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Einige Beobachtungen von Ramsis Kilani, Narges Nassimi, Eleonora Roldán Mendívil und Aida Vafajoo

Vom 12. bis zum 15. September 2019 fand das „Feminist Futures Festival“ auf dem Gelände des ehemaligen Steinkohlebergwerks Zeche Zollverein in Essen statt. Im Herzen des Ruhrgebiets ereignete sich bei spätsommerlichen Temperaturen mit rund 1500 Feminist*innen die bislang größte feministische Zusammenkunft in Deutschland. Organisiert wurde das Festival von der Rosa Luxemburg-Stiftung, dem „Konzeptwerk Neue Ökonomie“ und dem Netzwerk „Care Revolution“. Neben diesen drei Hauptorganisator*innen waren an der Durchführung des Festivals aber auch zahlreiche weitere Initiativen beteiligt.

Leider waren die meisten Workshops überfüllt, so dass man oft nicht teilnehmen konnte und die organisierten Podiumsdiskussionen ließen wenig Raum für Diskussionen. Wir hätten uns hier mehr Möglichkeiten für die Interaktion mit und aus dem Publikum gewünscht. Trotzdem ergaben sich spannende Gespräche am Rande.

Zeche Zollverein und die Kämpfe der Migration

Da Veranstaltungen, die sich feministischen oder frauenpolitischen Anliegen widmen, häufig in Berlin oder Hamburg stattfinden, war es besonders sinnvoll, dass durch das Festival auch für NRW-ansässige Feminist*innen die Möglichkeit für politische Diskussionen, auch mit internationalen Aktivist*innen, geschaffen wurde. In Gesprächen wurde jedoch deutlich, dass kaum jemandem bewusst war, wie bedeutsam das Gelände, auf dem das Festival stattfand, für die Region, die Arbeiterbewegung und die Geschichte der Einwanderung in Deutschland tatsächlich ist.

Gerade, dass darüber nicht gesprochen wurde, war für uns befremdlich. Denn wenn vom Ruhrpott mit seinen Zechen als historische Hochburg deutscher Industrie die Rede ist, dann sind nicht nur weiße, deutsche Arbeiter*innen Teil dieser Geschichte, sondern auch jene migrantischen Arbeiter*innen, die mit ihrer Arbeitskraft ab den 1960er Jahren maßgeblich zum Wiederaufbau der deutschen Wirtschaft beigetragen und auch eigene, bedeutende Arbeitskämpfe geführt haben.

Als berühmtestes Beispiel gilt der von migrantischen Arbeiter*innen getragene „Wilde Streik“ 1973 bei Ford in Köln, bei dem die Arbeiter*innen für gleichen Lohn und gleichen Umgang wie ihre deutschen Kolleg*innen kämpften. Er wurde, unterstützt von der Gewerkschaftsbürokratie gewaltsam von der Polizei angegriffen und aufgelöst[1]. Im gleichen Jahr legten migrantische Arbeiterinnen beim Automobilzulieferer Pierburg in Neuss ihre Arbeit nieder, um die Kategorie der „Leichtlohngruppe“, welche Frauen weniger verdienen ließ als Männer, anzufechten[2]. Diese Streiks waren Ausdruck davon, dass sich migrantische Arbeiter*innen nicht mehr wie Menschen zweiter Klasse behandelt lassen wollten. Auch Arbeiter in der Zeche Zollverein organisierten sich und brachten ihre Forderungen für eine gleichberechtigte Behandlung und ein Ende der Polarisierung der Arbeitsbedingungen und Löhne zwischen „deutschen“ und „ausländischen“ Arbeitern hervor. Dies ist in der Dauerausstellung im Museum Zollverein nachzulesen. Schade, dass dieser Teil der deutschen – auch feministischen – Geschichte, gerade angesichts der Aktualität der Migrationsfrage sowie Arbeitsniederlegungen mit einem hohen Anteil migrantischer Streikender[3] (außer einer kurzen Nennung in einem Workshop, in dem es um das Ruhrgebiet und die Probleme der Menschen vor Ort ging) beim Festival ausgelassen wurde.

Liberaler Feminismus

Was wollten die Feminist*innen, die sich im Rahmen des Feminist Futures Festivals zusammengeschlossen haben, erreichen? Eine solch große Veranstaltung mit der Teilnahme von unterschiedlichen politischen Spektren in Deutschland zu organisieren, ist ein wichtiger Versuch. Unser Eindruck ist jedoch, dass das Festival in seiner thematisch-inhaltlichen Ausrichtung, sowie personellen Besetzung eingeschränkt war. Der Grund dafür war, dass es insgesamt von weißen Akademiker*innen mit wenig oder gar keinem Bezug zu Fragen von Klasse, Armut und Rassismus dominiert wurde. Diese Ansicht teilten verschiedene, vor allem migrantische, nicht-weiße und ausländische Aktivist*innen[4]. An der geringen Partizipation und Repräsentation von Arbeiter*innen als Referent*innen war erkennbar, dass zwar über uns, unsere Mütter, Cousinen und Tanten gesprochen wird, aber selten mit uns.

