entfalten, indem sie gezielt in Widerstandsformen am Arbeitsplatz und darüber hinaus einbezogen werden – denn auch sie wären als junge Generation von einem kommenden Krieg besonders betroffen.

4. Räume und Orte des organisierten Widerstands

Für die Ansprechbarkeit, Sichtbarkeit und als Anlaufstelle für Diskussion ist es wichtig, feste Orte zu haben, an die Menschen gehen können. Dort können Büros zur Unterstützung bei der Wehrdienstverweigerung eingerichtet werden, Menschen ihre Sorgen mit anderen besprechen, von der Front kommende Soldat:innen ihre Erfahrungen mitteilen oder Menschen, die sich bei der Antikriegsarbeit einbringen möchten, Anschluss finden. Die persönliche Begegnung und der kollektive Raum des Austauschs, der Reflektion und Organisierung wird für die Gesellschaft und eine Antikriegsbewegung wenn es erst mal so weit ist extrem wichtig sein.

5. Aktionen und Mobilisierungen

Demonstrationen, Blockaden, Kampagnen, Besetzungen, Camps und ziviler Ungehorsam sind wichtige Widerstandsformen, die die Größe einer Bewegung sichtbar machen können, die Profiteure und Verantwortlichen des Krieges öffentlichkeitswirksam anprangern und symbolischen wie effektiven Schaden an der Kriegsmaschinerie anrichten können. Größer angelegte Aktionen und Kampagnen, teils verbunden mit militanten Angriffen, wie von Palestine Action und Shut Elbit Down in Großbritannien oder auch im Kontext der Soulèvement de la terre-Klimaproteste in Frankreich sind vor allem erfolgreich, wenn verschiedene Aktionsformen ineinandergreifen greifen; je breiter die Kampagne stattfindet, desto mehr Aufmerksamkeit. Camps und Besetzungen – wie die bereits erwähnten Unibesetzungen in Solidarität mit Palästina oder das jährliche „Rheinmetall Entwaffnen“-Camp – sind Orte, an denen kollektiver Austausch ermöglicht, öffentlicher Druck erzeugt und koordinierte Aktionen umgesetzt werden können. Solche eher aktivistisch orientierten Formen des Widerstands sind aufgrund des nötigen hohen Commitments vielen Teilen der arbeitenden Bevölkerung nicht auf Dauer möglich, weswegen Eventmobilisierungen und dauerhafte Camps und Besetzungen nicht die einzige Strategie sein können. Demonstrationen, ziviler Ungehorsam und Blockaden bis hin zu direkten Aktionen bilden trotzdem einen wichtigen öffentlichkeitswirksamen Teil des antimilitaristischen Widerstands. Vielleicht überlässt die sozialistische, antiimperialistische Linke und ein eventuell entstehender Bundesweiter Antikriegsrat es das nächste Mal nicht Alice Schwarzer und Sarah Wagenknecht, eine große Antikriegsdemonstration in Berlin zu organisieren, auf der allerlei wirre Sachen gesagt werden, sondern organisiert diese zusammen mit demokratischen Verbündeten selbst und prägt sie mit einer fundiert linken Ausrichtung.

6. Militanz und Sabotage

Die militante Linke in Deutschland hat nicht die Stärke, die Bundeswehr durch großflächige Sabotage kriegsuntauglich zu machen. Der Versuch dessen kann also nicht die Strategie sein. Nichtsdestotrotz sind militante Angriffe und Sabotageakte gegen den Kriegsapparat wichtige Zeichen. Werden sie mit Feingefühl gesetzt, können sie eine Bewegung radikalisieren, stärken und in einzelnen Fällen tatsächlich wie Sand im Getriebe oder ein Schraubenschlüssel zwischen Zahnrädern wirken. So lassen sich punktuell Verzögerungen im Ablauf einzelner Teile der Kriegsmaschine erreichen. Wir sollten uns bewusst sein, dass die militante Linke aktuell nicht die Stärke hat, den Krieg kriegsentscheidend mit militanten oder militärischen Mitteln zu bekämpfen, jedoch ist jede direkte Aktion, jeder militante Sachschaden ein willkommenes Symbol des Widerstands.

7. Kulturkampf

Der Kampf um die Gesellschaft, um die Köpfe und die Jugend ist auch ein kultureller Kampf. Es ist auch eine Frage dessen, ob es geschafft werden kann, eine erfolgreiche Antikriegskultur der hegemonialen und immer aggressiveren militaristischen Kultur entgegen zu setzen. Dazu gehören natürlich sämtliche Bereiche der Kultur von Musik über Filme bis Social Media; worum es dabei im Kern aber geht, ist das Schaffen einer anderen Mentalität als der militaristischen – einer Kultur, in der es uncool ist, für Deutschland und die Profite der Reichen kämpfen zu wollen und in der es cool ist, Antimilitarist oder Antiimperialistin zu sein, dieses System abzulehnen, gegen den Staat zu sein, Wehrdienst zu verweigern, Widerstand gegen den Krieg zu leisten, solidarisch mit anderen Völkern zu sein und gegen die Politik der Herrschenden auf die Straße zu gehen. Während der 68er-Bewegung und den Anti-Vietnamkrieg-Protesten hat das funktioniert. Im 21. Jahrhundert sähe das sicherlich anders aus, aber das Prinzip einer angesagten widerständigen Gegenkultur bleibt das Gleiche. Diese muss und sollte keinen hippiesken Charakter haben, sondern einen klassenbewussten und antiimperialistischen Zeitgeist gegen die Ausbeuter und Kriegstreiber prägen.

Gesellschaftlichen Widerstand fördern

Im Kleinen formiert sich hier und da schon gesellschaftlicher Widerstand in verschiedenen Formen: Drei Münchener Straßenbahnfahrer gingen in die Öffentlichkeit, indem sie sich weigerten, Bundeswehr-Werbung durch die Stadt zu befördern.4 In Hamburg wurde Sabotage an einem Kriegsschiff durch Metallspäne im Antrieb verübt.5 Gute Beispiele für direkten Widerstand sind natürlich auch die Hafenarbeiter:innen von Genua6, Marseille7 und Athen8, die Waffenlieferungen an Israel und Saudi-Arabien blockierten. Jede:r Rheinmetall-Mitarbeiter:in, jede:r VW-Arbeiter:in, der:die bald Panzerteile schrauben muss und seine:ihre Arbeit niederlegt ist wichtig! Jede Bäckerei, die keine Bundeswehr-Werbung auf ihren Brottüten zulässt, entzieht sich der Kriegspropaganda. Jede dieser ungehorsamen Aktionen ist wertvoll und ein kleiner aber nicht zu vernachlässigender Schritt hin zu einem gesellschaftlichen Widerstand. Es ist unsere Aufgabe, auf widerständige Arbeiter:innen zuzugehen und ihre Aktionen praktisch zu unterstützen.

Haltung zu Bundeswehr,Wehrdienst und Soldat:innen

Zum jetzigen Zeitpunkt sollten wir angesichts der nach wie vor verbreiteten Ablehnung von Krieg und Wehrpflicht in der Gesellschaft diese Haltung unterstützen und dem deutschen Staat die Kriegstüchtigkeit erschweren, indem wir dafür sorgen, dass er nicht genügend Soldat:innen rekrutiert. Solange die Wehrpflicht nicht vollständig wieder eingeführt ist, gilt es, sie abzulehnen und zu verhindern, dass große Teile der jungen Generation in der Armee militaristisch indoktriniert werden und potenziell in einem Schützengraben in Osteuropa sterben müssen. Die Verweigerung des Wehrdienstes ist für uns aber keine allgemeine Position, sondern eine, die zum jetzigen Zeitpunkt politisch Sinn macht. Die Frage Verweigerung oder Wahrnehmung des Wehrdienstes leitet sich taktischaus den konkreten Umständen der Gesellschaft und dem Charakter der Bundeswehr ab und ordnet sich der Strategie des Widerstands unter. In einem Szenario, in dem sich ein großer Teil der jungen männlichen Bevölkerung in der Armee befindet, wäre dies für Sozialist:innen ein zentrales gesellschaftliches Arbeitsfeld. In diesem Fall müssten wir unsere Notwendigkeiten und Möglichkeiten der politischen Arbeit innerhalb und außerhalb der Armee neu bestimmen. Zum jetzigen Zeitpunkt ist die Bundeswehr eine professionelle Berufsarmee und vermutlich wird sich das auch nicht so schnell ändern, da auch neue Wehrdienstleistende vermutlich vor allem zweitrangige Aufgaben hinter der Front ausführen würden, wie Wache halten, Transporte durchführen und Latrinen putzen. Sollte die Bundeswehr über die Jahre aber durch eine Masse halbprofessioneller Eingezogener den Charakter einer Volksarmee bekommen, müssten wir unsere Strategie, die Notwendigkeiten und Möglichkeiten des Widerstands im Bezug auf die Armee neu ausrichten. Wir stehen nicht für einen unpolitischen Pazifismus, sondern vertreten ein taktisches Verhältnis zur Armee, welches sich aus den Bedingungen und Kräfteverhältnissen des Antikriegswiderstands und Klassenkampfes ableitet.

Ein anderer Aspekt bezüglich des Themas Militär ist die Arbeit mit (Ex)Soldat:innen, die sich als solche an der Antikriegsarbeit beteiligen wollen. Soldat:innen, die die Gräuel des Kriegs und die Sinnlosigkeit des Tötens und Sterbens erlebt haben, können ihre Sicht auf die Kriegspolitik des Staates ändern. Am Beispiel der Anti-Vietnamkriegsbewegung in den USA sieht man, dass sie mitunter eine entscheidende Rolle spielen können, denn diese war unter anderem deshalb erfolgreich, weil Veteranen und (Ex-)Soldaten an ihr teilnahmen und teils große Protestmärsche anführten, was gesellschaftlichen Eindruck machte. Soldat:innen sind auch darum nicht verallgemeinert nur als Feinde zu betrachten, sondern müssen auch als politische Subjekte gesehen werden, die es wenn möglich zu gewinnen gilt.

Greifbare Realpolitik: Konkrete Forderungen​​​​​​​ und Konzepte

Um von den Menschen ernst genommen zu werden, braucht es auch kurz- und mittelfristig umsetzbare realpolitische Perspektiven. Es ist wichtig, dass wir nicht als pazifistische Hippies und realitätsferne Träumer wahrgenommen werden, weil wir nur in abstrakten Phrasen und utopischen Wünschen sprechen, sondern für die Leute nachvollziehbare, praktikable und greifbare Konzepte zur Lösung der imperialistischen Krise anbieten können. Aufbauend auf den Analysen aus These 5 halten wir es für aussichtsreich, in den Diskussionen nicht bei einem moralischen „Krieg ist schlecht“ stehen zu bleiben, ohne Alternativen für die aktuelle politische Lage vorzuschlagen, sondern ruhig mit unseren Analysen der Ursachen von Krieg und Imperialismus und Vorschlägen für alternative gesellschaftliche Wirtschafts- und Organisierungsformen wie Vergesellschaftung und Demokratisierung großer Industrien und wichtiger Infrastruktur verbunden mit internationaler Abrüstung und Kooperation selbstbewusst in den Raum zu stellen. Nicht weil wir diese damit schon heute umsetzen könnten, aber als Perspektiven, über die Leute nachdenken können und um zu zeigen, dass wir reale Konzeptvorschläge haben, die rechtlich, politisch, wirtschaftlich und materiell funktionieren können.

Dies können wir mit realpolitischen Forderungen populistisch untermauern. Zum Beispiel: Statt den Soldatensold um 80 % zu erhöhen, sollte der Lohn von Krankenpfleger:innen, Lehrer:innen, Kindergärtner:innen, Sozialarbeiter:innen, Verkäufer:innen sowie Bus- und Bahnfahrer:innen jeweils um 15 % steigen. Statt 80.000 neue Soldat:innen für die Bundeswehr zu rekrutieren, sollten 80.000 Arbeiter:innen für das Gesundheits-, Bildungs- und Sozialwesen zu besseren Bedingungen ausgebildet werden. Statt private, profitorientierte Rüstungsunternehmen weiter zu fördern, fordern wir ihre Enteignung, Vergesellschaftung und demokratische Kontrolle sowie die Umstellung auf die Produktion ziviler Güter.

Wir können und wollen an dieser Stelle nicht ein vollständiges Programm, inklusive Durchrechnung des Staatshaushalts aufstellen, da das ein Prozess der Diskussion aller beteiligten Kräfte sein muss. Aber mit solchen realpolitisch umsetzbaren Maßnahmen müssen wir uns beschäftigen und sie propagieren, um mittels konkreter Forderungen unsere Prinzipien und Inhalte als Alternative zu Aufrüstung und Kürzungen und gleichzeitig politische Ernsthaftigkeit und Glaubwürdigkeit zu vermitteln. Dazu gehören auch realpolitische Forderungen und Konzepte einer linken Außen-, Sicherheits- und Militärpolitik.9

Im und nach dem Krieg

Die Vorschläge und Überlegungen in dieser These zielen bisher vor allem auf die Verhinderung des Krieges ab und gehen von der Möglichkeit dessen aus. Das sollte auch erst einmal das ins Auge gefasste Ziel bleiben. Jedoch sind die praktischen Vorschläge zur Vernetzung, inhaltlichen Auseinandersetzung und Aufbau von Strukturen auch darüber hinaus relevant. Denn auch wenn ein Krieg losbricht, ist der Widerstand nicht vorbei, geht in gewisser Weise gerade erst richtig los und wird umso stärker geleistet werden müssen. Und auch für eine Zeit nach dem Krieg, nach dem großen Sturm, was auch immer dann passiert sein wird und wie auch immer die Welt aussieht, ist eine solche jetzt schon begonnene Widerstands- und Aufbauarbeit relevant. Denn mit dem Krieg werden auch die gesellschaftlichen Widersprüche und Auseinandersetzungen potenziell schärfer. Am Ende des Ersten Weltkriegs kam es in Russland zur Großen Sozialistischen Oktoberrevolution und in anderen Ländern zu weiteren Aufständen und Revolutionsversuchen. Die Situation war auch durch das Elend des imperialistischen Kriegs reif geworden, der neben dem Kampf zwischen den Gesellschaften immer auch ein Krieg innerhalb der Gesellschaft ist. Wir sollten also unsere Aufgaben ernst nehmen und uns für die Auseinandersetzungen der nächsten Jahre und Jahrzehnte gut aufstellen.

Notwendige Selbstkritik sozialistischer Kräfte

Dem Aufbau einer effektiven sozialistisch-antiimperialistischen Organisierung stehen häufig nicht nur der Staat, sondern auch wir selbst im Weg. Die Auseinandersetzung zwischen verschiedenen sozialistischen Akteuren in Deutschland hat häufig eher einen Konkurrenz-Charakter, als dass sie der gemeinsamen Sache dient. Wir brauchen keine unnötigen Szenediskussionen, die nur auf Rechthaberei zielen und sich im Kern darum drehen, wer vermeintlich der größte Leninist ist, sondern wir brauchen eine gemeinsame inhaltliche Grundlage und darauf aufbauend eine breite sozialistische Kraft, die ihren Fokus nach vorne und auf gemeinsame Ziele richtet, anstatt gegeneinander und uns selbst. Wir können uns die Zersplitterung nicht mehr leisten, angesichts der Bedrohungslage ist das unverantwortlich. Innersozialistische Grabenkämpfe müssen aufhören. Damit meinen wir nicht den „Israel-Palästina-Konflikt“, in welchem unsere Haltung klar sein sollte (Spoiler: Gegen Genozid und Kolonialismus), sondern dass es im Alltagsgeschäft vieler sozialistischer Kleingruppen in Deutschland zu wenig um die übergeordnete Sache geht und zu viel um die gegenseitige Abwerbung von Mitgliedern, Recht haben (z.B. die Klärung, ob der Revisionismus der Sowjetunion auf dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 oder schon früher angefangen hat), Theorie-Mackerei wer am revolutionärsten ist und gegenseitiges Beschmeißen mit Wörtern, die außerhalb der kommunistischen Bubble kein Mensch versteht. Was endlich wieder im Fokus stehen muss, sind die gemeinsamen Ziele: Das gesellschaftliche Wohl, die Zukunft des Landes und der Welt, die Menschen um uns herum und an anderen Orten der Welt, die unter Imperialismus und Krieg leiden. Das sollten unsere Werte und Orientierung sein. Nur so können wir ernst genommen werden. Und nur so können wir uns selbst ernst nehmen. Der sektiererische Selbstreferenzialismus muss hinter uns bleiben, um in den kommenden größten gesellschaftlichen Klassenkämpfe und militärischen Kriegen der letzten Jahrzehnte unser Profil und unsere Haltung unter Beweis zu stellen und die Leute dazu zu bringen, uns, unserem System, unseren Ideen zu vertrauen. Das heißt nicht, dass keine inhaltlichen Debatten geführt werden können und sollten, aber mit dem Ziel des Aufbaus einer gesellschaftlichen Kraft und politischer Macht und nicht, um recht zu haben und dafür im roten Kleinkrieg jede gesellschaftliche Sympathie zu verlieren.

Für ein sozialistisches Bündnis und den Aufbau einer gesellschaftlichen Antikriegsbewegung!

Wir müssen Events wie das Rheinmetall Entwaffnen-Camp als Orte des Zusammenkommens verstehen und dazu nutzen, Bündnisse zu schmieden und eine verbindliche, kontinuierlich arbeitende Struktur gegen die imperialistische Zuspitzung und den Kriegskurs aufzubauen. Wir müssen als revolutionäre Kräfte den Austausch suchen und gemeinsam an Strategien gegen den Krieg arbeiten. Dabei sollten Pragmatismus und Kooperation die Grundlage sein; keine Struktur und keine Theorieschule hat den fertigen Weg zu bieten, sondern muss in eine Aushandlung mit anderen gehen. Dafür wird es verschiedene Kräfte und Wege brauchen, welche ineinander greifen können, anstatt sich gegenseitig in Konkurrenz zu setzen. Wenn die Herrschenden und die Kriegstreiber davon sprechen, bis 2029 kriegstüchtig zu sein, müssen wir uns organisiert dagegen stellen. Nicht gegen die Gesellschaft, sondern in der Gesellschaft gegen die Kriegsmaschinerie…


Auf dem Sozialismus zu beharren,

heißt auf der Menschlichkeit zu beharren.“

Abdullah Öcalan


  1. Mehr zu linker Sicherheits-, Militär- und Außenpolitik in These 7 ↩︎
  2. https://zeitschrift-luxemburg.de/abc/revolutionaere-realpolitik/ ↩︎
  3. https://www.marxists.org/deutsch/archiv/lenin/1920/linksrad/ ↩︎
  4. https://www.br.de/nachrichten/bayern/bundeswehr-werbung-sei-kriegsdienst-tramfahrer-verweigern-arbeit ↩︎
  5. https://nachrichten.ostfriesischer-kurier.de/nachrichten/sabotageversuch-auf-korvette-emden-verhindert-7006.html ↩︎
  6. https://www.labournet.de/internationales/italien/gewerkschaften-italien/dass-wir-in-genua-die-waffenlieferung-an-saudi-arabien-bestreikt-haben-entspricht-der-tradition-das-haben-wir-auch-schon-bei-lieferungen-fuer-den-krieg-gegen-vietnam-und-gegen-den-irak-gema/ ↩︎
  7. https://www.klassegegenklasse.org/franzoesische-hafenarbeiterinnen-verweigern-erneut-verlad-von-ruestungsguetern-fuer-israel/ ↩︎
  8. https://www.middleeastmonitor.com/20250717-hundreds-of-greeks-gather-at-piraeus-port-to-block-military-shipment-to-israel/ ↩︎
  9. Mehr dazu in These 7 ↩︎

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Wer ist Shabir?

Shabir Baloch war ein prominenter belutschischer Studentenführer, der als zentraler Informationssekretär der Baloch Students Organization–Azad (BSO-Azad) tätig war. Am 4. Oktober 2016 wurde er während einer Militäroperation in Gowarkop im Distrikt Kech in Belutschistan von pakistanischen Sicherheitskräften entführt. Seine Frau und seine Familienangehörigen wurden Zeugen der Entführung. Seitdem ist sein Verbleib unbekannt. Amnesty International veröffentlichte einen dringenden Aktionsaufruf (UA 232/16), in dem gewarnt wurde, dass Shabir ernsthaft von Folter und außergerichtlicher Hinrichtung bedroht sei. Trotz wiederholter Appelle haben die pakistanischen Behörden weder seine Inhaftierung bestätigt noch ihn vor Gericht gestellt. Seine Familie, insbesondere seine Frau Zarina und seine Schwester Seema, haben einen unermüdlichen Kampf geführt und Proteste, Sitzstreiks und Aufklärungskampagnen in Belutschistan, Karatschi und Islamabad organisiert.

Shabirs Fall ist zum Symbol für Tausende von Fällen von Verschleppungen in Belutschistan geworden, wo der Staat nicht nur Krieg gegen die Körper seiner Bevölkerung führt, sondern auch gegen ihr Gedächtnis, ihre Würde und ihren Widerstand.

Der Brief

An meinen geliebten Shabir,

ich sende dir meine Grüße. Ich kann dich nicht nach deinem Befinden fragen, denn in den Gefängnissen und Folterkammern dieses Staates geht es niemandem gut.

Shabir, seit diesem Tag, dem 4. Oktober 2016, sind die Farben unseres Lebens verblasst. Belutschistan sieht mehr denn je wie ein Kriegsgebiet aus. Jeden Tag verschwinden Menschen gewaltsam, und unzählige Leichen werden auf verlassene Straßen und in die Dunkelheit der Nacht geworfen.

Du hast bei deinen Versammlungen oft gesagt, dass der Staat die Belutschen wie Tiere behandeln würde. Damals habe ich das vielleicht nicht ernst genommen. Aber heute, wo ich diese Grausamkeit mit eigenen Augen sehe, treffen mich deine Worte jeden Tag wie ein Stich ins Herz. Ich hätte nie gedacht, dass ich, deine Schwester, dir eines Tages von diesen Umständen berichten würde. Ich habe immer geglaubt, dass du derjenige sein würdest, der mir erklärt, wie sich Sklaverei wirklich anfühlt.

Aber heute ist es meine Feder, die sich bewegt, und ich schreibe diesen Brief, um dir zu erzählen, wie sich unsere Welt verändert hat, seit du verschleppt wurdest, und wie Belutschistan brennt.

Shabir, ich bringe es nicht über mich, Ammas (Mutter) Geschichte voller Trauer und Kummer zu schreiben, also vergib mir bitte im Voraus. Sie sitzt Tag und Nacht an der Tür und hofft, dass ihr Shabir zurückkehrt, damit sie dich an ihre Brust drücken und die Jahre des Schmerzes wegwaschen kann. Sie bleibt nachts wach, als wäre auch ihr Schlaf mit dir gefangen.

Zarina, Shabir’s Ehefrau mit einem Poster: „Ich weiß nicht ob ich Shabir’s Ehefrau oder Witwe bin!“

Shabir, seit deinem Verschwinden ist das Glück aus unserem Haus gewichen. Zarina ist nicht mehr die Zarina, die du einmal kanntest. Ihr Lächeln ist verschwunden. Sie geht nicht mehr zu Zusammenkünften, sie spricht nicht mehr. Shabir, Zarina ist still geworden. Ich sage ihr immer wieder, sie solle sich erholen, neue Kleider tragen. Aber sie wird nur still und sagt:

„Ich werde mich erst schmücken, wenn mein Shabir zurückkehrt. Dann werde ich wieder eine Braut sein.“

Und als sie das sagt, laufen ihr Tränen über das Gesicht. Ich kann es nicht ertragen.

Ich habe beschlossen, dir diesen Brief zu schreiben, aber Shabir, wie kann ich neun Jahre in einem einzigen Brief zusammenfassen? Trotzdem versuche ich es.

Weißt du noch, wie wir eines Tages zu einer Kundgebung nach Karachi gefahren sind? Zarina und ich waren die ersten, die im Presseclub ankamen. Aber die Polizei war bereits da. Sobald wir ankamen, steckten sie uns in ein Fahrzeug und brachten uns zu ihrem Kontrollpunkt. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich in einen Polizeiwagen gesetzt wurde. Ich hatte schreckliche Angst; Tränen füllten meine Augen. Aber meine Angst galt nicht mir selbst. Ich dachte nur an dich, wie du wohl in ein solches Fahrzeug gezerrt, geschlagen und mit verbundenen Augen festgehalten worden sein musstest.

Aber Zarina, deine liebe Zarina, tröstete mich und sagte:

„Mach dir keine Sorgen, wir sind nur am Kontrollpunkt. Uns wird nichts passieren.“

Unser Leben besteht nun darin, uns gegenseitig zu trösten. Später wurden wir freigelassen, aber diese Momente werden uns immer im Herzen bleiben.

Shabir, der Schmerz ist so tief, dass selbst die Feder zögert, ihn zu beschreiben. Kennst du einen jungen Mann namens Zeeshan Zaheer, der für die Freilassung seines vermissten Vaters kämpfte? Eines Nachts wurde auch er gewaltsam verschleppt. Am nächsten Morgen wurde seine verstümmelte Leiche vor sein Haus geworfen, als wäre sie ein „Geschenk“. Sein Märtyrertod stürzte ganz Belutschistan in Trauer. Die Menschen strömten in alle Städte, es wurden Kundgebungen abgehalten und Kerzen angezündet. Auch wir veranstalteten unter dem Banner des BYC (Baloch Yakjehti Committee) eine Kundgebung am Hub-Kontrollpunkt.

Alle vergossen Tränen über Zeeshans Märtyrertod. Aber als wir den Hub-Checkpoint erreichten, hatte die Polizei den Presseclub bereits umzingelt. Sie versuchten, uns aufzuhalten, aber wir weigerten uns, uns zurückzuziehen, und begannen eine friedliche Kundgebung auf der Straße. Innerhalb weniger Minuten griff die Polizei an. Sie schlugen uns, traten uns, schossen auf uns und stießen uns in Fahrzeuge, wobei sie uns mit Worten beschimpften, die uns bis ins Mark erschütterten.

Shabir, ich habe mich an diesem Tag immer wieder gefragt, welches Verbrechen wir begangen hatten, dass wir geschlagen, beschimpft und gedemütigt wurden. Wir wurden zum Checkpoint gebracht.

Und dann verstand ich: Der Staat foltert uns nicht nur, weil wir unsere Stimme erheben. Er foltert uns, weil er weiß, dass wir nicht mehr unwissend sind. Er weiß, dass Aktivisten wie du, die in seinen Folterzellen eingesperrt sind, uns bewusst gemacht haben.

Der Staat kann versuchen, uns zu unterdrücken, so viel er will, aber solange wir atmen, werden wir weiterhin unsere Stimme für dich und für jeden vermissten Belutschen erheben.

Shabir, nach Zeeshans Märtyrertod, als wir zum Kontrollpunkt gebracht wurden, beschimpften und verfluchten sie uns weiter. Wir wurden wie Kriminelle eingesperrt. Stunden vergingen in erstickender Hitze, und sie gaben uns kein Wasser. Einige der jüngeren Kinder, die bei uns waren, fingen vor Angst an zu weinen.

Spät in der Nacht holten sie uns nacheinander heraus. Die Polizistinnen schlugen uns, zogen uns an den Haaren und stießen uns herum. Dann schoben sie uns wieder hinein. Wir fragten immer wieder: „Welches Verbrechen haben wir begangen? Welches Gesetz haben wir gebrochen?“ Aber statt Antworten bekamen wir nur weitere Tritte und Beleidigungen.

Zwei oder drei Stunden später ertönte plötzlich eine laute Stimme: „Steht auf, ihr werdet freigelassen. Eure Leute sind gekommen, um euch abzuholen.“ Aber Shabir, niemand empfand in diesem Moment Freude. Wir alle sahen uns geschockt und verängstigt an und fragten uns, ob es sich um eine weitere Falle handelte.

Sie brachten uns aus dem Kontrollpunkt heraus und fuhren uns in Polizeifahrzeugen weit weg. Wir dachten, wir würden freigelassen, aber stattdessen brachten sie uns ins Gadani-Gefängnis. Dort wurden wir in schmutzige, stinkende Zellen gesteckt, in denen selbst Tiere sich weigern würden zu bleiben. Der Geruch war unerträglich, überall wimmelte es von Mücken. Wir konnten die ganze Nacht nicht schlafen.

Am nächsten Morgen nahmen sie unsere Namen auf und ließen uns in Reihen stehen, als wären wir Kriminelle. Dann brachten sie uns altes Essen, das kaum genießbar war. Einige der jüngeren Mädchen konnten überhaupt nichts essen. Unsere Kleidung war von den Schlägen zerrissen, unsere Haare zerzaust, unsere Gesichter geschwollen. Aber Shabir, nichts davon hat unseren Geist gebrochen.

Wir standen vor den Gefängnisbeamten und sagten:

„Wir sind keine Kriminellen. Wir sind hier, weil wir unsere Stimme für unsere vermissten Brüder erhoben haben. Wenn Sie glauben, Sie könnten uns mit Gefängnissen zum Schweigen bringen, irren Sie sich. Wir werden unsere Stimme noch lauter erheben als zuvor.“
Nach zwei Tagen ließen sie uns plötzlich ohne Erklärung frei. Sie ließen uns mitten in der Nacht am Straßenrand stehen. Wir kamen erschöpft zu Hause an, unsere Körper waren voller Blutergüsse, aber unsere Entschlossenheit war stärker denn je.

Shabir, was ich dir sagen möchte, ist Folgendes: Der Weg, den du uns gezeigt hast, das Bewusstsein, das du uns vermittelt hast, lebt weiter. Der Staat mag uns in Kontrollpunkte, Folterzellen oder Gefängnisse stecken, aber er kann die Kette des Widerstands nicht brechen.

Shabir, erinnerst du dich, wie unsere Schwester Seema vor neun Jahren noch zu schüchtern war, um überhaupt zu sprechen? Sie konnte nicht einmal richtig Urdu sprechen. Aber heute, Shabir, steht Seema auf den Straßen von Karachi und Islamabad und trotzt dem Staat auf Urdu.

Deine Trauer hat uns stark gemacht, Shabir. Wir wachsen in unserer Trauer.

Nun beende ich diesen Brief mit der einzigen Hoffnung, dass dieser Schmerz der Trennung eines Tages ein Ende haben möge. Aber die liebevollen Erinnerungen an dich werden immer in meinem Herzen weiterleben. Und ich gebe dieses Versprechen: Solange wir atmen, wird keiner von uns aufhören, für die Verschwundenen Widerstand zu leisten.

Shabir, wir haben von Dr. Mahrang Baloch gelernt, dass Widerstand Leben ist, und in diesem bleiben wir am Leben.

Die bitteren Erinnerungen an deine Abwesenheit können niemals ausgelöscht werden. Ich kann nur eines wünschen: dass du zusammen mit allen Verschwundenen bald zurückkehrst, damit auch wir wie andere Menschen auf der Welt leben können.

Deine kleine Schwester,
Sammul

Sammul mit einem Bild ihres Bruders

Schlussbemerkung

Shabirs Geschichte ist nicht nur der Schmerz einer Familie. Es ist der Schmerz einer Nation, in der Tausende von Müttern, Ehefrauen und Schwestern weiterhin auf ihre verschwundenen Angehörigen warten. Dieser Brief, geschrieben in Liebe und Schmerz, ist auch ein Manifest des Widerstands: ein Beweis dafür, dass selbst in den dunkelsten Zellen die Erinnerung überlebt und der Kampf für die Freiheit nicht zum Schweigen gebracht werden kann.

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Von Dur Bibi *

QUETTA, 18. Juli – Die Geschichte wird sich an dieses Datum nicht wegen der Anklagen erinnern, die im Gerichtssaal Nr. 4 des Anti-Terror-Gerichts in Quetta verlesen wurden, sondern wegen der Art und Weise, wie das Baloch Yakjehti Committee (BYC) ein Scheinverfahren in ein unvergessliches Spektakel des Widerstands verwandelte. An diesem schwülen Sommertag traf die Unterdrückungsmaschinerie des Staates auf etwas weitaus Mächtigeres – den unbesiegbaren Geist eines Volkes, das den Widerstand zu seiner Muttersprache gemacht hat.

Wer ist das Baloch Yakjehti Committee (BYC)?

Das BYC ist eine politische Basisbewegung, die von belutschischen Studenten, Aktivisten und Familien von Verschwundenen gegründet wurde. Entstanden aus jahrzehntelanger brutaler staatlicher Unterdrückung in Belutschistan, einschließlich Verschleppungen, außergerichtlichen Tötungen und der Unterdrückung abweichender Meinungen, hat sich das BYC zu einer moralischen und politischen Kraft entwickelt, die auf gewaltfreiem Widerstand basiert. Was das BYC auszeichnet, ist die zentrale Rolle der belutschischen Frauen, die ihre Trauer in politisches Handeln verwandelt haben. Durch friedliche Sitzstreiks, Protestmärsche und Erinnerungsarbeit hat das Komitee die internationale Aufmerksamkeit auf einen der am stärksten verschwiegenen Kämpfe Pakistans gelenkt. Von ihrem langen Marsch von Turbat nach Islamabad in den Jahren 2023–24 bis zu ihrem anhaltenden Widerstand vor Gerichten und auf den Straßen steht das BYC als Gewissen einer verwundeten Nation.

Dr. Mahrang Baloch betrat den Gerichtssaal wie eine Königin ihren Hof, ihr Lachen hallte von den Wänden wider, ein Klang, der für die Autorität des Staates verheerender war als jeder Protestgesang. Die BYC-Führerin, deren Name allein das Establishment erzittern lässt, verwandelte den Tisch der Staatsanwaltschaft mit ihrem spöttischen Lächeln in eine Comedy-Bühne. Jedes Grinsen, jedes hochgezogene Augenbraue angesichts der absurden Anklagen war eine Revolution im Kleinen.

Die jahrelangen unermüdlichen Kämpfe der BYC – ihre Sitzstreiks, die zu Universitäten des Widerstands wurden, ihre Märsche, die sich in bewegliche Festungen der Dissidenz verwandelten – gipfelten alle in diesem historischen 18. Juli. Was als Demütigung gedacht war, wurde stattdessen zu ihrer Krönung. Alles gipfelte in diesem Moment, in dem die Gefängniswärter nervös wirkten und die Gefangenen befreit.

Ein Vater-Tochter-Wiedersehen jenseits aller Worte

Die bewegendste Szene im Gerichtssaal war das stille Wiedersehen zwischen Beebow (Anm. der Redaktion: Beebow Baloch ist eine belutschische Menschenrechtsaktivistin, sie ist Teil des BYC. Ihr Vater wurde durch den pakistanischen Staat verschleppt) und ihrem Vater, Mama Ghaffar. In einem Raum voller Spannung und bewaffneter Wachen sprachen ihre Blicke und ihre Umarmung Bände – eine Verbindung, die durch Schmerz, Widerstand und das Verlangen nach Gerechtigkeit geschmiedet wurde. Ihre stille Kommunikation spiegelte Generationen von Trauer, vermissten Angehörigen, zum Schweigen gebrachten Stimmen und den unerbittlichen Geist wider, den keine Ketten brechen konnten. Als die Anhörung beendet war und die Häftlinge in separate Gefängnisse zurückgebracht wurden, hob Mama Ghaffar, der seine Tochter Beebow im Arm hielt, seine gefesselten Hände zum Himmel. Ohne zu schreien oder Parolen zu rufen, war seine Geste eine kraftvolle Erklärung des Widerstands – ein Beweis dafür, dass Körper zwar gefesselt sein mögen, der Geist jedoch frei bleibt.

Revolutionäre Leben

Gulzadi, eine feurige junge Führerin der Bewegung, stand wie ein Dolch, der auf die Kehle des Staates gerichtet war. Ihr unerschütterlicher Blick auf die Richter sagte, was der 18. Juli für immer sagen wird: „Wir sind hier die Ankläger.“ Nebenan verwandelte Sibghatullah Shah Ji seine Anklagebank in eine Kanzel, seine ruhige Präsenz strahlte eine moralische Autorität aus, die kein Gericht verleihen oder wegnehmen kann.

Und dann war da noch Beebgr, der vom Staat oft als „behindert“ diskreditiert wurde, der sich aber diesen Vorurteilen völlig widersetzte. Trotz körperlicher Beeinträchtigungen und Versuchen, ihn zu unterdrücken, war sein Geist unaufhaltsam. Als er „zinda hai muzahimat, zinda hai“ (der Widerstand lebt) skandierte, war dies die perfekte Metapher für Belutschistan selbst – ein Körper, der gefesselt ist, aber ein Geist, der so eindrücklich ist, dass er sogar die Unterdrücker zum Zweifeln zwingt.

