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In den Neunzigern fanden landesweit Pogrome statt. Deutschland erlebte eine rechtsradikale Welle von tödlichem Ausmaß. Rassistisch motivierte Brandanschläge und Angriffe bis hin zur Ermordung schufen ein Klima, auf dessen Grundlage sich damals eine Reihe rechtsterroristischer Organisationen überall im Land bildeten.

Dieses Jahrzehnt gilt als Gründungsjahrzehnt des Nationalsozialistischen Untergrunds, NSU. Jenes NSU, der als rechte Terrororganisation jahrelang im Untergrund leben und morden konnte. Jener NSU, dessen Akte nun 120 Jahre lang unter Verschluss ist.

Ein altes Ammenmärchen erzählt, je länger eine Akte unter Geheimverschluss gehalten wird, desto gravierender und gefährlicher ist ihr Inhalt für die innere Sicherheit einer Nation ist. Die NSU-Akte soll bis zum Jahre 2134 unter Verschluss bleiben und wohl nicht nur der Verfassungsschutz hat außerordentliches Interesse daran, dass das auch so bleibt. Zehn ermordete Menschen, fünf tote Prozesszeugen, zwei tote Täter und eine besonders schwer schuldige Frau: Fall erledigt, liebe Öffentlichkeit, der Rest geht euch nichts an.

Eine Öffentlichkeit, die sich in den Neunzigern schon kaum zu mehr hat hinreißen lassen, als zu einer Lichterkette, wenn es um Solidarität mit Migrant*innen geht, will dann auch erst mal nicht mehr wissen. So scheint es und so nimmt sie den NSU irgendwie peinlich berührt zur Kenntnis, aber denkt am liebsten nicht daran und schon gar nicht darüber nach.

Das geht solange „gut“, solange es die „Anderen“ trifft.

Jetzt hat es einen von ihnen getroffen, Walter Lübcke, einen deutschen Politiker. Und es könnte noch mindestens 25.000 von ihnen treffen. So viele stehen auf einer Liste, die vor kurzem an die Öffentlichkeit geriet. Die faschistische Organisation Nordkreuz sammelte Namen und Daten politischer Kontrahenten auf einer Feindesliste, mit dem Ziel sie auszuschalten. Auch der NSU führte solche Listen. Walter Lübckes Name stand auf einer NSU-Liste.

Der mit Kopfschuss ermordete Regierungspräsident wurde von einem Mann mit rechter Biografie und eindeutigen Verbindungen in das faschistische Milieu getötet. Der erst so geständige Täter, der sein Geständnis dann zurückzog, soll auch eventuell doch kein Einzeltäter gewesen sein. Es gibt unzählig Hinweise auf Verstrickungen und Verbindungen zu Nazi-Organisationen. Immer wieder tauchen bereits bekannte Strukturen und Schlüsselfiguren auf.

Es wirkt, als sei Deutschland ein kleines Nazidorf, in dem jeder jeden kennt.

Diesmal, so scheint es, hat die Öffentlichkeit ein etwas stärkeres Interesse an Aufklärung. „Walter Lübcke ist keine Einzeltat“, liest man nun in den Tageszeitungen oder „wurde der rechte Terror zu lange unterschätzt?“

Dreißig Jahre nach den Neunziger Pogromen, zig totgeprügelten Antifaschisten, einer Nagelbombe und einigen Erschossenen, fünf Jahre nach Pegida und eines damit einhergehenden Vernunftverlusts ganzer Landstriche, der eine Nazi-Partei ins Parlament der BRD brachte, benutzt eine Öffentlichkeit, teilweise, also endlich den Begriff »rechter Terror«.

Und fragt sich dann, ob dieser unterschätzt wurde. Und diskutiert darüber, ob die Geflüchtetenpolitik seit 2015 schuld daran ist. Oder zieht Vergleiche zu antifaschistischen Gruppen.

Es bleibt spannend, wie lange es dauern wird, bis die Öffentlichkeit feststellt, dass sie Mitschuld trägt, an Jahrzehnte langem rechten Terror. Schuld, weil sie ihren Regierungs- und Sicherheitsapparat nicht infrage stellt und vor allem sich selbst und ihren eigenen Rassismus nicht reflektiert. Schuld, weil sie ihre eigene moralische Verantwortung nicht annimmt.

Eine Öffentlichkeit die nun überrascht und schockiert, überwältigt und paralysiert, von einer rassistischen Eisbergspitze ist, braucht vielleicht auch noch 120 Jahre, bis die Volksseele ertragen kann, was in den NSU-Akten steht. Die Vehemenz, mit der ignoriert wird, dass der deutsche Regierungs- und Sicherheitsapparat mehr als nur sekundär in unzählige fragwürdige Vorgänge des rechtsterroristischen Spektrums involviert ist, dass organisierte Rassisten politische Ämter bekleiden, Polizisten und Richter, Journalisten und Lehrer sind und sich daraus eine Gefahr für die sonst so verteidigte Demokratie ergibt. Diese Vehemenz, mit der antifaschistische Aktivitäten jeglicher Art öffentlich dämonisiert werden und Faschismus relativiert wird, diese Vehemenz, ist stählerner als Kruppstahl. Solange es keinen massiven Druck zur restlosen Aufklärung rechtsterroristischer Netzwerke und keinen sichtbaren Widerstand der zivilen Öffentlichkeit gegen diese Verhältnisse gibt, solange, wird nichts passieren, das aktiv verhindern kann, dass weitere rechtsterroristische Strukturen morden.

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