Die tendenzielle Trennung der Frauenkämpfe von Klassenfragen und Rassismus wurde auch in der Praxis deutlich. Wenn beispielsweise Arbeiter*innen als Arbeiter*innen referiert haben (was nur in einem Panel zu migrantischer Hausarbeit vorkam), waren diese nicht aus Deutschland. Sie kannten sich dementsprechend nicht mit den Tücken der DGB-Gewerkschaften und ihrer Führungen aus und konnten keine Kritik an ihnen oder ihrer Bürokratie formulieren. Dabei gibt es hier konkrete Ansprechpartner*innen: Die Kämpfe der migrantischen Arbeiter*innen gegen die neoliberale Prekarisierung an der Alice-Salomon-Hochschule oder am Wombat’s Hostel in Berlin sind emblematische Beispiele[4]. Auch migrantischen Aktivist*innen, vor allem aus dem globalen Süden, lagen viele Steine im Weg, die ihnen eine gleichberechtigte Teilhabe an Diskussionen erschwerten. Es wurde für asylsuchende und migrantische Frauen in Deutschland keine Dolmetschung in für sie wichtigen Sprachen wie Arabisch, Türkisch, Farsi, Dari, Kurdisch oder Französisch organisiert. Der Aufruf, dies solidarisch selbst zu organisieren, mündete häufig darin, dass migrantische Teilnehmende selbst unter deutschen Feminist*innen so häufig gesprochene Sprachkombinationen wie Deutsch-Englisch-Spanisch dolmetschen mussten und somit selbst eingeschränkt waren, an einer politischen Diskussion teilzunehmen. Weiße deutsche Freiwillige zum Dolmetschen meldeten sich selten.

Die Frage, wer die Frauen und Queers eigentlich sind, über die konkret gesprochen wurde, war ein Randthema des Festivals. Gehören Ausbeutende – CEO’s, Kapitalist*innen – und ihre Handlanger*innen – Frauen und Queers bei Polizei und Armee – dazu? Diese Nicht-Benennung etabliert eine Romantisierungeiner „Schwesternschaft“. Das und die Homogenisierung von Frauen und Queers führen dazu, dass Unterdrückungsmechanismen und die unterschiedlichen Formen von notwendigen Trennungen entlang von Klassenlinien unsichtbar gemacht werden.

Rassismus im Feminismus

Unserer Erfahrung nach, schrecken linke und/oder feministische Organisationen in Deutschland meist davor zurück, offen über Rassismus, und besonders antimuslimischen Rassismus, zu sprechen. Zwar wird gerne behauptet, man sei antirassistisch, doch werden in jenen linken, feministischen Räumen so oft Rassismen reproduziert oder kleingeredet, dass nicht-weiße Personen eben dort, wo sie sich sicher fühlen sollten, kaum Gehör finden. Ein solcher eurozentrischer Feminismus mündet somit immer in einer rassistischen Praxis. Themen, die sich (neo-)kolonialen Strukturen und deren realen Konsequenzen im heutigen Kontext widmen, wie beispielsweise die Besatzungspolitik Israels, oder den verstärkten feministischen Rufen nach Hijab-Verboten (Terre des Femmes und andere) werden in linken feministischen Räumen als „kontrovers“ abgestempelt und gemieden. Wir haben diese Scheinargumente nun seit vielen Jahren gehört und wir sind es Leid, Themen die unser Leben als Migrant*innen in Deutschland zentral betreffen, wie einen Nebenwiderspruch behandelt zu sehen. Ein Feminismus, der den Anspruch hat, gesellschaftliche Strukturen zu hinterfragen, kann Rassismus und breitere Systemkritik nicht weiter ignorieren. Aus genau diesem Grund haben wir in unterschiedlichen Konstellationen unter anderem Workshops zu migrantisch-feministischer Organisierung und zu Rassismus in feministischen Strukturen in Deutschland eingereicht, um gemeinsam Wege des Zusammenarbeitens zu erörtern und feministische Räume in Deutschland zumindest für diese ersten selbstkritischen Schritte zu öffnen. Unser Ziel war es, endlich miteinander ins Gespräch zu kommen und auch andere nicht-weiße Personen zu motivieren, feministische Räume als ihre eigenen Räume zu erkennen und zu nutzen.

Die oben genannten Workshops wurden nicht angenommen. In zwei Workshops wurden jedoch ähnlich klingende Themen angeschnitten. Bei dem Workshop „Frauen*, Asyl und Solidarität“ versuchten die Teamenden von Women in Exile and Friends eine Diskussion darüber auszulösen, was wir brauchen, um feministische Räume, vor allem für Frauen und Queers mit Fluchterfahrung, weniger barrierevoll zu gestalten. Dadurch, dass der Fokus nicht explizit auf Rassismus gelegt wurde, was im Rahmen der Frage von der Teilnahme und des Protagonismus von Frauen und Queers mit Fluchterfahrung innerhalb feministischer Kämpfe eines der zentralen Hindernisse ist, kam es zu einer Aneinanderreihung und teilweise Gleichsetzung verschiedenster Unterdrückungslinien sowie Diskriminierungserfahrungen. Rassismus wurde hier nur abstrakt und nicht konkret als ein feministisches Problem, was die Teilnehmenden des Workshops betrifft, behandelt.