Am 18. Juli 2025 ging es nie um die Anklagen des Staates. Es ging um Mahrangs Lachen, das die Angst des Staates entlarvte. Um Beebows Umarmung, die die Regeln des Kampfes neu schrieb. Um Gulzadis Blick, der die Fassade der Gerechtigkeit durchbohrte. Um Sibghatullahs Würde, die die Autorität des Gerichts in den Schatten stellte. Um Beebgrs Rollstuhl, der zum Streitwagen der Revolution wurde.

Das BYC erschien an diesem historischen Tag nicht nur vor Gericht, sondern inszenierte einen Aufstand der Hoffnung. Jedes Grinsen, jede trotzige Geste, jeder ungebrochene Kopf war Teil einer Erklärung, die durch die Zeit hallen wird. Die Geschichte erinnert sich an Tage wie den 18. Juli, weil sie alles verändern. An diesem Tag bewies das Baloch Yakjehti Committee in einem Gerichtssaal, der zur Einschüchterung gedacht war, einmal mehr, dass die stärksten Ketten diejenigen sind, die die Unterdrücker an ihre eigene Angst binden, während die Unterdrückten frei in ihrer Überzeugung sind.

Der Staat brachte am 18. Juli Handschellen mit. Das BYC brachte Geschichte mit.
Und als die Sonne an diesem unvergesslichen Tag unterging, wusste jeder, was Bestand haben würde.

*Über die Autorin

Dur Bibi war Studentin der Verteidigungs- und Strategiestudien an der Quaid e Azam University in Islamabad. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf asymmetrischer Kriegsführung, Gender und Sicherheit sowie revolutionären Doktrinen in Südasien. Sie schreibt aus dem Schnittpunkt von gelebtem Widerstand und militärischer Analyse.

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Am Mittwoch, den 10. September, gingen zehntausende Menschen in Frankreich auf die Straße.

Bei der Bewegung „Bloquons tout“ – „Lasst uns alles blockieren“ wurde landesweit die angesammelte Wut gegen die Politik Macrons sichtbar. Der Protest richtete sich vor allem gegen den französischen Präsidenten, der im Juni 2024 aus rein machtpolitischen Überlegungen das Parlament aufgelöst und daraufhin seine Mehrheit verloren hat.

Theo, seit Jahren in antifaschistischen Netzwerken im Osten von Paris aktiv, war in den Momenten vor und am 10. September beteiligt und gibt uns einen persönlichen Eindruck und eine Einschätzung zu der Bewegung. Seine Gruppe arbeitet auf Nachbarschaftsebene daran, physische und intellektuelle Selbstverteidigung und Selbstorganisation aufzubauen und auf materielle Autonomie hinzuarbeiten. Dazu gehören klassische Selbstverteidigungspraktiken sowie Gemeinschaftsbildung und speziell im Pariser Kontext, materielle und organisatorische Unterstützung für unserer geflüchteten Genoss*innen gegen staatliche und polizeiliche Schikanen.

Momente wie der 10. September bieten eine gute Gelegenheit, um zu sehen, wie einige der Arbeiten Früchte tragen: Werden die Menschen diesen Moment für sich nutzen, ihn als Gelegenheit sehen, Autonomie zu erlangen, oder werden sie in einer passiven „Forderungs-/ Erlaubnis”-Beziehung zum System verbleiben?

Was ist „Bloquons Tout” (Blockieren wir alles)?

Alles begann mit einem Slogan und einem Datum: dem 10. September. Dieser wurde am Anfang des Sommers als Reaktion auf die Bekanntgabe des Haushaltsplans der französischen Regierung verbreitet. Dieser Haushaltsplan war (und ist immer noch) ein brutaler Sparplan, der Kürzungen der öffentlichen Ausgaben in Höhe von 44 Milliarden Euro vorsah, wobei alle öffentlichen Dienste und Ministerien Budgetkürzungen hinnehmen mussten, mit Ausnahme des Ministeriums für Streitkräfte (das französische „Verteidigungsministerium”)[1].

Dieser Plan sah auch die Abschaffung von zwei Feiertagen (d. h. eine pauschale Lohnkürzung von etwa 1 % für alle Arbeitnehmer), tiefgreifende Kürzungen bei der Sozialversicherung und vieles mehr vor. Dieser Haushaltsplan war ein weiterer brutaler Angriff der aggressiven kapitalistischen Kräfte auf die Gesellschaft, durchgeführt durch einen ihrer mächtigsten Vertreter im französischen Kontext: den Staat. Er folgte auf die Rentenreform von 2023 (mit der das Mindestrentenalter von 62 auf 64 Jahre angehoben wurde) und die Gelbwesten-Bewegung von 2018–2019, um nur einige zu nennen.

Also: ein Slogan – „Bloquons Tout!“ – und ein Datum – der 10. September. Ich werde nicht zu sehr auf die Frage eingehen, „woher er stammt“ (das würde eine eigene Kolumne verdienen), sondern mich mehr darauf konzentrieren, „wer ihn aufgegriffen hat und wie“. Zunächst einmal war er eindeutig von der Gelbwesten-Bewegung inspiriert: Aufrufe zu dezentralen Aktionen, eine Distanzierung der Menschen von Gewerkschaftsverbänden[2] und politischen Parteien oder das Fehlen einer führenden Persönlichkeit des öffentlichen Lebens.

Unter diesem Motto forderten die Menschen direkte Aktionen (Blockaden von Straßen, Autobahnen, Logistikzentren usw.) sowie den Rücktritt des Premierministers François Bayrou und des Präsidenten Emmanuel Macron und zeigten damit deutlich ihre Absicht, von den traditionellen, ritualisierten Protestformen in Frankreich wie Streiks und zentralisierten Demonstrationen abzuweichen. 

Eine Veränderung gegenüber den Gelbwesten bestand darin, dass die autonomen und revolutionären Kräfte der sozialen Bewegung von Anfang an mit an Bord waren und versuchten, ihre organisatorischen Kräfte auf alles einzustellen, was kommen würde. All dies mit einem Ziel: Wenn die Bewegung einen transformativen Einfluss auf die Gesellschaft haben soll, muss sie unabhängig von den institutionellen linken Kräften sein, die de facto Verbündete des Status quo sind.

In den Wochen vor dem 10. September bildeten sich mehr oder weniger spontane Versammlungen im ganzen Land, von Kleinstädten bis hin zu den größeren Städten, wobei sich in Paris und seinen Vororten bis zu 500 Menschen versammelten. Auch hier wurde in diesen Versammlungen ein taktisches Ziel weitgehend geteilt: „Lasst uns von den üblichen zentralisierten, massiven Demonstrationen abkommen und uns lokal organisieren, dort, wo wir leben, wo wir arbeiten, wo wir studieren.“ Was den Inhalt betrifft, so wurden in typisch französischer Manier Bedenken hinsichtlich der bröckelnden öffentlichen Dienste geäußert; Es wurden Forderungen laut, „die Reichen zu besteuern“, die Schulen zu finanzieren, das Rentenalter zu senken. Das ist das, was ich als „die Besonderheit der Franzosen“ bezeichnen würde: Aufgrund der Zentralisierung unserer Gesellschaft, aufgrund des Ausmaßes, in dem wir unsere Autonomie an den Nationalstaat delegieren (Frankreich ist der Inbegriff eines Nationalstaates, wenn es jemals einen gab), und aufgrund unseres Stolzes auf das „Recht, für das wir gekämpft haben“, besteht unser Hauptrahmen für soziale Forderungen darin, „mehr vom Sozialstaat zu verlangen“.

Was jedoch in Versammlungen gesagt wird – einer sehr strengen, ritualisierten Art des Gedankenaustauschs – spiegelt nicht unbedingt die tatsächliche politische Praxis vor Ort wider. Dazu später mehr.

Abschließend zum Inhalt der Versammlungen ist anzumerken, dass zumindest in den Versammlungen, an denen ich in Paris teilgenommen habe, viele Kämpfe und Forderungen ausdrücklich mit der raschen Militarisierung der Gesellschaft und der Rolle Frankreichs im weltweiten kapitalistischen Imperialismus in Verbindung gebracht wurden. So bezogen sich beispielsweise zahlreiche Reden zu Frauen- und Geschlechterkämpfen auf Emmanuel Macrons Forderung nach einer „demografischen Aufrüstung“, während Forderungen gegen die Profitakkumulation mit der Zusammenarbeit des französischen militärisch-industriellen Komplexes mit dem Völkermord in Palästina und dem Rohstoffabbau im Kongo in Verbindung gebracht wurden.

Was tatsächlich geschah

Zunächst einmal, und das ist in der Geschichte der französischen sozialen Bewegungen beispiellos, trat Premierminister François Bayrou praktisch noch bevor die Bewegung überhaupt begann, zurück [3]. Nun möchte ich mich zurückhalten, dies als Erfolg oder Misserfolg der Bewegung zu bewerten, da es an sich nichts an der politischen Situation ändert (tatsächlich wurde François Bayrou sofort durch Sébastien Lecornu ersetzt, den amtierenden Minister für die Streitkräfte und engen Verbündeten von Präsident Emmanuel Macron). Dennoch gab dies sicherlich vielen Hoffnung hinsichtlich des Potenzials der Bewegung.

Kommen wir nun zu den Ereignissen des Tages. Ich möchte noch einmal betonen, dass es schwierig ist, eine genaue Einschätzung des Tages zu geben, da ich den größten Teil davon auf der Straße verbracht habe und daher nur durch die kleine Linse meiner eigenen unmittelbaren Erfahrungen Zeuge davon wurde. Zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Artikels kommen immer noch Berichte von Genossinnen und Genossen aus dem ganzen Land, und es ist unklar, wie es weitergehen wird. Was ich bisher sagen kann, ist, dass es sehr dezentralisiert und vielfältig war. Aktionen haben an vielen Orten in Frankreich stattgefunden (sowohl in Großstädten als auch in kleineren Orten). Selbst in Paris und seinen Vororten gab es den ganzen Tag über Dutzende von Aktionen (im Gegensatz zu einer einzigen großen Demonstration). Dabei wurden wir Zeugen einer Vielzahl unterschiedlicher Aktionen. Es gab die klassischen Streikposten, (die von den Arbeitern selbst organisiert wurden, im Gegensatz zu den zentralisierten Gewerkschaftsverbänden), große Versammlungen auf zentralen Plätzen und spontane Demonstrationen. Aber es gab auch Versuche, Barrikaden auf Straßen und Stadtringen zu errichten, sowie eher auf Autonomie ausgerichtete Initiativen wie selbstorganisierte Kinderbetreuung (an mindestens drei Orten in Paris), selbstorganisierte Lebensmittelverteilung (an mindestens vier Orten und mit drei mobilen Teams in Paris) und beliebte Besetzungszonen mit autonomielastigen Praktiken. So gab es beispielsweise eine „feministische Besetzungszone”, die von der Gruppe „Féministes Révolutionnaires“ im Osten von Paris eingerichtet wurde, wo den ganzen Tag über Versammlungen/Workshops zur direkten Demokratie organisiert wurden, damit die Menschen ihre eigenen sozialen Forderungen finden und ihre Bedürfnisse, die Bedürfnisse der Gesellschaft und die Bedürfnisse der Organisation zum Ausdruck bringen konnten. Es gab auch gemeinsame Lesungen, Kunst und Austausch.

Rund 12.000 Menschen kamen in diese Zone. Die meisten von ihnen waren keine militanten oder „organisierten Menschen“, und doch kamen sie für etwas, das keine „Unterhaltung“ bot, sondern Organisation und Autonomie.


Was können wir daraus schließen?

Nun, wahrscheinlich ist es noch zu früh, um eine fundierte Analyse zu liefern, da die Bewegung noch immer andauert während ich diese Zeilen schreibe.  Ich werde mich daher auf bescheidenere Beobachtungen beschränken, (die in den nächsten Wochen möglicherweise ohnehin irrelevant werden). Zunächst einmal war es eine ermutigende Beteiligung von bis zu 400.000 Menschen für einen Wochentag – ohne Aufrufe der zentralen Gewerkschaftsverbände. Wir sahen viele neue Gesichter auf den Straßen, die zum ersten Mal an direkten Aktionen (Barrikaden, Blockaden, …) teilnahmen und daran Geschmack fanden. Eine Bewegung sammelt aus solchen Momenten Erfahrungen und übt sich darin. Wir müssen jedoch feststellen, dass es zu keinen nennenswerten Blockaden gekommen ist. Die Barrikaden auf dem Pariser Ring hielten bestenfalls ein paar Stunden ohne den Kapitalfluss ernsthaft zu beeinträchtigen. Aber was konnten wir an einem einzigen Tag schon erwarten? 

Natürlich ist es verlockend, den 10. September mit der Gelbwesten-Bewegung zu vergleichen. Ich würde sagen, das ist eine akrobatische Übung, da wir den Beginn einer Bewegung mit einer Abfolge vergleichen würden, die wir in ihrer Gesamtheit analysieren können. Die Gelbwesten entwickelten sich im Laufe ihrer Dauer weiter: in ihrer Soziologie, ihren Forderungen und ihren Aktionsmitteln. Sie veränderten sich durch ihre eigenen Erfahrungen sowie durch Reaktionen auf äußere Kräfte: Medien, polizeiliche Repression usw. Am Ende der Gelbwesten-Bewegung ging es in den offen geäußerten Forderungen viel mehr um allgemeine soziale Gerechtigkeit und demokratische Macht als zu Beginn (als sie noch einen viel liberaleren Charakter hatten).

Welche Unterschiede lassen sich bisher feststellen? Die Gelbwesten entstanden aus einem Projekt zur Erhöhung der Kraftstoffsteuer, das direkte, existenzielle Auswirkungen auf das tägliche Leben großer Teile der Bevölkerung in verschiedenen sozialen Schichten hatte. Die Bloquons-Tout-Bewegung hat keinen ähnlichen Auslöser – selbst die Abschaffung von zwei Feiertagen ist nicht vergleichbar. Man könnte also befürchten, dass der Funke weniger stark ist.

Das bedeutet aber auch, dass die Menschen auf einer breiteren Basis mobilisiert sind: Sie fordern nicht „ein weiteres Recht” oder „höhere Löhne”. Viele Slogans, Reden und Interaktionen zeigen, dass die Menschen ihr Leben verändern wollen und eine direkte Verbindung zwischen Staatsmacht und kapitalistischer Macht herstellen. Die Erzählung über öffentliche Dienstleistungen scheint sich leicht zu verschieben, von „etwas, das uns der Staat schuldet” zu „etwas, das uns gehört und das wir selbst verwalten müssen“. Darüber hinaus baut die Bewegung auf der Wut und Unruhe auf, die durch fast ein Jahrzehnt der Brutalisierung der Gesellschaft durch den Staat verursacht wurden (zwei Rentenreformen, die Gelbwesten, der Aufstand von 2023 nach der Ermordung von Nahel, die Ignorierung der Ergebnisse der Wahlen von 2024 durch den Präsidenten). Die Spannungen zwischen der Gesellschaft und der herrschenden Klasse nehmen weiter zu. 

Dann können wir feststellen, dass die Bewegung von den Mainstream-Medien, den politischen Parteien und anscheinend einem großen Teil der Bevölkerung weitgehend als „linksgerichtet” identifiziert wurde. Auf der anderen Seite wurden die Gelbwesten lange Zeit als „unpolitisch” bezeichnet (was sie nicht waren, aber von der Macht vereinnahmte Etiketten sind nun einmal so). Die am 10. September zu hörenden Slogans waren Klassiker aus dem Repertoire der Linken („ACAB“, „Siamo Tutti Antifascisti“, „Tod dem Polizeistaat“), im Gegensatz zu Slogans, die im Alltag der Demonstranten verwurzelt sind. Angesichts des Ausmaßes der Gegenpropaganda, mit der die breite Linke konfrontiert ist, könnte dies einige Menschen von der Bewegung distanzieren. Zusätzlich zu ihrem „linksgerichteten“ Charakter wurde die Bewegung leicht von der institutionellen Linken kooptiert. La France Insoumise (Frankreichs wahlpolitisch führende linke Partei) kündigte an, dass sie „die Bewegung nicht anführen, sondern ihr zu Diensten sein werde“, während die Gewerkschaftsverbände zu einem Streiktag am 18. September aufrufen.

Dies bringt uns zu der besonderen Stellung der Gewerkschaften im französischen Kontext. So beeindruckend die rituellen Demonstrationen in Frankreich für ausländische Beobachter auch sein mögen, muss man doch verstehen, dass die Gewerkschaftsverbände in Frankreich eine stark vom Staat kooptierte Opposition sind. 

Tatsächlich war der letzte nennenswerte Erfolg einer landesweiten, von Gewerkschaftsverbänden angeführten Bewegung im Jahr 2006 (gegen den Ersten Arbeitsvertrag) [4]. Seitdem konnte keine der Demonstrationen gegen einen bestimmten Gesetzentwurf dessen Verabschiedung verhindern. 

Aus revolutionärer Sicht kann man also sagen, dass die Gewerkschaftsverbände eine zahnlose Opposition gegen den Staat und das Kapital darstellen. Die Proteste gegen die Rentenreform von 2023 veranschaulichen diese Dynamik auf schmerzhafte Weise, als es den Gewerkschaftsverbänden entgegen aller Wahrscheinlichkeit gelang, den Sieg aus den Händen zu geben. Trotz massiver Beteiligung (bis zu 3,5 Millionen Menschen am 7. und 23. März), überwältigender Unterstützung durch die Bevölkerung und beispielloser Beteiligung an Streikfonds (über 2,7 Millionen Euro für die CGT) weigerten sich die Verbände, den Druck zu erhöhen, und hielten an vereinzelten Streiktagen fest, die selten waren, und forderten Verhandlungen mit einer Regierung, die klar ihre Absicht bekundet hatte, nicht zu verhandeln, wodurch die Bewegung schließlich erstickt wurde. 

Und all dies droht sich zu wiederholen: Im Vorfeld des 10. Septembers rief die Inter-Union-Gruppe (das Verhandlungsgremium, in dem die Führungsspitzen der größten Gewerkschaftsverbände vertreten sind) zu einem Streiktag auf – am 18. September!

Ihre Begründung: „Am 10. wissen wir nicht, mit wem wir sprechen werden.“, in Anspielung auf den Rücktritt von Premierminister François Bayrou am 8. September. Da kein (möglicherweise verlängerbarer) Streiktag für den 10. September ausgerufen wurde, war die potenzielle Beteiligung stark eingeschränkt. Auf lokaler Ebene gab es jedoch fast tausend Streikaufrufe an einzelnen Arbeitsstätten, was zeigt, dass die Arbeitnehmer vor Ort bereit sind, sich eine gewisse Autonomie von den allmächtigen, zentralen Verbänden zu nehmen.

Letztendlich muss diese Bewegung wenn sie Erfolg haben will ihre eigene Autonomie ergreifen und organisieren, die Autonomie der Gesellschaft selbst erkämpfen und organisieren, um von der „Forderung von Rechten gegenüber dem Staat“ zu einer „Veränderung unseres eigenen Lebens, ohne um Erlaubnis zu bitten“ überzugehen. Und hier kommen wir, die revolutionären Kräfte, ins Spiel: Wir müssen unsere organisatorische Erfahrung in den Dienst der Gesellschaft stellen, gemeinsam mit den Menschen untersuchen, was unsere Bedürfnisse sind und welche Mittel notwendig sind, um sie zu befriedigen und unsere kollektive Emanzipation zu erreichen. 


1. Siehe Artikel unserer Genoss*innen auf Contre Attaque (auf Französisch) https://contre-attaque.net/2025/07/15/macron-et-bayrou-nous-imposent-la-guerre-sociale-et-militaire/ und https://contre-attaque.net/2025/07/24/face-au-mur-de-lausterite-un-raz-de-maree-a-la-rentree/ ↩

2. Wir bezeichnen als „Gewerkschaftsverbände” die zentralisierten, bürokratischen Organe, die mehrere lokale Gewerkschaften unter einem Dach vereinen. Diese Verbände (CGT, CFDT, FO, Sud,…) mögen zwar eine nationale Führungsrolle einnehmen, wenn es um soziale Forderungen geht, aber die lokalen Gewerkschaften verfügen auf Unternehmens- oder Branchenebene weiterhin über Autonomie hinsichtlich ihrer Aktionsmittel.↩

3. Am 25. August kündigte François Bayrou an, dass er am 8. September eine Vertrauensabstimmung beantragen werde, die er mit Sicherheit verlieren würde.

4. Jedes Jahr gibt es mehrere Erfolge auf lokaler, Unternehmens- oder Branchenebene, aber hier konzentrieren wir uns auf die landesweite Mobilisierung gegen den Zentralstaat. ↩

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Aktuell nimmt die Diskussion über einen Neuauflage der Berufsverbotepraxis auf Länderebene wieder an Fahrt auf. Im Zuge der Expansion nach Außen samt Militarisierung im Inneren gehen die Behörden gegen sogenannte „Verfassungsfeinde“ vor. Wir haben darüber mit Werner Siebler, der in den 1980er Jahren ebenfalls von einem Berufsverbot betroffen war und Sprecher des Bundesarbeitsausschusses der Initiativen gegen Berufsverbote und für die Verteidigung der demokratischen Grundrechte​​​​​​​ ist, gesprochen.


1. Herr Siebler, die aktuelle Diskussionen in mehreren Bundesländern zu
„Regelanfragen“ für Anwärter:innen im öffentlichen Dienst laufen heiß.
Bayern war lange „Vorreiter“, jetzt ziehen Bundesländer wie Brandenburg
und Rheinland-Pfalz nach. Wie sehen sie die aktuellen Entwicklungen, die
immer wieder mit einem „Kampf gegen Rechts“ begründet werden?

Werner Siebler: Fast täglich wird in den bundesdeutschen Massenmedien irgendwo in der Bundesrepublik darüber berichtet wie an einer Neuauflage des Radikalenerlasses gearbeitet wird. In den Schlagzeilen wird suggeriert es gehe gegen die AfD, doch schaut man dann in die Texte der Gesetze oder Verordnungen sieht die Welt schon anders aus. Und ausgerechnet die SPD und die Grünen machen sich ganz besonders eifrig daran die Berufsverbote wieder hoffähig zu machen.

Insbesondere gab es am 15. Juli 2025 bundesweite Schlagzeilen mit der Ankündigung aus Rheinland-Pfalz, wo die SPD geführte Landesregierung ankündigte keine AfD-Mitglieder mehr einzustellen. Inzwischen wurde da zurückgerudert, was die Frage der Mitgliedschaft betrifft, aber dass zahlreiche linke Organisationen und auch migrantische Organisationen betroffen sind, bleibt oft unerwähnt.

Für mich stellt sich schon die Frage welchen Zusammenhang es zur aktuellen Militarisierung gibt, da gerade Rheinland-Pfalz mit Büchel und Ramstein die größten Militärbasen der USA in Europa beherbergt.

2. Einen „Radikalenerlass“ gab es bereits 1972, damals wurde er vor
allem gegen Linke in Stellung gebracht. Wie aktuell sind die Gefahren
heute?

WS: Auch der Radikalenerlass von 1972 hatte seine Vorläufer vor allem in SPD geführten Bundesländern wie Hamburg und Bremen. Doch dort wurde er auch relativ früh wieder eingestellt und es gab sogar offizielle Forschungsergebnisse, die sich mit der Demokratieschädlichkeit der Berufsverbote befassten. Vor allem auch die internationalen Proteste und Gerichtsurteile brachten die Berufsverbote gänzlich zum Gegenstand der Geschichtsforschung. Wie rechtswidrig die Berufsverbotepraxis war, bestätigen nicht nur deutsche Gerichte, sondern auch internationale Gremien wie die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) oder der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Die derzeitigen Entwicklungen stellen also nicht nur eine politische, sondern auch eine rechtliche Bankrotterklärung dar und scheinen dem alten Spontispruch zu folgen: „Legal-Illegal, scheißegal“, Hauptsache wir werden kriegstüchtig und jeder Widerstand wird im Keim erstickt.


3. Im Zuge der Militarisierung von Staat und Gesellschaft brauchen die
Herrschenden immer weitreichendere Mittel zur Kontrolle und Überwachung.
Sehen sie auch die neuen Bemühungen für Berufsverbote wie im Fall von
Benjamin Ruß oder Lisa Poettinger in diesem Kontext?

WS: Der Klimaaktivistin Lisa Poettinger wurde das Referendariat verweigert, unter anderem mit der Begründung, sie verwende den Begriff „Profitmaximerung“. Sie sagte dazu in einem Interview:

„Als ich das gelesen habe, musste ich schon ordentlich lachen. Von einem Ministerium, das sich um Bildung kümmert, erwarte ich mir schon mehr Differenzierung und Wissenschaftlichkeit. Wir, also der Soli-Kreis, mein Anwaltsteam und ich, haben darauf reagiert, indem wir aufgeführt haben, dass der Begriff »Profitmaximierung« ein wirtschaftswissenschaftlicher Begriff ist, der von unterschiedlichsten Ökonominnen und Ökonomen bis hin zum Papst verwendet wird.

Darüber hinaus kritisieren wir, dass eine solche Haltung seitens des Ministeriums und Verfassungsschutzes dazu dienen kann, jegliche Kritik am profitmaximierenden Wirtschaften zu kriminalisieren. Profitmaximierung verursacht aber sämtliche Krisen wie etwa Klimakrise, Faschisierung, Krieg, die Teuerung des Lebens. Es ist notwendig, dass wir uns dagegen wehren (dürfen).“

Auf der gleichen Ebene bewegt sich das Urteil des Arbeitsgerichtes München, das die Nichteinstellung von Benjamin Ruß bei der Ludwig-Maximilian Universität in München ausdrücklich absegnete mit der Begründung, er trete für ein erweitertes Streikrecht ein.

Insbesondere die Meinung von Benjamin Ruß zum Streik wertet das Arbeitsgericht als Hinweis auf seine mangelnde Verfassungstreue. Hier ein Originalzitat aus dem Urteil:

„In dem Artikel vom 26.01.2020 äußert der Kläger, dass „aufgeworfene[n] Fragen nicht innerhalb des kapitalistischen Regimes zu beantworten sind. Es braucht eine Demokratisierung der Betriebe auf Grundlage einer Arbeiter*innenselbstverwaltung und die Organisation des politischen Streiks gegen die Ausbeutung und Unterdrückung. Der Aufbau einer Partei für genau diesen Zweck ist die oberste Priorität im Kampf gegen das kapitalistische Regime.“ (Bl. 272). Diese Aussagen können so verstanden werden, dass der Kläger die geltende Rechtsordnung mit ihren Organen ablehnt („kapitalistisches Regime“) – denn die Verwendung des Wortes „Regime“ deutet regelmäßig auf eine abwertende Haltung […] – und aktiv dazu aufruft, privatwirtschaftlich geführte Unternehmen zu enteignen („Demokratisierung der Betriebe auf der Grundlage einer Arbeiter*innenselbstverwaltung“). Die vom Kläger angestrebten Änderungen sollen jedenfalls nicht nur durch parteipolitisches Handeln, sondern (auch) durch rechtswidrige Mittel erfolgen, […] „die Organisation des politischen Streiks gegen die Ausbeutung und Unterdrückung“. Dabei würde es sich um einen sog. Erzwingungsstreik zur Durchsetzung eines politischen Ziels handeln, was weit überwiegend als rechtswidrig angesehen wird […], allerdings nicht dergestalt, dass der bestehende Staat und seine Organe zu einem bestimmten Handeln „gezwungen“ werden sollen, sondern vielmehr vertritt der Kläger weitergehend die Idee, durch einen „politischen Streik“ die „Ausbeutung und Unterdrückung“ durch das „kapitalistischen Regime“ zu überwinden, sprich mit rechtswidrigen Mitteln gegen den bestehenden Staat vorzugehen, um eine neue Gesellschaftsordnung zu erreichen.“

Soweit die „Beweisführung des bayrischen Arbeitsgerichts und dieses Urteil ist rechtsgültig. Leider!

In einem UZ Interview vom 24. Januar 2025 sagte Benjamin Ruß treffend:

„Das Gericht hat daraus abgeleitet: Wer Erzwingungsstreiks will, würde auch Behörden und Unternehmen blockieren, was den Tatbestand der Nötigung erfülle und somit ein rechtswidriges Mittel darstelle. Das ist ein heftiger Angriff auf das Streikrecht. Es passt aber in den Diskurs, den wir derzeit haben. Im Zuge der Militarisierung und Aufrüstung wollen die Parteien von den Grünen über FDP und CDU bis zur AfD das Streikrecht beschränken, um die imperialistischen Interessen des deutschen Kapitals durchzusetzen. Mit solchen Urteilssprüchen hält die „Zeitenwende“ also auch Einzug in die Justiz. Da sollten wir aus gewerkschaftlicher Sicht hellhörig werden. Wenn wir uns nicht auf breiter Front dagegen wehren, wachen wir eines Tages ohne Streikrecht auf oder müssen miterleben, wie unsere Kolleginnen und Kollegen verurteilt werden, weil sie gegen den Krieg sind.“

4. Herr Siebler, welche Form von Widerstand braucht es aus der
Gesellschaft um sich diesen Entwicklungen entgegenzustellen?

WS: Mich entsetzt der Ruf nach einem starken Verfassungsschutz selbst von Leuten die bis vor kurzer Zeit eher noch kritisch waren. Diese waren auch bei den Grünen und den Sozialdemokarten zu finden, doch damit ist es wohl vorbei. Die baden-württembergische Landtagspräsidentin Muhterem Aras von den Grünen forderte nun sogar den Verfassungsschutz in die Landesverfassung aufzunehmen. Damit soll verhindert werden, dass der VS mit einfacher Mehrheit aufgelöst werden kann. Das aber fordern wir vom Bundesarbeitsausschuss gemeinsam mit zahlreichen anderen Bürgerrechtsorganisationen schon lange. Dieser Verfassungsschutz wurde von Nazis aufgebaut, war jahrzehntelang von Nazis durchsetzt und hielt seine schützende Hand über die Mörderbande vom NSU wie in den Untersuchungsausschüssen ans Tageslicht kam. Und dass bis vor kurzem ein Mann wie Hans-Georg Maaßen an der Spitze des Bundesamtes für Verfassungsschutz stand, soll nun schnell vergessen werden.

Dagegen sollte nun schnell demokratischer Widerstand organisiert werden. Unser Bundesarbeitsausschuss ist gemeinsam mit Bayerischen Bündnispartnern dabei, am 10. Oktober in München eine Solidaritätsveranstaltung zu organisieren. Dazu brauchen wir noch jede Menge Unterstützung. Erste kritische Stellungnahmen aus Gewerkschaftskreisen gibt es:

So beschloss die GEW Baden-Württemberg auf ihrer Landeskonferenz im April 2025 einen Antrag an den GEW Gewerkschaftstag im Mai in Berlin in dem festgestellt wird:

Die GEW wendet sich ausdrücklich dagegen, dass mit Formulierungen wie „Extremisten“ und „Verfassungsfeinde“ im Sinne der sogenannten „Hufeisentheorie“ dem Inlandsgeheimdienst die Deutungshoheit übertragen wird, wer und was konkret damit gemeint sein soll. Wir lassen nicht zu, dass aus politischen Meinungsäußerungen und politischen Aktivitäten strafrechtliche Folgen konstruiert werden, um Berufsverbote verhängen zu können. So hat der Landtag von Niedersachsen in einer Entschließung 2016 festgehalten, „dass politisch motivierte Berufsverbote, Bespitzelungen und Verdächtigungen nie wieder Instrumente des demokratischen Rechtsstaates sein dürfen.“ Dem schließt sich die GEW an. Die Landesdelegiertenversammlung der GEW Baden-Württemberg fordert daher: die Betroffenen der Berufsverbote in den 1970/80er Jahren sind zu rehabilitieren und zu entschädigen! Einhaltung der Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO): Politische Überzeugungen dürfen nicht zu Berufsverboten und Existenzvernichtung führen. Die GEW spricht sich gegen neue „Radikalengesetze und -erlasse“ aus! Etwaige Überlegungen zu Regelabfragen und ‚verdachtsunabhängigen Prüfverfahren‘ werden von der GEW BW abgelehnt! Die GEW fordert, die Diskussion und Behandlung der Forschungsstudie zum Radikalenerlass der Universität Heidelberg im Baden-Württembergischen Landtag. Leider konnte dieser Antrag beim Gewerkschaftstag aus Zeitgründen nicht mehr behandelt werden und liegt nun beim GEW Bundesvorstand.

Deutlich und unmissverständlich hat es die neue verdi.-Landeschefin aus Baden-Württemberg, Maike Schollenberger, auf den Punkt gebracht.

„Wir brauchen keine Berufsverbote 2.0 mit Listen, in denen Menschen, die sich für eine gerechtere Gesellschaftsordnung engagieren, gleichgesetzt werden mit Faschisten, die die Demokratie abschaffen wollen.“

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Der Journalist Hüseyin Doğru steht auf der EU-Sanktionsliste – als Gründer der palästinasolidarischen Medienplattform Red Media. Doğru darf nichts kaufen, seine Miete nicht bezahlen, nicht arbeiten, das Land nicht verlassen. Es ist ein neuer Repressionsmechanismus, mit dem oppositionelle Stimmen in Deutschland mithilfe von EU-Instrumenten mundtot gemacht werden sollen. Im Interview mit dem LowerClassMagazine berichtet Hüseyin Doğru, wie er auf der Sanktionsliste gelandet ist, wie die Geschehnisse im Kontext verstärkter Repressionen politisch einzuordnen sind und was man dagegen unternehmen kann. Das Interview findet ihr auf unserem Youtube-Kanal.

Was ist passiert? 

Doğru hat zusammen mit anderen im Jahr 2023 Red Media gegründet, eine Plattform, die vor allem für ihre Dokumentationen und digitalen Videoformate bekannt ist. Ihr Ziel ist es, die „Stimmen unterdrückter Völker, die gegen Kapitalismus, Imperialismus und Rassismus kämpfen [und von] Aktivisten an vorderster Front im Kampf gegen Ökozid und Verteidiger der LGBTQ+-Rechte [hervorzuheben].“ Laut eigenen Angaben hat die Plattform allein in den ersten 9 Monaten des Jahres 2024 über 483 Millionen Aufrufe gehabt und ist damit eine der reichweitenstärksten und gleichzeitig radikalsten Plattformen der antiimperialistischen und palästinasolidarischen Berichterstattung. Red Media wurde aufgrund einer breit geführten Hetzkampagne verschiedener Journalist:innen und Politiker:innen im Mai 2025 von den Gründer*innen geschlossen – die Sicherheit der Redakeure konnte nicht mehr gewährleistet werden. Mehr zum Hintergrund in unserem Artikel: Die Schließung von Red Media und autoritäres Silencing.


Sanktionen als Repressionsmechanismus auf EU-Ebene

Im Rahmen des 17. Sanktionspaket gegen Russland wurden auch andere deutsche Staatsbürger*innen sanktioniert. Doğru wurde zusammen mit ihnen sanktioniert, um ihn in eine Reihe mit pro-russischen Akteuren zu stellen. Der Sanktionsbeschluss erfolgte ohne Gerichtsverfahren, ohne Anhörung und ohne dass Doğru darüber informiert wurde. Es ist ein absoluter Präzendenzfall: noch nie wurde ein EU-Bürger, der innerhalb der EU lebt, im Kontext der Russland-Sanktionspakete sanktioniert. 

Doğru vermutet, dass er im Zuge der Kampagne gegen Red.Media aufgrund ihrer palästinasolidarischen Berichterstattung auf der Sanktionsliste gelandet ist. Die vermeintliche Unterstützung Russlands wird als Vorwand genutzt, um einen neuen Repressionsmechanismus gegen linke und palästinasolidarische Medien auf EU-Ebene auszutesten. Die Recherche des Europäischen Auswärtigen Dienstes, die ihm selbst vorliegt, enthält laut Doğru keine Beweise, dass Red Media von Russland finanziert wird. Stattdessen finden sich dort Social Media Posts von Red Media, Artikel vom Tagesspiegel und von der Jerusalem Post. Doch diese Recherche darf er nicht teilen. Es ist ein scheinheiliger Angriff auf palästinasolidarische Medien durch staatliche Akteure, die mit ihren menschenfeindlichen Repressionsmaßnahmen genau die autoritäre Politik an den Tag legen, die sie mit ihren Sanktionen angeblich verhindern wollen. 

Alltag unter Sanktionen: Darf man als Mensch noch existieren? 