Ein zweiter Workshop mit dem Namen „Muslima in Deutschland“ beschäftigte sich mit der besonderen Unterdrückung, die muslimische Frauen in Deutschland erfahren. In Kleingruppen wurden zuerst Grundlagen wie die Verhandlung von Identität und Othering diskutiert. Mit der Öffnung der Diskussion wurden konkretere Probleme deutlicher. Die einzige Hijab-tragende Frau im Raum, berichtete von ihrem brutalen rassistischen Alltag; der Alltag einer Mehrheit von muslimischen Frauen in Deutschland: An der Universität für eine Putzfrau gehalten zu werden; bei Jobgesprächen gesagt zu bekommen, man habe sich für eine andere Bewerberin entschieden, nur um die selbe Stellenausschreibung dann weiterhin in der Zeitung und im Internet zu finden; im vollen Zug zu sitzen und trotzdem neben sich einen freien Platz zu sehen, den niemand nutzen will; sich als Jugendliche selbstbestimmt dazu zu entscheiden, Hijab zu tragen, aber danach in linken Strukturen, konkret der Linksjugend Solid, von weißen Deutschen gemieden und isoliert zu werden. Diese Erfahrungen wurden auch auf dem Feminist Futures Festival gemacht: Auch hier hätte sie sich meist alleine wiedergefunden. Die Reaktion der Anwesenden war bezeichnend: Zwar wurde nach den Ausführungen geklatscht und gesagt, dass weiße Deutsche in solchen Situationen migrantischen Frauen in erster Linie zuhören sollten, gleich darauf nahm die Rededominanz weißer Aktivist*innen, selbst in diesem Workshop, aber wieder zu. Als von einer Migrantin mit ägyptischem Hintergrund angemerkt wurde, dass sie den Begriff „bio-deutsch“, den eine weiße Teilnehmende statt weiß verwendete, problematisch findet, entgegnete diese ihr mit einem scharfen „Ich kenne aber keinen anderen Begriff und benutze ihn!“ und redete weiter. Es gab anscheinend kein Interesse daran, zu erfahren, warum „bio“ von „biologisch“ kommt und somit einer Rassenlogik entspricht, anstelle von weiß als gesellschaftlicher Kategorie zu sprechen, was eine soziale Realität in einer rassistischen Gesellschaft beschreibt. Über eine Aneinanderreihung von rassistischen Problemen kam also auch dieser Workshop nicht hinaus. Ein Raum, in dem muslimische Aktivist*innen offen und direkt kritisieren und auch Antworten verlangen konnten, entstand nicht.

Wir fragen uns: Warum fällt es der Mehrheit von weißen Feminist*innen häufig so enorm schwer, offen über Rassismus zu sprechen? Es ist leichter, sich einfach abstrakt „antirassistisch“ zu nennen, mal auf eine Demo zu gehen und somit auf der richtigen Seite zu sein, ohne dafür konkret irgendetwas getan zu haben. Vorschläge, noch mehr Workshops zu Kritischem Weißsein in mehrheitlich weißen Strukturen durchzuführen, wie wir immer wieder hörten, setzen aus unserer Sicht an der falschen Stelle an. Denn diese Konzepte gehen zwar von strukturellen Problemen aus, aber begegnen ihnen mit im Grunde individualistischen Lösungen à la „Verändere dein Bewusstsein!“ und führen kaum zu einer Veränderung der Praxis dieser Gruppen, noch zu einem Verständnis der Funktion von Rassismus im Kapitalismus und damit zu einem antikapitalistischem Antirassismus mit Migrant*innen als zentralen Protagonist*innen. Wir denken, dass es bei einem gelebten Antirassismus um eine klare politische auch feministische Praxis gehen muss. Und diese setzt an in der Analyse, was Rassismus in Deutschland 2019 überhaupt ist.

Für einen internationalistischen, antiimperialistischen Feminismus – auch in Deutschland

Lichtblicke des Festivals waren Teilnehmende, die ähnliche Kritiken formulierten. Bei dem Workshop „Frauen*Streik international“ am Samstag Abend konnte ein Raum geschaffen werden, um zu diskutieren, was Internationalismus bedeutet und in dem die Anwesenden gängige Probleme aufzeigen konnten. Zwei der zentralen Themen war die Frage von Rassismus in feministischen Räumen sowie die Schwierigkeiten, den meisten deutschen Feminist*innen ein Bekenntnis zu Antikolonialismus und Antiimperialismus abzuringen. Viele der über 100 Teilnehmenden des Workshops bekräftigten die Notwendigkeit, genau diese Diskussion weiterzuführen. Nachdem wir in Erfahrung gebracht hatten, dass Internationalismus und die Wege dorthin als Diskussion nicht bei der Abschlussveranstaltung Platz finden würden, beschlossen circa 50 Teilnehmende zeitgleich zur Abschlussveranstaltung ein Alternativtreffen zu organisieren und alle dazu einzuladen. Hieraus entstanden wiederum neue internationalistische Initiativen, die unter anderem in konkreten Netzwerktreffen in Berlin im Oktober im Rahmen des Antikolonialen Monats[5] an einer weiteren Zusammenarbeit feilen werden, sowie eine Solidaritätsaktion mit den zu bis zu 18 Jahren verurteilten Arbeiter*innen und Aktivist*innen der Haft-Tapeh Zuckerfabrik im Iran[6].

Den Organisierenden des Festivals ging es mit einer wohlwollenden Auslegung um einen antineoliberalen Intersektionalismus. Diese Analyse lässt sich an einigen Beispielen verdeutlichen. Unter dem Titel „Für eine feministische Klassenpolitik!“ stand zum Beispiel im Programm: „Ein Klassenpolitischer Feminismus will eine Antwort auf die neoliberale Politik sein, er will Antworten auf Konkurrenz, soziale Spaltung und die Angriffe auf die sozialen Infrastrukturen finden.“ Es ist sehr wichtig, sich gegen den Neoliberalismus zu stellen, vor allem für Feminist*innen. Denn die neoliberale Ordnung ist mit massiven Privatisierungen und einem Abbau der Sozialleistungen weltweit verbunden, die zuallererst und am härtesten arme Frauen und Queers treffen. Er führt ferner zu mehr und schlechter bezahlten, unsicheren Lohnarbeitsverhältnissen sowie zu mehr unbezahlter Reproduktionsarbeit für Arbeiter*innen. Sicher muss sich ein Feminismus der Unterdrückten gegen den Neoliberalismus wenden. Die entscheidende Frage ist jedoch unserer Ansicht nach strategischer Natur: Wohin wollen wir statt zum Neoliberalismus? Zurück zum Wohlfahrtsstaat, unter dem extreme Armut zwar tendenziell minimiert, aber nicht grundsätzlich abgeschafft werden kann? Wir verteidigen die Errungenschaften des Wohlfahrtsstaates und kämpfen für mehr Zugänge für die besonders verarmten Teile unserer Klasse. Wir teilen jedoch die sozialdemokratische Illusion des „Kapitalismus mit einem humanitärem Gesicht“ nicht.

Die inhaltiche Ausrichtung des Festivals deutet aber genau in diese Richtung. Es war geprägt von Themen wie Sorgearbeit, also Arbeit in der Pflege, Erziehung, Fürsorge, etc. Diese Arbeit ist zu Hause und im Job überproportional weiblich und besonders prekär. Die Unterdrückung und Ausbeutung von Frauen und queeren Menschen geht aber über diese Frage hinaus. Wir werden den patriarchalen, rassistischen Kapitalismus nicht allein mit einer „Care-Revolution“ besiegen, sondern mit einer sozialen Revolution, deren Subjekt die in ihrer Universalität und Zentralität erkannte gesamte Arbeiterklasse in Produktion und Reproduktion sein muss. Das heißt, es ist ein Programm notwendig, das nicht beim Organizing und der Kritik an geschlechtlich aufgeteilter reproduktiver Arbeit stehen bleibt. Wir müssen in der Lage sein, tatsächlich mit der gesamten Arbeiterklasse Kämpfe zu Ende zu führen und zu gewinnen. Dies schließt auch das Stellen der Machtfrage mit ein. Darin spielen Frauen und diejenigen, die in Sorge- und Pflegeberufen arbeiten, eine zentrale Rolle: Sie sind oft, wie im Pflege- oder Reinigungssektor, die Avantgarde der gesamten Arbeiterklasse, die Risiken eingehen, um andere Sektoren mitzunehmen[7]. Politische Kämpfe, wie der internationale Frauen*streik, sind eng verbunden mit der Arbeiterklasse als Subjekt. Und dies wollen wir wieder ins Zentrum unserer Politik rücken. Wir kämpfen für eine Welt ohne Ausbeutung und Unterdrückung. Wir wollen der Aneignung des Produkts der Mehrarbeit der Arbeiterklasse durch die Kapitalistenklasse und der Diskriminierung und der Angst um das eigene Leben –- als Ausländer*in, Trans*, etc. – ein Ende setzen.

#Titelbild: Solifoto für die Arbeiter*innen und Aktivist*innen von Haft Tapeh

Über die Autor*innen:

Ramsis Kilani ist palästinensischer Sozialist und Mitglied beim SDS. Sein politischer Fokus liegt auf Antirassismus und antikolonialen Befreiungskämpfen.

Narges Nassimi ist kurdische Feministin aus Rojilat und Mitbegründerin der internationalen, sozialistischen Frauenorganisation Brot und Rosen in Deutschland.

Eleonora Roldán Mendívil ist Marxistin und arbeitet als Journalistin und Freie Bildungstrainerin zu Rassismus, Geschlecht und Kapitalismuskritik. Sie ist im Frauen*Streik Komitee Berlin aktiv.

Aida Vafajoo ist Sozialistin und Feministin mit iranischen Wurzeln und studiert Soziologie/Politikwissenschaft.