Die Konsequenzen der Sanktionen sind brutal. Hüseyin Doğru darf nichts kaufen, seine Miete nicht bezahlen, nicht arbeiten, das Land nicht verlassen. Er darf keine Medizin und kein Essen für seinen Sohn kaufen. Auch Geld und Geschenke darf er nicht annehmen. Es ist unklar, ob er eine Krankenversicherung und Arbeitslosengeld erhält, denn jegliche finanzielle Zuwendung ist verboten. Illegalerweise wurde auch das Konto seiner Frau, die gerade mit einer Risikoschwangerschaft schwanger ist, gesperrt. Zudem sieht er sich mit Prozesskosten in Höhe von 50.000-150.000 Euro konfroniert, um die Sanktionen anzufechten. 

Repression im Kontext des Aufstiegs des deutschen Imperialismus

Der Sanktionierung Doğrus ist einzuordnen in die massive Welle an Repression seit dem 7. Oktober gegen alle, die sich mit dem palästinensischen Volk und der Befreiungsbewegung solidarisch erklärt haben. Diese Repressionen stehen laut Doğru im Kontext des Bestrebens des deutschen Imperialismus – vor allem seit dem Ukrainekrieg – auf der Weltbühne wieder eine größere Rolle zu spielen. Sparmaßnahmen, Investitionen ins Militär und Kürzungen im Sozialbereich sind die Voraussetzungen, um eine aggressivere Kriegspolitik Deutschlands in der Außenpolitik vorzubereiten. Der Angriff auf Oppositionelle, die diese Entwicklung innerhalb des Landes kritisieren, ist eine logische Konsequenz davon. Wenn sich Journalist*innen, Akademiker*innen und Aktivist*innen nicht bereits selbst zensieren, kann man in Deutschland eine große Welle an Zensur in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft beobachten. 

Der Fall von Hüseyin Doğru und Red Media ist der Versuch, diese Repression auch über die europäische Ebene auszuüben. Wenn sie damit durchkommen, ist das laut Doğru ein Zeichen für die Politik, dass das Verfahren breit angewendet werden kann. Angriffe auf Palästinenser*innen, Muslim*innen, Aktivist*innen und der Angriff auf Doğru – das wird in der Zukunft retrospektiv als der Beginn eines Angriffs auf uns alle zu erkennen sein. 

Solidarität und Gegenwehr in den deutschen linken Medien 

Laut Doğru braucht es für die Gegenwehr deutscher linker Medien gegen diese Repression Zusammenarbeit und Solidarität: „Der Imperalismus ist brutal. Und wir müssen uns organisieren. Wenn wir uns als Linke organisieren, müssen wir das auch als Journalist*innen, als Aktivist*innen, als Medienschaffende, als Influencer*innen.“ (Doğru)
Es braucht inhaltliche Zusammenarbeit, die Erstellung gemeinsamer Plattformen oder das Aufbauen eigener Netzwerke, das Zusammenlegen von Reichweite. Nicht zuletzt braucht es auch Solidarität zum richtigen Zeitpunkt. Laut Doğru war es vielen Journalist*innen aufgrund des „Russland-Labels“ zu heiß über Red Media zu schreiben. Jetzt, wo sich abzeichnet, dass es keine Beweise dafür gibt, ist es zu spät: Journalismus ist etwas, was eine gewisse Solidarität erfordert […] Etwas, was Menschen aufklären muss, nicht nachdem ein Genozid passiert, sondern bevor ein Genozid passiert.“ (Doğru)

Was kann man tun?

Hüseyin Doğru selbst darf als Sanktionierter keine Spendenkampagne für die Prozesskosten starten – Spendenaktionen von solidarischen Akteuren dürfen aber legal unterstützt werden. Gewinnt Doğru den Prozess, wird das Geld an widerständige politische und humanitäre Projekte gespendet. Im September startet zudem eine internationale Kampagne, eine Petition, die von internationalen Politiker*innen, Journalist*innen, Akademiker*innen und Aktivist*innen unterstützt wird. Die Petition fordert erstens, dass die Sanktion aufgehoben wird. Zweitens will sie aufzeigen, welchen Repressionsmechanismus die EU gerade geschaffen hat und was das für freie Meinungsäußerung bedeutet. 

Um das zu unterstützen, braucht es keine vollkommene Zustimmung zu den Inhalten von Red Media. Es braucht das Bewusstsein, dass die Möglichkeit sich frei zu äußern, existenziell von unserer gegenseitigen Solidarität abhängig ist. 

„Man muss Red Media nicht mögen. Man muss Redfish nicht gemocht haben. Man hat es vielleicht gehasst, auch gut. Aber es geht fundamental nicht um uns, es geht um eure Rechte gerade – denn mit uns fangen sie an.“ (Hüseyin Doğru)

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Die große Schwierigkeit in der Berichterstattung zum amerikanischen Faschismus ist, sich nicht von den hunderten aberwitzigen Nebelwänden ablenken zu lassen. Ein klarer Blick auf die Situation erscheint nötiger denn je. Die diesem Text vorangestellten Beiträge sind dem Anspruch, gegen den Nebel des Krieges anzuschreiben, nur bedingt gerecht geworden: Zu verlockend war das Spektakel des Wahnsinns, zu groß die Abscheu gegenüber den Akteuren, als dass nicht der eine oder andere als Seitenhieb gedachte Satz selbst zu einer Reproduktion der Nebelwand wurde.

von Pierre Roggen


Seit Anfang Juni stehen vor allem schwarze Communities bundesweit auf und wehren sich gegen die Verschleppungen durch ICE und das Department of Homeland Security (DHS). In Los Angeles, einer Stadt mit einer gewissen Vorgeschichte von Aufständen gegen rassistische Zustände, war die Gegenwehr gegen die Menschenjäger so stark, dass ICE-Agenten sich verbarrikadieren und vom Los Angeles Police Department (LAPD) herausgeboxt werden mussten. Die aufgestaute Wut brach sich Bahn. Trump entsandte, gegen den Willen von Kaliforniens Gouverneur Newsom, 2000 Nationalgardisten in die kalifornische Metropole, weitere 2000 und 700 Marines sollen folgen, also kriegserprobte Soldaten, die eigentlich nicht im Inneren eingesetzt werden dürften. Es mehren sich Stimmen (bspw. Bernie Sanders), die auf gewaltfreie Proteste pochen, damit Trump keinen Vorwand bekäme, nun in einem letzten Streich vollständig nach der Macht zu greifen.

Doch mal Butter bei die Fische: Trump ist ein Faschist, ein Diktator im Werden, und der Umbau der USA wird bereits auf allen Ebenen vorangetrieben. Es braucht keinen Vorwand mehr. Vielmehr müssen Antifaschisten nun die Initiative ergreifen. Das wird selten so klar ausgesprochen wie in den Analysen von Crimethinc. Bedeutende liberale Faschismusforscher wie Snyder haben die USA bereits verlassen, um in Kanada eine sichere (An)Stellung zu beziehen. Der Prozess läuft bereits. Er wird beklatscht. Ein bedeutender Anteil der Amerikaner befürwortet die Veränderungen. Die Mehrheit schaut in einer sich langsam lösenden Schockstarre auf die Situation. Wenn Kontrollmechanismen, Checks and Balances und eventuell zukünftige Wahlen (Stichwort Trump 2029) nicht mehr greifen, braucht es keine Mehrheiten, es reicht eine gewisse faschistische Basis, die sich mit der Führung identifiziert. Die Zusammensetzung des Kongresses ändert sich frühestens zu den Midterms 2026. Bis dahin können die Republikaner schalten und walten. Die Macht wird bis dahin im engen Kreis um Trump gebündelt und die schrittweise Entrechtung der Schwächsten läuft in einem Worst-Case-Szenario auf die zukünftige Entrechtung jeglicher politischer Opposition hinaus. Damit verbunden ist die Kaltstellung vorgeblich unabhängiger Instanzen der bürgerlichen Demokratie, die sich jedoch ein gewisses Maß an Autonomie bewahrt haben, wie Journalismus, Wissenschaft, Parlamente, Bürokratie und Gerichte. Da Faschismus sich jedoch nicht ausschließlich über die bloße Negation der bürgerlichen Demokratie verstehen lässt, werden wir nach einer Bestandsaufnahme der Entwicklungen das kapitalistische und das nationalistische Interesse hinter der nationalen Beutegemeinschaft besehen. Doch eins nach dem anderen.

Säuberungen, Abschiebungen, Repression und Abschreckung: Die Normalisierung des Faschismus

„Es könnte jetzt jederzeit mich treffen“

Die US-Regierung versucht sich an einem autoritären Umbau des Staates, Diversitätsprogramme werden ausgesetzt, FBI-Agenten werden entlassen, unliebsame Staatsangestellte von Doge gefeuert, Richter werden eingeschüchtert, Bürgermeister festgenommen, Senatoren in Handschellen gelegt, Soldaten gegen Demonstranten eingesetzt und auf einer Militärparade zum Geburtstag des werdenden Diktators fahren Panzer durch Washington. Dem Ort, an dem seine Anhänger vor nicht allzu langer Zeit versuchten, das Kapitol zu stürmen, um kurzen Prozess mit „den Verrätern“ in der politischen Klasse zu machen. Doch diesmal ist es anders; die entfesselte Brutalität trifft die Schwächsten in der Gesellschaft zuerst und mit voller Härte. Marginalisierte Gruppen sind für den Faschismus immer schon ein lohnendes Angriffsziel gewesen. Gerade sind es die Papierlosen, die schon lange vor Trump reihenweise als billige Arbeitskräfte ausgebeutet, um ihre Löhne betrogen und (danach) abgeschoben wurden. Bald sind vielleicht die Queers, die Intellektuellen oder die Linken die Nächsten. Undokumentierte werden von ICE-Überfallkommandos in ihren Communities angegriffen, um oftmals ohne ein Gerichtsverfahren nach Mexiko, Nigeria, Mauretanien oder in die Hochsicherheitsgefängnisse El Salvadors abgeschoben zu werden. Dabei kommt es auch immer wieder zu vermeintlichen Fehlern durch die Bürokratie der Abschiebebehörden und es erfolgen Abschiebungen von Menschen, die juristisch gesehen ein Bleiberecht gehabt hätten. Ob diese Vorgänge jedoch wirklich unbeabsichtigt sind, darf bezweifelt werden.

Prominentes Beispiel ist der el-salvadorianische Staatsbürger und Familienvater aus Maryland Kilmar Abrego Garcia. Er wurde ohne juristische Grundlage in ein Gefängnis in El Salvador verschleppt, und obwohl die Regierung in öffentlichen Statements zuerst anerkannte, dass Garcias Deportation ein Fehler gewesen sei, änderte die Trump-Administration in den darauffolgenden Tagen ihren Standpunkt, und Trump selbst beleidigte Journalisten, die ihn auf den Verbleib und die Zukunft von Garcia ansprachen. Am 10. April urteilte der oberste Gerichtshof der USA, trotz republikanischer Mehrheit, einstimmig (!), dass Garcias Abschiebung juristisch unmöglich gewesen sei, und forderte die Regierung auf, Garcias Einreise zu „erleichtern und [zu] bewirken“. Dieses Urteil wurde von der Regierung unter dem Vorwand, dass Garcia zuerst von den el-salvadorianischen Behörden freigelassen werden muss, unterlaufen. Die Richterin des Supreme Court Sonia Sotomayor bemerkte, diese Argumentation bedeute letztendlich, die Regierung „könnte jede Person, einschließlich US-Bürger, ohne rechtliche Konsequenzen abschieben und [im Ausland] inhaftieren [lassen], solange sie dies tut, bevor ein Gericht eingreifen kann.“ In einer Pressekonferenz im Oval Office (!) sagte der Präsident des mittelamerikanischen Hinterhoflandes der USA, El Salvador, Bukele, er werde keinen „Terroristen in die Vereinigten Staaten schmuggeln“. In El Salvador sind 1,7 % der Bevölkerung, 108 000 Personen, in Gefängnissen inhaftiert, deren Kapazität in der Vergangenheit mit 70 000 angegeben wurde. Folter, Krankheiten und Missbrauch sind fester Bestandteil des Systems, das laut lokalen Menschenrechtsorganisationen in Bukeles „Krieg gegen die Gangs“ bereits zwischen 2022 und Ende 2024 mindestens 349 Menschenleben gefordert hat. Standardmäßig sind die Zellen überbelegt und die Gefangenen dürfen diese nur für 30 Minuten pro Tag verlassen. Es gibt Berichte, dass die Gefangenen in manchen Gefängnissen Zwangsarbeit verrichten müssen. Mittlerweile ist Garcia wieder in den USA, jedoch liegt nun eine Anklage wegen angeblichen Transports von undokumentierten Migranten gegen ihn vor und er befindet sich in Untersuchungshaft. Das Beispiel Garcia zeigt deutlich: Die Regierung kann sich noch nicht über alles hinwegsetzen. Obwohl Figuren wie Pam Bondi lange argumentierten, sie könnten Garcia nicht wieder in die Staaten holen, war es am Ende möglich. Wie der Prozess ausgeht, ist jedoch noch offen. Widerstand ist möglich und notwendig.

Denn wenn erstmal ein gewisser Teil der Bevölkerung vollends entrechtet wurde, kann sich die staatliche Willkür vermehrt an Personen mit etwas mehr Privilegien versuchen. Vorzugsweise an jenen, die es wagen, Widerstand zu leisten. Orte wie das Cecot Mega-Gefängnis Bukeles oder Guantanamo Bay spielen eine ähnliche Rolle wie die Strafkolonien des französischen Imperiums, das Gulag in der Sowjetunion oder die ersten deutschen Konzentrationslager. Als Orte der Isolation und Entrechtung, als offenes Geheimnis der staatlichen Willkür und Misshandlung. Als Drohung gegen die Restbevölkerung. Solange dieses Vorgehen nicht auf effektiven Widerstand trifft, kann die Regierung fortfahren und stückchenweise immer mehr Macht über die unbequemen Dissidenten und die unerwünschten Populationen gewinnen. Sie muss diese Menschen nur als Terroristen oder Kriminelle bezeichnen oder sie der Unterstützung von Terroristen oder kriminellen Gangs beschuldigen. Wie das in der Praxis aussehen kann, wurde schon an Aktivisten der Palästinasolidarität getestet.

Es ist der 26.03. und eine junge Doktorandin der Tufts-Universität in Massachusetts macht sich auf den Weg zu ihren Freunden, um mit ihnen gemeinsam bei Sonnenuntergang das Fasten zu brechen. Plötzlich tritt ein maskierter Mann auf sie zu und spricht sie an. Weitere maskierte Personen steigen aus unmarkierten Autos, fesseln und entführen die junge Frau. Bei den Maskierten handelt es sich um DHS-Agenten. Daraufhin wird sie ans andere Ende der USA nach Louisiana verbracht, wo sie 45 Tage in Haft verbringen wird, bis eine Richterin sie unter dem Hinweis entlässt, dass sie sie als völlig ungefährlich einstuft. Rumeysa Ozturks einziges „Verbrechen“ war, in einem Artikel auf die Unterdrückung der Palästinenser hinzuweisen. Aktuell kämpft sie juristisch gegen ihre Abschiebung.

Bereits am 8.03. wurde Mahmood Khalil, der über eine permanente Aufenthaltserlaubnis für die USA verfügte, von ICE-Agenten vor seinem Wohnsitz in New York City entführt. Diese hatten keinen Haftbefehl und agierten auf Grundlage einer Anweisung des State Departments unter Marco Rubios Kontrolle. Gegen Khalil lag keinerlei Anklage vor. Stattdessen stützte sich die Regierung auf einen Abschnitt des Immigration and Nationality Act von 1952, der vorsieht, dass Ausländer aus den USA ausgewiesen werden können, wenn der Außenminister der Ansicht ist, dass ihre Anwesenheit schwerwiegende negative Folgen für die Außenpolitik der USA haben wird. Marco Rubio darf also, im Einklang mit Trumps Vorgaben, alle unliebsamen Ausländer ausweisen. Am 11. April 2025 entschied dann auch ein zuständiges Gericht, dass Khalil abgeschoben werden darf. Dann wurde die Abschiebung Khalils jedoch ausgesetzt, während ein Bundesgericht in einem separaten Fall die Verfassungsmäßigkeit seiner Festnahme und Inhaftierung prüfte. Nachdem ein Bundesrichter feststellte, dass der Immigration and Nationality Act womöglich nicht verfassungskonform sei, änderte die Anklage ihre Strategie und beschuldigte ihn des „Immigration Fraud“, also relevante Informationen bei der Beantragung seiner Greencard nicht angegeben zu haben. Der gleiche Richter erließ die Entscheidung, ihn weiterhin gefangen zu halten. Khalil diktierte mehrere Briefe aus seiner Haft. So richtete er sich beispielsweise öffentlich an seinen Sohn, dessen Geburt er nur am Telefon verfolgen konnte, oder thematisierte am Vatertag seinen politischen Kampf.

Ausländische Studierende und Dozierende werden außerdem durch die Entziehung ihrer Visa unter Druck gesetzt. Dies geschieht, wie im Fall von Rumeysa Ozturk, ohne dass Universitäten von den Behörden informiert werden. So fand beispielsweise die University of Washington Anfang April heraus, dass 5 ihrer Studierenden und Alumni das Visum entzogen wurde, als sie deren Daten im Student & Exchange Visitor Information System (SEVIS) überprüfte. Wer als Uniangehöriger in diesem System nicht als Person mit Visa auftaucht, kann bei zufälligen Kontrollen wie bspw. einer Geschwindigkeitsüberschreitung von den Behörden inhaftiert und abgeschoben werden. Hinzu kommt aktive Denunziationsarbeit, die von Websites wie „Canarymission“ geleistet wird. Ein Blick auf die Seite der selbsternannten Kämpfer gegen Antisemitismus offenbart: Es reicht schon, eine Petition gegen den israelischen Krieg gegen Gaza unterschrieben zu haben, um mit Foto und Lebenslauf als Antisemit digital an den Pranger gestellt zu werden. Sicherlich finden sich auch Aussagen von Menschen, welche die Hamas glorifizieren, aber auch das, jenseits von meiner fehlenden persönlicher Sympathie für die Hamas, sollte von dem Recht auf Meinungsfreiheit in den USA gedeckt sein. Nun werden die Behörden wohl unter anderem durch diese Seiten auf einzelne Aktivist*innen und Universitätsangehörige aufmerksam. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Regierung und ihre willfährigen Helfer versuchen, unter politisch aktiven ausländischen Akademiker*innen eine Stimmung von Verunsicherung und Willkür zu etablieren. Demgegenüber organisieren NGOs und Jurist*innen „Know your Rights“-Events, um Aktivist*innen auf eine mögliche Konfrontation mit den Behörden vorzubereiten. Eine befreundete Person mit akademischem Hintergrund, die sich gerade in den USA aufhält, beschreibt die Stimmung an der Hochschule so: „Es ist dieses klassische faschistische Moment, in dem Personen denken, es könnte jetzt jederzeit mich treffen, denn alles ist so random.“

Doch damit ist der Angriff auf die Unabhängigkeit der Wissenschaft noch lange nicht vorbei. Im Gefolge eines Erlasses, welcher die Verwendung von mittlerweile über 350 Worten auf Webseiten und Dokumenten der Regierung verbietet, wird es nun erschwert bis verunmöglicht, Anträge auf Forschungsgelder zu bestimmten Forschungsfeldern zu stellen. Die Liste der verbotenen Wörter beinhaltet Begriffe wie „abortion“, „activism“, „carbon footprint“, „gay“, „inclusion“, „non binary“, „safe drinking water“ und „women“(!). Wer nun also zu Themen wie Frauengesundheit, Klimawandel oder sicherem Trinkwasser in den USA forschen will, kann keine Finanzierung durch die Regierung mehr erwarten.

„Wir leben jetzt in einem Land, in dem die Regierung beschlossen hat, dass eine breite Palette von alltäglichen Begriffen in Regierungsbehörden, auf Websites oder sogar in wissenschaftlichen Forschungsanträgen gelöscht und verboten werden soll. Diese Sprachverbote sind absolut abschreckend und behindern die Bemühungen, reale Probleme zu erforschen und das menschliche Wissen voranzubringen.“

-Jonathan Friedman, Sy Syms managing director of U.S. Free Expression Programs

Auch andere Gruppen und Identitäten stehen unter Druck. Trump unterzeichnete schon im Januar mehrere Erlasse, deren Inhalte sich gegen die queere Community richteten. So wurde etwa in der „Executive Order 14168″ festgelegt, dass es in den USA nur zwei Geschlechter geben dürfe. Die Kritik von Judith Butler daran ist durchaus lesenswert und fasst vieles eloquenter als es hier geschehen kann. Kurz gesagt ist die Executive Order ein Frontalangriff auf die Existenz aller nichtbinären Menschen unter dem Vorwand, etwas für den Schutz von Frauen zu tun. J. K. Rowlings hat sich bestimmt gefreut. „Gender-affirming Care“, also medizinische, chirurgische und psychologische Unterstützung für Menschen unter 19 Jahren, welche eine Geschlechtsanpassung vornehmen lassen wollen, wird nicht mehr finanziert. Die Aussetzung der Diversitätsprogramme, das Streichen jeglicher Bundesmittel für Aufklärungsarbeit an Schulen und der Ausschluss von trans Frauen von sportlichen Wettbewerben bzw. Die Sanktionierung von Institutionen, die dieser Selektion nicht folgen, ist ein Versuch, die Community zu diskreditieren, und muss als Angriff auf deren bloße Existenz verstanden werden. Das Vorgehen gegen die LGBTIQ-Gemeinschaft ist ein billiger, patriarchaler Move, den Diktaturen weltweit verwenden, um die Reihen der bigotten Religiösen hinter sich zu schließen. Doch das ist nicht die einzige Front, an der versucht wird, eine patriarchale Realität herzustellen, in der alles nicht Binäre als Anomalie und Frauen als Gebärmaschinen gelten.

Hier sehen wir eine Karte der USA, auf der der Status quo in Bezug auf Reproduktive Gerechtigkeit abgebildet ist:

Schwarz: Illegal bis auf wenige Ausnahmen wie Inzest oder Vergewaltigung

Grau: Legal, aber keine durchführenden Arztpraxen/Kliniken

Dunkelrot: Legal vor Herz-Zellen-Aktivität

Rosa: Legal bis 12. Woche

Lila: Legal bis 18. Woche

Dunkelblau: Legal bis 22. Woche

Hellblau: Legal bis Fötus viability

Türkis: Legal bis 24. Woche

Grün: Legal bis 2. Trimester

Hellgrün: Legal

Erinnert euch: Bis 2022 Roe vs. Wade abgeschafft wurde, war diese Karte durchgehend hellblau. Dass Roe vs. Wade abgeschafft wurde, geht auch indirekt auf Trumps Politik zurück, so ernannte er einige der obersten Richter, welche dieses Urteil im Rahmen des Endspiels einer auf Dekaden angelegten republikanischen Kampagne trafen. Klar ist, diese Karte stellt aber nicht das Ende der Kampagne dar, vielmehr ist dies nun der Status quo, der von rechts weiter angegriffen wird. Wenn wir uns erinnern, forderte Trump während seiner Kampagne 2016 gar eine Bestrafung von Frauen, welche Abtreibungen vornehmen lassen. Auch hier ist noch Potential für eine weitere Faschisierung vorhanden.

„Wer vom Kapitalismus nicht reden will sollte auch vom Faschismus schweigen“

– Max Horkheimer

Die USA bewegen sich in eine Richtung, in der jeglicher demokratischer, ökologischer oder linker Widerstand gegen den Staatsumbau und die Praktiken von Unternehmen im Keim erstickt werden könnte. Bereits während der Regierung Trump 1 wurde der Einfluss und die Rechte von Gewerkschaften beschnitten, Überstundenlöhne effektiv reduziert und Maßnahmen zur Gewährleistung der Arbeitssicherheit eingeschränkt. Außerdem wurden kapitalnahe Entscheidungsträger in Schlüsselpositionen im National Board of Labour Regulations gehievt (NBLR). Seit Anfang 2025 wurden abermals die Möglichkeiten der kollektiven Lohnverhandlungen von Staatsangestellten angegriffen, es werden die Rechte der undokumentierten und dokumentierten Arbeiterschaft mit Füßen getreten, es erfolgen großflächige Angriffe auf Diversity-and-Equity-Inclusion-Regelungen (DIE) und Umweltregulierungen werden abermals aufgeweicht, wenn nicht direkt abgeschafft. Und wer hätte es gedacht: Das NBLR findet sich seit Anfang des Jahres wieder in der Hand von Kaplan, der schon in der ersten Regierung Trump gegen die Rechte der Arbeiterschaft aktiv wurde. Das alles ist natürlich für einige Kapitalfraktionen hinter MAGA, wie die fossilen Interessen, die Plattformkapitalisten, die Rüstungsindustrie und die Israellobby, ein erstrebenswertes Projekt: „Nieder mit dem Widerstand, lang lebe die Unterdrückung und Ausbeutung von Arbeit und Natur!“ Es geht um nicht weniger als die Aktualisierung des fossilen Akkumulationsregimes unter autoritären Vorzeichen. Und um eine Verschiebung der politischen Hegemonie, die perfekt geeignet erscheint, um die neopharaonischen Projekte der Longtermisten und Bilderbuchbösewichte wie Peter Thiel voranzutreiben. Dessen Firma Palantir baut gerade mit den gewaltigen Datensätzen der Einwanderungs-, Steuer- und Gesundheitsbehörde, des Militärs sowie Geheimdiensten, welche sie vom DOGE erhalten hat, an einer Datenbank, die es ermöglichen soll, durch die Nutzung einer Software namens „Foundry“, die außerdem weitere Daten abfragen kann, die Bewegungen und Aufenthaltsorte nahezu aller Menschen in den USA zu bestimmen. Es ist erklärter Plan der Trump-Regierung, so die täglichen Festnahmen von Papierlosen auf 3000 zu steigern. „Und natürlich ließe sich so ein Werkzeug auch später noch benutzen, um Dissidenten und unliebsame Menschen zu lokalisieren.“ 

Es stehen also große Veränderungen ins Haus. Nicht nur bei der Zickzack-Zollpolitik.  Dass dabei nicht immer alles reibungslos vonstattengeht und einige der gutbetuchten Trump-Unterstützer auch einiges an Verlusten einstecken mussten, ist auch ein klares Indiz dafür, dass Staaten und Nationalwirtschaften sich nicht wie ein Privatunternehmen führen lassen. Auch wenn Neoliberale das gerne behaupten und Trump seine familiären und wirtschaftlichen Angelegenheiten zusehends mit der Staatsführung vermischt. Seine Politik läuft nicht immer rund. Aufgrund seiner realitätsfernen Zollpolitik haben eine Handvoll von Trumps Milliardär-Homies 209 Milliarden USD verloren. Doch er scheint auch Konfrontationen mit diesen Akteuren, siehe Musk, politisch bisher gut wegzustecken. Und auch wenn es wirtschaftlich nicht gerade gut läuft, kann Trump sich immer noch auf seine Basis verlassen. Denn seine Kampfansage an „den Sumpf“, also das korrupte Establishment, war nie eine Kritik an kapitalistischer Vergesellschaftung. Es war immer schon ein Ausdruck der Ablehnung des amerikanischen Liberalismus von Wissenschaft, Diversität und kritischer Öffentlichkeit. Es ging nie um eine Umverteilung des Wohlstandes, es ging immer um die Umverteilung von Gewalt.

Von der Gewalt

Trumps Versprechen hat nie ökonomische Verbesserungen für die Abgehängten im Fokus. Vielmehr versprach er eine Radikalisierung in der Art und Weise, wie die Gewalt in Amerika verteilt wird. Die Abgehängten und Frustrierten wollen Blut sehen. Und das bekommen sie nun als Spektakel serviert. Crimethinc hat in einer schlauen Analyse unter Rückgriff auf den Ethnologen Girard und seine Überlegungen zu Gewaltmanagement als konstituierendes Merkmal von Gesellschaft herausgestellt, wie der Staat in den USA zur Gewalt gegen Sündenböcke aufruft und diese unterstützt, während er Gewalt gegen die Mächtigen und Reichen gnadenlos sanktioniert. Vergleichen wir in diesem Kontext einmal die Morde an den Obdachlosen Jordan Neely und Christopher Junkin mit der Situation um Luigi Mangione, der den United-Healthcare-CEO Brian Thompson ermordete. Während für Mangione aktuell die Todesstrafe gefordert wird, wurde Daniel Penny, der Mörder von Neely, nicht nur nicht juristisch belangt, sondern sogar von Trump im Dezember zu einem Boxkampf eingeladen, und der Bulle Fladland, der Junkin tötete, geht ebenfalls straffrei aus. Sündenböcke zeichnen sich als (politisch) machtlose Akteure dadurch aus, dass sie keine Verantwortung für die Situation tragen. Sie werden ausgewählt, weil sie sich nicht wehren können und ein Gewaltausbruch gegen sie keine Konsequenzen mit sich bringt. Durch die Entladung des Gewaltpotentials wird der soziale Frieden partiell wiederhergestellt und die soziale Hierarchie bestätigt. Die Unzufriedenheit der Bevölkerung und das Unbehagen innerhalb der Gesellschaft werden so in, für Staat und Kapital, ungefährliche Bahnen gelenkt. Gleichzeitig werden die Herrschenden, also jene mit Handlungs- und Gestaltungsmacht, welche einen realen Beitrag zur gesellschaftlichen Misere in den USA leisten, aus der wortwörtlichen Schussbahn genommen, während oppositionelle Milieus und marginalisierte Populationen eingeschüchtert werden sollen und dem geifernden, blutrünstigen Mob ein paar symbolische Opfer gebracht werden.

Dieser Doppelcharakter der Staatsgewalt findet sich auch in der Abschiebungskampagne wieder. Während vielleicht manche US-Amerikaner wirklich glauben, dass sich dadurch der Wohnungsmarkt entspannt oder sich bessere Jobangebote auftun, ergötzen sich die meisten Unterstützer der Regierung einfach an dieser stellvertretenden chauvinistischen Gewalt. Bald kommt die Welle der Gewalt wohl auch zu den Antifaschisten, bevor sie dann auch Liberale und wirklich alle, die nicht weiß, christlich und wohlhabend sind, umspült. Doch Los Angeles hat gezeigt: Die Schlächter des Faschismus haben die Rechnung ohne die Sündenböcke und ihre Communitys gemacht. Während die gemäßigte Linke wie gewohnt zur Mäßigung aufruft, sieht das anarchistische Kollektiv ehemaliger Arbeiter „Crimethinc“ die Möglichkeit, sich nun mit ganzer Kraft und taktischer Diversität zu wehren. Und zwar bevor die Reihen der Repressionsorgane, deren Säuberung ja bereits im Gang ist, geschlossen sind.  Bevor Thiels Maschinerie zur Menschenjagd vollständig errichtet wurde. Noch wäre Zeit, den Geschehnissen eine andere Richtung zu geben.

Das ist die frohe Kunde der letzten Wochen: Es gibt noch ein Fenster der Handlungsfähigkeit. ICE ist nicht unangreifbar. Palantir und Thiel sowie Musk und Tesla sind es sicherlich auch nicht. Der Faschismus ist noch keine beschlossene Sache. Immerhin sollen am letzten Wochenende 5 Millionen Menschen bei den No-Kings-Demonstrationen auf der Straße gewesen sein. Es besteht also immer noch die Möglichkeit, durch die Macht der Straße den Dämonen im Weißen Haus Einhalt zu gebieten. Aber es wird kein leichter Kampf.

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Europaweit finden zurzeit Hungerstreik-Aktionen in verschiedenen Städten in Solidarität mit dem Hungerstreik der Föderation Sozialistischer Jugendvereine in der Türkei und dem Hungerstreik von Maja T. statt.


Anfang des Jahres hatte in der Türkei eine Razzia gegen die Sozialistische Partei der Unterdrückten (ESP), die Sozialistischen Frauenräte (SKM) und die Föderation Sozialistischer Jugendvereine (SGDF) stattgefunden, bei der 40 Menschen festgenommen wurden. Einige von ihnen wurden später in sogenannte „Brunnen-Typ“-Gefängnisse gebracht. Diese Zellen sind, wie der Name vermuten lässt, wie Brunnen gestaltet und ihr Zweck ist es einzig und allein die Gefangenen durch Isolation zu brechen. Als Protest gegen die schlechten Haftbedingungen haben die Inhaftierten in der Türkei einen unbefristeten Hungerstreik gestartet.

Circa 2000 Kilometer weit weg, in Budapest, hat auch die:der Antifaschist:in Maja am 5. Juni einen unbefristeten Hungerstreik begonnen. Maja ist ein:e nonbinäre:r Antifaschist:in, die:der in Budapest seit 15 Monaten in Isolationshaft sitzt. Illegal ausgeliefert von Deutschland, wird seit über einem Jahr vergeblich eine Rücküberstellung gefordert. Selbst das Verfassungsgericht in Deutschland hatte festgestellt, dass Maja als nonbinäre Person im queerfeindlichen Ungarn zweifelhafte Haftbedingungen erwarten könnten. Die Haftbedingungen in Ungarn gelten international als besonders schlecht. Maja berichtet über Ungeziefer, mangelnde Essensversorgung und Misshandlung anderer Gefangener durch Wärter. Maja berichtet außerdem darüber, „In Isolationshaft lebendig begraben“ zu sein und sieht den Hungerstreik nun als letzte Möglichkeit. 

Neben zahlreichen Solidaritätsaktionen haben nun auch in Deutschland mehrere Organisationen zu einem Solidaritäts-Hungerstreik aufgerufen. Wir haben uns mit einigen Aktivist:innen von Young Struggle getroffen und ihnen Fragen gestellt.

Könnt ihr euch vorstellen? Was macht ihr, wie sieht eure Aktion aus?

Wir sind von Young Struggle. Vom 12. bis zum 14. Juni treten wir hier in Leipzig in den Hungerstreik in Solidarität mit den Genoss:Innen der SGDF in der Türkei und Maja in Ungarn. Dazu veranstalten wir Mahnwachen, einen Vortag, schreiben Briefe an politische Gefangene und zum Abschluss werden wir uns an der Demo in Jena mit dem Motto „Antifa bleibt Notwendig“ beteiligen. Wir sind aber nicht die Ersten, die zu dem Thema in den Hungerstreik gehen und werden auch nicht die Letzten sein. Es haben schon ähnliche Aktionen in Frankfurt, Köln und Paris stattgefunden und in Berlin, Hamburg, Brüssel, Basel und London werden in den nächsten Tagen und Wochen weitere Hungerstreiks folgen.

Warum geht ihr in den Hungerstreik?

So wie in der Türkei, Ungarn aber auch in Deutschland die Repressionen steigen, müssen wir unsere Antworten darauf entsprechend anpassen. Unsere Genoss:Innen in der Türkei befinden sich in Lebensgefahr, Maja drohen 24 Jahre Gefängnis unter lebensunwürdigen Bedingungen, da reichen die gewohnten Mittel des Protests nicht aus. Wir solidarisieren uns mit ihrem Widerstand auch hier in Deutschland. Die Entscheidung in den Hungerstreik zu gehen treffen weder Maja noch die Genoss:Innen der SGDF nur für sich. Sie machen klar, dass die Repressionen uns alle betreffen, eine ganze Bewegung angreifen, mit dem Ziel sie zu brechen. So fordert z. B. Maja zusätzlich zu der eigenen Überstellung zurück nach Deutschland auch, dass keine weiteren Antifaschist:Innen ausgeliefert werden. Darauf wollen wir mit unserem Hungerstreik aufmerksam machen.

Wie ist die Situation in der Türkei?