[1] https://www.klassegegenklasse.org/interview-die-gastarbeiterinnen-bei-angela-merkel/

[2] https://revoltmag.org/articles/empowerment-und-klassenkampf-gegen-den-rassismus-des-kapitals/; https://de.labournet.tv/video/6489/pierburg-ihr-kampf-ist-unser-kampf

[3] Zum Beispiel: https://www.jungewelt.de/artikel/362525.agrarproduktion-streik-im-gew%C3%A4chshaus.html

[4] https://www.klassegegenklasse.org/interview-maya-john-den-intersektionalen-feminismus-hinterfragen/

[5] https://www.facebook.com/pages/category/Cause/Anticolonial-Berlin-111417073575130/

[6] https://www.klassegegenklasse.org/free_iran_workers-internationale-solidaritaet-vom-feminist-futures-festival-deutsch-english-farsi/

[7] https://www.klassegegenklasse.org/alle-sind-teil-der-universitaet/

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Kommentar

Eine Schwarze Frau wird laut Aussage ihres Sohnes von einem Mitbewohner in einem Flüchtlingslager niedergeschlagen und weggeschleppt. Vor Ort will die Polizei Tage nach dem Verschwinden der jungen Mutter keine Vermisstenanzeige aufnehmen. Eine Suchmeldung wird erst knapp drei Wochen später eingeleitet. Über ihren Tod und den Rassismus bei deutschen Behörden will fast keiner sprechen.

Seit dem 7. April 2019 wurde die 32-jährige Kenianerin Rita Awour Ojunge vermisst. Sie lebte im Flüchtlingslager Hohenleipisch, Landkreis Elbe-Elster in Süd-Brandenburg, das von der Firma „Human Care“ betrieben wird. Ritas Sohn erzählte seinem Vater, der in Berlin lebt, sowie gegenüber Helfer*innen, dass ein Mitbewohner des Lagers seine Mutter am Tag ihres Verschwindens niedergeschlagen und weggeschleppt habe. Der Vater des Jungen hatte die Polizei vor Ort am 10. April verständigt, um eine Vermisstenanzeige aufnehmen zu lassen, wurde von dieser aber abgewimmelt. Erst als er die Berliner Behörden kontaktierte und diese wiederum die Polizei in Elbe-Elster anriefen, wurde eine Anzeige aufgenommen. Dabei hatte der Vater darauf hingewiesen, was der Sohn am Tag des Verschwindens seiner Mutter gesehen hatte. Der Mitbewohner war der Lagerleitung bekannt – er habe schon vor dem Verschwinden der Kenianerin Probleme gemacht, was Rita der Leitung auch mitteilte. Trotz dieser Hinweise gab die Polizei erst am 25. April eine Suchmeldung raus. Ritas Sohn wurde erst am 30. April vernommen.

Bis zum 9. Mai ging die Polizei anscheinend nicht von einem Verbrechen aus, weswegen Ritas Verschwinden weiterhin als Vermisstensache behandelt wurde. Erst durch weiteren Druck des Vereins Opferperspektive und einer von ihnen erstatteten Anzeige am 10. Mai wegen eines Tötungsdeliktes änderte sich das. Bis der Wald um das abgelegene Lager umfangreich von der Polizei abgesucht wurde, dauerte es aber noch rund einen Monat und benötigte den zusätzlichen Druck des Vaters. Nach all der Zeit, in der Rita als vermiss galt, wurden ihre skelettierten Überreste erst am 20. Juni in einem benachbarten Waldstück des Lagers gefunden. Die Leiche hatte zweieinhalb Monate in der Nähe ihres Wohnorts gelegen – obwohl die Polizei hier angeblich die ganze Zeit nach ihr gesucht hatte. Der Mitbewohner, den Ritas Sohn belastete, wurde wohl nach Protesten weiterer Mitbewohner*innen in ein anderes Lager verlegt. Weitere Konsequenzen sind nicht bekannt.

Nicht nur durch die Behörden, auch in den Leitmedien ist die Haltung bezüglich Ritas wahrscheinlich gewaltsamen Todes bestimmt durch Desinteresse. Intensive Recherchen fehlen in weiten Teilen der Presselandschaft. Lediglich die Junge Welt und die TAZ berichteten ausführlicher über ihren Tod.

Es handelt sich dabei nicht um einen Einzelfall. Der Umgang deutscher Behörden mit migrantischen und nicht-weißen Gewaltopfern zeugt von behördlichem, bzw. institutionellem Rassismus. Das zeigt der NSU Komplex genauso wie viele fast schon alltägliche Fälle von Gewaltverbrechen gegenüber Ausländer*innen und Menschen, die für Ausländer*innen gehalten werden.

Als zum Beispiel in Essen Mitte Juni ein Polizist auf Adel B. schoss, hieß es zunächst, dieser sei angeblich auf die Beamten gestürmt. Durch ein Handy-Video (welches kurzzeitig verschwunden war, nachdem die Polizei das Handy in den Händen hatten, aber online wieder auftauchte) weiß man jetzt, dass es genau anders herum war; die Polizisten preschten vor und ermordeten Adel. Oder der Mord an Hussam Hussein: 2016 wurde der irakische Asylsuchende vor einer Flüchtlingsunterkunft in Berlin-Moabit von einem Polizisten erschossen – er soll angeblich ein Messer in der Hand gehabt haben. Erst jetzt, drei Jahre später, werden Zweifel an der damaligen Darstellung der Staatsanwaltschaft öffentlich benannt. Auch Amad Ahmad und William Tonou-Mbobda sind in jüngerer Vergangenheit in staatlichen Institutionen gestorben – im Knast und in einem Krankenhaus. Die Aufarbeitung und Berichterstattung in Anbetracht ihres Todes völlig unzureichend.

Das sind nur einige jener Fälle, die in der letzten Zeit mehr Aufmerksamkeit erhielten. Viele weitere Schwarze und/oder migrantische Tote und Ermordete in staatlichen Einrichtungen bleiben anonym.

Wenn ein*e weiße*r Deutsche*r jedoch zum Opfer wird, sieht das meist ganz anders aus. Weißes Leben scheint in dieser Gesellschaft sehr viel mehr „Wert“ zu haben als nicht-weißes. Wäre das anders, würden ernstzunehmende Konsequenzen z.B. für Polizist*innen, die für den Tod Schwarzer und/oder migrantischer Menschen verantwortlich sind, folgen. Ermittlungen würden schneller (oder überhaupt) laufen, die Medien würden Morde an Migrant*innen und institutionellen Rassismus klar benennen.

Das tun sie aber nicht, im Gegenteil. Kommerzielle Berichterstattung trägt ihren Teil dazu bei, oben genannte Fälle gar nicht oder nur widerwillig und langsam aufzuarbeiten.

So auch bei Rita Awour Ojunge. Wahrscheinlich wären die polizeilichen Ermittlungen viel schneller verlaufen, wenn Rita keine schwarze Frau gewesen wäre. Die Aussagen des Sohnes hätten mehr Aufmerksamkeit bekommen. Es hätte weniger Druck von außen gebraucht, die Polizei wäre zügiger von einem Verbrechen ausgegangen. „Human Care“ hätte aus ihrem Namen Programm gemacht.

Ganz offen zeigt sich in Fällen, wie dem von Rita, institutioneller Rassismus. Benannt wird er aber nicht. Hinterfragt und kritisch beleuchtet werden die Ursachen ihres Todes – welcher nicht losgelöst werden darf von der Zwangssituation, in die sie der Deutsche Staat steckte: Sich in einem Lager Mitten im Nichts, ohne Kontakt zur Außenwelt aufhalten zu müssen – nur von wenigen. Wäre Rita eine weiße Frau gewesen, hätte ihr Verschwinden es sicher in die 20 Uhr Nachrichten beim Ersten geschafft.

Institutioneller und struktureller Rassismus bleiben in Deutschland Alltag. Polizist*innen ermitteln in Fällen von Schwarzen und/oder Migrant*innen nur langsam oder überhaupt nicht (oder lügen, wie im Fall von Oury Jalloh, um eigene Verbrechen zu verschleiern), Medien berichten kaum oder gar nicht darüber. Rassismus wird dadurch unsichtbar gemacht.

Trotzdem ist er da, der Rassismus. In der Gesellschaft, in allen Organen und Institutionen des Staates und in den Medien. Der Versuch, ihn zu verschweigen oder ihn nur halblaut zu benennen, macht ihn nicht weniger gefährlich.

# Titelbild: Bahnhof Hohenleipisch, https://de.m.wikipedia.org/wiki/Datei:Bahnhof_Hohenleipisch_14_Apr_2018_P1120420.jpg

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In Berlin treffen wieder zwei Lager aufeinander. Es geht um Rassismus, um Kolonialismus und um die Frage was linke Politik eigentlich in Deutschland heute bedeutet. Dies mal geht es aber auch darum, welche queeren Menschen das Recht haben, im öffentlichen Raum Kämpfe zu führen und zu verteidigen. Wir waren auf dem diesjährigen Radical Queer March in Berlin und haben die Diskussionen im Vorhinein, die Situation vor Ort und die Debatten im Nachhinein verfolgt.

Am vergangenen Samstag fand um 12 Uhr der kommerzielle 41. Cristopher Street Day (CSD) Marsch in Berlin mit mehr als einer Millionen Teilnehmenden vom Kurfürstendamm bis zum Brandenburger Tor statt, bei dem, wie jedes Jahr, unter anderem der obligatorische USA-Truck vertreten war. Daneben wurde um 18 Uhr auch zu einem alternativen „Radical Queer March“ aufgerufen, der vom Mariannenplatz im Herzen Kreuzbergs startete. Vor der Demo kam es jedoch zu Antisemitismus-Vorwürfen gegenüber möglichen Teilnehmenden.

Nachdem am 15. Juli, auf Facebook Bodo Niendel auf der Seite des Radical Queer March Berlin die Frage stellte, wie sich Organisator*innen des Radical QueerMarch zu Antisemitismus verhalten würden und ob Aktiven der Kampagne Boycott, Divestment and Sanctions (BDS) die Teilnahme untersagt werden würde, brach eine große Diskussion aus. Die Organisator*innen des Radical Queer March bezeichneten dabei BDS und dessen Aktive platt und ohne Argumentation als antisemitisch.

Alle Radikalen Queers, die sich solidarisch mit Palästina zeigen und BDS unterstützen seien Antisemit*innen, und deshalb auf der Demo nicht willkommen und würden auch aktiv ausgeschlossen werden, hieß es.