In der Türkei wurden im Januar 40 Revolutionär:innen der SGDF, ESP und SKM verhaftet und befinden sich seitdem in Isolationshaft. Die Prozesse der SGDF sind beispielhaft für die Tradition gezielter Angriffe auf die revolutionäre Bewegung, die sich durch die komplette Geschichte des türkischen Staates ziehen. Die Verhaftungen hatten primär das Ziel die Mobilisierung sozialistischer Kräfte in der Phase vom 8. März bis zum 1. Mai zu schwächen. Danach haben sich noch weitere Angriffe auf die bürgerliche Opposition, die mit der Inhaftierung des amtierenden Bürgermeisters Istanbuls und Konkurrenten Erdogans Ekrem İmamoğlus stattgefunden hat und ein Versuch, die revolutionäre Bewegung zu isolieren, da eingereiht. Die Repression dient dazu, jede Opposition in der Türkei mundtot zu machen. Ob die Organisationen, um die es sich handelt tatsächlich verboten sind oder nicht, tut nicht viel zur Sache: ihre Anklage stützt sich im wesentlichen auf die Teilnahme an legalen Aktivitäten, wie dem SGDF Kongress, auf dem eine Aufnahme des in Rojava gefallenen Revolutionärs Özgür Namoglu gezeigt wurde, oder an der 30 Jahresfeier der sozialistischen Zeitschrift Atillim. Teile der Verhafteten der SGDF sind am 22. April in den Hungerstreik getreten. Die SGDF ist die Föderation sozialistischer Jugendverbände, eine sozialistische Jugendorganisation in Türkei/Kurdistan. Sie ist immer wieder solchen großen Verhaftungsangriffen ausgesetzt. Auch kurz vor dem 1.Mai gab es erneut große Verhaftungswellen. Sie waren außerdem die Betroffenen des Suruç-Massaker, wobei 33 sozialistische Jugendliche der SGDF durch einen IS-Attentäter ermordet wurden. Der türkische Staat ist auch hierbei Komplize gewesen und verhinderte noch nach dem Attentat die Notversorgung durch Sanitäter. Ihr Einsatz für dessen Aufklärung wird immer wieder kriminalisiert. Der Hungerstreik richtet sich gegen die Isolationshaft und eine neue Form von Gefängnissen, sog. Y- und S-Typ Anstalten. Mittlerweile sitzen über 400.000 Menschen in der Türkei in Haft. Die Gefängnisse haben dabei wohlgemerkt nur Kapazitäten für 300.000. Dabei hat der türkische Staat auch gezielte Taktiken, mit denen er versucht Revolutionär:innen, Antifaschist:innen, sogar Demokrat:innen psychisch zu zermürben. Eine davon ist unter anderem, dass politische Gefangene immer wieder inhaftiert, eine gewisse Zeit lang isoliert werden und anschließend für wenige Tage bis Wochen wieder frei gelassen werden. Das Ganze wiederholt sich dann oftmals, was eine enorme Belastung für die menschliche Psyche darstellt. Dadurch, dass man immer wieder Hoffnung auf Freiheit erlangt und kurz darauf aufs Neue aus seiner gewohnten Umgebung, von seinen Freund:innen, der Familie und seinen Genoss:innen gerissen wird, wollen die Herrschenden bezwecken, dass man die Moral verliert und einfach gesagt aufgibt. 

Könnt ihr etwas zu den Isolationsgefängnissen in der Türkei sagen? Wie sehen diese aus?

Die Isolationshaft wird seit den 90er Jahren systematisch vom türkischen Staat gegen die revolutionäre Bewegung eingesetzt. Ursprünglich sollte sie nur für Gefangene mit lebenslänglichen Strafen eingesetzt werden aber das ist seitdem extrem ausgeweitet worden.​​​​​​​ 

Die Isolationshaft ist eine Form der Folter. Im Übrigen hat sich der türkische Staat hier direkt am Umgang des deutschen Staates mit der RAF orientiert. 

Y- und S-Typ-Gefängnisse werden auch Brunnengefängnisse genannt, weil kaum Licht und Luft in die Zellen kommt, da die Zellen über keine Freiluftflächen verfügen. Einmal am Tag kommen die Gefangenen in einen engen Bereich mit hohen Mauern, der oben mit Drahtgittern abgedeckt ist und wie ein Brunnen aussieht. Daher kommt der Name. Das sind Haftanstalten, die die Gefangenen vollständig isolieren und somit in ihrem grundlegenden Aufbau nichts weiter als körperliche und psychische Folter bedeuten. Gerade politische Gefangene sind davon  oft betroffen. Die Gefangene in diesen Gefängnissen sind in Einzelzellen untergebracht. Nach Ermessen werden die Gefangenen täglich für 1 bis 1.5 Stunden in den Bereich der wie ein Brunnen von Mauern umgeben ist in den „Freigang“ gebracht, aber auch das ist eine Qual, da sie während dieser Zeit keine Möglichkeiten haben auf Toilette zu gehen oder auch sich vor Regen oder Sonne zu schützen. Die Zellen werden die ganze Zeit von Kameras überwacht – pausenlos. Kontakt zu anderen Gefangenen gibt es gar nicht. Das Ziel ist, Menschen über längere Zeiträume so zu brechen, dass sie psychisch zermürbt werden.

Wie hängt die Repression in der Türkei mit der Repression in Ungarn und Deutschland zusammen? 


In beiden Fällen agiert der deutsche Staat als Mitstreiter im Kampf gegen Antifaschist:Innen und Sozialist:Innen in der Türkei und Ungarn. Für die Türkei verfolgen deutsche Behörden politische Gegner, Widerstandskämpfer:Innen und sogar Künstler:Innen. Die revolutionäre türkische Organisation „Devrimci Halk Kurtuluş Partisi-Cephesi“ (DHKP-C) (Deutsch: „Volksbefreiungspartei/-front“) ist in Deutschland etwa verboten. Im Mai 2022 wurden drei türkische Antifaschist:innen, Özgül Emre, İhsan Cibelik und Serkan Küpeli, infolgedessen nach §129b in Deutschland verhaftet, im Februar verfolgte die Verhaftung von Hasan Unutan.

Um die antifaschistische Bewegung einzuschüchtern bricht der deutsche Staat auch gut und gerne seine eigenen Gesetze, um Maja in einer Nacht und Nebel Aktion nach Ungarn zu verschleppen, mit Sack über dem Kopf und angekettet. So kann Aktivist:Innen hier nun mit extrem hohen Haftstrafen in Ungarn gedroht werden, während sich Deutschland in Europa weiterhin mit dem Verteidigen der sog. Menschenrechte schmücken kann.

Außerdem sind wir als Sozialist:innen auch Internationalist:innen und sehen unsere Kämpfe nicht isoliert. Der Widerstand gegen den Faschismus ist eine Grenzübergreifende Aufgabe. Wir stehen alle dem gleichen System gegenüber, was wir nur gemeinsam zu Fall bringen können. Ob hier in Deutschland, der Türkei oder Ungarn, stehen wir Seite an Seite mit allen Sozialist:Innen und Antifaschist:Innen. 

Wie können euch Leute unterstützen?

Wir möchten mit dem Hungerstreik ein Zeichen setzen. Der Solidaritäts-Hungerstreik hat das Ziel, Aufmerksamkeit auf die Situationen der Genoss:innen zu lenken. Also beteiligt euch an den Aktionen in der nächstgelegenen Stadt oder führt selber Aktionen zu den Hungerstreiks von Maja und der SGDF durch.​​ Nach dem dreitägigen Hungerstreik in Leipzig folgen Genoss:innen in Hamburg und Brüssel vom 15.-17. Juni. Der Kampf um Befreiung endet aber nicht mit den Hungerstreiks und auch nicht mit der Freilassung Majas oder den Revolutionär:Innen in der Türkei. Solange dieses unterdrückerische System steht, müssen wir Widerstand leisten, bis wir alle frei sind. Der beste Weg dahin ist es sich zu organisieren, im Kampf gegen Faschismus und Unterdrückung, für eine bessere Welt. 

Vielen Dank für das Interview und viel Erfolg bei eurem Kampf!

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Im venezolanischen Hinterland treffe ich Thomas Walter und Peter Krauth. Hier sind beide seit Jahren im Exil. Sie werden beschuldigt als Mitglieder der Gruppe K.O.M.I.T.T.E im Oktober 1994 einen Anschlag auf das Kreiswehrersatzamt in Brandenburg verübt zu haben, sowie ein halbes Jahr später ein Angriff auf einen Abschiebeknast versucht zu haben. In der Folge verließen sie gemeinsam mit ihrem, 2021 verstorbenen Genossen Bernhard Heidbreder, Deutschland und tauchten unter. 2017 beantragten Walter und Krauth in Venezuela Asyl, welches 2021 erteilt wurde. Im selben Jahr wurde auch der internationale Fahndungsaufruf von Interpol gelöscht. Doch die deutschen Behörden lassen nicht locker, 2015 wäre der vorgeworfene Tatbestand „Verabredung zur Tat“ nach Paragraf 30 StGB eigentlich auch nach deutschem Recht verjährt, die Bundesanwaltschaft setzte die Frist jedoch kurz vorher auf 40 Jahre hoch, so das es 2015 zu keiner Verjährung kam. Daher werden Walter und Krauth immer noch nach deutschem Haftbefehl gesucht. Nun, 30 Jahre nach dem gescheiterten Anschlag wurde erneut Anklage durch den Generalbundesanwalt erhoben.

Bart Vanzetti


Während Thomas und Peter hingebungsvoll die Kaffeebohnen am offenen Feuer rösten, sprechen wir über die Geschichte der Region und die Bedeutung von Ejido und Gemeindeland. Darüber wie das Land den Gesellschaften geraubt wird, immer und immer wieder. Sei es durch das Handelsabkommen NAFDA in Mexiko oder durch die Zerstörung der Allmende in Deutschland.

Im Plaudern steigt die Gewissheit, dass mit den beiden auf jeden Fall zuerst das Feuer ausgeht, als die Gesprächsthemen. Doch heute soll es um Verfolgung und Exil gehen.

Bart Vanzetti:Als jemand der selber politisch geflüchtet ist, interessiere ich mich für den Grund warum ihr überhaupt fliehen musstet. Warum musstet ihr Deutschland verlassen?

Thomas Walter:  Weil wir nicht Gefängnis wollten. Das fasst eigentlich alles zusammen. Denn wären wir nicht geflohen, wären wir im Gefängnis gelandet.

Die Anschuldigungen gegen uns beinhalten ja wir hätten eine terroristische Vereinigung gegründet und diese am Laufen gehalten.

Konkret sind die Vorwürfe wir hätten ein Trainingsgebäude der Bundeswehr abgebrannt und außerdem hätten wir geplant ein Abschiebegefängnis, welches gerade gebaut wurde, in die Luft zu sprengen.

Das Abschiebegefängnis, das war ein ehemaliger DDR-Frauenknast, der nach dem Fall der Mauer in die Hände der Bundesregierung kam und zum Abschiebegefängnis umgebaut werden solle, weil die Abschiebungen nicht effizient genug liefen. Deshalb sollten mehr abgeschoben werden. Der Knast war dabei praktisch, weil er nah am Flughafen Schönefeld war und so Asylbewerber zentral festgehalten werden. Sozusagen bis man ein Flugzeug voll hat und die dann direkt abgeschoben werden können.

– Glauben wir diesen Anschuldigungen, seid ihr die einzige Gruppe, die damals spezifisch eine solche Aktion in Solidarität mit Flüchtlingen gemacht habt. Nun bringt es euch, als Deutsche Staatsbürger ja nichts, so einen Abschiebeknast zu verhindern. Die Abschiebehaft war ja für Leute, die nicht aus Deutschland stammten. Warum habt ihr trotzdem solche Aktionen gemacht?

Thomas Walter: Jetzt mal dahingestellt, ob wir es gemacht haben oder nicht, ist es ja so: Wir als Bewohner und damit Teil von Deutschland sind ja mitverantwortlich für die Politik, die Deutschland macht. Die machen sie ja in unserem Namen. Und wenn die Leute, die nach Deutschland kommen, weil sie Schutz suchen, wieder abgeschoben werden sollen, dann ist es für uns ein Problem. Ein ganz persönliches Problem, weil ich bin der Meinung, dass diese Leute haben ein Recht auf Schutz und sollten bei uns geschützt werden. Und im schlimmsten Fall, wenn Deutschland sagt: Ich kann euch nicht schützen, ihr seid nach meinen Kriterien nicht „flüchtlingswürdig“, selbst dann gäb es auf keinen Fall Grund diese Leute einzusperren. Also Leute einzusperren ist sowieso Scheiße. Knast bringt ja nichts, oder hat der Knast schon mal jemals jemanden verbessert? Und Leute einzusperren, die beileibe gar nichts verbrochen haben, ist wirklich pervers. Du kannst die Leute vielleicht noch einsperren, wenn sie eine Gefahr für andere sind. Sexualstraftäter oder was weiß ich. Da kann man es noch besser nachvollziehen, aber Leute einsperren, die aus einem anderen Land geflohen sind? Indem sie verfolgt wurden? Was ist die Logik dabei? Es ist einfach pervers, es ist krank.

Übrigens, ich möchte noch eine Sache ein bisschen gerade stellen. Wir waren nicht die einzige Gruppe. Es gab 1995 von der Roten Zora, einen Ableger der Revolutionären Zellen, noch einen Anschlag auf ein Rüstungsunternehmen. Irgendwo im nordischen Fischkoppbereich [Lemwerder bei Bremen, Anm. d. Red.]. Das war bezüglich Kurdistan, also von der Motivation ähnlich. Die Sachen, die uns vorgeworfen werden, waren ja auch mit der Kurdistan Solidarität motiviert. In der Zeit wurde die PKK in Deutschland verboten und so behandelt, als wäre sie in Deutschland eine terroristische Organisation. Kurdische Leute wurden massiv verfolgt, weil sie angeblich der PKK angehörten. Ähnlich wie es heute in der Türkei ist. Na ja oder eigentlich auch immer noch in Deutschland heute, das hat ja nicht aufgehört.

Sprechen wir über internationale Solidarität, müssen wir auch über die heutige deutsche Linke sprechen. Nach dem Gaza-Krieg sehen wir noch deutlicher als zuvor in einem Großteil der deutschen Linken eine Solidarität mit dem Staat Israel. Damit wird sich in die Linie mit dem deutschen Staat gestellt und die Staatsraison Deutschlands übernommen. Dann lesen wir auf der Fassade von der Roten Flora in Hamburg: „Solidarität mit Israel“. Also mit dem Staat, der als Apartheidregime immerhin International wegen des Genozids angeklagt wurde. Da fragt man sich ja schon wie kommt es, das deutsche Linke sowas machen? Sich mit dem Staat Israel zu solidarisieren bedeutet ja auch eine Entsolidarisierung mit den Bevölkerungen und Realitäten aus dem Mittleren Osten. Woher kommt diese Verwirrung?

Thomas Walter: Ich glaube da wird ganz wild alles möglichen durcheinander geworfen. Die ganze Debatte darüber ist für mich völlig aus dem Ruder gelaufen und überhaupt nicht konkret. Als deutsche und gerade als deutsche Linke haben wir natürlich eine hohe Verantwortung gegenüber jüdischen Menschen. Und der Anspruch von jüdischen Menschen geschützt zu werden, den sehen wir natürlich auch. Nach Jahrhunderten Jahren an Pogromen und Verfolgung, natürlich speziell dem Holocaust. Das ist wichtig.
Nur die Frage, die man sich stellen muss, ist: Ist Israel wirklich dieser Platz, in dem die jüdischen Menschen geschützt werden?
Ich glaube, wenn man sich jetzt gerade in letzten Wochen und Monaten die Zeitungen anschaut, dann ist es eher der Platz, an dem jüdische Menschenleben am gefährdetsten sind auf der Welt. Jüdische Menschen leben viel sicherer in Teheran, dass von den Mullahs in einer klerikal faschistischen Diktatur regiert wird. Dort gibt es eine riesengroße jüdische Community und da gibt es weniger Gewaltverbrechen gegen Juden als in Israel. In New York, wo es die größte jüdische außer-israelische Community gibt, leben Juden viel sicherer als in Israel. Israel ist auf den besten Weg diesen angeblichen Schutzraum völlig in den Wind zu schießen. Die Israelis sind total gefährdet, also so gesehen ist die ganze Argumentation völlig falsch. Was die in Israel gerade treiben, ist Rassismus und  es ist ethnische Säuberung. Außerdem provoziert die Israelische Regierung den Hass von den Überlebenden von diesen ganzen Massakern. Dieser Hass wird auf Jahrzehnte und vielleicht auf Jahrhunderte immer stärker werden, da tun Sie sich nichts Gutes mit.

Und warum glaubst du dass jemand, der in Deutschland aufgewachsen ist, dir ins Gesicht guckt und ganz überzeugt sagt: Weil meine Großeltern die Juden umgebracht haben, muss ich jetzt den Staat Israel unterstützen?

Thomas Walter: Es ist verlogen. Die Deutschen wollen sich in erster Linie selber reinwaschen, sie wollen nicht mehr schuldig sein. In zweiter Linie wollen Sie Teil des geostrategischen Westens sein und da ist Israel halt ein wichtiger Teil in dem Gesamtgefüge der westlichen Macht, in dem was sie „die westlichen Werte“ nennen. In diesen NATO Gebilde wissen die Deutschen sehr genau, was ihnen guttut und was für sie wichtig ist. Und die NATO und die Unterstützung der USA und damit auch Israel ist für sie einfach sehr gut und zwar auch ökonomisch. Das ist eine ganz klare Interessenentscheidung wenn Deutsche sagen: Ich stelle mich auf der Seite Israels und damit der USA. Es ist eine Entscheidung, sich auf die Seite des bewaffneten Wohlstands zu stellen.

Ich weiß du liest auch gern deutsche Zeitungen. Dort konnte man jetzt lesen, dass die Aktien von Rheinmetall so gestiegen ist wie noch nie zuvor. Meinst du das dass auch damit zusammenhängt?

Thomas Walter: Es ist immer einfach sich einzelne Haupttäter hinaus zu suchen und nur darauf zu schauen. Das ist für mich nicht das größte Problem. Der Vorstand von Rheinmetall etwa, natürlich sind das egoistische Arschlöcher, die Geld verdienen wollen und denen Menschenleben komplett egal sind. Das große Problem ist aber, dass es in Deutschland, und zwar auch in Deutschlands Linken, sehr viele Menschen gibt, die das gut finden. Die meinen dann tatsächlich sie sind bedroht durch Russland und Deutschland müsste massiv aufrüsten. Die meinen das Rheinmetall ihre Interessen als Deutsche vertritt. Und das ist für mich die große Problematik.
Wenn Tadzio Müller, ein Denker und Kopf der Klimabewegung, zu Rheinmetall Entwaffnen sagt: Leute ihr müsst doch auch sehen, die USA sind strategisch geschwächt und wir brauchen nun mal die Rüstungsfirmen, dann bist du ideologisch und theoretisch am Ende. So. Dann hast du dich sozusagen mit deinem Gegner den du eigentlich bekämpfst, zusammen getan. Das Klima geht kaputt wegen dem Kapitalismus. Das führende Land des Kapitalismus ist die USA, Deutschland macht natürlich fleißig mit, aber führend ist unangefochten die USA. Ohne Zerstörung oder zumindest Begrenzung des Kapitalismus kann es kein Ende des Klimawandels geben. Wenn also ein Klimawandelgegner hingeht und sagt wir brauchen Rheinmetall, um uns zu verteidigen vor den bösen Russen, dann hat er sich ins eigene Knie geschossen. Das ist einfach nur dumm.

Zurück zu der Gruppe um die es hier geht. Die Gruppe hat ja auch Flugblätter und Erklärungen geschrieben, in der Regel war die Gruppe also öffentlich zugänglich und man konnte sie auch kontaktieren. Wie sahen dahingehend die Diskussionen aus, wer hat diskutiert was in den Erklärungen und Kommuniqués drinsteht, wie war die Struktur, war es basisdemokratisch oder gab es ein Zentralkomitee?

Thomas Walter: Aber grundsätzlich waren die Bewegungen aus der Zeit horizontal aufgebaut. Die Leute, die sich zusammengefunden haben, um Sachen zu machen haben gemeinsam diskutiert und dann wurde sich geeinigt. Dann gab es einen Konsens und keine Chefs, die etwas vorgegeben haben oder so. Aber grundsätzlich gibt es das Problem bei abgeschotteten Gruppen, die sich ja abschotten müssen, weil Sie Sachen machen, die vom Staat verfolgt werden, dass Sie schlecht diskutieren können mit Leuten, die nicht ein Teil davon sind. Dann ist dieser Austausch immer einseitig. So eine Gruppe kann zwar ein Flugblatt schreiben, kann Texte schreiben und die dann veröffentlichen, aber es wirklich lesen oder gar antworten, tun die Leute in den seltensten Fällen. Und ein wirkliches Gespräch gibt es wahrscheinlich nie. Das war ja auch eines der größten Probleme von der RAF. Die haben sich im Laufe der Jahre so dermaßen vom Rest der Bewegung und der Linken in Deutschland abgekapselt, dass sie sich nicht mehr verständigen konnten. Das waren wie zwei verschiedene Welten.

– Nun werdet ihr ja seit 30 Jahren vom Deutschen Staat verfolgt und lebt im Exil. Juristisch gesehen, ist im Grunde keine besonders Schwerwiegende Sache passiert. Es wurde niemand getötet & wahrscheinlich auch niemand verletzt. Warum lässt die deutsche Regierung eure Verfolgung nicht los? 

Peter Kraus: Ich denke da kommen zwei Sachen zusammen. Erstens die Thematik. Da es sich bei den Angriffen auf direkte Angriffe auf Repressions-Anstalten des Staates handelt, ist es für den Staat sehr heikel. Denn der Staat braucht diese Anstalten um zu existieren, ohne Repression gibt es keinen Staat. Und zweitens: Der deutsche Staat ist nun von seiner Grundformation sehr auf Effizienz und auf theoretisch sauberes Argumentieren angelegt. Also die können es sich nicht leisten zu sagen: „Ja, damals haben wir es so gesehen, doch heute sehen wir es anders“ – das geht nicht. Die Deutschen haben eine Meinung und die bleibt 1.000 Jahre lang bestehen. Das hat jetzt nichts mit dem tausendjährigen Reich zu tun, auch wenn es da natürlich Parallelen gibt. Wenn die Deutschen jetzt aber gesagt haben jemand ist Straftäter, dann würden Sie sich lächerlich machen, wenn sie irgendwann sagen würden: „Okay ist ja nix passiert, das können wir auch mal wegpacken.“ Vor sich selber und auch dem Rest der Welt. Nein, das können sie nicht. Sie sind einfach Bürokraten, sie müssen sich an ihr Regelwerk halten und müssen diese Verfolgung, bis ins letzte Glied aufrechterhalten. Wenn es notwendig ist, dann werden Sie wahrscheinlich noch mal die Gesetze ändern. In unserem Fall wurden zwar nicht die Gesetze verändert, aber so ungebogen, dass man aus 20 Jahren Verjährungsfrist 40 Jahre machen konnte. Wenn man sich da mal in die Begründung reinließt ist es total absurd, dann kann man nur den Kopf schütteln. Das hat mit Rechtswesen nichts mehr zu tun, das ist nicht logisch. Und dennoch bin ich mir sicher: Wenn ihnen irgendetwas einfällt, um nochmal aus 40 Jahren 80 Jahren zu machen, dann werden sie auch das tun. Einfach um Recht zu behalten, damit niemand auf die Idee kommt zu sagen: Der Staat ist angreifbar. Er ist irgendwie menschlich und macht Fehler. Der Staat soll nicht menschlich sein, der Staat ist eine Intuition und ist unangreifbar. Das ist ein Prinzip und gerade für die Deutschen ist es heilig. In allen anderen Ländern der Welt, durch die wir gekommen sind, hat es stets nur Unverständnis ausgelöst. Die Leute verstehen das nicht, die sagen, es ist doch lange her und es ist nichts passiert, warum ist jetzt nicht vorbei. In Kolumbien wird nach 10 Jahren niemand mehr drüber reden, Sie sagen: Okay, es ist vorbei, es ist nichts passiert. In Venezuela ist es genauso, 8 Jahre und dann ist es vergessen. Deutschland ist da anders, ganz speziell. Vielleicht ist auch England, Frankreich und Italien auch so. Die ganzen zentralen europäischen Mächte scheinen so zu funktionieren.

Thomas Walter: Ich kann mir auch noch eine andere Begründung vorstellen die dazukommt. Die ganze Geschichte damals, die war nicht besonders professionell. Das war ein bisschen tollpatschig alles, es wurden viele Fehler gemacht. Die Bullen haben sich irgendwie einen gelacht und dachten sich das sind solche Deppen, die haben wir in 2 Jahren. Dass sie diese dann in 20,30 Jahren nicht gekriegt haben, hat sie ja ganz persönlich als Bullen, als Staatsanwälte gewurmt. Dann zu sagen: „Okay, ihr habt gewonnen“ ist einfach noch mal eine schwere Übung für so Persönlichkeiten, die einfach gewohnt sind immer recht zu haben und immer alles schaffen, was sie sich vornehmen und ja eigentlich auch alle Mittel dafür haben. Also das könnte auch eine Rolle spielen oder ein Faktor sein.

– Ihr seid hier jetzt ja in ein Land gekommen, welches angeblich eine Revolution hinter sich hat und auch eine Linke Regierung hat. Das war bestimmt auch mit Hoffnungen verbunden. 2017 seid ihr an die Öffentlichkeit gegangen und habt offiziell Asylanträge gestellt. Als die angenommen wurden, wart ihr damit wahrscheinlich die ersten Deutschen die offen als politische Flüchtlinge anerkannt worden sind. Kam das für euch überraschend oder eher nicht?

Thomas Walter: Also in anderen Ländern soll es so welche Vorfälle ja vorher schon gegeben haben. Margit Schiller [ehm. Mitglied der RAF, Anm. d. Red.], ist zum Beispiel in Kuba untergekommen. Aber sie hatte kein Strafverfahren. Sie ist abgehauen, weil sie befürchten musste, dass sie eingesperrt wird und eine Sicherungsverwahrung bekommt. Aber Sie hatte eben keinen aktuellen Haftbefehl. Das ist schon was anderes in unserem Fall, da gibt es einen deutschen und europäischen Haftbefehl. Und, trotz des Haftbefehls hat die Regierung hier uns beschützt, das ist schon ziemlich besonders. Da kannst du von der Regierung halten, was du willst aber das die das gemacht haben, ist schon ziemlich mutig und einmalig. Uns hat das auch gewundert. Wir hätten jetzt eher gedacht die schleimen sich bei den Deutschen ein. Aber dass sie sich in dem Fall einfach ans Gesetz halten, hätten wir so nicht gedacht. Denn juristisch war es ja eindeutig und die Sachen waren hier verjährt und konnten nicht verfolgt werden. Doch Sie haben sich einfach ans Gesetz gehalten und dafür in Kauf genommen, von den Deutschen schräg angeguckt zu werden. Obwohl sie doch ökonomisch gesehen die Deutschen eigentlich brauchen. Die Turbinen von dem größten Wasserkraftwerk in Venezuela werden von Siemens geliefert und niemand anderes kann die bauen, also da sind sie eigentlich auf den „Good Will“ von der deutschen Regierung angewiesen. Daher war das schon ein bisschen erstaunlich was die gemacht haben.

Aber sie haben euch trotz des Haftbefehles aufgenommen und euch Asyl gegeben. Wie ist es als politischer Flüchtling in Venezuela?

Walter: Die Regierung hat uns zwar diesen Titel gegeben „politische Flüchtlinge“ aber darüber hinaus haben sie uns überhaupt nichts gegeben. Wir kriegen gar nix. Also keine Ausstellung eines Personalausweises oder Reisepasses. Der hiesige Vertreter der Flüchtlingskommission hat keinen Finger gerührt um uns einen UN-Pass als Staatenlose oder als Flüchtlinge zu besorgen. Wir konnten kein Bankkonto aufmachen und so weiter. Also sie haben nichts getan, sie lassen es einfach still, sie bemühen sich dann nicht weiter.

Wie ist es bei anderen politischen Flüchtlingen aus anderen Ländern?

Thomas Walter: Es gibt viele Kolumbianer, da ist es anders. Einfach, weil die kolumbianische Botschaft da viel humaner als die Deutschen sind. Die Deutschen sagen: Ne, die sind gesucht von der Polizei, die kriegen keine Pässe. Beziehungsweise sie geben uns einen Pass, weil das deutsche Recht sagt, das jeder Bürger einen Anspruch hat auf ein Passdokument und dem müssen sie nachgehen. Aber sie geben uns einen Pass, der nur einem Monat gültig ist und die Flüchtlingsbehörde beziehungsweise das Einwohnermeldeamt hier weigern sich uns mit diesem Zettel Personalausweise auszustellen.

Meinst du, das hat mit der allgemeinen Art der Bürokratie zu tun und ist eine politische Entscheidung oder denkst du, das ist die Faulheit einzelner Beamten?

Thomas Walter: Ne, es ist keine politische Entscheidung, es ist eine politische Nicht-Entscheidung. In dieser Gesellschaftsordnung läuft alles so, dass niemand irgendwas tut in dem Verwaltungsapparat, ohne einen Befehl dafür bekommen zu haben. Also die Gesetze werden nicht angewandt, solange nicht ein Anruf aus Caracas kommt, von dem zuständigen Ministerium und jemand dann sagt: übe oder führe das Gesetz aus. Sonst wird lieber nichts gemacht, dann kannst du ja auch nichts Falsches machen. Das ist nicht unbedingt Böswilligkeit, sondern es ist fehlende Gutwilligkeit.
Bei einem baskischen Kollegen von uns zum Beispiel, der hat eine ähnliche Situation und dem haben wir auch zum Teil unsere Anerkennung zu verdanken. Der hat richtig kämpfen müssen für seine Sache. Der Kollege hat also seine Anerkennung als Flüchtling bekommen, aber hatte dann auch die Situation und bekam keinen Ausweis, keine Papiere. Dann ist er vor die Ministerien gezogen und hat dort einen Hungerstreik gemacht. Erst hat er einen Hungerstreik vor der spanischen Botschaft gemacht, damit die einen Pass ausstellen, die haben sie sich geweigert, weil sie die Basken hassen und dann hat er sich vors Innenministerium gestellt und hat dort wochenlang kampiert und da auf jeden Fall richtig Druck gemacht. Und nach langem Nerven haben, hat der Chef der Einwohnermeldebehörde dann gesagt: Komm, mache ich dir halt jetzt einen Ausweis. Ohne jeglichen Papierkram und ohne Gebühren. Bei dir machen wir ne Ausnahme, du hast so lang genervt, da kriegst du halt mal dein Ausweis. Ist zwar nur ein Jahr gültig, also muss er sich nach einem Jahr wieder hinstellen und Hungerstreiken oder was weiß ich was. Also es geht grundsätzlich schon, wenn sich jemand irgendwie aufständisch ist. Wir haben jetzt halt beide keine Lust gehabt irgendwelche Hungerstreiks zu machen oder uns an Brücken zu ketten oder so. Auch wenn es mit Papieren schon schöner ist, es geht auch ohne. Es gibt hier so viel Leute die einen unterstützen, man kann Bankkonten nutzen von Freunden und Freundinnen. Man kann ohne Führerschein Auto fahren, wenn man kontrolliert wird bezahlt man halt nen paar Dollar, es geht alles Mögliche. Also die Lebensqualität an sich wird nicht wesentlich eingeschränkt, wenn man keine Papiere hat. Das ist ein ziemlich flexibles Land im Grunde, alles wird auf der Straße geregelt, in persönlichen Verhandlungen meistens.

Peter Krauth: Also um noch mal zu unterstützen, was Walter grade gesagt hat: Als ich verhaftet wurde am Flughafen waren es zum Beispiel selbst die Interpol-Bullen, die erst mal beim Innenministerium anrufen mussten. Dort kam dann der direkte Befehl, also es hat nicht ein kleiner Beamter gesagt: Den nehmen wir jetzt fest. Sondern das ging mit dem Telefon bis zum Innenminister. Die Entscheidungen kommen von oben, weil unten eine totale Angst herrscht etwas falsch zu machen.
Also deshalb mussten wir zum Beispiel auch 3 Jahre warten bis unser Asylantrag entschieden wurde. Weil niemand das entscheiden wollte. Keine Ahnung, wie sie es im Endeffekt gemacht haben aber wahrscheinlich hing das auch mit dem Hungerstreik von dem baskischen Kollegen zusammen.

– Es gibt ja viele, die denken, weil die Regierung ja schon großzügig ist, sei es besser erst mal die Füße stillzuhalten und es ruhig anzugehen. Bei dem, was ihr erzählt, klingt es eher so, dass es besser wäre den Weg in die Öffentlichkeit zu gehen?

Peter Krauth: logisch, du musst immer, egal um was es geht, etwas fordern. Also jetzt hier oder in Deutschland oder egal wo. Solange in unserem Fall zum Beispiel nicht darüber geredet wird, kümmert sich auch niemand drum. Also unser Versuch ist ja auch Öffentlichkeit zu schaffen, wir machen Zeitungsinterviews, Filme und Interviews über unseren Fall und um da drüber aufmerksam zu machen, wie Hanebüchen die Geschichte eigentlich ist. Dass es eigentlich um einen Fall geht, der völlig jenseits von Gut und Böse ist. Der einfach überhaupt keinen Sinn mehr macht, 30–35 Jahre her und nix ist passiert. Aber die Verfolgung läuft genauso wie immer.

– Vielen Dank euch beiden für das Interview. Ich wünsche euch alles Gute und dass die deutschen Behörden ihren Repressionsdrang euch gegenüber beendet.

Foto: Bart Vanzetti privat

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Nach fast 100 Prozesstagen ist im Antifa-Ost-Verfahren gestern, am 31.05.2023, ein Urteil gefallen. Lina wurde zu fünf Jahren Knast verurteilt, die anderen drei Angeklagten zu jeweils zwei Jahren und fünf Monaten, drei Jahren und drei Jahren und drei Monaten. Während die Bundesanwältin, der diese Urteile vermutlich neue Karrieresprünge eröffnen, sich bei der Urteilsverkündung ihr Dauergrinsen nicht verkneifen konnte, wechselten sich angesichts der Ausführungen, die der vorsitzende Richter in den folgenden Stunden von sich gab, bei den Zuschauern Wut, Fassungslosigkeit und Erschöpfung ab.

Der vorsitzende Richter Schlüter-Staats, personifizierter erhobener Zeigefinger, wäre gerne souveräner als er ist. Aber es ist offensichtlich, dass ihm ein Prozess, in dem die Verteidigung ihren Job macht, auf die Nerven gegangen ist. In seinem Resumé des Prozesses erklärt er etwa vorwurfsvoll, dass die Verteidigung ja die ganze Zeit damit zugebracht habe, die Ermittlungen der Polizei in Zweifel zu ziehen. Die bürgerliche Presse ist da ganz an seiner Seite. In der FAZ kann man lesen, dass es dem Richter wohl ein besonderes Bedürfnis sei, „endlich mal die ungeteilte Aufmerksamkeit“ zu haben, nachdem er im Prozess von der Verteidigung „ständig und teilweise unflätig unterbrochen wurde“. Weil in einem guten Prozess werden des guten Ton halbers den Gottkönigen des Gerichts die Stiefel geleckt. Dementsprechend sparte der vorsitzende Richter nicht mit Spitzen gegen die Verteidiger, die das über sich ergehen lassen mussten – während der Urteilsverkündung, dem Moment mit der größten medialen Aufmerksamkeit, hat der Richter das Wort. Die Vorwürfe sind hart: Es fehle an juristischen Grundkenntnissen und einer der Verteidiger, der – zurecht – von politischer Justiz gesprochen hatte, solle doch die Gedenkstätte in Hohenschönhausen besuchen, wenn er wissen wolle, was politische Justiz sei.

Die kognitive Dissonanz, die hier an den Tag gelegt wurde, ist beachtlich. Das Urteil als politisch zu bezeichnen, wäre eigentlich fast schon ein Kompliment. Die mündliche Urteilsbegründung hat es nämlich in sich. Für diese nahm sich der vorsitzende Richter ausgiebig Zeit. Von 10 bis 20 Uhr dozierte er darüber, warum die Angeklagten verurteilt werden. Der Teufel liegt ja bekanntlich im Detail. Und die Details in diesem Prozess sind die wahnwitzigen Argumentationen, die das Gericht heranzieht, um die Angeklagten zu verurteilen. Auch wenn es, wie die Bundesanwaltschaft in ihrem Plädoyer schon gesagt hatte, keine „smoking gun“, a.k.a. Beweise gebe.

Der Berliner Angeklagte etwa wurde unter anderem verurteilt, weil er sein Auto verliehen hatte, welches dann in Eisenach eingesetzt wurde, um den Neonazi Leon R. auszuspionieren und anzugreifen. Ob er wusste, dass das Auto dafür eingesetzt wurde, konnte ihm nicht nachgewiesen werden. Ist aber egal. Der vorsitzende Richter Schlüter-Staats führte aus, dass, wenn es sich um etwas anderes gehandelt hätte, wie etwa Graffiti oder zum See fahren, der Angeklagte dann ja gefragt hätte, ob er mitkommen könne. Da er das nicht gemacht habe, müsse er gewusst haben, wofür er das Auto verliehen habe, und habe sich dementsprechend der Unterstützung der kriminellen Vereinigung, die das Gericht de jure mit diesem Urteil geschaffen hat, schuldig gemacht. So einfach kann man es sich wohl nur im Staatsschutzsenat machen.

Die Bundesanwaltschaft BAW hat sich in seinem Fall sowieso nicht mit Ruhm bekleckert. Für eine der ihm ursprünglich vorgeworfenen Tatbeteiligungen hatte er ein handfestes Alibi: Aus einem anderen, von der selben Bundesanwältin geführten Verfahren geht hervor, dass er gar nicht beteiligt gewesen sein kann: Sein Telefon wurde abgehört, und die Gesprächsprotokolle zeigten, dass er in Berlin war. Dieses Wissen musste allerdings von den Verteidiger*innen in den Prozess eingebracht werden, die BAW hätte ihn wider besseren Wissens oder aus Versehen auch deswegen verurteilt.