BDS ist eine gewaltfreie Bewegung, die von hunderten zivilgesellschaftlichen Organisationen in Palästina ins Leben gerufen wurde, um den Boykott, den Abzug von Investitionen und Sanktionen gegenüber dem israelischen Staat gemäß Internationalem Recht durchzusetzen. Die Kampagne fordert das Ende der illegalen Besatzung palästinensischer Gebiete, die 1967 von Israel besetzt wurden, sowie die Gleichberechtigung für Palästinenser*innen und Israelis in Israel selber. Auch kämpft die Kampagne für das Recht, dass vertriebene Palästinenser*innen wieder in ihr Land zurückkehren dürfen und nicht verstreut und entrechtet, teils unter menschenunwürdigen Bedingungen in Flüchtlingslagern zusammengepfercht überleben zu müssen. BDS wird von zahlreichen Organisationen, die für soziale Gerechtigkeit einstehen, sowie von antirassistischen Kämpferinnen wie den Marxistinnen Angela Davis und Tithi Bhattacharya aktiv unterstützt.

Als Antwort auf diese Ausladung und Gleichsetzung von BDS mit Antisemitismus, formte sich daraufhin kurzfristig ein Queers for Palestine Block, der zur aktiven Teilnahme antikolonialer und antiimperialistischer Queers und Freund*innen aufrief. Hierauf gab es zwei unterschiedliche Reaktionen. Auf der einen Seite befürworteten einige die Ausladung durch den Radical Queer March und bezeichneten BDS Befürworter*innen als Rassist*innen. Sie forderten zudem, die Ausladung von Palästina-solidarischen Queers aufrechtzuerhalten. Um dies zu unterstreichen wurden unter anderem Bilder von nackten, verpügelten queeren Palästinenser*innen gepostet. Auch wurden jüdische Befürworter*innen von BDS offen als Nazis bezeichnet. Auf der anderen Seite, wurde von mehrheitlich Jüden*innen, Araber*innen und andere nicht-weißen Menschen immer wieder betont, wie BDS in einer Tradition antikolonialer und antirassistischer Boykott-Bewegungen steht und wie die platte Unterstellung des Antisemitismus in die zionistische Logik einer jüdisch-Ashkenazim, also weiß-vorherrschaftlichen udn kolonialen Ideologie des israelischen Staates spielt, der jede Kritik an seiner Entstehung und Politik als „antisemitisch” zurückweist.

Dieser unbegründete Antisemitismusvorwurf wurde als erneuter Versuch gewertet, Stimmen zum Schweigen zu bringen, die sich solidarisch mit dem palästinensischen Befreiungskampf zeigen – dieses Mal von queeren palästinensischen und jüdischen Menschen.

Am 25. Juli veröffentlichten die Organisator*innen des Radical Queer March eine Stellungnahme, in der sie sich für „die pauschale, undifferenzierte Gleichsetzung vom BDS mit Antisemitismus“ entschuldigten. Dennoch würden sie „bestimmte Methoden und Argumentationsgänge von Teilen des BDS […] durchaus kritisch“ sehen und stuften diese – wieder ohne genauere Beispiele oder Argumente – „als eindeutig antisemitisch“ ein. „Vergleiche von der israelischen Politik mit dem deutschen Nazi-Regime sowie die Art und Weise, wie der pinkwashing-Vorwurf gegen Israel vorgebracht wird“ gehörten für sie dazu.

Pinkwashing in Israel

Pinkwashing ist eine Propaganda-Taktik, bei der vor allem westliche Staaten LGBTQI* Rechte für ihre Staatspropaganda bzw. offizielle Demokratie-Marketingkampagnen, sowie als Rechtfertigung für Krieg und Vertreibung missbrauchen. Dadurch soll ihr Image als progressive und liberale Nationen gefördert und von Staatsrepression, Menschenrechtsverletzungen und struktureller Unterdrückung abgelenkt werden. Israel betreibt schon seit Jahren eine Politik des Pinkwashings. Sie lenken von ihren rassistischen und menschenverachtenden Verbrechen gegenüber Palästinenser*innen und anderen nicht-weißen Bevölkerungen in Israel ab und verschleiern so die konstante Besatzungssituation in Palästina. Dabei werden gezielt Palästinenser*innen, sowie andere benachbarte arabische, mehrheitlich muslimische Länder als besonders homo- oder transphob dargestellt. Hier steckt eine Ziviliationslogik dahinter, in der Israel sich als Verfechter von LGBTQI* Rechten – im Sinne des Westens – darstellt, gleichzeitig aber LGBTQI* Palästinenser*innen ermordet und sie ihres Landes beraubt.

Im Sommer 2014 wurden bei den Angriffen auf Gaza mindestens 2200 Menschen getötet. Darunter waren palästinensische Lesben, Schwule, Trans und Queers. Durch den Missbrauch von LGBTQI*-Rechten legitimiert der israelische Staat seine Position als Besatzungsmacht und damit auch die Entrechtung der „rückständigen und queer-feindlichen“ Palästinenser*innen. Erst im Juli hat der israelische Staat, palästinensische Häuser in Ostjerusalem zerstört, um die Bewohner*innen aus der Stadt zu vertreiben zum Beispiel.

Weißsein und (Anti)Rassismus

Während des Radical Queer Marches hat sich offenbart, um welche Radikalität es geht. Der Queer for Palestine Block war mit einer antirassistischen und queeren Politik präsent und stellte sich aktiv gegen koloniale Besatzungen und Kapitalismus, was durch viele Sprechchöre in diesem Sinne deutlich wurde. In diesem Block waren überwiegend nicht-weiße LGBTQI* sicht- und hörbar, während beim Radical Queer March die weiße Mehrheit sich, von diesen unliebsamen „Anderen“ zu distanzieren suchte.