Ein weiteres Beispiel für die absurden Begründungen der Verurteilungen: Lina soll an einem Angriff auf einen Kanalarbeiter, der eine Mütze der Nazi-Marke Greifvogel-Wear getragen hatte, beteiligt gewesen sein. Zum Verhängnis wird ihr hierbei, dass sie eine ca. 1,75 m große Frau ist. Weil eine 1,75 m große Frau war anscheinend dabei. Weitere Beweise: Der Richter führte aus, dass der „Modus Operandi“ der der Vereinigung gewesen sei. Vor allem die Abgeklärtheit, und dass an anderer Stelle auch eine Frau ein Pfefferspray dabei gehabt habe. Außerdem wohne Lina in der Nähe. Und weil man davon ausgehe, dass ihr Partner bei der Aktion dabei gewesen sei, gehe man davon aus, dass die 1,75m große Frau Lina gewesen sein müsse. Selbst als zynischer Linksradikaler bleibt man bei so einem Quatsch fassungslos zurück.

Die gleiche Argumentation lieferte das Gericht bei einem anderen Fall. Bei einem Angriff auf die Neonazi-Kneipe Bulls Eye sei nachgewiesen, dass ihr Partner an der Aktion teilgenommen habe; es war eine Frau dabei; und weil es ja eine Vereinigung gebe, müsse das Lina gewesen sein. Und schon kommen fünf Jahre Knast zusammen.

Dass so ein nach logischen Maßstäben komplett irres Urteil gefällt werden kann, liegt maßgeblich am Verräter Johannes Domhöver. Dieser war auch angeklagt, nachdem aber Vergewaltigungsvorwürfe gegen ihn öffentlich gemacht wurden, beschloss er sich dem VS, dem LKA und eben auch dem Gericht anzudienen, um eine für ihn günstigere Strafe herauszubekommen. Das hat er erreicht. Sein Verfahren wurde abgetrennt und er bekam vor dem Landgericht Meiningen eine Bewährungsstrafe für seine Beteiligung an einem Angriff auf die Nazikneipe Bulls Eye.

Domhöver, den das Gericht für glaubwürdig hält, hatte die nötige Munition geliefert, damit eine kriminelle Vereinigung nach § 129 konstruiert werden konnte. Unter anderem wegen diesem Aspekt wurde das Verfahren auch als Testballon für den 2017 reformierten Schnüffelparagrafen bezeichnet. Nun gilt eine Vereinigung als ein „auf längere Dauer angelegter, von einer Festlegung von Rollen der Mitglieder, der Kontinuität der Mitgliedschaft und der Ausprägung der Struktur unabhängiger organisierter Zusammenschluss von mehr als zwei Personen zur Verfolgung eines übergeordneten gemeinsamen Interesses.“ Damit definiert der Staat dann quasi jeden politischen Zusammenhang, der sich nicht auf bloße Lippenbekenntnisse beschränkt, als potenziell kriminelle Vereinigung.

Nur unter Zuhilfenahme dieses juristischen Werkzeugs war es möglich, den Angeklagten die der Organisation angelasteten Taten anzukreiden. Und da der Organisationsbegriff juristisch maximal schwammig formuliert ist, kann man davon ausgehen, dass es weitere Verfahren geben wird. Der sächsische Innenminister Armin Schuster (CDU) hat schon angekündigt, dass weiter „ermittelt“ werde und dass er zuversichtlich sei, „weitere Straftäter“ vor Gericht bringen zu können. Scheint realistisch, die für Verurteilungen nötige Beweislage ist ja offensichtlich wahnsinnig dünn und es gibt willige Gerichte, die den Auftrag der Exekutive umsetzen.

Was bleibt angesichts dieses absurden Theaters, das als Prozess bezeichnet wird? Innenministerin Nancy Faeser äußerte sich dahingehend, dass „die Radikalisierungs- und Gewaltspirale“ sich nicht weiterdrehen dürfe. Als würden Neonazis und Faschisten keine Gewalt mehr ausüben, wenn man sie nur in Ruhe lässt. Trotz der Repression in Dresden bleibt antifaschistischer Selbstschutz notwendig. Daran ändert auch dieses Urteil nichts. Genauso wenig wie die Verurteilungen von Jo, Dy und Findus in Baden-Württemberg. Denn man kann sich, wie so oft gesagt, im Kampf gegen Nazis nicht auf den Staat verlassen.

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Gastbeitrag der Kampagne „NS-Verherrlichung stoppen!“

Der diesjährige „Tag der Ehre“ in Budapest fand auch außerhalb antifaschistischer Kreise in der BRD erhöhte Aufmerksamkeit. Grund dafür war jedoch nicht der paramilitärische Aufmarsch europäischer Neonazis mit SS-Symbolen. Vielmehr sorgte ein im Netz verbreitetes Video, das zeigte, wie mehrere Personen eine Person in Tarnkleidung angriffen und zu Boden brachten, für Aufsehen. Nach mehreren Festnahmen in Budapest folgte eine mediale Hetzjagd, ausgelöst durch die Bild-Zeitung, die die Namen der Festgenommenen veröffentlichte, denen vorgeworfen wurde, an insgesamt acht Angriffen auf Teilnehmer des Tags der Ehre beteiligt gewesen zu sein. Seitdem ist viel passiert: Es gab länderübergreifend mehrere Festnahmen, Identitätsfeststellungen, Öffentlichkeitsfahndungen, Razzien in Berlin, Leipzig, Jena und zunächst vier Personen in Untersuchungshaft, von denen zwei immer noch in Ungarn einsitzen. Dort wird die Repression von einer Hetze gegen den Antifaschismus an sich begleitet. Die größte regierungsnahe Zeitung des Landes „Magyar Nemzet“ bezeichnete Antifaschismus als Terrorismus, „der von extremen, lebensfeindlichen Ideologien angetrieben wird“. Und weiter hieß es, es sei „eine moralische Pflicht, sich dem Antifaschismus entgegenzustellen“. Diese Äußerungen sind bezeichnend für die Medienlandschaft, die fast ausschließlich von Orban und seinem Umfeld kontrolliert wird.

Der „Tag der Ehre“- Ein faschistisches Vernetzungstreffen seit 1997

Um zu verstehen, warum der „Tag der Ehre“ ein legitimes Ziel in der Feindbestimmung aktiver Antifas ist, muss man sich mit der Geschichte dieses Nazi-Events vertraut machen. Der sogenannte „Tag der Ehre“ existiert seit 1997 und ist ein wichtiges Ereignis für die Neonazis von Blood & Honour, Hammerskins und deren Sympathisant:innenkreis. Das Wochenende um den 11. Februar ist dem Gedenken an zwei Divisionen der Waffen-SS und einer SS-Gebirgsjägereinheit gewidmet, die sich im Dezember 1944 in Budapest vor der anrückenden Roten Armee verschanzten und einen kläglich gescheiterten Ausbruchsversuch aus dem Budapester Kessel unternahmen. In der Schlacht um Budapest starben auf Seiten der Wehrmacht und ihren ungarischen Kollaborateuren über 100.000 Soldaten. Das NS-Gedenken an den gescheiterten Ausbruch aus dem „Budapester Kessel“ ist an diesem Wochenende nur eine Veranstaltung. Neben Rechtsrock-Konzerten steht am Wochenende ein 60 Kilometer langer Nachtmarsch auf dem Programm, der die Fluchtroute der Nazis nachzeichnet. Über 3.000 NS Nostalgiker:innen nahmen in diesem Jahr an der „Wanderung“ teil, die bei Neonazis beliebt ist, weil sie dort trotz eines offiziellen Verbots von SS-Symbolik und Hakenkreuzen ihre NS-Insignien weitgehend ungestört zur Schau stellen können. Der ungarische Tourismusverband „Hazajáró Honismereti és Turista Egylet“ bewirbt und unterstützt die Wanderung „Kitörès“ unter dem Slogan „Gedenken an die heldenhaften Verteidiger unseres Landes und Europas“. Dazu passend ist der nachträgliche Bericht über die Wanderung illustriert mit Bildern voller NS-Symbolik u. a. von einem Kontrollpunkt mit Hakenkreuzfahne und Hitler-Portrait.

Seit 1997 gibt es marginale Proteste gegen den Tag der Ehre von einer Handvoll engagierter Budapester Antifaschist:innen. Lokale Antifaschist:innen haben in den letzten Jahren immer wieder darauf hingewiesen, dass das westliche Narrativ, das Victor Orban als personiifiziertes Problem ausmacht, zu kurz greift und die Kritik nicht auf seine Person reduziert werden sollte. Ein lokaler Aktivist, der die Proteste in diesem Jahr mitorganisiert hat, weist darauf hin, dass die liberale Demokratie in Osteuropa an der„kapitalistischen Hemisphäre“ nur eine „vorübergehende Erscheinung“ sei. Die Verhältnisse in Ungarn sind verfestigt autoritär. So sei es in Ungarn in den letzten 150 Jahren nur selten gelungen, die regierenden Parteien demokratisch abzulösen. Die Orban-Regierung sei das „natürliche Kennzeichen dieses semiperipheren Kapitalismus“. Tatsächlich ist das Regime in Ungarn sehr stark vom hegemonialen kapitalistischen System geprägt und mit ihm verbunden. Die Regierung Orban ist bemüht, diesen Kapitalismus möglichst geräuschlos zu verwalten. Das führt auch dazu, dass soziale Bewegungen wie die LGBTIQ-Bewegung oder die kleine Antifa-Szene möglichst klein gehalten werden sollen. Das kapitalistische System wird in Ungarn, wie auch in den meisten postsozialistischen Staaten Osteuropas nationalistisch und autoritär gemanaged. 

Auch geschichtspolitisch täuscht Orban die Menschen, indem er versucht, den Realsozialismus mit dem Faschismus gleichzusetzen.  Diese Umdeutung der Geschichte ist ein Versuch, von seinem maroden System abzulenken. Durch die Verbreitung rechter Narrative ist Ungarn eine der treibenden Kräfte des Geschichtsrevisionismus in Europa. Dies drückt sich in Budapest auch städtebaulich aus. So ließ Orban in den vergangenen Jahren nationalistische Denkmäler des Horthy-Regimes wie z.B. das Nationale Märtyrerdenkmal originalgetreu wieder aufbauen. Es hat seinen Grund weshalb sich Neonazis in Ungarn so wohl fühlen und mit keinerlei Gegenwind rechnen müssen. Das Motiv der Neonazi-Szene, die alljährlich zum Tag der Ehre pilgert, ist dem der ungarischen Regierung sehr ähnlich. Denn es geht ihnen darum, den Ausbruch aus dem Budapester Kessel als Akt der Verteidigung Europas gegen den Vormarsch der Kommunist:innen umzudeuten.

Der Tag der Ehre 2023 

In diesem Jahr gelang es durch antifaschistische Raumnahme mit zwei Gegenkundgebungen an der Burg, das Nazi-Gedenken von Blood&Honour und Legio Hungaria aus Budapest zu verbannen. Das Vorgehen der ungarischen Behörden steht im Kontext der erfolgreichen antifaschistischen Mobilisierung der letzten Jahre. Es ist den Nazis nicht mehr möglich, ihr ritualisiertes Gedenken in der Budapester Innenstadt abzuhalten, so dass das offizielle Nazigedenken in einen Wald außerhalb Budapests ausweichen musste. Damit wurde zum ersten Mal ein faschistisches Gedenken in der Innenstadt verhindert, was vor Ort als sehr großer Erfolg gewertet wird. Dieser Erfolg war auch nur durch den unermüdlichen Einsatz einiger lokaler Aktivist:en möglich, denen es in den letzten Jahren gelungen ist, ein internationales Netzwerk mobiler antifaschistischer Gruppen einzubinden.

Repression

Sinn und Zweck staatlicher Repression ist es, organisierte antagonistische Strukturen zu kriminalisieren und letztlich zu zerschlagen. Am Beispiel des Tags der Ehre in Budapest ist es deswegen folgerichtig, dass sowohl die ungarischen Behörden als auch im Wege der Amtshilfe die deutsche Polizei mit großem Ermittlungseifer den Widerstand gegen den Tag der Ehre verfolgen und kriminalisieren. In Ungarn liegt dies daran, dass der Gegenprotest nationale Geschichtsmythen wie die Unterjochung unter „zwei Diktaturen“ in Frage stellt. Zudem liegt es in der Natur jedes Staates Organisation außerhalb des vom Staat vorgegebenen Rahmens zu verfolgen, unabhängig dessen, wie militant im Detail agiert wird. Vor diesem Hintergrund lehnen wir eine Einteilung in „gute“ und „böse“ Antifas ab. Wir solidarisieren uns mit allen, die sich gegen dieses geschichtsrevisionistische Gedenken an die Waffen-SS organisieren und aktiv werden. Die Repression darf nicht dazu führen, dass sich weniger Menschen an den Protesten gegen den Tag der Ehre beteiligen. Vielmehr sollten wir das gestiegene Interesse nutzen, um die faschistische Gefahr aufzuzeigen, die von diesem internationalen Faschist:innentreffen ausgeht.

Die Kampagne „NS-Verherrlichung stoppen!“ lässt sich von zunehmender Repression nicht einschüchtern, denn diese ist immer eine Begleitmusik antifaschistischer Arbeit. Wir werden weiterhin die Notwendigkeit des Aufbaus internationaler antifaschistischer Netzwerke forcieren und geschlossen auftreten.

Wir sammeln Spenden für von Repression Betroffene.

Konto: Netzwerk Selbsthilfe
Stichwort: NS Verherrlichung stoppen
IBAN: DE1210 0900 0040 3887 018
Kontakt: nsverherrlichungstoppen@riseup.net

# Titelbild: vvn-bda, Gegenprotest gegen den Tag der Ehre 2023

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Von Bahram Ghadimi
Übersetzung von Haydar Paramaz

Leila Hosseinzadeh ist Masterstudentin der Anthropologie. Sie hat hauptsächlich an der Universität, als Aktivistin der Studentenbewegung gearbeitet und ist als eine der kämpfenden und widerständigen Frauen im Iran bekannt. Zusammen mit einer Gruppe von studentischen Aktivist:innen wurden sie Ende der 2000er Jahre Zeugin des Scheiterns der „Grünen Bewegung“ an der Universität und erlebte das anschließende erstickende Klima der Gesellschaft. Sie alle waren politisch Links orientiert und in der Regel waren sie Kinder der Arbeiterklasse. Folgendes Interview mit Leila Hosseinzadeh, entstand nur wenige Tage nach ihrer bedingten Entlassung aus dem Gefängnis, unter ständiger Bedrohung durch Regierungskräfte. Damit beabsichtigen wir einen weiteren Teil der sozialen Bewegung im Iran, mit den Worten der Aktivist:innen vor Ort, vorzustellen. (Triggerwarnung: Im Interview erzählt Leila von ihrer Haftzeit und beschreibt Folter und sexualisierte Gewalt.)

Du hast lange Zeit politisch im universitären Umfeld gearbeitet. Wie kam es dazu, dass Deine Arbeit diesen Bereich verließ und ein viel breiteres Spektrum an Menschen ansprach?

Während wir Verbindungen innerhalb von Universitäten knüpften, stellten wir fest, dass unsere Schicksalsgenossen nicht nur an Universitäten sind; Wenn wir das Recht auf kostenlose Bildung wollen, sind wir bereits Verbündete der Lehrergewerkschaftsbewegung, wenn wir gegen Privatisierung sind, sind wir Verbündete der Arbeiterbewegung; Wenn in der Universität der Slogan skandiert wurde: „Student, Lehrer, Arbeiter, Einheit! Einheit!“, hatte es nicht nur eine theoretische oder ideelle Grundlage. Wir setzten eine gemeinsame Verteidigung und einen konkreten Widerstand praktisch um. Als die Regierung Mitte der 2010er Jahre den Praktikumsplan für Hochschulabsolventen und den Kaufplan für Lehrdienstleistungen durchführte, wurde diese Verbindung konkreter.

Mit diesem Plan setzte die Regierung Hochschulabsolventen ein, um die Beschäftigungs- und Gehaltssituation der Erwerbstätigen zu prekarisieren. Jetzt waren wir Studenten, Lehrer und Arbeiter in der selben Lage und stellten uns entsprechend gemeinsam auf. Die Kampagne gegen die Arbeitsausbeutung wurde von Studenten, Arbeitern, Lehrern, Journalisten, Intellektuellen und Rentnern durchgeführt. Aufgrund des starken Drucks unserer Bewegung wurde der Praktikumsplan schließlich abgesagt.

Aber diese Kampagne und Versammlung hatte auch darüber hinaus Wirkung. Die gemeinsame Teilnahme an drei Straßenprotestversammlungen für die Freilassung eines Gewerkschaftsarbeiters, Reza Shahabi, aus dem Gefängnis zum Beispiel. Eine der letzten Nachrichten, die in der Telegram-Gruppe der Kampagne 2017 gepostet wurde, war: „Lasst uns unter dem Eingang der Teheraner Universität versammeln“, Wenige Minuten später wurde der Ort zum einzigen Sammelpunkt in Solidarität mit dem Volksaufstand vom „Dezember 2017- Januar 2018“. Zwei grundlegende Parolen wurden dort zum ersten Mal gerufen: „Reformisten, Fundamentalisten, es ist vorbei“ und „Wir wollen keinen König, wir wollen keinen Mullah, wir wollen die Gründung von Räten“. Ersterer wurde zum Hauptslogan des Aufstands. Sehr bald waren die Mainstream-Medien der Regierung und der Opposition mit dieser Frage beschäftigt, ob es wirklich „vorbei“ sei.

Diese Frage konnte man allerdings nur stellen, wenn man die soziale Situation im Iran irgnorierte.

Das es vorbei sei, war keine Vorhersage der Zukunft, sondern eine Beschreibung des damaligen Stands der iranischen Politik. Diese Parole wurde aus den Herzen jener Kraft geschrien, die jahrelang versucht hatte, die einheitliche Rolle des Staates in der politischen Ökonomie aufzuzeigen  und darlegen wollte dass der Dualismus zwischen Reformlager und konservativen nur ein Scheinverhältnis ist. Es waren die jungen Studenten, die Anfang der 2010er Jahre, besonders mit der Amtseinführung von Rohanis Regierung, zusammen mit vielen anderen Menschen zu der allgemeinen Einsicht gelangt waren, dass diese Kabinette alle gleich sind.

Nach den Aufstandstagen im Januar 2018 schrieben einige in den sozialen Medien mir diesen Slogan zu. Das ist falsch. Die Parole kam aus dem Herzen einer kollektiven Kraft und war das Ergebnis jahrelanger kollektiver Kämpfe und Bemühungen. Die zweite Parole für die Gründung der Räte konnte sich leider nicht durchsetzen, da sie medial boykottiert wurde. Nichtsdestotrotz werden, wo immer es geht, Räte als Machtorgane gegründet: in Gilan, Aserbaidschan, Kurdistan, in der turkmenischen Sahara, in Fabriken, Universitäten etc.

Wie siehst Du, angesichts des hohen Anteils von Studentinnen, die Rolle der Frau in dieser Bewegung?

Als die Studentenbewegung Fortschritte machte und wuchs, konnte sie mit Hilfe einer klaren Klassenlinie ihre objektive Schicksalsgemeinschaft mit anderen unterdrückten Gruppen besser verstehen. Von Anfang an spielten Frauen eine aktive Rolle bei der Entstehung dieser Bewegung und sie kämpften für die Abschaffung der Geschlechterunterdrückung. Das Ergebnis dieses Kampfes war, dass in allen Stellungnahmen der Studentenbewegung Gender-Forderungen betont und Gender-Unterdrückung gesondert und mit Nachdruck dargestellt wurden. Parolen wie „Mädchenwohnheim: Gefängnis!“ gehörten neben anderen Slogans zu den Parolen, die von den ersten Versammlungen der Bewegung erhoben wurden. Der Frauenwiderstand im Herzen der Studentenbewegung brachte auch konkrete Erfolge: Die Wohnheimbewohnerinnen des Mädchenwohnheims der Universität Teheran ignorierten mit kollektiven Protestaktionen in den Jahren 2018-2019 die gesetzlichen Ein- und Ausgangszeiten

Im Mai 2018 organisierte die Studentenbewegung als Reaktion auf die Gründung einer Sittenpolizei auf dem Kampus der Universität Teheran eine Versammlung von 2.000 Studenten, deren Hauptslogan „Brot, Arbeit, Freiheit! Freiwillige Kleidung!“ lautete. Die Studentenbewegung schritt mit einem Verständnis über die Schicksalsgenossenschaft der unterdrückten Gruppen und der Notwendigkeit ihrer Einheit voran. Am Studententag 2017 erzählten in einer Protestversammelung unter dem Titel „Wir sind die Stimme der Geschichte“, Studenten, Arbeiter, Lehrer, Frauen und Vertriebene (wegen Wasserknappheit) über ihre Unterdrückung und über ihren Widerstand und riefen schließlich gemeinsam: „Wir sind die Stimme der Geschichte“. Bei der Protestaufführung in der Allameh-Universität und der Universität Teheran im Jahr 2019, stießen Menschen, die von Nationaler und religiöser Unterdrückung betroffen sind und Migranten dazu. Ich selbst wurde 2018 tagelang in meiner Haft verhört, um preiszugeben, wer den Text der Protestperformance am Studententag verfasst hatte.

Warum wurdest Du verhaftet?

Ich wurde im Januar 2018 wegen meiner Teilnahme an der Kundgebung am 30. Dezember 2017 am Eingangstor der Universität Teheran im Zusammenhang mit dem Volksaufstand verhaftet. Außer mir wurden etwa 50 weitere Studenten im Zusammenhang mit dieser Kundgebung festgenommen. Ich wurde wegen meiner gesamten Tätigkeitsgeschichte bis Dezember 2017 verhört, und schließlich verurteilte mich das Gericht zu sechs Jahren Haft. In der Anklageschrift gegen mich stand, dass ich Sozialistin bin, an Kundgebungen der Studentenbewegung teilgenommen habe, an Kundgebungen für die Freilassung des inhaftierten Arbeiters Reza Shahabi teilgenommen haben, an der Gründung einer Kampagne gegen Arbeitsausbeutung beteiligt war und an der Versammlung im Zusammenhang mit dem 2017-2018 Aufstand teilgenommen habe.

Mit massiven Verhaftungen nach dem Januar-Aufstand wurde die Studentenbewegung stark unter Druck gesetzt. Allein an einer Universität wurden Studenten zu mehr als 100 Jahren Haft verurteilt. Damals dachten wir, die Arbeit der Studentenbewegung sei beendet. Einige kritisierten die Ereignisse und sagten, man hätte eine organisierte soziale Bewegung nicht für einen Straßenaufstand verausgaben sollen. Als ich und eine Gruppe anderer mit der gleichen Haltung dachten, dass die Arbeit erledigt war, und als wir an die langen Jahre unserer Gefangenschaft dachten, sagten wir uns, dass es sich trotzdem gelohnt hatte. Wir hatten unsere historische Pflicht, Studenten zu sein, erfüllt und den unterdrückten Massen zur Seite gestanden. Einige von uns waren nicht dafür gewappnet, diesen hohen Preis zu zahlen. Die Repression war hart. Wir hätten nicht einmal gedacht, dass die Universität nach dieser Repression aufstehen und Widerstand leisten könnte, aber so ist es gekommen. Von März 2018 bis Mai 2018 organisierten mehr als 40 Universitäten und Hochschulen machtvolle Kundgebungen und Proteste, um gegen die hohen Haftstrafen von studentischen Aktivisten zu protestieren.

In der Studentenbewegung haben wir mit leeren Händen begonnen und wir haben die Erhöhung der Sozialkosten für zwei Jahre gestoppt, wir haben die Privatisierung der Wohnheime gestoppt, wir haben die Anzahl der kostenlosen Bildungsjahre mit unserem Widerstand etwas erhöht, aber wir haben uns im Hinterkopf immer einsam gefühlt, zumal all diese Fortschritte nicht nur unter Repression, sondern auch unter schlimmster Stigmatisierung erkämpft wurden. Dann stellten wir fest, dass wir nicht allein waren. Im Gegensatz zu dem, was viele von uns dachten, war die Universität nicht am Ende, sie wehrte sich und ihr Widerstand zahlte sich aus. Die Urteile der Studenten wurden gekippt und viele Urteile konnten nicht vollstreckt werden. Meine Haftstrafe wurde auf zweieinhalb Jahre reduziert.

Die Studentenbewegung ist in Abwesenheit vieler von uns, die sie begonnen hatten, bis Ende 2020 vorangeschritten und erst mit der Sicherheitsschließung der Universitäten von Ende 2020 bis Mai 2022 konnten sie das Voranschreiten der Studentenbewegung abbremsen. Gegen den Widerstand der Universität wurde ihre Schließung durchgesetzt. Aber selbst die Schließung der Universität funktionierte am Ende nicht, und mit der Wiedereröffnung im Mai 2022 nahmen die Studenten ihre Aktivitäten wieder auf und leisteten einen einzigartigen und aktiven Widerstand im Jina Aufstand.

Wurdest Du erneut festgenommen?

Ich wurde im Sommer 2019 erneut verhaftet, diesmal von den Revolutionsgarden, sie fragten nach den Protesten und Streiks der Haftpeh-Arbeiter im November 2018. Damals wurde eine Reihe von Kundgebungen an verschiedenen Universitäten zur Unterstützung von Haftpeh abgehalten. Der Hauptslogan war: „Wir sind die Kinder der Arbeiter, wir stehen an ihrer Seite“.  Sie verhörten mich über marxistische Gruppen und Medien und verurteilten mich schließlich zu 5 Jahren Gefängnis. Die Vorwürfe waren: abhalten einer Kundgebung zur Unterstützung des inhaftierten Derwisch Studenten Mohammad Sharifi Moghadam. Dieses schwere Urteil erschien allen absurd, denn wir hatten lediglich für unseren inhaftierten Freund eine Geburtstagsfeier vor der Sharif University of Technology abgehalten. Mit dieser neuen Akte schickten sie mich ins Gefängnis und vollstreckten die Gefängnisstrafe im Zusammenhang mit der Verhaftung von 2018. Im Gefängnis wurde bei mir eine unheilbare Autoimmunerkrankung diagnostiziert, zwei Monate nach Auftreten der Symptome wurde ich aus medizinischen Gründen beurlaubt. Meine Augen wurden von der Krankheit befallen und mir drohte die Erblindung. Die Rechtsmediziner bescheinigten, dass ich nicht haftfähig bin und meine Freilassung wurde beschlossen.

Im November 2021, als ich mich auf einer Urlaubsreise befand, wurde ich dann erneut vom Geheimdienst in Shiraz festgenommen. Ich wurde im Untersuchungsgefängnis des Shiraz-Geheimdienstes schwer körperlich misshandelt. Die Vernehmungsbeamten übten viel körperlichen und seelischen Druck aus. Sie hatten mich ohne Anklage festgenommen und planten, durch die Inhalte meines Telefons und mit einem Geständnis ein Verfahren gegen mich einzuleiten. Ich habe mich in beiden Fällen dagegen gewehrt. Sie konnten das Passwort des Telefons nicht knacken und ich sagte ihnen: „Ich werde vor euch nicht einmal gestehen, dass ich atme.“ Nach einem Monat psychischer und physischer Misshandlung, wegen denen meine Krankheit wieder ausgebrach, ließen sie mich aufgrund des öffentlichen Drucks gegen eine hohe Kaution frei. Zwei Monate nach meiner Entlassung erfuhr ich, dass ich eine neue Autoimmunerkrankung hatte. Die Repression ließ jedoch nicht nach, sie eröffneten ein Verfahren gegen meinen Bruder und luden ihn vor und sie belästigten meinen Vater immer und immer wieder. Im August 2022 wurde ich in Teheran vor meinem Haus gewaltsam festgenommen.

Dieses Mal weigerte ich mich am Eingang des Teheraner Geheimdienstgefängnisses sogar, meine Personalien preiszugeben. Ich weigerte mich, verhört zu werden, und sie hielten mich rechtswidrig fünf Monate lang in Untersuchungshaft. Sie sagten, dass ich mit einer Gruppe politischer Gefangener bestrebt wäre, eine Erklärung zu veröffentlichen. Sie legten mir den Text der Erklärung vor, es war eine Fünf-Punkte-Erklärung, die die Prinzipien des Kampfes und einer alternativen Regierung spezifizierte. Ich sagte ihnen, wenn ein Text veröffentlicht wird und mein Name darauf steht dann lasst uns reden, aber das war nicht der Fall.

Nach fast einem Monat wurde ich ins Adel-Abad-Gefängnis in Shiraz gebracht, tatsächlich kam ich in eine Art inoffizielle Verbannung, weil Shiraz weder mein Wohnort noch meine Heimat war und auch nichts mit den Anschuldigungen in meiner neuen Akte zu tun hatte. Sie versuchten mich so viel wie möglich zu quälen und zu entrechten. Seit meiner Verhaftung war es mir einen Monat lang verboten gewesen, Kontakte zu haben und als sie mir endlich erlaubten, jemanden anzurufen, entzogen sie mir das Recht, meinen Anwalt zu kontaktieren. Sie entzogen mir medizinische Behandlung und zwangen mir einen Arzt auf, bei dem ich mich gezwungen sah in einen Medikamentenstreik einzutreten. Davor war ich wegen der Verhängung der strenger Einschränkungen schon einmal in einen Hungerstreik getreten, diesen beendete ich als die Auflagen aufgehoben wurden. Diesmal hatte mich die Regierung dank eines Briefes meiner ehemaligen Mitgefangenen aus dem Frauentrakt des Evin-Gefängnisses, der Unterzeichnung einer Petition durch Studenten und Professoren, der Abhaltung von Protestkundgebungen an meiner Fakultät und öffentlichem Protest auf Twitter nach fünf Monaten der rechtswidrigen Inhaftierung freigelassen.

Der Geheimdienst hat mich letzte Woche (3. bis 11. März 2023) erneut vorgeladen. Ich habe gesagt, dass eine telefonische Vorladung illegal ist. Sie sagten, dass sie kommen und mich mitnehmen würden, noch ist nicht klar, wann sie ihre Drohung wahrmachen werden. Als ich vorübergehend im Gefängnis von Adel Abad inhaftiert war, gaben sie mir einen Bescheid über die Vollstreckung der fünfjährigen Haftstrafe. Sie betrachteten mich als abwesend und als flüchtig, weil ich nicht zum Haftantritt erschienen war und jetzt haben sie eine Anordnung erlassen, mein Eigentum zu beschlagnahmen. Jetzt muss ich ihnen erklären, dass ich nicht ins Gefängnis gekommen bin, um die fünfjährige Haftstrafe zu verbüßen, weil ich wegen eines anderen Falls in einem anderen Gefängnis inhaftiert war und nicht von Gefängnis zu Gefängnis kommen konnte.

Wie behandelten die Regierungstruppen Dich und andere Gefangene zum Zeitpunkt der Verhaftung und später in den Gefängnissen?

Die Art und Weise der Behandlung hängt ganz davon ab, wer welcher politischen Kraft angehört und wo man festgehalten wird und auch, wie viel in den Nachrichten über jemanden berichtet wird. Abgesehen davon hängt es auch mit der Zeit der Inhaftierung zusammen. Alle diese Parameter bestimmen das Ausmaß der Gewalt und des Drucks.  Die Situation außerhalb von Teheran ist sehr schlecht. Manche Gefängnisse sind viel schlimmer als andere. In Teheran sind die Haftbedingungen für politische Gefangene besser als in anderen Städten, aber die Bedingungen sind nicht für alle gleich und die Tatsache, dass die Bedingungen besser sind, bedeutet nicht, dass die Bedingungen gut sind. In den letzten Jahren wurden Bektash Abtin und Behnam Mahjoubi im Evin-Gefängnis getötet, indem sie keine medizinische Versorgung erhielten und ihnen die falschen Medikamente verabreicht wurden und das im Evin Gefängnis, das über die besten Einrichtungen unter den iranischen Gefängnissen verfügt.

Machen Regimekräfte einen Unterschied im Umgang mit politischen Gefangenen und Gefangenen, denen keine politische Aktivität vorgeworfen wird?

Ja. Abgesehen von den Festgenommenen aus Massenprotesten, bei denen die Sicherheitskräfte keine Gewaltanwendung scheuen, ist in anderen Fällen die systematische Gewalt der Polizei gegen nichtpolitische Häftlinge, insbesondere bei Mord- und Drogendelikten, weitaus höher als bei politischen Gefangenen. Das gilt jedoch nicht für politische Gefangene von marginalisierten Völkern wie Kurden, Arabern und Belutschen sowie einige andere politische Gefangene, gegen die sehr schwere Anklagen erhoben werden. Wir haben politische Häftlinge, die des Attentats oder der Sabotage angeklagt sind und deren Folterniveau unvergleichlich ist. Häftlinge, denen Mitgliedschaft in politischen Organisationen vorgeworfen wird erleben in der Regel sehr lange Phasen der Isolationshaft und des Drucks. Auch in Haftfällen, die in das Spannungsfeld zweier Geheimdienstbehörden geraten, wie z.B. bei Umweltaktivisten, ist das Ausmaß des Drucks und die Dauer der Inhaftierung in der Sicherheitshaftanstalt sehr sehr hoch.

Diejenigen, die wegen unpolitischen Anschuldigungen festgenommen werden, erfahren jedoch ein höheres Maß an systematischer Gewalt als diejenigen, die als Aktivisten auf ziviler Ebene und mit medialer Berichterstattung festgenommen werden, insbesondere wenn es keine Straßenproteste gibt.

Gibt es einen Unterschied in der Repression gegenüber männlichen, weiblichen & transgender Gefangenen ?

Die Erfahrung der letzten Jahre zeigt, dass der Vernehmungsdruck auf weibliche Inhaftierte um ein Vielfaches gestiegen ist. In den jüngsten Aufständen waren viele Frauen sogar sexueller Belästigung und Übergriffen ausgesetzt. Abgesehen davon wurden viele Frauen beschimpft oder mit moralischen Argumenten stark unter Druck gesetzt. Ich weiß nichts über die Bedingungen von Transgender-Häftlingen, aber ich vermute, sie werden einer größeren Gewaltanwendung ausgesetzt sein als männliche Häftlinge. Das Problem ist nicht, dass Männer nicht Gewalt und Druck ausgesetzt sind, sie werden sogar häufiger geschlagen und körperlich angegriffen. Aber Demütigung, Druck und schlechte Behandlung von Frauen haben stark zugenommen.

Hatten die politischen Gefangenen Kontakt zu denen, die nicht politischer Aktivität beschuldigt wurden? Haben sie sich gegenseitig beeinflusst?

Es hängt davon ab, in welchem Gefängnis man inhaftiert ist und ob es in diesem Gefängnis politische Gefangene gibt oder nicht. In den Gefängnissen, in denen es eine politische Abteilung gibt, wird versucht, die Interaktionen zwischen politischen Gefangenen und nichtpolitischen Gefangenen so weit wie möglich zu minimieren. Es gibt ein Gesetz zur Trennung von Straftaten, das in einigen Gefängnissen streng umgesetzt wird, aber wo immer es eine Möglichkeit für Kontakt gibt, sofern es ein gesunder Kontakt ist, kommt es definitiv zu nachhaltigen gegenseitigen Auswirkungen. Gefängnisbeamte versuchen, politische Gefangene vor nichtpolitischen Gefangenen schlecht aussehen zu lassen. Einerseits versuchen sie, indem sie politischen Gefangenen wenige Privilegien einräumen, ihren Protestgeist zu kontrollieren, andererseits täuschen sie mit diesen Privilegien vor den Augen nichtpolitischer Gefangener Ungleichheit vor. Auf der Grundlage dieser Ungleichheit versuchen sie, politische Gefangene als „Herren“ darzustellen, die nichts über den Schmerz sozialer Gefangener wüssten. Dies ist ein allgemeiner Mechanismus, sie verwenden auch spezifischere Mechanismen. Als sie mich zum Beispiel in die Gemeinschaftszelle der Drogendelikt-Gefangenen schicken wollten, warnten sie die Gefangenen durch den Vertreter des Raums, dass ich psychologische Probleme hätte und verrückt sei. Deshalb sollten sie mich meiden. Die anderen Häftlinge hatten zufällig die Neuigkeiten, die es über mich gab, von ihren Familienangehörigen gehört. Das überzeugte sie, dass ich nicht verrückt war und sie mit mir befreundet sein können.

Schreiben Folterüberlebende Berichte über die Aktionen des Regimes? Wenn nicht, hältst Du es für notwendig, diese Zeugnisse aufzuzeichnen?

Einige schreiben und dennoch erzählen viele von denen, die Folter und Druck erlitten haben, aufgrund des Drucks der Polizei nichts. Andererseits finde ich es wichtig, wie man Druck- und Foltererfahrungen erzählt. Seit vielen Jahren ist im Narrativ über die Folter, die Skandalisierung des Staates hegemonial. Natürlich sollten die Folterer mit jeder Erzählung entlarvt werden, aber wenn der dominierende Diskurs in der Erzählung nur diese Skandalisierung ist, werden andere Aspekte der Erzählung vernachlässigt oder mit der Zeit unwichtig. Eine festgenommene gefolterte Person wird zum reinen „Opfer“, die Fortsetzung dieses Ansatzes führt zum Verlust ihrer revolutionären politischen Bedeutung. Der Skandal stößt an dem Punkt an seine Grenzen, wenn es dem Staat nicht mehr um die Aufrechterhaltung der Legitimität geht und dieses Feld bereits verlassen hat.

In einer solchen Situation ist vielleicht wichtiger als Dokumentationen, den Zugang zur Erzählung zu ändern: Das Erzählen von Folter und Druck sollte Möglichkeiten und Strategien des Widerstands aufzeigen. Wir müssen das Narrativ der Kämpfer aufbauen, die Druck, Folter und Misshandlungen ausgesetzt waren und trotz intensivsten Leidens standgehalten haben, damit wir den Mut und die Bereitschaft in uns selbst stärken, die nötig sind, um Folter und Unterdrückung zu eliminieren. Wir sollten uns mit der Eskalation der Wut über das Verbrechen und der Stärke unserer Hoffnung und unseren Mutes beschäftigen. Dann sind wir in der Lage, die Folterer zu beschämen, während wir uns ermächtigt fühlen, sie zu vernichten. Wir müssen unseren Schmerz und unser Leid, dass uns die Unterdrücker aufgezwungen haben, teilen, um weiter voranzukommen, weiterzumachen und mutiger zu sein, nicht wegen der Hoffnung auf Rache oder der Angst vor dem Monster des Folterers. Wir müssen von Folter und Misshandlungen erzählen, damit wir das Foltersystem als etwas besiegbares begreifen.

Kannst Du uns etwas über die Solidarität und den Widerstand politischer Gefangener erzählen, im Gefängnis oder nach ihrer Entlassung?

Ich denke, dass ein Grund für die Freilassung politischer Aktivisten während einer Generalamnestie darin besteht, dass der Sicherheitsapparat leider besser und früher als die Aktivisten selbst, ihre Potenziale und Möglichkeiten erkennt. Der Prozess, der seit Anfang dieses Jahres stattfindet und bei dem die meisten politischen Aktivisten bereits vor Beginn des Jina-Aufstands auf unterschiedliche Weise ins Gefängnis kamen, schuf Potenziale im Gefängnis. Im Laufe der Zeit wurden diese Potentiale sichtbarer. Kürzlich haben wir gesehen, wie Gefangene kollektive Solidaritätsbotschaften aneinander sendeten und aus verschiedenen politischen Spektren zusammenkamen, um sich gegenseitig zu verteidigen. Diese Solidaritätsbekundungen zwischen verschiedenen Gefängnissen könnten und sollten meiner Meinung nach eine größere und radikalere Ebene annehmen. Es war möglich, dass die Solidarität allmählich und mit dem Fortschritt der Gespräche in den Gefängnissen übergehen würde in die Thematisierung strategischer Punkte. Ich glaube, dass die Regierung diese Gefahr früher als die politischen Gefangenen selbst erkannt hat und deshalb der Freilassung der politischen Gefangenen zugestimmt hat.

Diejenigen, die unter den schlimmsten Belastungen und Leiden zusammengelebt haben, sollten sich nach der Freiheit logischerweise nicht einfach verlassen. Aus diesem Grund bringt das Gefängnis mit all seinen Leiden, Nähe und Sympathie und schafft neue Bindungen. Das heißt, es schafft neue Möglichkeiten auch in der Freiheit. Ich spreche hier vom Gefängnis nach 2018, einem Gefängnis voller junger Menschen, offen und gesprächsbereit, insbesondere in den Frauengefängnissen, wo Sympathien für die aktuellen Probleme des Gefängnisses oft die Barriere früherer Distanzen durchbrechen können. Um ehrlich zu sein, selbst wenn ich frei bin, kann ich nicht umhin, mir Sorgen um Niloufar Bayani oder Mahosh Zabet zu machen. Viele von uns bleiben nach der Haft befreundet und sprechen über politisches Handeln. Diese einfachen Dinge bergen Möglichkeiten. Möglichkeiten, die viele von uns nicht sehen wollen. Ich spreche von der Möglichkeit, andere Kräfte zu sehen und zu berücksichtigen und neuen Aktivismus zu schaffen, einen Dialog zwischen Kräften zu führen, die nicht vereint sind, sich aber in einigen Bereichen gegenseitig unterstützen können. Das ist die Möglichkeit, die das Gefängnis innerhalb und außerhalb seiner selbst für die Solidarität unterschiedlicher Aktivisten schafft.

Wie wirkt sich Deiner Meinung nach die Patenschaft durch Parlamentarier und westliche Staatsmänner auf die Lage der Gefangenen des jüngsten Aufstands und die Abschaffung der Todesstrafe aus?

In meinem Fall habe ich der Diskussion um eine Patenschaft nicht zugestimmt, weil für mich keine unmittelbare Lebensgefahr besteht. Gleichzeitig wollte jemand aus dem Bundestag netterweise meine Patenschaft übernehmen. Für mich blieb die Frage über das Verhältnis zwischen diesen Vertretern und der deutschen Regierung, welche Repressionsinstrumente an die iranische Regierung verkauft, unbeantwortet. Insbesondere, da es hier auch um die SPD geht. Ich kenne mich nicht mit der aktuellen deutschen Innenpolitik aus, aber eine junge Studentin im Iran vergisst nie, dass die deutsche Revolution 1919 von der sozialdemokratischen Regierung unterdrückt wurde und das unter der Herrschaft der SPD Luxemburg und Liebknecht ermordet wurden. Dies war ein wichtiger historischer Moment für das Schicksal des Sozialismus in der Welt. Ich habe die informierten Leute gefragt, und sie sagten, die deutsche Sozialdemokratie sei heute nicht kritischer und linker als damals. Für mich ist das der Grund für meine Ablehnung einer Patenschaft. Ich denke bei Fällen, wo das Leben in Gefahr ist, sollte man bestehende Möglichkeiten nutzen.

Beim jüngsten Massenaufstand im Iran gab es sehr viele Verhaftungen und Folter. Haben sich in einer solchen Situation die Haftbedingungen für politische Gefangene geändert?

Sowohl für die Regierung als auch für die Gefangenen sind die Bedingungen schwieriger geworden. Die Regierung kämpft jeden Tag mehr mit der Haushaltskrise, und die Befriedigung des unersättlichen Hungers der Wirtschafts- und Militärmafia verschlingt einen immer größeren Teil des Budgets. Die Proteste werden breiter und die Unterdrückungsinfrastruktur in vielen Städten reicht nicht aus. Dadurch werden die Bedingungen für die Inhaftierten noch unmenschlicher. Die Bevölkerungsdichte nimmt zu, die Haftplätze sind gering und sie verwenden ungeeignete Orte, um die Häftlinge festzuhalten, diese sind mit Nahrungsmangel konfrontiert und so weiter. Dies war einer der Gründe für die Freilassung der Gefangenen, zumal ich denke, dass die Regierung neue Proteste kommen sah und mit dieser Vielzahl an Gefangenen mit einer ernsten Krise konfrontiert werden würde. Darüber hinaus bringt das Festhalten von Demonstranten unter solchen Bedingungen das Risiko von Ausschreitungen innerhalb des Gefängnisses mit sich.

Was hat Dich ermutigt und Dir Kraft gegeben, auch im Gefängnis Widerstand zu leisten?

Vieles hat mich am Laufen gehalten. Als ich 2019 im Gefängnis war, ging ich in Gedanken Schritt für Schritt zum logischen Ende von allem. Oft habe ich mir folgende Fragen gestellt: Wie weit will ich noch weitermachen und wozu? Ich suchte in meinem Kopf und das ausschlaggebendste Bild, das meine Frage beantwortete, war das Bild meiner Eltern. Diejenigen, die mir ständig und jedes Mal sagten, ich solle wegen ihnen aufhören mit meinem Aktivismus, ich solle abbrechen und aussteigen. Sie waren mein Hauptgrund, zu überleben und weiterzumachen. Mein Vater hatte gearbeitet, seit er sechs Jahre alt war, er hatte die Schule wegen der Arbeit versäumt. Aber nicht nur wegen der Arbeit. Sein Vater hatte ihn zur Einschulung mitgenommen, der Schulleiter hatte Geld verlangt, das sein Vater nicht zahlen konnte und er hat deswegen die Schule versäumt. Später lernte er von seinem Vorarbeiter lesen und schreiben und noch später nahm er an Abendschulprüfungen teil. Er hat immer gesagt, dass er bereit ist, alles zu geben, damit wir studieren können und er war wirklich bereit und ist es noch heute, wo er fünfundachtzig Jahre alt wird.

Meine Mutter hat wie mein Vater ihr ganzes Leben lang gearbeitet, nicht nur im Haushalt, sondern seit ihrer Kindheit Teppiche geknüpft. Sie hat Teppiche geknüpft, bis die Nerven in ihren Händen geschädigt wurden, sie Rückenleiden bekam, ihre Augen schwächer wurden und sie an Lungenproblemen erkrankte. Auch sie hat es versäumt, zur Schule zu gehen, denn sie wurde sehr schnell verheiratet und hat ihr ganzes Leben lang dafür gearbeitet, dass sich unser Leben ändert. Nein! Ich mag es wirklich nicht, dass die Welt so weitergeht, wo manche Menschen die einfachsten Gaben des Lebens und der Gesellschaft verpassen und ihr ganzes Leben lang arbeiten. Als ich an meine Eltern dachte, wollte ich kämpfen, bis ich sterbe. Und auch wenn wir nicht gewinnen, bin ich froh, dass ich für eine gerechtere Welt gekämpft habe.

In Adel Abad brauchte es keine Vorstellungskraft und Bilder, denn die Not der Frauen stand vor meinen Augen. Ich war unter den Drogengefangenen, und vor meinen Augen waren die Sehnsucht nach Schule, die Arbeitslosigkeit, die Kinderehe, die Nöte der Alleinerziehung. Ich war mitten in der Hölle, gegen die ich kämpfte. Viele Male, besonders wenn mich das Leiden meiner Schwestern im Gefängnis wütend machte, dankte ich in meinem Herzen der Regierung dafür, dass sie mich hergeschickt hatte, um Zeuge jener Hölle zu werden, die sie für das Leben der Menschen geschaffen hat. Einmal sah ich eine Frau in Adel Abad, die minderjährig verheiratet worden war (wie die meisten inhaftierten Frauen in Adel Abad), ihr Mann hatte sie jahrelang vergewaltigt und sie durfte sich nicht scheiden lassen. Wenn ich „Vergewaltigung“ sage, ist das keine Metapher, ich übertreibe nicht, ich verwende dieses Wort nicht symbolisch. Im Laufe der Jahre hatte ihr Mann kein einziges Mal Vaginalsex mit ihr, er hatte sie mit Gewalt zu Analsex gezwungen. Um die Geschichte zusammenzufassen: Sie war wegen des Verbrechens der erzwungenen Scheidung zu 25 Jahren Haft verurteilt worden. Ja, wegen des Verbrechens der erzwungenen Scheidung, weil sie ihren Ehemann als Geisel genommen und einen Mullah entführt hatte, damit er das Scheidungsurteil erlässt. Ihr Komplize wurde hingerichtet.

Dies ist eine der traurigsten Geschichten von Frauen im Adel-Abad-Gefängnis. Sag mir, warum wir  nicht bis zum Tod kämpfen sollten? Was wollen wir außer einer menschlicheren Situation, außer einer gerechten Situation, in der die politische und wirtschaftliche Struktur und der Staat die Menschen nicht zu Wölfen machen? Unsere Hände sind leer, wir haben nichts außer unseren müden und leidenden Körpern. Was haben wir zu verlieren? Unsere Leben? Ist sich irgendjemand dieses elenden Lebens sicher genug, um sich zurückziehen? Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass meine Wut, mein Glaube und mein Kampfgeist gewachsen sind, als ich meine Schwestern in Adelabad sah.

#Titelbild: eigenes Archiv.

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In der Nacht auf den 21. Juni 2020, auf dem Höhepunkt der Covid-19 Kontaktbeschränkungen und Versammlungsverbote, stellten sich in Stuttgart nach einer Drogenkontrolle eines 17-Jährigen hunderte junge Menschen der Polizei entgegen und reklamierten öffentliche Plätze für sich. Die Polizei beantwortete dies mit harscher Gewalt. Die Jugendlichen wehrten sich, beschädigten Streifenwagen und zogen später durch die Innenstadt, wo sie Geschäfte plünderten. Der 22-jährige Yan wurde in erster Instanz zu drei Jahren und neun Monaten Haft verurteilt, gegen das Urteil wurde Berufung eingelegt. Am 2. Februar beginnt nun seine Berufungsverhandlung. Wir haben anlässlich seiner Verhandlung und der verstärkten Repression in Stuttgart mit ihm und Petra, die im „Solidaritätskreis Krawallnacht“ aktiv ist, gesprochen.

Vor welchem Hintergrund und wieso kam es im Juni 2020 zu Widerstand gegen die Polizei und Plünderungen in Stuttgart?

Yan: Es gibt eine vordergründige Sichtweise, die wenig erklärt, aber von den meisten Medien so oder ähnlich aufgegriffen wurde: Weil alle Clubs geschlossen waren, hätten sich gelangweilte Jugendliche im Schlosspark getroffen, Alkohol getrunken und eine Drogenkontrolle sei dann irgendwie aus dem Ruder gelaufen. So wurde eine ominöse „Partyszene“ konstruiert, die die Krawalle quasi aus Spaß an der Zerstörung gestartet hätte. Vermischt wurde das sehr schnell mit rassistischen Zuschreibungen. Schnell veröffentlichte man den Migrationshintergrund der vermeintlichen Täter:innen, die Stuttgarter Polizei stellte Stammbaumforschungen an, um zu überprüfen, wie „deutsch“ die Festgenommenen wirklich waren. Tatsächlich gibt es strukturelle Mechanismen, die viel bedeutender waren: Die Stuttgarter Innenstadt ist ein von der Polizei stark kontrollierter Raum. An jeder Ecke stehen Streifen- oder Mannschaftswägen, die z.B. Obdachlose vertreiben. Als sich während dem ersten Höhepunkt der Pandemie dann an den Wochenenden hunderte oder tausende proletarische Jugendliche in der Stadt versammelten, reagierte die Polizei mit noch mehr Kontrollen und Schikanen als sonst. Andererseits hatten viele der Jugendlichen schon entsprechende Erfahrungen mit den Bullen gemacht: Weil sie aus dem falschen Viertel kommen oder schlicht die falsche Hautfarbe haben.

Petra: Stuttgart war auch nicht die einzige Stadt, in der es zu größeren Konflikten zwischen Jugendlichen und der Polizei kam. In Frankfurt, Mannheim und Augsburg kam es auch zu größeren Krawallen und auch in etlichen anderen Städten und Ländern wie etwa in der Schweiz kam es zu Auseinandersetzungen.

An den Protesten waren vor allem migrantische Menschen beteiligt. Welche Rolle spielen Schikane und struktureller Rassismus? Welche Rolle spielt die Klassenzugehörigkeit?

Petra: Struktureller Rassismus ist sicher für sehr viele, die an diesem Abend in der Stadt waren, ein gemeinsamer Erfahrungshintergrund. Es gab in der „Krawallnacht“ aber auch Beispiele von unmittelbarem Rassismus: Im Nachhinein ist der Funkspruch eines Polizeihauptmeisters bekannt geworden, in dem er von „Krieg“ sprach und dass „nur Kanacken“ die Gegner wären. Während der Ermittlungen wurde nicht nur die Nationalität der Beschuldigten festgehalten, sondern auch die „Migrationsgeschichte“ der Familien untersucht. Alles, um die rassistische Erzählung, von „gewalttätigen, schlecht integrierten Migrant:innen“ zu legitimieren.

Yan: Und natürlich spielt die Klassenzugehörigkeit eine große Rolle. Wer ein schönes Haus am Killesberg hat, kann auch während einer Pandemie im Hobbykeller oder im Garten entspannen wenn alle anderen sozialen Treffpunkte geschlossen sind. Für viele, die sonst in Jugendhäusern, Clubs oder Bars ihren Freiraum und ihren sozialen Zusammenhalt gefunden haben, war der öffentliche Raum der letzte Rückzugsort. Ein Rückzugsort, der ihnen von der Polizei immer mehr genommen wurde.

Das Reklamieren öffentlichen Raums und Plünderungen hat es auch im Zuge der Proteste gegen G20 2017 in Hamburg gegeben. Warum ist es 2020 in Stuttgart zu dieser in Deutschland eher unüblichen Protestform gekommen?

Yan: Das war keine gezielt gewählte Protestform. Die Polizei hatte wohl schlicht und einfach keine Kontrolle über große Teile der Stuttgarter Innenstadt.

Petra: Das ist kein Ausdruck von entwickeltem Klassenbewusstsein gewesen. Vielmehr hat sich den Versammelten die Chance geboten, sich in einer Situation, in der die Polizei sich ausnahmsweise mal vor ihnen zurückziehen muss, zu nehmen, was sie sonst nicht haben können. Wir denken aber, dass Plünderungen der Entstehung von Klassenbewusstsein auch nicht entgegenstehen müssen. Und Plünderungen waren auch nicht das dominierende Moment, viel mehr hat der Straßenkampf mit den Bullen diese Nacht geprägt.

Wie hat sich nach den Ereignissen und der politischen und medialen Hetze gegen die Beteiligten die Polizeipräsenz und Repression in Stuttgart verändert?

Yan: Es gab sehr breite Reaktionen seitens der Stadt und der Bullen. Direkt im Anschluss an die Krawallnacht wurde die Polizeipräsenz in der Innenstadt massiv ausgebaut und auch über die nächsten Wochen hinweg aufrechterhalten. Und das nicht nur abends und nachts, sondern auch tagsüber. In den Wochen nach der Krawallnacht war es kaum möglich, nachts durch die Stadt zu gehen, ohne nicht mindestens einmal von der Polizei angehalten zu werden. Zeitgleich wurden die Auseinandersetzungen dazu genutzt, Kameraüberwachung in der Innenstadt einzuführen, die es zuvor nicht gab. Es wurden verschiedene Sammelpunkte wie die Freitreppe auf dem Schlossplatz oder der Marienplatz und der Feuersee ganz oder ab bestimmten Uhrzeiten gesperrt. Die Repression gegen angebliche Beteiligte der Krawallnacht war heftig. Es gab kaum Urteile, die zumindest in der ersten Instanz nicht zu Haft oder mindestens Bewährung geführt haben, auch bei harmloseren Delikten wie Sachbeschädigung. Eine zweite Schiene, die von der Lokalpolitik gefahren wurde, war die der Beruhigung. So wurden neue Stellen für Sozialarbeiter:innen geschaffen und beispielsweise eine Musikbox zur allgemeinen Benutzung auf dem Schlossplatz aufgestellt. Dieser Ansatz, der vor allem von Linken Gemeinderät:innen durchgesetzt wurde, ist gerechtfertigt und stellt sich auf die Seite der Jugendlichen, gleichzeitig entpolitisiert er aber den Konflikt. Statt von legitimem Widerstand gegen rassistische Bullen und soziale Verdrängung wird dann von schlechter Kommunikation zwischen Polizei und Jugendlichen geredet.

Petra: Bemerkenswert ist, dass es trotz aller Befriedungs- und Droh-Maßnahmen in den Wochen nach der Krawallnacht an manchen Stellen erneut geknallt hat. Letzten Endes war es die massive Bullenpräsenz, die verhindert hat, dass eine zweite Krawallnacht entstanden ist.

Die Justiz begründet Dein harsches Urteil von drei Jahren und neun Monaten unter anderem damit, dass der Angeklagte im vollen (politischen) Bewusstsein gehandelt habe. Was soll mit diesem und folgenden Urteilen erreicht werden?

Yan: Die Urteile folgen gezielt der Konstruktion der Bullen, nach dem „Linke“ den Krawall „ab einem gewissen Zeitpunkt“ strukturiert und gelenkt hätten. So wird in den Prozessakten immer wieder auf organisierte Kerne hingewiesen. Wirkliche Belege dafür gibt es nicht. Dass einige Beteiligte Sturmhauben getragen haben, wird so interpretiert, dass sie vorbereitet, also organisiert, also Linke gewesen seien. Ein paar Staatsschutz-Beamte haben einen Kreis von knapp 20 Linken benannt, die häufiger auf Demos gehen und angeblich oft beieinanderstehen würden. Dann haben sie diese Genoss:innen einfach einer Anzahl vermummter und unkenntlicher Personen zugeordnet die in der Nacht gefilmt wurden. Weil ich recht groß bin, behaupten die Bullen, ich sei eine Person, über die sie selbst nicht viel mehr sagen können, als dass sie „relativ groß“ sei. Eine weitere Genossin wurde im Januar verurteilt, weil sie „relativ kleiner als die Umstehenden“ und schlank sei und das auch auf eine vermummte Person bei der Krawallnacht zutreffen würde. Obwohl das keinerlei juristischen Maßstäben entspricht, sind die Bullen zumindest in erster Instanz mit dieser Methode durchgekommen.

Petra: Die Urteile sind eine klare Einschüchterungspolitik gegen Linke. Auch wenn die Krawalle keine bewusste politische Aktion waren, waren sie eine intuitive Gegenwehr gegen die herrschenden Zustände und ein Moment, in dem Gegenmacht für Menschen aus unserer Klasse sicht- und erlebbar wurde. Das sind Momente aus denen eine revolutionäre Linke lernen kann und in denen sie präsent und sichtbar sein muss. Dass die Herrschenden und ihre Klassenjustiz das verhindern wollen und deshalb versuchen uns mit harten Urteilen abzuschrecken, überrascht uns nicht.

Ist das Urteil ein Einzelfall oder fügt es sich in verstärkte staatliche Repression gegen Linke in der Region ein?

Petra: Aktuell sitzen drei Linke aus der Region Stuttgart im Knast. Hauptsächlich wegen antifaschistischen Aktionen. Die Krawallnacht betreffend gibt es bereits drei Urteile gegen Linke. Einmal zu drei Jahren und zwei Monaten Haft gegen einen Genossen, dann das Urteil gegen Yan mit drei Jahren und neun Monaten und dann ein weiteres von einem Jahr und acht Monaten gegen eine Genossin, das wegen Jugendstrafrecht zur Bewährung ausgesetzt wurde. Darüber hinaus gibt es jede Menge aktueller Bewährungsstrafen und einige Genoss:innen, bei denen Verfahren laufen und bei denen Haftstrafen ganz konkret im Raum stehen. Hinzu kommt eine Tendenz zu massenhaften Verfahren anhand von Bildern, auf denen Bullen behaupten, Personen zu erkennen, ohne dass es dafür handfeste Beweise gibt.

Die aktuelle Verschärfung der Repression findet aber nicht nur auf der Ebene von Knaststrafen statt. So gab es beispielsweise am 8. März letzten Jahres – der in Stuttgart auch Streiktag im Sozial- und Erziehungsdienst war – eine sehr große Demonstration, die von Feminist:innen, Beschäftigten und Ver.di gemeinsam vorbereitet und getragen wurde. Die Bullen waren auf der Demonstration von Anfang an massiv präsent und haben die Demonstrant:innen schikaniert. Am Abend haben sie sogar Gewerkschafter:innen vor dem DGB-Haus angegriffen. Im Nachhinein kam es auch hier zu einer ganzen Reihe an Verfahren wegen absoluter Bagatellen. 

Wir sehen die Repression als Reaktion der Herrschenden auf eine Linke, die sich in der Pandemie zumindest lokal nicht zurückgezogen hat, sondern versucht hat in den gesellschaftlichen Widersprüchen präsent zu sein, die versucht auch außerhalb der eigenen Szene zu wirken und langfristige Strukturen aufzubauen. Eine Linke, die nicht das Bürgerliche Gesetzbuch als Maßstab für ihr Handeln nimmt und versucht, in Ansätzen so etwas wie Gegenmacht der Arbeiter:innenklasse aufzubauen.

Schließlich noch eine Frage, die die gesamte Bewegung betrifft: Wie kann sich die revolutionäre Linke angesichts jahrelanger Haftstrafen organisieren und was bedeuten solche Urteile langfristig für unsere Praxis?

Petra: So abgedroschen es klingt: Wenn der Gegner uns angreift, heißt das auch, dass ein Teil unserer Politik richtig war. Es war richtig, dass auf dem Höhepunkt der Querdenken-Demos versucht wurde, die Faschos in ihre Grenzen zu weisen und es ist richtig, dass wir uns in die gesellschaftlichen Widersprüche einmischen, überall dort wo sie aufbrechen. Und das im Idealfall nicht als Individuen oder als loser Zusammenhang, sondern organisiert und verbindlich. Gerade im Kontext der Krise, in der immer mehr Menschen erkennen, dass sie im Kapitalismus, nichts zu gewinnen haben, werden die Herrschenden alles daran setzen, diejenigen zu bekämpfen, die eine Alternative aufzeigen und beginnen, proletarische Gegenmacht aufzubauen, sie auch – wenn auch im Kleinen – erlebbar zu machen.

Dass die Repression zunimmt, bedeutet nicht, dass wir das einfach so über uns ergehen lassen müssen. Es gilt immer, die Fehler der Vergangenheit zu studieren und nicht zu wiederholen. Wir müssen die eigenen Strukturen so aufbauen, dass sie auch der kommenden Repression standhalten können, dazu gehört neben Verbindlichkeit und Kontinuität auch das richtige Maß an Klandestinität. Doch auch trotz all unserer Schutzmaßnahmen: Zu unserer Antwort auf Repression gehört auch, dass wir uns individuell und strukturell darauf vorbereiten müssen, dass Haft (wieder) ein größerer Teil linker Politik werden könnte. Wichtig ist dabei: Haft ist scheiße – so ehrlich müssen wir sein – aber sie ist nicht das Ende der Fahnenstange. Weder politische Arbeit noch kollektive Momente hören mit der Haft auf. Die Haft ist nicht das Ende des Kampfes, sondern der Anfang eines neuen.

Gibt es noch etwas, was Ihr hinzufügen möchtet?

Petra: Yan, die drei bisherigen Gefangenen, deren Urteile noch ausstehen und die Solidaritätsstruktur brauchen Öffentlichkeit, Solidarität und Geld. Die Rote Hilfe ist dabei so etwas wie unser Rückgrat, ohne das wir unsere Arbeit kaum leisten könnten. Es braucht aber die Aktivität von viel mehr Leuten: Schreibt den Gefangenen und versucht, sie in eure Kämpfe mit einzubeziehen! Macht sie präsent und sorgt dafür, dass sie nicht auf sich allein gestellt sind – das ist letztlich das wirksamste Mittel gegen die Repression.

[Aktuell wird vor allem viel Geld für die Prozesskosten von Jo und Dy, die Haftstrafen von viereinhalb und fünfeinhalb Jahren absitzen, benötigt. Infos dazu findet ihr hier: www.notwendig.org. Auch die Rote Hilfe e.V., die seit 1975 Anti-Repressionsarbeit leistet, braucht Unterstützung. Hier könnt Ihr Mitglied werden. Hier könnt ihr die Prozesse verfolgen]

#Titelbild: eigenes Archiv.

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Was sich vor, während und nach linken Großdemonstrationen oder Protestaktionen in der Öffentlichkeit vollzieht, lässt sich mittlerweile als eingespieltes Ritual bezeichnen. Die Vorgänge um die Räumung des Dorfes Lützerath im rheinischen Braunkohlerevier sind da keine Ausnahme. Bevor es losging, gab es erst mal von vielen Seiten unverbindliche Sympathiebekundungen für die Anliegen der Klimaschützer*innen, verbunden mit Appellen, die Räumung doch bitte friedlich über sich ergehen zu lassen. Die Polizei erklärte sinngemäß, dass es ihr furchtbar leidtäte, dass sie Lützerath räumen müsse. Sie sei aber nun mal gehalten, Recht und Gesetz Geltung zu verschaffen. Während des Einsatzes gab es dann eine überbordende Berichterstattung, Liveticker und jede Menge Videoschnipsel in den sozialen Netzwerken.

Nach der Räumung schließlich stand, wie immer, Aussage gegen Aussage. Die Aktivist*innen klagten in einer Pressekonferenz über Polizeigewalt und haufenweise Verletzte. Die Polizei wies das zurück und macht ihre eigene Bilanz von 70 verletzten Beamt*innen auf, wobei dabei bekanntlich schon leichte Kopfschmerzen oder ein eingerissener Fingernagel als Verletzung gewertet werden. Die Bild-Zeitung, die Polizeigewerkschaften und reaktionäre Politiker*innen von SPD bis Union und AfD fanden – auch wie immer -, dass die Gewalt von den Aktivist*innen ausgegangen sei und die Polizei einen guten Job gemacht habe. Damit ist das Ritual vollendet und die bürgerliche Öffentlichkeit geht zur Tagesordnung über – bis zum nächsten größeren linken Protest.

Auch wenn diese Feststellung ein wenig resigniert klingen mag, ist das nicht die Absicht. Es geht vielmehr darum, sich keinen Illusionen hinzugeben, wer in dieser Gesellschaft die Ansagen macht. Dass die öffentliche Debatte um mehr oder weniger linke Protestaktionen immer so gleich, so ritualisiert verläuft, ob nach 1.-Mai-Demonstrationen oder den Ereignissen beim G-20-Gipfel im Sommer 2017 in Hamburg, ist systembedingt. Man muss sich immer wieder in Erinnerung rufen, dass Konzernmedien und die staatstragenden öffentlichen Rundfunkanstalten die Öffentlichkeit dominieren – und die simulieren einen kritischen Diskurs nur. An den Grundpfeilern des Kapitalismus wie dem Eigentum wird nicht gerüttelt.

Auch rund um die Räumung Lützeraths hat sich wieder gezeigt, dass vor allem das Thema Gewalt immer dann medial nach vorn geschoben wird, wenn die bürgerlichen Sympathien für linken oder links erscheinenden Protest drohen, zu groß zu werden. Kein Thema eignet sich besser, um Widerstand zu diffamieren und zu delegitimieren, einen Keil in Bewegungen zu treiben. So werden Steinwürfe auf Polizeibeamt*innen skandalisiert, die Polizeigewalt erscheint dabei in der Regel als Reaktion auf die angebliche Gewalt von Aktivist*innen.

Die Polizei weiß, dass sie sich auf ihre Unterstützer*innen in Politik und Medien verlassen kann. In Lützerath war das auch daran zu erkennen, dass die Cops den Protest gegen die Räumung erbarmungslos niederknüppelten, vor allem bei der Großdemonstration am 14. Januar. Man störte sich nicht im Geringsten daran, dass sämtliche Medien der Republik vor Ort waren und überall Kameraobjektive präsent waren, um das Geschehen abzufilmen. Die Beamt*innen sprühten Pfefferspray im Strahl auf friedliche Demonstrant*innen, schlugen mit dem Schlagstock gezielt auf den Kopf oder in die Kniekehlen. Warum auch nicht, sind juristische oder personalrechtliche Konsequenzen für Polizist*innen in der BRD doch extrem selten.

Im Innenausschuss des Landtags von Nordrhein-Westfalen waren in der Woche nach dem Einsatz alle Parteien von Bündnis 90/Die Grünen bis AfD voll des Lobes über das Verhalten der Polizei.

Innenminister Herbert Reul (CDU) wollte Fehlverhalten einzelner Beamt*innen nicht ausschließen, suchte die Schuld dafür nach dem oben geschilderten Muster aber bei den Demonstrant*innen. Er machte „Linksextremisten“ aus, die aus der Demo ausgebrochen seien, und die Auseinandersetzung mit der Polizei gesucht hätten. Denen sei es ja gar nicht um Klimaschutz gegangen, so Reul, der mit diesem Auftritt exemplarisch vorführte, wie die Spaltungspolitik der bürgerlichen Parteien funktioniert.

Immerhin war dieser Einsatz dafür gut, dem einen oder der anderen die Augen zu öffnen. Er sollte auch der letzten naiven Klimaschützer*in vor Augen geführt haben, wer in diesem System das Sagen hat. Wenn es um Interessen von Konzernen wie RWE geht, wirft der Staat seine ganze Repressionsmaschine an und kennt kein Pardon. Es ist zu hoffen, dass die Räumung in Lützerath zumindest zur Radikalisierung von Aktivist*innen beigetragen hat.

#Titelbild: Libertinus 

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Fast genau zehn Jahre nach dem Attentat auf drei Genoss:innen der kurdischen Freiheitsbewegung 2013 in Paris kam es am 23. Dezember zu einem erneuten Mordangriff auf Kurd:innen.

Hubert Maulhofer sprach mit Konstantin von der internationalen Kampagne „Defend Kurdistan“ über das Geschehene und die Hintergründe.

Kannst du uns kurz etwas zur aktuellen Situation und dem Attentat des 23. Dezember geben?

Am 23. Dezember kam es mitten am Tag im Stadtzentrum von Paris, dort wo sich das kurdische Kulturzentrum „Ahmet Kaya“ befindet, zu einem blutigen Attentat. Der Täter schoss auf mehrere Menschen, die sich vor dem Kulturzentrum und in einem anliegenden Restaurant und Friseursalon befanden.

Drei Menschen sind dabei getötet worden, weitere teilweise schwer verletzt. Der Angreifer konnte durch den Mut einiger Menschen schließlich überwältigt werden, noch bevor die Polizei eintraf. Im Zuge dieses Anschlags kam es zu wütenden Protesten in ganz Europa, die dieses Attentat als eine Folge der anti-kurdischen Politik anprangern, welche sich immer weiter zuspitzt. Am 24. Dezember fand eine Großdemonstration in Paris statt. Die Demonstrationen wurden mehrfach von der französischen Polizei angegriffen und es kam zu Straßenschlachten.

In der kurdischen Community und in internationalistischen Zusammenhängen wird aktuell über eine Verbindung des Täters zum türkischen Staat bzw. dessen Geheimdienst MIT diskutiert und eine Parallele zu den Mordanschlägen von 2013 auf drei Genoss:innen in Paris gezogen. Was kannst du uns dazu sagen?

Wir sehen, dass dieses Attentat sich einreiht in eine anti-kurdische Politik. Von der Türkei und Nordkurdistan, wo tausende Menschen der Oppositionspartei HDP verhaftet werden, über die Giftgas-Angriffe der türkischen Armee in Südkurdistan bis zu den Angriffen auf Nord-Ost-Syrien, Rojava und die autonome Selbstverwaltung, bei denen gezielt zivile und lebensnotwendige Infrastruktur zerbombt wurde.

Auch in Europa existiert eine anti-kurdische Politik in Form der Kriminalisierung der kurdischen Freiheitsbewegung und ihrer Unterstützer:innen. Die Repression durch europäische Staaten wie die BRD und Frankreich nimmt immer weiter zu. Einen Tag vor dem Attentat in Paris wurde beispielsweise in Nürnberg ein Genosse inhaftiert, das dortige kurdische Kulturzentrum durchsucht. Diese Politik ermöglicht ein Klima, in welchem Anschläge, wie der von Paris, stattfinden können. Gleichzeitig sehen wir aber auch eine Kontinuität in diesem Attentat zu der Ermordung der Genossinnen Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez die im gleichen Stadtteil 2013 durch einen Agenten des türkischen Geheimdienstes ermordet wurden. Das Attentat jetzt fand zudem zu einem Zeitpunkt statt, in dem das jährliche Gedenken für die 2013 ermordeten Genossinnen im Pariser Kulturzentrum stattfanden. Wir werten den Angriff daher als einen gezielten Anschlag.

Was wissen wir über den Täter?

Es handelt sich um einen 69-jährigen Mann. Er hat bereits in der Vergangenheit Geflüchtete in einem Camp mit einem Schwert angegriffen und saß deshalb im Gefängnis. Er wurde aber vor elf Tagen aus dem Gefängnis entlassen. Die Tatsache, dass das Attentat in Paris in dem von mir oben angeführten Kontext stattfindet, und auch die Tatsache, dass er diese Tat mitten am Tag in einer Stadt wie Paris durchführen konnte, zeigt entgegen den Aussagen vieler bürgerlicher Medien, dass es sich hierbei nicht um eine Einzeltat handelt. Es geht um einen rassistischen, anti-kurdischen Mord. Das war ein gezielter Angriff auf die Aktivitäten der kurdischen Freiheitsbewegung in Europa. Wir sehen den türkischen Staat in der Verantwortung für diesen Mord.

Wir glauben, dass der französische Staat erneut „ein Auge zugedrückt“ hat, so ein Anschlag findet nicht einfach so statt. Der französische Staat hat kein Interesse daran, gegen die Aktivitäten des türkischen Geheimdienstes in Frankreich vorzugehen. Die mangelnde Aufklärung im Rahmen der Ermordung der drei Genossinnen 2013 bekräftigt dies und unsere Annahme, dass der 23. Dezember 2022 die Fortführung des Jahres 2013 ist.

Was wissen wir über die ermordeten Genoss:innen?

Bei den Gefallenen handelt es sich um Emine Kara, M. Şirin Aydın und Abdurrahman Kızıl.

Emine Kara war eine Genossin die aktiv in der kurdischen Frauenbewegung war und sich bereits seit 1989 in der Bewegung engagierte. In den Bergen und an vielen Orten in Kurdistan war sie aktiv und hat vor allem auch in Rojava eine große Rolle beim Aufbau der dortigen Selbstverwaltung gespielt. Sie half aktiv mit bei der Unterstützung der Jesid:innen nach den Massakern des sogenannten Islamischen Staats im Schengal. 2019 ist sie nach Europa gegangen, hat vor allem in Frankreich gewirkt und war aktiver teil des Vorbereitungskomitees für die Gedenkdemonstration an Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez in Paris.

Abdurrahman Kızıl war ein heimatverbundener Kurde, der sich in der Diaspora aktiv für die Rechte des kurdischen Volkes eingesetzt und an der demokratischen Gesellschaftsföderation in Frankreich beteiligt hat.

M. Şirin Aydın war ein kurdischer Musiker. Er war in der Diaspora bekannt für seine Lieder und ein Symbol der Vielfalt des Widerstands und der kurdischen Kultur.

Wie geht es jetzt weiter?

Der kurdische Dachverband in Europa „KCDK-E“ hat den Ausnahmezustand ausgerufen. Am 24. Dezember fand daraufhin in Paris eine erste Großdemonstration statt, auch Busse aus Deutschland sind angereist.

Gleichzeitig wird es in den kommenden Tagen überall in Europa zu Aktionen kommen. Die Hauptproteste werden jedoch vorerst in Frankreich und Paris stattfinden, um eine Verschleppung des Falls durch den französischen Staat zu verhindern.

Auch viele internationalistische Kräfte haben sich bereits solidarisiert und ihre Unterstützung ausgedrückt. Es ist an der Zeit, dass all diejenigen die hinter dem kurdischen Volk, der kurdischen Freiheitsbewegung und der Revolution stehen, für all diejenigen, die den türkischen Faschismus, seine europäischen Unterstützer und den Imperialismus bekämpfen, auf die Straße gehen und zur Aktion schreiten. Gerade jetzt in der Weihnachtszeit ist es wichtig, diese Geschehnisse nicht aus den Augen zu verlieren.

Update: Alle sind eingeladen nach Paris zu kommen und ihre Solidarität auszudrücken. Es gibt eine ständige Mahnwache vor dem Ahmet Kaya Kulturzentrum. Es wird aufgerufen überall dezentral Aktionen zu organisieren, um die Trauer und Wut zum Ausdruck zu bringen. Es wird eine große Beerdigung und Verabschiedung der Leichname in Paris geben. Alle sind aufgerufen und eingeladen daran teilzunehmen, allerdings ist noch unklar, wann die Leichname freigegeben werden. Sollte das vor dem 07.01.2023 passieren, wird für den 07.01. zu dezentralen Aktionen aufgerufen. Ansonsten wird am 07.01.2023 in Paris die alljährliche Gedenkdemonstration für Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez stattfinden. Wir rufen alle jetzt dazu auf an dieser Demonstration teilzunehmen und den nun sechs in Paris ermordeten Genoss:innen zu Gedenken.

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Kriegsgegner:innen haben in Russland erhebliche Repression zu befürchten. Trotzdem gibt es keine legalen Einreismöglichkeiten für sie nach Deutschland. Peter Klusmann ist Anwalt in der Gelsenkirchener Kanzlei Meister & Partner und vertritt einen geflüchteten Genossen im Asylverfahren.

Sie vertreten einen Mandanten aus Russland, der in seiner Heimat den Wehrdienst
verweigert und in der BRD Asyl beantragt hat. Warum ist ihr Mandant aus Russland
geflüchtet?

Unser Mandant ist aus Russland geflüchtet, da er als Mitglied der Russischen Maoistischen Partei (RMP) politische Verfolgung befürchtet. Der Mandant selbst trat bei verschiedenen Aktionen und öffentlichen Versammlungen der RMP in Erscheinung. Bereits im Januar 2021 wurde er kurzzeitig in Polizeigewahrsam genommen, nachdem er aus Anlass des Todestages von Lenin am 21. Januar Blumen an dessen Denkmal in Tscheljabinsk (eine russische Großstadt am Ural, d. Red.) niedergelegt hat. Der Mandant erhob dagegen bei der Staatsanwaltschaft ohne Erfolg Beschwerde. Auch weitere Mitglieder der RMP waren respektive sind Verfolgungsmaßnahmen durch die russischen Behörden ausgesetzt.

Gab es auch weitere Repression gegen Ihren Mandanten?

Ja. Am 27. Februar 2022 beteiligte er sich an einer Demonstration in Tscheljabinsk gegen den russischen Angriff auf die Ukraine. Unser Mandant trug dabei ein Transparent mit der Aufschrift „Maoisten gegen den Krieg! RMP“ Bei dieser Versammlung wurde er unter dem konstruierten Vorwurf des Widerstands gegen die Polizei festgenommen, in Gewahrsam genommen und am nächsten Tag in einem Schnellverfahren zu einer Geldbuße verurteilt. Unser Mandant wurde im Polizeigewahrsam menschenrechtswidrig behandelt, er wurde beleidigt und bedroht. Aufgrund dieser Behandlung erlitt er einem Zusammenbruch und musste medizinisch versorgt werden.

Da unser Mandant weitere Repressionen erwartete, ist er im April dieses Jahres zunächst in die Türkei ausgereist. Er ging dabei davon aus, dass er durch die polizeilichen Maßnahmen und seine Verurteilung als Regierungs- und insbesondere Kriegsgegner registriert ist und die russischen Behörden dies früher oder später zum Anlass nehmen würden, erneut gegen ihn vorzugehen. Im Hinblick darauf, dass unser Mandant in der Türkei auf Dauer keinen effektiven Schutz erlangen konnte, wurde ihm dringend nahegelegt, die Türkei zu verlassen und in Europa Schutz zu suchen.

In ihrer Mitteilung sprechen sie von „Putins Angriffskrieg“ und erwähnen die Interessen
der USA und ihrer NATO-Partner im Ukraine-Krieg nicht. Ist das nicht ein etwas einseitiger
Blick auf den Konflikt?

Keineswegs, aber die konkreten Fluchtursachen unseres Mandaten liegen in Putins Angriffskrieg. In der Presseerklärung heißt es, dass die Russische Maoistische Partei (RMP) eine konsequente Linie gegen alle imperialistischen Mächte verfolgt. Hierzu hat die RMP in einer Erklärung vom 3. März 2022 folgendes ausgeführt: „Im aktuellen Konflikt vertritt die russische maoistische Partei (RMP) eine konsequente antikriegerische und antiimperialistische Haltung gegen die Kriegstreiber auf beiden Seiten (NATO/EU und Russland), gegen die imperialistische Aggression in der Ukraine (die berüchtigte „militärische Sonderoperation“, die nicht einmal als Krieg bezeichnet werden darf) gegen den Bürgerkrieg in der Ukraine (zwischen der Ukraine und dem Donbass) in Form einer „antiterroristischen Operation“ (ATO).“

Auf seiner Flucht hat ihr Mandant in der deutschen Botschaft in Ankara ein Visum
beantragt, was abgelehnt wurde. Was war die Begründung und was kritisieren sie an dieser
Ablehnung?

Unser Mandant hatte sich um einen Botschaftstermin bemüht, um ein Visum zu bekommen. Dort verwies man formalistisch auf die Zuständigkeit der deutschen Auslandsvertretungen in Russland und ignorierte damit vor allem die Gefährdung unseres Mandanten bei einer Rückkehr. Das widersprach auch einer Ankündigung des Auswärtigen Amtes und des Bundesinnenministeriums, gefährdeten Personengruppen aus Russland zu helfen. Erst Ende Juni 2022 teilte das Bundesinnenministerium dann mit, dass „im Einzelfall die Möglichkeit einer Aufnahme nach Deutschland zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland auf der Grundlage von Paragraph 22 Satz 2 Aufenthaltsgesetz“ bestehe.

Sie fordern, dass die Bundesregierung ihre Ankündigung, den russischen Kriegsdienstverweigerern effektiven Schutz zu gewähren, „endlich in die Tat umsetzen muss“. Was muss jetzt konkret geschehen?

Notwendig ist die Schaffung legaler Einreisemöglichkeiten für verfolgte fortschrittliche Oppositionelle und Kriegsgegner aus Russland sowie die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus. Die bisherige Beschränkung auf „handverlesene“ Einzelfälle, die der Bundesregierung politisch opportun erscheinen – „Wahrung politischer Interessen“ -, wird dem nicht gerecht.

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Interview mit Meisam Al-Mahdi, Arbeiter und Mitorganisator der Proteste der Arbeiter der Stahlfabrik Ahwaz

Die Ahwaz National Steel Industry Group nahm ihre Tätigkeit 1963 mit einer Abteilung für die Produktion von Rohren und einer zweiten Abteilung für die Produktion von Eisenträgern auf. Später kamen nach und nach die Metallurgie (Herstellung von Zäunen und Schranken), die Stahlproduktion und schließlich die Abteilung Kousar für die Herstellung von Drähten und Bewehrungsstäben (Baustäbe) hinzu. Ahwaz Steel ist das erste Werk für Walzstahlerzeugnisse im Iran. Nach der Montage der erforderlichen Maschinen und der Installation der notwendigen Ausrüstung wurde 1967 eine neue Produktionslinie eingerichtet. Im Zuge der Privatisierung öffentlicher Vermögenswerte wurde die Zahl der Beschäftigten von siebentausend auf viertausend reduziert und die Ausbeutungsrate in der Fabrik erhöht. Seit 2013 streiken und protestieren die Beschäftigten dieser Fabrik regelmäßig, um die Einhaltung ihrer Rechte zu fordern.

Meisam Al-Mahdi ist einer der Arbeiter der Ahwaz National Steel Group. Er begann 2007 in der Fabrik zu arbeiten, zunächst als Tagelöhner im Restaurant und dann mit befristeten Verträgen in der Produktionsabteilung. Bis zu dem Tag, an dem er in den Untergrund gezwungen wurde und den Iran verlassen musste. Bahram Ghadimi sprach mit ihm über die Kämpfe dieser Arbeiter.

(Anm.d.Red.: Das Interview wurde vor der derzeitigen Welle von Aufständen geführt, weshalb aktuelle Bezüge fehlen. Wir erarchten es dennoch als wichtigen Einblick in die Kämpfe im Iran)

War die Ahwaz Steel Factory vor den Privatisierungen in staatlichem Besitz?

Ja, bis zur Präsidentschaft von Ahmadinejad war es eine staatliche Fabrik. Die Privatisierung der großen Fabriken wurde in der Zeit von Ahmadinejad umgesetzt. Deshalb erhielten wir nie unbefristete, sondern immer auf drei Monate befristete Verträge. Plötzlich war die Rede davon, dass einige Fabriken bankrott seien. Sie wurden ohne Mitsprache der Arbeiter an den privaten Sektor verkauft. Diejenigen, die die Unternehmen übernommen haben, gehörten zu den kapitalistischen Banden, die mit Ahmadinedschad verbunden sind. Arya Mansur war einer von ihnen und übernahm nicht nur das Stahlwerk, sondern auch die iranischen Eisenbahnen und die Damash-Gruppe. Er wurde später wegen Veruntreuung hingerichtet. Aber alle Arbeiter wissen, dass er hingerichtet wurde, damit er diejenigen nicht verrät, die gemeinsam mit ihm die massiven Unterschlagungen zu verantworten hatten.

Zudem wurden während der Präsidentschaft von Ahmadinejad zahlreiche Industriekorridore und Freihandelszonen geschaffen. Die Struktur dieser Zonen ist gegen die Arbeiterklasse gerichtet. Ich habe in einer von ihnen, der Region Arwand, gelebt und weiß, was mit den Arbeitern passiert, wenn eine Zone zur Freihandelszone erklärt wird und Privatisierungen stattfinden.

Was bedeuten diese Freihandelszonen?

In Ahwaz wurden wir mehrmals mit Landkonfiszierungen konfrontiert. Sie begannen zur Zeit der Pahlavi-Dynastie und dauert bis heute an. Während der Präsidentschaft von Rafsanjani wurde Land für die Zuckerproduktion beschlagnahmt. Rafsanjani erfand seine eigene Art und Weise, das Land der Menschen zu beschlagnahmen: Sie machten das Land unbrauchbar für den Anbau; zum Beispiel bauten sie Staudämme an Flüssen und sorgten dafür, dass das Wasser des Golfs in das Land der Menschen eindrang und es versalzte, so dass es nicht mehr bestellbar war. Nach und nach verödeten diese Ländereien und die Kapitalisten kauften sie dann von den Menschen zu sehr niedrigen Preisen. Diejenigen, die Widerstand leisteten, wurden inhaftiert; einige kämpfen noch heute und haben trotz des erzwungenen Verkaufs ihrer Ländereien nicht aufgegeben.

Wie hoch war der Anteil der persischen und arabischen Arbeiter in eurer Fabrik?

In vielen der neuen Fabriken oder Ölgesellschaften wurden arabische Arbeiter:innen eindeutig diskriminiert, weil die Fabrikbesitzer eine nationalistische und rassistische Haltung einnehmen. Sie fragten uns direkt, ob wir Araber sind oder wenn sie sahen, dass wir ursprünglich arabische Namen oder Nachnamen wie Al-Mahdi, Tamayomi, Bani Torof usw. haben, stellten sie uns nicht ein. Arabische Arbeiter sind gezwungen, ihren Nachnamen zu ändern, um einen Arbeitsplatz zu erhalten. In der Stahlfabrik gab es hingegen eine beträchtliche Anzahl arabischer Arbeiter, was außergewöhnlich war.

Wie wurden die arabischen Arbeiter in der Fabrik behandelt?

Ich hatte zum Beispiel viel Erfahrung als Techniker für blooming, eine der außergewöhnlichsten Maschinen dort, aber weil ich Araber bin, gab man mir nicht das Recht, diese Arbeit zu machen, und ein nicht-arabischer Arbeiter, der die Maschine nicht gut kannte, war mein Vorgesetzter. Das fand ich nach einiger Zeit heraus, und ich fand auch heraus, dass dieser Arbeiter, der meine Stelle übernommen hatte, doppelt so viel verdiente wie ich. Diese Verhaltensweisen waren sehr verbreitet. Selbst arabische Facharbeiter, die Metallurgie, Maschinenbau oder andere produktionsbezogene Fachgebiete studiert hatten, arbeiteten unter der Aufsicht von Personen, die nicht aus demselben Fach stammten und ihre Position durch Günstlingswirtschaft erlangt hatten. Unser Chefingenieur zum Beispiel war ein Spezialist für landwirtschaftliche Bewässerung, während es in der Fabrik arabische Ingenieure und Arbeiter gab, die sich auf Metallurgie spezialisiert hatten; aber keiner von ihnen erreichte hohe Positionen, weil die Bauunternehmer dachten, dass Araber, wo immer sie hingehen, ihre Massen mitnehmen und sich selbst organisieren; deshalb haben sie uns immer an den Rand gedrängt, damit wir keine Gelegenheit hatten, uns zu organisieren.

Wie hat der Kampf der Arbeiter der Ahwaz Steel Factory begonnen?

Bei Ahwaz Steel begannen die Arbeitskämpfe nach der Privatisierung der Fabrik. Als bekannt wurde, in welchem Umfang Unterschlagungen stattgefunden hatten und die Justiz die Fabrik beschlagnahmte. Während der Beschlagnahmung landeten die Gewinne aus unserer Produktion auf den Konten der Justiz. Die Haltung unserer Proteste war: wenn die Fabrik auf Raten an einen anderen Kapitalisten verkauft werden soll, ziehen wir Arbeiter es vor, an den Versteigerungen teilzunehmen und sie selbst zu kaufen, auch wenn dies eine Senkung unserer Löhne bedeuten würde. Wir können die Fabrik leiten und wir beherrschen die technische Seite viel besser als die Kapitalisten und Manager.

Letztendlich ist der Moment des Beginns der Proteste aber in der Regel der Protest gegen die Löhne. Die Ungleichheiten und Unterdrückungen der Arbeiter sind zahlreich, aber die Löhne sind ein guter Ansatzpunkt, um alle Arbeiter um ein zentrales Thema zu versammeln. Im Verlauf der Proteste können dann viele andere Themen diskutiert werden.

Im ersten Jahr der Proteste hatten sie uns sechs Monate lang keine Gehälter gezahlt. Es war unser erster Protest und Streik außerhalb der Fabrik. Er fand Ende 2016 und Anfang 2017 statt. Wir verließen die Fabrik für 17 Tage und schlossen alle Türen. Kein Produkt ging raus und nichts kam rein, bis wir drei Monatslöhne nachgezahlt bekamen.

Aber die Proteste beschränkten sich nicht auf die Frage der Löhne. Bei unserem letzten Streik schuldete uns die Fabrik keine Zahlungen. Wir waren in die nächste Phase unseres Kampfes eingetreten: den Kampf gegen die Stahlmafia. Wir waren über die kleinen, eher alltäglichen Forderungen – Arbeitshandschuhe, Gesundheit, Sicherheit am Arbeitsplatz usw. – hinausgegangen.

Wie verlief der Streik?

Die Sache war die, dass die Fabrik mehrere Abteilungen hatten (Produktion von Rohren, Stahl, Eisenträgern, Drähten, Maschinen usw.) und jede Abteilung hatte ihren eigenen Chef. Derjenige in Abschnitt 1 zahlte keine Löhne, derjenige in Abschnitt 2 zahlte zwar Löhne, bot aber keine Versicherungen an usw. Zu Beginn war es uns nicht möglich, uns auf ein gemeinsames Problem zu einigen.

Das erste Ziel, auf das wir uns konzentrieren mussten, war also die Reduktion der Anzahl der Chefs. Anschließend wurden die Löhne zum zentralen Thema. Zwischen 2015 und 2016, als die Fabrik auf den Konkurs zusteuerte, waren unsere Proteste auf ihrem Höhepunkt.

Ich war Techniker an den Blooming-Maschinen, das ist eine Maschine, die das erste Eisen aus dem Ofen nimmt und die 200-mm-Blöcke in 150-mm-Blöcke umwandelt, die dann in die Walzen zur Herstellung von Eisenträgern gelangen.

Ich war kein Bediener und habe nicht mit der Maschine gearbeitet, sondern war für den mechanischen Teil zuständig. An empfindlichen Maschinen gibt es immer einen versteckten Schalter, und der Arbeiter, der vor mir an dieser Maschine als Techniker gearbeitet hatte, hatte mir gezeigt, wo der Schalter war. Eines Tages, als ich sehr frustriert war, drückte ich diesen Schalter und die ganze Fabrik blieb stehen. Egal, wie sehr sie sich bemühten, die Maschine funktionierte nicht. Sie haben Maschinenbauingenieure, Elektroingenieure usw. geholt, aber niemand konnte etwas tun.. Jedenfalls stand ich da, rauchte meine Zigarette und sah zu, wie sie sich die Köpfe einschlugen. Es war Zeit, nach Hause zu gehen; ich wollte mich gerade umziehen, als der Ingenieur mich fragte, wohin ich gehen würde. Ich sagte ihm, dass ich nach Hause gehen würde. Er sagte: „Die Maschine funktioniert immer noch nicht“. Ich sagte: „Na und? Bin ich dafür verantwortlich?“ Er antwortete: „Ja!“ Ich sagte: „Ich bin vielleicht dafür verantwortlich, aber ich besitze die Maschine nicht. Soll doch der Besitzer kommen und es zum Laufen bringen!“

Kein anderer Arbeiter war bereit, die Maschine zu starten, obwohl viele von dem versteckten Schalter wussten. Ich wurde befördert und wurde zum Bediener genau dieser Maschine. Es vergingen ein paar Wochen. Eines Tages, als ich bei der Arbeit war und lernte, wie man die Walzen benutzt, sah ich, dass ich eine Sprechanlage an meinem Arbeitsplatz hatte, die in der ganzen Fabrik zu hören war. Etwas viel Besseres als soziale Medien, dachte ich mir, denn dreihundert Arbeiter würden mich gleichzeitig hören können. Am nächsten Tag warf ich das Bügeleisen in die Maschine. Der Ingenieur fragte mich über den Sender, warum ich nicht arbeite. Während alle Arbeiter meiner Antwort zuhörten, sagte ich ihm: „Meine Frau und meine Kinder haben nichts zu essen. Warum sollte ich arbeiten? Warum sollte ich hier schwitzen und mein Leben und meinen Geist aufreiben, wenn es nichts an dieser Arbeit gibt, was mich glücklich macht oder meiner Familie Glück bringt?“ Er fragte: „Drohst du mir?“ Ich antwortete: „Nein, ich streike!“. Er fragte: „Streiken Sie alleine?“ Plötzlich ertönte es in der ganzen Fabrik „Nein, er ist nicht allein, wir sind alle bei ihm“.

Wie hat das Regime reagiert und wie war die Reaktion der Fabrikbesitzer und Auftraggeber?

Sie gingen auf zweierlei Weise gegen uns vor. Innerhalb des Unternehmens wurden wir von den Managern entlassen oder mit Entlassung bedroht und außerhalb der Fabrik wurden wir von der Polizei und den staatlichen Nachrichten- und Sicherheitskräften verfolgt. Beide handelten koordiniert und folgten sehr klaren Regeln. Ich selbst wurde eine Zeit lang gefoltert und ich wurde mehr als vier oder fünf Mal verhaftet.

2015 war ich in einem Kerker und wurde dort einen Monat lang gefoltert. Im Jahr 2016 nutzten sie eine andere Form der Repression. Sie riefen die Menschen an, und wenn Sie nicht ans Telefon gingen, kamen sie zu Ihnen nach Hause und nahmen sie fest. Einmal haben sie mich angerufen und ich hatte nicht abgenommen. Dann riefen sie meine Frau an, nannten ihr die Adresse der Schule unserer Tochter und drohten implizit, dass unsere Tochter möglicherweise einen Unfall haben könnte. Wenn wir das nicht wollen würden, sollte ich beim nächsten Mal ans Telefon gehen sollte.

Ein anderes Mal wurde ich in der Fabrik verhaftet. Vor den Augen aller Arbeiter zogen sie mir einen schwarzen Sack über den Kopf und brachten mich weg. Es kamen zudem ständig Agenten des Geheimdienstministeriums und belästigten uns bei der Arbeit.

Was hat man dir bei deiner Verhaftung vorgeworfen?

Man warf uns vor, radikalen, arabischen und bzw. oder nationalistischen Bewegungen anzugehören, radikale religiöse Tendenzen zu haben usw. Sie haben mir ins Gesicht gesagt: Wir werden dich brandmarken und deinen Namen in der Gesellschaft zerstören. Oder sie sagten, dass sie uns einfach beschuldigen könnten, mit was immer sie wollen, und uns ins Gefängnis bringen könnten.

Sie sagten uns, dass wir nicht das Recht hätten, uns gewerkschaftlich zu organisieren, nicht einmal innerhalb der Fabrik, weil sie wussten, dass die Löhne nur ein Ausgangspunkt waren, um andere Punkte anzustoßen. Sie hatten immer große Angst vor unserer Organisierung und selbst wenn sie uns unter anderen Vorwänden verhafteten, fragten sie uns bei den Verhören immer nach den Aktionen der Organisation und der Rolle, die wir darin spielten.

Warum musstest du aus dem Iran fliehen?

Lass mich zunächst erklären, wie mein Leben im Untergrund begann. Sie haben viele Verhaftungen vorgenommen. Hin und wieder haben sie einen Arbeiter aus seiner Wohnung entführt, um an Informationen zu gelangen, die ihnen helfen sollten, die Bewegung zu zerschlagen. Als sie mich verhafteten, zwangen sie mich, vor einer Kamera zu sitzen und Dinge zu gestehen, die ich nicht getan hatte. Sie drohten mir mit einem Stromschlag und stellten mich vor eine Kamera. Ich musste Geständnisse ablegen. Dann setzten sie mich mit verbundenen Augen auf einen Stuhl und fesselten mich an Händen und Füßen. Sie sagten mir: „Da es dieses Video gibt, solltest du morgen zu der Demonstration gehen, eine Rede halten und den Arbeitern sagen, dass der Streik beendet ist und sie zurück in die Fabrik gehen sollen”. Ich habe ihnen gesagt, dass ich das, was sie von mir verlangen, tun werde, wenn sie mich gehen lassen. Gegen vier oder fünf Uhr am nächsten Morgen setzten sie mich in der Nähe meines Hauses ab.

Als ich nach Hause kam, waren alle meine Kameraden da. Wir haben die Demonstration besucht. Während der gesamten Demonstration waren Polizisten in Zivil unter uns. Als ich meine Rede halten wollte, waren die Genossen besorgt. Sie dachten, ich könnte Angst haben und etwas sagen, das alles ruiniert. Ich sagte: „Wir haben nichts zu verlieren, und wir haben unsere Brust schon vor langer Zeit zum Schutzschild für ihre Kugeln gemacht. Der Klang ihrer Schüsse bricht nur die Angst in unseren Herzen. Wir werden bis zum Ende Widerstand leisten!“ Als ich diese Worte sagte, wuchs die Begeisterung unter den Arbeitern. Von diesem Moment an ging ich nicht mehr in mein Haus zurück und war ständig unterwegs.

Ich konnte mich fünf Tage lang im Keller der Fabrik verstecken. Danach musste ich sieben Monate lang untertauchen. Während dieser Zeit wurden alle meine Bankkonten gesperrt. Sie gaben bekannt, dass ich aus der Fabrik entlassen worden war. Als ich untergetaucht war, kam die Polizei oft zu unserem Haus, und meine Kinder konnten nicht in Ruhe zur Schule gehen. Die Polizei folgte ihnen zur Schule und fragte die Lehrer, ob ihr Vater dort aufgetaucht sei. Meine Frau leidet an Multipler Sklerose, normalerweise erhält sie kostenlose Medikamente von der iranischen Lebensmittel- und Medizinorganisation und dem Roten Halbmond. Als sie mich nicht aufhalten konnten, verweigerten sie meiner Frau ihre Medikamente. Das Regime hat sogar den Roten Halbmond infiltriert, die Arbeit dieser internationalen Organisation wird von der iranischen Regierung kontrolliert und gegen Aktivisten wie mich eingesetzt. Vier Jahre sind bereits vergangen und wir müssen ihre Medikamente immer noch viermal so teuer auf dem Schwarzmarkt kaufen.

In welchem Verhältnis stehen eure Kämpfe zu anderen Kämpfen im Iran?

Im Jahr 2018 erreichten wir bei den Protesten einen Punkt, an dem sich die Klassensolidarität auf der Straße manifestierte. Anstatt ein Kommuniqué herauszugeben oder einen offenen Brief zur Unterstützung der verhafteten Arbeiter zu schreiben, waren wir auf der Straße, unterstützten sie, schrien und protestierten gegen die Verhaftungen. Diese Proteste dauerten 37 Tage und waren einer der längsten Straßenstreiks der damaligen Zeit. Als wir eines Tages erfuhren, dass die Lehrer verhaftet worden waren, änderten wir die Richtung des Marsches und gingen zum Bildungsministerium. Dort, vor dem Ministerium, riefen wir den Slogan der Gewerkschaft der Arbeiter und Lehrer. Auch als die Studenten an der Universität Teheran eine Aktion zu unserer Unterstützung abhielten und einige von ihnen verhaftet wurden, hörten wir nachts davon und am nächsten Morgen, als wir auf die Straße gingen, sangen wir das Lied „Mein Klassenkamerad“. Das war der Wendepunkt, der zeigte, dass unsere Gewerkschaft nicht nur auf dem Papier stand, sondern real war, auf der Straße.

Eines der Industriezentren, das eurer Fabrik am nächsten liegt, ist Haft-Tappeh Agro-Industrial. Ich habe gehört, dass ihr eine Zeit lang gemeinsame Aktionen durchgeführt haben. Kannst du dazu mehr erzählen?

Um die Bedeutung dieser Verbindung zu verstehen, muss man sich die Geschichte der Kämpfe in beiden Fabriken ansehen. Das Unternehmen Haft-Tappeh blickt auf eine lange Geschichte von Kämpfen und aus ihnen hervorgegangene Persönlichkeiten der Arbeiterbewegung zurück. Auch das Stahlwerk hatte seine eigene Geschichte des Kampfes. In den 1980er-Jahren gab es dort aktive Arbeiter, von denen viele von den Kräften der Islamischen Republik verhaftet, gefoltert und entlassen wurden. Wir waren zwei große protestierende Fabriken. Als wir unsere Proteste und Streiks durchführten, stellten wir fest, dass unsere Streiks und die Streiks von Haft-Tappeh jedes Mal innerhalb einer Woche zusammenfielen. Wir beobachteten die Streikankündigungen von Haft-Tappeh und versuchten, unsere Proteste mit dieser Bewegung in Einklang zu bringen. Haft-Tappeh hat dasselbe getan. Sie haben zugesehen, wenn wir zum Streik aufgerufen haben, und haben ihre Aktionen mit unseren abgestimmt.

Im Verlauf der Zeit verspürten wir das Bedürfnis, gemeinsam zu denken und nach und nach wuchsen wir. Als der Kampf voranschritt und die Zeit verging, basierte alles auf Entscheidungen, die wir gemeinsam trafen. Was auch immer geschah, wir haben uns gegenseitig konsultiert. Es war wichtig, dass alle wussten, welche Maßnahmen wir ergreifen würden, denn wir standen dem Kapitalismus und seiner Mafia gegenüber, die vom Staat unterstützt wurden. Der Staat ist der Eigentümer der Polizei, der Eigentümer der Diktatur.

Deshalb mussten wir gemeinsam handeln, denn unsere Macht beruht auf der Tatsache, dass wir eine große Masse sind, und in dieser Vereinigung finden wir unsere Klassenidentität. Deshalb müssen wir gemeinsam denken, um Vertrauen in uns selbst zu gewinnen, um unsere Macht zu erlangen. Wir konnten keine individuellen und irrationalen Handlungen riskieren.

Denkst du, dass eure Proteste eine Form der Organisation geschaffen haben, die es vorher nicht gab?

Die Verhaltensweisen, die wir heute in der iranischen Arbeiterklasse beobachten, haben ihre Wurzeln in den Erfahrungen der Stahlarbeiter. Eine geteilte Erfahrung der Arbeiter ist die der Demütigung, die Erfahrung der Unbedeutsamkeit ihrer eigenen Existenz. Es gibt Arbeiter, die denken, dass ihre Stimme nichts bewirkt. In der Struktur der Islamischen Republik wurde ihnen ihre Stimme immer gestohlen. Ob sie nun wählen oder nicht, ihre Stimme ist gestohlen. Sie haben also das Gefühl, dass ihre Stimme wertlos und unbedeutend ist.

Aus diesem Grund haben wir uns vorgenommen, kleine Ausschüsse zu bilden. Das heißt, wenn wir fünf Abteilungen in der Fabrik hatten, haben wir in jeder Abteilung zwei oder drei kleine Ausschüsse gebildet. An diesen Ausschüssen, die in die Struktur der Fabrik und ihrer Abteilungen eingebettet waren, waren viele Arbeiter beteiligt. Themen wie Gesundheit, Sicherheit usw. waren die Anliegen der Arbeiter selbst, und sie brachten sogar die Probleme zur Sprache, die einige Arbeiter außerhalb der Fabrik hatten, und versuchten, Lösungen dafür zu finden. In diesen kleinen Ausschüssen ist es uns gelungen, die Arbeiter zusammen zu bringen und der Zersplitterung ein Ende zu setzen.

Die Idee zur Gründung dieser Ausschüsse wurde nicht in einer Nacht erdacht. Sie wurde aus unserem täglichen Leben und unseren Problemen abgeleitet. In vielen Fällen wurden die Schlussfolgerungen, zu denen wir kamen, von der Geschichte der Kämpfe der Arbeiterklasse genährt. Es ist nicht so, dass wir neue Konzepte geschaffen haben, aber wir haben neue Formen und Strukturen hervorgebracht.

Nach der Bildung der Ausschüsse und im Verlauf unserer Proteste kamen wir zu dem Schluss, dass diese Ausschüsse zusammenkommen, sich beraten und Ideen austauschen sollten. So entstand die Notwendigkeit, eine Generalversammlung innerhalb der Fabrik zu gründen, um sich zusammenzusetzen und die Wochen, in denen wir protestiert hatten, zu analysieren und über die Zukunft und aktuelle Fragen zu diskutieren. Beispielsweise darüber, wie wir auf die staatlichen Sicherheitsmaßnahmen reagieren sollten.

Was waren eure Überlegungen gegen die staatliche Repression?

Ich erinnere mich, dass wir irgendwann während unserer Proteste zu dem Schluss kamen, dass bei jeder Demonstration eine andere Person sprechen sollte. Wenn wir bei allen Protesten dieselbe Person als Rednerin oder Redner mitnehmen würden, könnte die Polizei sie identifizieren, sie angreifen und verfolgen. Deshalb haben wir beschlossen, bei jedem Protest eine andere Person aus einem anderen Ausschuss sprechen zu lassen. Nun konnte der Staat nicht nur eine Person verhaften und um alle Sprecher zu verhaften, musste er ein Manöver mit höheren Medienkosten durchführen. Auf diese Weise würden wir in der Gesellschaft besser bekannt sein, denn wenn nur ein oder zwei Arbeiter verhaftet würden, hätte die Nachricht nicht so viel Reichweite, aber die Verhaftung von dreißig oder vierzig würde eine massive Reaktion in den Medien hervorrufen. Auf diese Weise haben wir auch den Individualismus innerhalb der Ausschüsse selbst vermieden; wir haben es vermieden, bekannte Persönlichkeiten zu schaffen, denn es bestand die Möglichkeit, dass dieselben Ausschüsse in der Zukunft die Richtung ändern und gegen die Arbeiter und die Generalversammlung arbeiten würden. Es bestand also ein Bedarf an Abwechslung, um Gleichheit und Gleichgewicht zu schaffen. Und das Wichtigste war, dass alle Arbeiter das Gefühl hatten, dass sie an den Entscheidungen und Maßnahmen beteiligt waren.

Wir hatten damit gerechnet, dass unsere Proteste lang sein würden, wir mussten Rotationen entwickeln, um Ermüdung und Burnout zu vermeiden. Wir spürten, dass die Proteste die Frage der Löhne hinter sich gelassen hatten und wir direkt gegen die Regierung und die von ihr protegierte Mafia kämpften. Wir wussten, dass es anstrengend werden würde und dass die Repressionen stärker werden würden.

Die Proteste haben uns zwar Verhaftungen eingebracht, aber auch den Vorteil, dass unsere Stimme in der Gesellschaft Gehör gefunden hat. Ich glaube, dass unsere Stimme heute nicht mehr auf Ahwaz oder den Iran beschränkt ist. Die Stimme unserer Bewegung ist jetzt international. Wir haben gesehen, wie Stahlarbeiter in Argentinien oder in Europa ihre Fahnen zu unserer Unterstützung erhoben haben. Das waren mit die schönsten Momente, die wir erlebt haben, Momente, die uns ein Lächeln ins Gesicht gezaubert haben, denn wir haben gesehen, dass unsere Stimme nicht nur die Straßen und Fabriken erreicht, in denen wir leben, sondern dass sie gewachsen und international geworden ist.

Sind diese genannten Formen der Organisierung heute noch gültig?

Aufgrund der großen Repression werden diese Organisationsformen heute halb klandestin praktiziert. Wir glauben, dass beispielsweise die jüngsten Streiks der Tagelöhner weitgehend von der Struktur unserer Organisation inspiriert wurden, die aus mehreren Ausschüssen und einer Generalversammlung besteht.

Bei den Protesten der einzelnen Arbeiter kann man nicht gerade von Komitees sprechen, aber verschiedene und verstreute Sektionen streiken und dann versuchen dieselben Sektionen Versammlungen in verschiedenen Städten zu bilden. Durch die Beziehungen, die wir mit den Genossen der Ölarbeiter haben, wissen wir, dass ihre Organisationsform auch von unserer inspiriert ist. Außerdem wurden sechs Monate nach der Gründung unserer Organisation, als es in Ahwaz eine Überschwemmung gab, Volkskomitees gebildet. Wir als Arbeiter unterstützten diese Komitees, indem wir Dämme bauten und die Menschen mit dem Nötigsten versorgten. Obwohl die Islamische Republik uns unterdrückt, wachsen unsere Ideen von Tag zu Tag und wir sehen unsere Art der Organisation in der Gesellschaft. Wir wollen aber bewusst nicht, dass diese Form der Organisation auf unseren Namen eingetragen wird. Wir haben es mit einem diktatorischen Staat zu tun, und wenn wir verkünden, dass diese Form der Organisation die unsere ist, können wir angegriffen werden und werden Verluste erleiden.

In Anbetracht der aktuellen Lage im Iran, wie siehst du die Zukunft unserer Gesellschaft und die Zukunft der Stahlwerker?

Wir haben Hoffnung. Wenn wir auf unser Handeln in den letzten zehn Jahren zurückblicken, stellen wir fest, dass wir anfangs zu zweit waren, dann fünf, zehn und schließlich Tausende von Menschen. Wir sehen, wie dieses allmähliche Wachstum, diese Bündelung der Kräfte, verlaufen ist. Ich erinnere mich, als wir vor fünf Jahren vor dem Bildungsministerium protestierten, kam ein Lehrer und hielt eine Rede.

Als wir protestierten, versuchten die Rentner, eine noch neue Bewegung, sich besser zu organisieren. Ich will nicht sagen, dass unsere Proteste die Achse aller sozialen Proteste im Iran sind, aber wir glauben, dass in diktatorischen Staaten die Traditionen des Straßenkampfes weitergegeben werden. Das heißt, als wir auf die Straße gingen, haben wir etwas von den Bewegungen der Lehrer und Rentner gelernt. Vielleicht ergänzen wir sie. Wenn wir die Rentnerbewegung im Rahmen des diktatorischen Systems im Iran betrachten, sehen wir ein sehr wichtiges Potenzial.

Die Lebensweise der Rentner verleiht ihrer Bewegung ein großes Potenzial; auch wenn dieses Potenzial nicht konstant ist und ihre Organisation jung ist, haben wir es mit Menschen zu tun, die mindestens dreißig Jahre in den Fabriken gearbeitet haben. Heute haben wir einen älteren Menschen vor uns, der radikal ist. Seine Redeweise und seine Literatur sind radikaler als die der Arbeiter, weil er nichts zu verlieren hat. Was wir heute brauchen, ist ein Dialog zwischen der Arbeiter- und der Rentnerbewegung. Nicht nur, um Verbindungen zu schaffen, sondern auch, um uns daran zu erinnern, dass beide Bewegungen nahe beieinander liegen und ein großes Potenzial haben.

Die letzten Worte gehören dir…

Ich möchte noch einmal betonen, dass wir heute in jeder Gesellschaft, wenn wir eine Organisation auf praktischer Ebene gründen wollen, die psychologischen Bedingungen der Gesellschaft und die systematische Demütigung, die die Menschen erleiden, nicht ignorieren dürfen. Und wenn wir sie berücksichtigen, sehen wir, dass es viel Hoffnung für diese Proteste und Organisationen gibt, zu wachsen. Die protestierende iranische Gesellschaft ist in zwei Gruppen geteilt. Ich denke, dass es derzeit eines der Hauptanliegen der rechten und der monarchistischen Strömungen ist (1), die Nachrichten, die die Arbeiter betreffen,zu kontrollieren und den politischen Diskurs der Arbeiter zu unterdrücken. Es kann gesagt werden, dass die Verschwörung der Medien sehr klar und offensichtlich ist. Sie versuchen immer, die Basis, die Arbeiterbewegung und die Demonstranten zu „zusätzlichen“ Akteuren zu machen und ihre Errungenschaften zuvereinnahmen. Daher ist es sehr wichtig, dass wir nicht nur unsere Stimme im Protest erheben, sondern auch unsere Ideen und unseren politischen Diskurs erklären und verbreitern. Die Arbeiterbewegung hat eine schwierige Aufgabe, aber es wird ein sehr guter Kampf sein.

# Titelbild: https://shahrokhzamani.com/2018/12/20/free-ahvazsteel/

Anmerkungen

(1) Zu den rechten Strömungen gehören sowohl die staatlichen rechten Strömungen als auch die bürgerliche Opposition im Ausland (z. B. die Monarchisten). In jeder Periode, in der Proteste auf die Straße gehen, versucht die Seite, die gerade nicht an der Regierungsmacht ist, die an der Macht befindliche Seite dafür verantwortlich zu machen und zu behaupten, dass die Proteste auf die Korruption oder die Unzulänglichkeiten der anderen Seite zurückzuführen sind. Auf diese Weise wird das gesamte System von der Klinge der Proteste verschont und die Proteste werden für die Interessen der verschiedenen Seiten genutzt. Ebenso versuchen die kapitalistischen Banden, die im Ausland gegen das Regime der Islamischen Republik opponieren und sich um den Sohn des letzten iranischen Königs geschart haben, von diesen Bewegungen zu profitieren, um das Regime zu verurteilen, als ob es während der Herrschaft des Monarchen Pahlavi keine Ausbeutung und Unterdrückung gegeben hätte.

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Thailand als Land der Semiperipherie befindet sich irgendwo in der Schwebe zwischen Zentrum und Peripherie. Wir haben einen Text der thailändischen Genoss:innen von dindeng übersetzt, der sich die Frage stellt, wie Staat, Macht und Gewalt sich in ihrem Kontext auf ihre Kämpfe auswirken.

Autor: Yung Kay

Wir sind hier an der Schnittstelle zwischen Zentrum und Peripherie, und wenn es irgendwo möglich sein sollte, diese in Einklang zu bringen, dann sicherlich hier. Nicht nur Thailand, sondern auch andere Regionen, die in der gleichen globalen ökonomischen Gruppe des mittleren Einkommens gefangen sind. Kann es eine Interaktion zwischen der Peripherie und dem Zentrum geben?

Im Moment befinden wir uns in Nordthailand. Hier sind wir zwischen der Peripherie und dem Zentrum gefangen. Wir haben Geflüchtete von jenseits der Grenze gesehen, die von den Eiswägen aus in die tadellos sauberen  Co-Working Spaces liefern und mühelos an den professionellen E-Mail-Schreibern in ihren klimatisierten Räumen vorbeigleiten.

Thailand selbst ist zwischen der Peripherie und dem Zentrum gefangen. Noch heute ist es ein „wichtiger Nicht-Nato-Verbündeter“, der gegenüber unseren Genossen in Peking endlos Lippenbekenntnisse abgibt. In Wirklichkeit sind unsere Glanzzeiten als kolonialer Vorposten des Kalten Krieges längst vorbei. Thailand bröckelt langsam vor sich hin und ist ein Relikt der alten bipolaren Welt, erdrückt von autoimperialistischer Aufblähung und gefangen in längst überholten, vom Ausland aufgezwungenen Dogmen.

Wie kann man das unter einen Hut bringen?

Lokal

Um mit einer Versöhnung zu beginnen, müssen wir zunächst versuchen zu bestimmen, was die Peripherie und was das Zentrum ist. Eine einfache Möglichkeit, dies zu tun, ist ein Blick auf die Verteilung des BIP im gesamten Königreich zu werfen. Bangkok verzehrt alles. Ein schwarzes Loch, das Wohlstand und Arbeit aus dem ganzen Land ansaugt. Fast 50 Prozent des Reichtums des Landes liegen in Bangkok, während nur 22 Prozent der Bevölkerung dort leben, von denen ein Großteil inländische oder ausländische Wanderarbeiter*innen sind. Von diesem Reichtum befindet sich natürlich der größte Teil in den Händen der Bourgeoisie. 

Seit seiner Gründung in der Mitte des 18. Jahrhunderts hat Bangkok seine Außenposten im ganzen Königreich ausgebaut. Chiang Mai im Norden, Khon Kaen und Korat im Isaan, Had Yai und Nakorn Si Thammarat im Süden. Diese Außenposten dienen dem Zweck, die Peripherie ins Zentrum zu integrieren. Die Thaifizierungspolitik der explizit faschistischen Regierung in den 1930er Jahren war nicht nur ein kultureller Imperialismus, sondern auch ein wirtschaftliches Programm, mit dem sie die Peripherie und den Kern miteinander versöhnen wollte, indem sie die Peripherie in den ökonomischen Einflussbereich des Kerns aufnahm.

Der Norden ist pro Kopf die ärmste Region, was vor allem auf die Armut in Mae Hong Son zurückzuführen ist – zweifellos die Provinz, welche geografisch, wirtschaftlich, kulturell und in Bezug auf die Reichweite der Regierung am weitesten vom Kern entfernt ist – die Einheimischen sagen oft, dass Mae Hong Son nicht Thailand ist. Mae Hong Son ist der Ort, aus dem viele der oben erwähnten subalternen Arbeiter stammen oder durch den sie kommen. Sie sind alle auf die eine oder andere Weise Flüchtlinge, sowohl diejenigen, die im Inland geboren sind, als auch diejenigen, die von jenseits der Grenze kommen, denn die Grenze bedeutet sehr wenig, wenn sie so weit draußen in der Peripherie liegt. 

International

Bangkok ist zwar das imperiale Zentrum Thailands, wird aber selbst immer mehr Teil der globalen Peripherie des Kapitals. Einst war es das Bollwerk des amerikanischen Imperiums im Kampf gegen den Kommunismus in Südostasien – Milliarden von Dollar wurden in die Hauptstadt gepumpt, um sie vor den Bauern zu schützen, die sie erobern und ihren Reichtum umverteilen wollten.

Zu diesem Zeitpunkt wurde der „tiefe Staat“ im eigenen Land geschmiedet. Der republikanische Faschismus, der Thailand von den dreißiger Jahren bis in die frühe Nachkriegszeit hinein beherrschte, wurde von einer mehr auf die Dritte Welt ausgerichteten, bündnisfreien Stimmung bedroht. Die republikanischen Elemente des früheren offen faschistischen Regimes wurden verworfen, auch wenn viele ihrer Ideale erhalten blieben und der Republikanismus wurde durch ein Programm zur Aufwertung der Monarchie ersetzt, um sie zur wohlwollenden Fassade der Nation zu machen. Man machte sich ihre religiösen und feudalen Patronagenetze zunutze und kombinierte sie mit dem nationalistischen militaristischen Faschismus der vorangegangenen Generation von Führern. Das Militär, die Monarchie und das Kapital verbündeten sich gegen die Arbeiter und den Kommunismus, ein Bündnis, das vom globalen Kapital über die Fänge des US-Imperiums heftig unterstützt und ermöglicht wurde.

Das Königreich wurde zu einer wichtigen Operationsbasis, von der aus Aggressionen gegen Nachbarstaaten gestartet wurden. Obwohl das Kapital in Vietnam, Laos und Kambodscha kleinere Rückschläge hinnehmen musste, war diese Aggression letztlich erfolgreich. In den 90er Jahren, als die Bedrohung durch die Arbeiter nachließ, wurde Bangkok weitgehend sich selbst überlassen, die Schmiergelder waren gestrichen worden und die imperiale Aufblähung begann. Heute ist der Verfall in ganz Bangkok offensichtlich: eine absurd überfüllte Stadt, deren Boulevards mit leeren Ladenfronten buchstäblich versinken, während sich das Meer langsam das Land zurückholt, auf dem immer noch glitzernde neue Einkaufszentren und Eigentumswohnungen errichtet werden.

Für das obere Ende der Bourgeoisie musste sich jedoch nichts ändern. In dem Unterbietungswettlauf des Kapitals, immer auf der Suche nach neuen Möglichkeiten für die Gewinnung von so viel Überschuss wie möglich, stagniert Thailand jedoch. Die brutale Gewinnausbeutung kann in nahe gelegenen Ländern wie Bangladesch und Birma billiger durchgeführt werden. Heute gleiten makellose Teslas mühelos über die rissigen Straßen und an den verfallenden Slums vorbei – ihre Fahrer sind sich der Fäulnis, die sie umgibt, überhaupt nicht bewusst und wissen nicht, dass sie nur noch mit Abgasen fahren, dass das Kapital sie im Stich lässt, obwohl der Gestank bleibt.

Diejenige, die die Fäulnis aus erster Hand kennen, ist natürlich die Arbeiterklasse. Die jüngsten Zahlen zeigen, dass die Verschuldung der thailändischen Haushalte inzwischen 90 % des BIP übersteigt und damit an elfter Stelle in der Welt steht, wobei der Großteil dieser Schulden auf Haushalte mit niedrigem Einkommen entfällt.

Die Wirtschaft braucht dringend massive Investitionen und eine Generalüberholung, aber die Säulen, die die Nation stützen, sind am Wanken. Das Militär, die Monarchie, die Bürokratie und das Parlament sind allesamt völlig unfähig, etwas anderes zu tun als den Status quo aufrechtzuerhalten. Diese Institutionen sind durch ihre aufgeblähten Klientelnetzwerke verankert und gebunden und werden durch den tiefen Staat eingeengt, der seinerseits durch das Dogma der thailändischen Vergangenheit aus der Mitte des 20. Jahrhunderts gebunden ist. Heute aber ist er kein wichtiger Außenposten des globalen Imperiums mehr, sondern nur noch ein Relikt.

Der einzige sinnvolle Reformversuch kam in Gestalt von Thaksin Shinawatra. Im Guten wie im Schlechten war Thaksin eine revolutionäre Kraft in der thailändischen Wirtschaft, politisch wollte er die Nation ins 21. Jahrhundert bringen. Obwohl seine Politik immer noch fest im Dienste der Bourgeoisie stand, wurde er als zu große Bedrohung für die bereits erwähnten aufgeblähten dogmatischen Institutionen des Staates und des Kapitals angesehen. Sie setzten ihn gewaltsam ab und arbeiteten unermüdlich daran, jegliche Überreste von Reformen zu vernichten, und bewiesen damit ihre Unfähigkeit, sich dem Tempo des globalen Kapitals anzupassen.

Wir sind nicht allein

Diese Gefahr ist weltweit keine Seltenheit. Haltet Ausschau nach Ländern mit einer großen Bevölkerung, die hauptsächlich vom Land kommt und die im letzten halben Jahrhundert eine massive Verstädterung erfahren und eine Produktionsbasis entwickelt haben. Achtet auf die verräterischen Anzeichen von sich ausbreitenden Städten, die sowohl eine wehrhafte einheimische Elite als auch eine massive Slumbevölkerung beherbergen. Beachtet die geografische Peripherie, d. h. die Teile des Landes, die vom Zentralstaat praktisch nicht regiert werden. Schaut auch die politische Gewalt an, auf der diese zeitgenössischen Versionen des Staates aufgebaut wurden, wobei US-Geheimdienstmitarbeiter im Hintergrund lauerten. Brasilien, Indonesien, Südafrika, Mexiko, usw.

Diese Länder dienen als eine Art Vermittler zwischen dem Kern und der Peripherie. Niedrige Unterleutnants des globalen Kapitals. Nur wenige erklimmen die Leiter in die oberen Ränge, wobei Südkorea eine der wenigen großen Nationen ist, die in die Bruderschaft des Zentrums eingetreten ist. Thailands Führer blicken neidisch dort hin und fragen: „Warum können wir das nicht haben?“

Die Antwort ist, dass Südkorea im Auftrag des Kapitals, genauer gesagt seiner Vollstrecker, des US-Imperiums, gezwungen wurde, jegliche Souveränität aufzugeben. Südkorea, ein Staat mit einer so absurden Geschichte, voller grotesker Gewalt und brutaler Unterwerfung, wurde weitgehend mit Gewalt und als Ergebnis eines außergewöhnlichen Ereignisses in der Geschichte des 20. Jahrhunderts zum perfekten kapitalistischen Staat geformt. Ein paar andere Fälle in Ostasien, nämlich Taiwan und Singapur, basieren mehr auf Zufällen der Geschichte als auf geschickter innenpolitischer Führung oder klugem Wirtschaftsmanagement. Eine Gemeinsamkeit besteht jedoch darin, dass die Souveränität im eigenen Land fast völlig fehlt und in Wirklichkeit in den Händen des Westens und des globalen Kapitals liegt.

Die thailändischen Eliten waren nicht bereit, dieses Maß an Souveränität aufzugeben, wie wir 1973 gesehen haben, oder vielleicht wurde ihnen auch nie die Gelegenheit dazu gegeben. Wie auch immer, es scheint, dass sie am Ende an ihr eigenes Märchen von einem „besonderen“, tapferen kleinen Staat glaubten, der in der Lage war, sich gegen Kolonialreiche zu behaupten. In Wirklichkeit hat Thailand lediglich Platz gemacht für das britische Empire und dessen Nachfolger, das Kapital des 20. Jahrhunderts, unterstützt von seinem Vollstrecker, dem US-Imperium. Als Thailand nach dem Kalten Krieg nicht mehr von Nutzen war, verlor das Imperium das Interesse. Zum Glück für die koreanische und taiwanesische Bourgeoisie sorgten unsere Genossen weiter nördlich dafür, dass sie in den Augen des Imperiums relevant blieben, und so wurden sie in den Kern, die Bruderschaft der „fortgeschrittenen Volkswirtschaften“, aufgenommen.

„Warum können wir das nicht haben?“ – schreit der thailändische tiefe Staat dem Kapital zu.

„Weil ihr zu irrelevant seid“, antwortet das Kapital beiläufig und stößt auf taube Ohren.

Gewalt

Um die Politik in diesen Ländern mit mittlerem Einkommen im Vergleich zur wahren Peripherie und zum wahren Zentrum zu definieren, müssen wir die Gewalt verstehen. In den Ländern des Zentrums ist explizite politische Gewalt selten. Natürlich gibt es diese Art von permanenter unterschwelliger Gewalt und Unterwerfung, die man in fortgeschrittenen Volkswirtschaften findet, aber sie bricht selten in massenhafter politischer Brutalität aus. Die wahre Peripherie ist jedoch von Gewalt geprägt. Gleich jenseits unserer westlichen Grenze ist Gewalt im Alltag allgegenwärtig, sie ist der wichtigste Faktor bei fast allen Entscheidungen der Arbeiterklasse. In unserem Erleben gibt es jedoch ein unbehagliches Verständnis von Gewalt, ein Verständnis, das sie erlebt hat und nur äußerst ungern noch einmal erleben möchte.

Die thailändische Politik ist gespickt, aber nicht übersät mit politischen Massakern, einige sichtbar, andere nicht. Phumi Bhoon, Thammasat, Black May, Tak Bai, Krue Se und Ratchaprasong sind in den Köpfen des Proletariats fest verankert. Dies sind Fälle, in denen der Staat gezeigt hat, dass er bereit und in der Lage ist, öffentlich Massengewalt anzuwenden. Viele in der Arbeiterklasse erinnern sich auch an die Gewalt des Krieges gegen die Drogen Mitte der 2000er Jahre, an die Verhaftungen, die spontanen brutalen Verhöre und die massenhaften, fast unsichtbaren außergerichtlichen Morde – die so weit verbreitet und doch irgendwie so unauffällig waren. Im vorigen Jahrhundert sahen sich diejenigen, die den Revolutionären des Aufstands Unterschlupf gewähren wollten, mit Morden und staatlicher Brutalität konfrontiert, die öffentlich bis heute völlig ignoriert werden, an die sich aber diejenigen, die sie erlebt haben, noch erinnern.

Wenn man bereit ist, die Macht des Staates herauszufordern, ist Gewalt auf individueller Ebene nicht so sehr eine Bedrohung, sondern eine Unvermeidlichkeit. Wie viele Aktivist*innen wurden allein in den letzten zehn Jahren geschlagen, gefoltert oder in überfüllte sadistische Gefängnisse geworfen? Ihre Geschichten und Erfahrungen, ihr Blut, sind eine abschreckende Botschaft für alle anderen, die mutig genug sind, es ihnen gleichzutun. Sie sind die Überlebenden, viele andere wurden einfach ermordet, entsorgt, manchmal am Telefon mit ihren Angehörigen, ihre Leichen wurden in den Mekong geworfen.

Natürlich ist die Gewalt in Thailands innerer Peripherie eine weitaus allgegenwärtigere Facette des täglichen Lebens. Diejenigen, welche auf „Land leben, das ihnen nicht gehört“, sind der ständigen Gefahr einer gewaltsamen Vertreibung ausgesetzt. Für Migrant*innen, die in das Zentrum reisen um ihre Arbeitskraft zu verkaufen, ist das Leben von Gewalt am Arbeitsplatz und in den städtischen Slums geprägt. Insbesondere Frauen sind in der Sexindustrie, einem historischen Hort frauenfeindlicher Barbarei, der übrigens im Dienste der aus den USA importierten Kolonialtruppen des letzten Jahrhunderts errichtet wurde, entsetzlicher Gewalt ausgesetzt – heute führen die Söhne und Enkel dieser Truppen das Erbe ihrer Vorfahren fort.

Diese Art von Gewalt, sowohl die gegenwärtige als auch die historische, sowohl die sichtbare als auch die unsichtbare, stellt eine ständige Bedrohung für diejenigen dar, die ihre gegenwärtigen Bedingungen ändern wollen. Im August, in den ersten Tagen der Protestbewegung 2020 Bangkok und fast 50 Jahre nach dem Massaker an der Thammasat-Universität, kämpften Student*innen auf der Straße gegen die Polizei. Für viele von ihnen war es die erste Erfahrung mit staatlicher Gewalt. Als sie in der Chulalongkorn-Universität Zuflucht vor dem Tränengas suchten, hallte im ängstlichen Flüstern die Erinnerung an die Thammasat-Universität wider: „Könnten sie es wieder tun? Ich glaube, sie könnten es wieder tun?“ Die Angst ist weit verbreitet und berechtigt – eine Angst, die im globalen Zentrum unbekannt ist, aber nur allzu bekannt in der wahren Peripherie.

In unserer Lebenswelt hat der Staat unter Beweis gestellt, dass er die Fähigkeit zu expliziter Massengewalt hat, diese jedoch im Kontext eines allgemeinen Friedens existiert. Diejenigen, die den Status quo in Frage stellen wollen, geraten in eine schwierige existenzielle Lage.

Wie lässt sich das unter einen Hut bringen?

Eine Chance

Vielleicht sind wir nicht zwischen einem Tiger und einem Alligator gefangen, sondern befinden uns vielmehr in der besten der beiden Welten.

Der Kapitalismus, wie wir ihn kennen, geht allmählich in den Todeskampf über. Vor allem aber wird das US-Imperium immer weniger in der Lage sein, die Rolle des Vollstreckers zu spielen. Aber was passiert mit der halben Peripherie, wenn der Kern zusammenbricht? Wenn die Westgoten Rom plündern? …eine Gelegenheit bietet sich. 

Wir kennen die brutale Unterdrückung gut genug um zu ahnen, womit wir es zu tun haben. Der Reichtum der Bourgeoisie präsentiert sich im gleichen Rahmen wie die Notlage der Arbeiterklasse, und zwar auf eine Weise, wie sie es weder im Zentrum, noch in der wahren Peripherie wagen würde. Die bröckelnde Wirtschaft ist eine Bedrohung für das Proletariat, aber auch für die Bourgeoisie – eine Bourgeoisie, die immer selbstgefälliger, langsamer und aufgeblähter wird, steht einem Proletariat gegenüber, das ungeduldig, unzufrieden und immer mutiger wird.

Die Arbeiteraristokratie des Kerns ist nicht in der Lage, das Kapital wirklich herauszufordern ohne ihre materiellen Annehmlichkeiten zu verlieren. Hier, im Norden, im Isaan, haben wir Bangkok im Visier. Wir haben das Potenzial, den Reichtum des Zentrums in die Hände der Peripherie zu bringen, ein Potenzial, das für einen Großteil des übrigen Planeten unerreichbar ist.

Gleichzeitig bedeutet diese mittlere Malaise aber auch, dass wir vorerst wenig Handlungsspielraum haben. Wir sind darauf angewiesen, dass der Zusammenbruch des globalen Zentrums uns die Gelegenheit bietet, mit dem Kapital, mit unserem heimischen Zentrum, in Konflikt zu geraten. Hier warten wir ab und bereiten uns still vor. Wenn es irgendwo passieren kann, dann sicherlich hier.

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Von Bahram Ghadimi und Shekoufeh Mohammadi

Unter dem Schutz von Schreien, welche die Nacht durchdringen, nimmt eine Frau ihr Kopftuch ab und wirft es tanzend in das auf der Straße lodernde Feuer, damit aus dem Herzen von mehr als vier Jahrzehnten Unterdrückung und Repression ein Weg zu Licht, Freiheit und Gerechtigkeit eröffnet werden kann. Es gibt viele solcher Brände und unzählige dieser Frauen, welche die Flammen mit dem Schleier nähren, der ihnen vom Regime der Islamischen Republik Iran als Kleiderordnung auferlegt wurde, um sie zu unterdrücken. Unerschrocken weben sie mit ihren Haaren ein Seil aus Bewusstsein und Widerstand, um den Gefängniszaun zu umgehen, der uns seit Jahren mit Mauern der Armut, Dächern der Erniedrigung und Fenstern aus Lügen gefangen hält.

Der Funke dieses Feuers wurde entzündet, als das Lächeln im Gesicht einer kurdischen Frau namens Mahsa (Gina) Amini ausgelöscht wurde. Eine 22-jährige Frau, die mit ihrem Bruder nach Teheran gereist war, um Verwandte zu besuchen, wurde von der Sittenpolizei der Islamischen Republik unter dem Vorwand verhaftet, sie halte sich nicht an die Kleiderordnung. In Gewahrsam schlug ihr ein Polizist auf den Kopf, so dass sie das Bewusstsein verlor. Mahsa wurde ins Krankenhaus eingeliefert und starb einige Stunden später. Schon in den ersten Stunden des Wartens und der Protestaktionen vor dem Kasra-Krankenhaus in Teheran war die Familie von Mahsa Amini nicht allein; die Mütter aller anderen Wegbereiter auf dem Weg in die Freiheit haben sie begleitet, damit dieser Kampf ein weiterer Stern am Himmel dieser dunklen Nacht wird, in der seit Jahren der Traum von einem hellen Horizont geträumt wird: mit dem Aufstand der Hungrigen im Winter 2018, mit den Protesten im Herbst 2019, mit dem Aufstand der Durstigen (Proteste gegen Wasserknappheit) im Sommer 2021 und mit Hunderten von Protesten und Streiks von Arbeitern, Lehrern, Rentnern, Studenten und Gewerkschaftern im ganzen Iran. So wird der Schrei „Tod dem Diktator“ und die Parole „Brot, Arbeit, Freiheit“ zu einer gemeinsamen Stimme, der die Ohren der Unterdrücker nicht mehr entkommen können.

Und wir können unsere Mobiltelefone keinen Moment aus den Augen lassen: Telegram ist der Kanal, der uns mit einer Heimat verbindet, die wir vor Jahren zurücklassen mussten und in die wir immer noch zurückkehren wollen. Jeden Augenblick erhalten wir von unseren Freunden im Iran Nachrichten über die Geschehnisse in verschiedenen Städten und Ortschaften, ein Foto, ein Video, eine Meldung:

Eine Person wird in Teheran verhaftet. Wir haben diesen Satz noch nicht zu Ende gelesen, als die Nachricht der Verhaftung von Aktivisten in der Provinz Aserbaidschan eintrifft… dann wird Minu Majidi in Kermanshah durch einen direkten Schuß der Polizei getötet… die Studentenwohnheime der Universität von Shiraz werden angegriffen… in Ashnaviyeh greift die Polizei die Menge an und tötet zwei Menschen…in Izeh wird der Belagerungszustand ausgerufen… überall im Iran schlagen Flammen aus den Barrikaden und die Menschen sind auf den Straßen… in Quchan wird das Gebäude der Staatsanwaltschaft in Brand gesteckt… in Anzali hat das Volk die Stadt erobert… in Esfarayen reißen sie die riesigen Transparente mit Bildern von Khamenei und anderen Persönlichkeiten des Regimes herunter… in Ahvaz, wo sich die Menschen seit Jahrzehnten gegen die rassistische staatliche Repression wehren und der Kampf der Arbeiter immer noch stark ist, verwandelt die Solidarität mit den Protestierenden in anderen Städten, insbesondere in Kurdistan, die Straßen in ein Schlachtfeld… Die Stadt Qom, eines der religiösen Symbole des Regimes, ist zu einem Kriegsgebiet geworden, und in der konservativen Stadt Mashhad, einem der wichtigsten Stützpunkte des Staates, wird ein Polizeipräsidium angegriffen und mit allen darin befindlichen Patrouillen in Brand gesetzt… In Teheran wird von einem Polizeipräsidium aus auf Demonstranten geschossen, einige Stunden später steht das Gebäude in Flammen.

Die Parole „Frau, Leben, Freiheit“, welche der Ruf der ersten spontanen Proteste war, umfasst immer noch die wichtigsten Forderungen des iranischen Volkes. Dieser Slogan, einer der wichtigsten Slogans der Frauen von Rojava gegen den männlichen Chauvinismus, hat aus symbolischen Gründen ein starkes Echo im Iran gefunden: In der kurdischen Sprache hat Gina eine gemeinsame etymologische Wurzel mit dem Wort Jian, das Leben bedeutet. Gleichzeitig ist es eine Parole gegen den staatlichen Machismus, der seit mehr als vierzig Jahren im Namen des Islam die verschiedenen Mechanismen des Kapitalismus im Iran anführt: Privatisierung, die Schaffung von Freihandelszonen und Industriekorridoren, unkontrollierte Ausbeutung und die Zerstörung des Lebens von Arbeitern und verarmten Menschen. Gleichzeitig ist die Ermordung von Gina ein weiteres Beispiel für die von der Islamischen Republik unterstützten Feminizide; und schließlich ist seit dreiundvierzig Jahren die Freiheit, sowohl politisch als auch gesellschaftlich, eine der zentralen Forderungen im Iran.

Und wir warten immer noch auf Nachrichten, die aufgrund der landesweiten Blockade des Internetzuganges durch den iranischen Staat nur tröpfchenweise kommen. Währenddessen steigt die Zahl der verletzten und getöteten Demonstranten weiter an.

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Von A-Küche

Am 27.04.2022 verstarb Marcel K. an den Folgen des Polizeieinsatzes vom 20.04.2022 in Berlin Schöneweide. Die Polizei lügt und leugnet die Tat. Marcel war 39 Jahre und krank. Er hatte Krätze, oft Krampfanfälle und eine offene Wunde am Bein. Marcel trank Alkohol seitdem er 6 Jahre alt war. Er lebte auf der Straße. Oft war er in sozialen Einrichtungen untergebracht, die er aber schnell wieder verließ und in sein Kiez, nach Schöneweide, zurückehrte. Hier hatte er Freunde und fühlte sich zu Hause. Er war im Kiez bekannt, Feuerwehr, Rettungskräfte und die Polizei kannten seine Krankheiten, wussten von seinem Schmerzen. Notunterkünfte mochte er nicht, hier wurde er beklaut oder durch kleine Tiere gebissen.

Sein letztes Lebensjahr begann am 22.12.21 im Krankenhaus. Wenige Tage später wurde er mit seiner offenen Beinverletzung aus dem Krankenhaus geschmissen. Er ging zurück in den Kiez in eine Filiale der Deutschen Bank. Dort war es warm, da waren seine Freunde. Aktivist:innen kamen vorbei, brachten warmes Essen und versorgten sein Bein. Die Wochen vergingen und oft kamen die Cops und warfen die Menschen aus der Filiale. Das ärgerte ihn, denn danach war sein ganzes hab und Gut meist weg. Oft musste er auf Grund der Krampfanfälle ins Krankenhaus, das er nach einigen Tagen wieder verlassen musste. Dann beschloss die Deutsche Bank, ihre Filiale aus Sicherheitsgründen für ihre Kund:innen über den Winter zu schließen. Marcel saß nun tagsüber in der Kälte auf einer Bank und schlief mal auf einen Dachboden, in einen Hauseingang oder in einen Hinterhof. In eine Notunterkunft wollte er nie wieder, nachdem sich die Wunden der Tierbisse von dort entzündeten.

Den Aktivist:innen fiel es immer schwerer, seine Wunden auf offener Straße zu versorgen. Ins Krankenhaus wollte er nicht, denn da wurde ihm nie geholfen. In den folgenden Wochen kam es immer wieder zu kurzen Krankenhausaufenthalten, sein Bein entzündete sich immer schlimmer und er konnte kaum noch laufen. Die Polizei ging eines Nachts durch den Kiez, um obdachlose Menschen zu vertreiben. Es wurden immer weniger um ihn herum. Ende März 2022 saß er mit Freund:innen auf einer Bank und sie hörten im Radio einem Fußballspiel zu. Sie freuten sich schon auf warmes Essen, das, wie jeden Freitag, von Menschen aus dem Umland gekocht wurde. Plötzlich flogen Eier aus dem Wohnhaus gegenüber und verfehlten Marcel nur knapp. Kurze Zeit später kam die Polizei und ermahnte Marcel und die anderen wegen Ruhestörung. Er war wütend, dass die Cops nicht zum Wohnhaus sind, denn man wollte ihnen mit den Eiern wehtun. Marcel hatte Hunger und die Menschen mit dem Essen kamen zum Verteilen. Doch die Bullen gingen dazwischen und erklärten ihnen „sie möchten doch bitte wo anders Essen verteilen, die würden ja hier drauf warten und so würde man sie ja nicht los“. Außerdem wäre das jetzt eine polizeiliche Maßnahme und da wäre es „eh nicht drin“. Die Menschen drehten mit dem Essen um und Marcel musste hungrig einschlafen.

Am 16.04. gab es dann eine Kundgebung gegen die Verdrängung obdachloser Menschen in Schöneweide auf Grund dieser Vorfälle. Marcel genoss den Tag, es gab warmes Essen und gute Musik, für ihn war es eine Party. Er bedankte sich bei den Organisator:innen, besorgte eine Schachtel Pralinen für alle. Seinen Freund:innen erzählte er noch einen Tag später, dass es der schönste Tag seines Lebens war. Noch nie hatte es so eine Party für ihn gegeben.

Am 20.4 suchte er am Abend mit zwei Freunden einen Schlafplatz. Diesmal wollten sie im Innenhof der Brückenstr.1 hinter dem Waschcenter schlafen. Sie legten sich hin, Marcel trank noch ein Schluck Bier, stellte seine Flasche hin und schlief ein. Gegen 23 Uhr, wurde er durch lautes Gebrüll wach. Er und seine Freunde sprangen auf. Es war die Polizei. Marcel verspürte starken Schmerz am verletzen Bein, er schrie vor Schmerz, schmiss dabei seine Flasche Bier um. Es war ein Cop, der an sein Bein zog. Seine Freunde rannten weg. Sie konnten nur aus der Ferne zusehen wie immer mehr Cops auf Marcel einschlugen, sie setzen Pfefferspray ein. Marcel lag leblos am Boden, ein Krankenwagen wurde gerufen. Marcel wurde reanimiert und ins Krankenhaus gebracht.

In der Pressemittelung der Polizei vom 21.04.2022 stand später: „Der alkoholisierte 39-Jährige versuchte weiter, sich den polizeilichen Maßnahmen zu entziehen, litt dann aber plötzlich unter Atemnot und verlor das Bewusstsein. Die Beamtinnen und Beamten leiteten umgehend Reanimationsmaßnahmen ein und alarmierten einen Rettungswagen. So konnte er stabilisiert werden und kam mit dem Rettungswagen zur weiteren Behandlung und stationären Aufnahme in ein Krankenhaus.“

Aktivist:innen versuchten später seinen Verbleib ausfindig zu machen. Bei Anrufen in Krankenhäusern wurde Marcels Aufenthalt stehts verneint. Der Rettungsdienst behauptete, es hätte keinen Transport in ein Krankenhaus aus Schöneweide gegeben. Beim Versuch, die Tat öffentlich zu machen, wurden Aktivist:innen von der Polizei kriminalisiert. Am 2.6 erfuhren dann seine Freund:innen, dass Marcel tot ist. Er starb am 27.4.2022 an den Folgen des Polizeiangriffs vom 20.04.2022. Marcel ist tot, die Polizei hat ihn ermordet.

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#Titelbild: Malteser Obdachlosenhilfe

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