Eine der Demostrierenden, Leil Zahra Mortada, beschrieb die Situationfolgendermaßen: „Ich ging den ganzen Marsch umher, zur erwarteten Weißen Vorherrschaft; im Gegensatz zum Queers for Palestine Block, der eine schöne und herzerwärmende Mischung aus Queers und unseren Verbündeten war. Queers, die weiß, Schwarz, Braun, PoC [People of Color, lcm], Latinx, Migrant*innen, Asylsuchende, Palästinenser*innen, Israelis, Jüd*innen, Türk*innen, US Staatsangehörige, Iraner*innen, Indigene, Undokumentierte, Sexarbeiter*innen, Anarchist*innen, Antifa…“ sind.

Was beim Radical Queer March wirklich passierte

Als kurz bevor der Radical Queer March losging hat eine Person versucht, Plakate mit der Aufschrift „Queers for a free Palestine. Fight against: racism, islamophobia, homo/transphobia, antisemitism, apartheid!“ (Queers für ein freies Palästina. Kampf gegen Rassismus, Islamophobie, Homo-/Transphobie, Antisemitismus, Apartheid!) herunterzureißen. Doch queere nicht-weiße und jüdische Aktivist*innen haben sich gegen diese physische Gewalt zur Wehr gesetzt. Der Versuch der Einschüchterung war nicht erfolgreich. Nach kurzer Zeit des Laufens erschienen zahlreiche Polizist*innen in kompletter Kampfausrüstung und schnitten mit einer Kette den Queers for Palestine Block und die dahinter laufenden Demonstrant*innen vom kurzen Frontblock ab. Die Organisator*innen des Radical Queer March gaben der Polizei an, dass der Queers for Palestine Block nicht zum Radical Queer March gehöre und nicht willkommen sei. So forderte die Polizei von dem bis dahin auf 500 Menschen angewachsenen Queers for Palestine Block, den Radical Queer March durchlaufen zu lassen, während der Weg für den antikolonialen Block versperrt blieb. Die Demonstrierenden des Queers for Palestine Blocks forderten jedoch ein, weiterlaufen zu dürfen. Die Parole „it’s not radical to call the police“ (Es ist nicht radikal, die Polizei zu rufen) hallte durch die Reihen. Diese hoch angespannte Situation hätte sehr leicht eskalieren können und zu Verletzungen und Ingewahrsamnahmen von Demonstrant*innen führen können. Auch Menschen ohne gesicherten Aufenthaltsstatus und Menschen ohne Papiere, die sich im antikolonialen Block aufhielten hätten ernsthafte Konsequenzen hieraus bekommen können.

„Indem du die Polizei rufst, hast du dich weiter in rassistische und fremdenfeindliche Politik vertieft, den nicht-weißen Körper als den gefährlichen, nicht gebändigten, hasserfüllten und unzivilisierten“ darzustellen, so Leil Zahra. Nach einiger Zeit der Angst und Verwirrung, dämmerte es wohl den Organisator*innen des Radical Queer March, dass es politisch katastrophal ist, die Bullen auf die wenigen nicht-weißen Teilnehmer*innen einer „linken“ Demo zu hetzen. Die Polizei zog jedoch erst ab, als sich der Radical Queer March ohne den Queers for Palestine Block bereits weiterbewegt hatte. Der Radical Queer March ließ also einen großen Block von antirassistischen, antikolonialen und antiimperialistsichen mehrheitlich nicht-weißen Queers allein mit der Polizei zurück. Jegliche Behauptungen im Nachhinein, die Organisator*innen des Radical Queer March hätten die Polizei nicht gerufen ist somit irrelevant, da sowohl im Vorhinein in Sozialen Medien genau der Rückgriff auf die Repressivkräfte des Deutschen Staates angekündigt wurde, als auch die Tatsache, dass bei der Polizeikette keine*r der Organisator*innen des Radical Queer March eingeschritten ist für sich spricht.

Das erste Gefühl welches sich im Queers for Palestine Block breit machte war, trotz niedriger Erwartungen, Fassungslosigkeit. Wie konnten diese selbsternannte radikalen Queers die Polizei auf Migrant*innen, Asylsuchende und andere hetzen? In der deutschen Polizeigeschichte sind zahlreiche rassistische Angriffe und Morde an Schwarzen, migrantischen, asylsuchenden, Trans und queeren Menschen bekannt. Hätte man wirklich einen Dialog führen wollen, dann hätte im Vorhinein ein Plenum einberufen werden müssen um sich argumentativ auszutauschen und die Frage zu stellen: Was bedeutet queere linke Politik heute? Die Organisator*innen des Radical Queer March entschieden sich jedoch dafür, mit dem repressiven Staatsapparat gegen „die Anderen“, die Ausländer*innen, die Unliebsamen zu arbeiten.

Dies ist nicht nur ein Verrat an radikale queer-feministische Politik, sondern auch ein Verrat an die einstigen Aufstände gegen brutale Polizeirazzien und Repressalien in Stonewall Inn 1969, die die Geburtsstunde für die weltweite radikale Lesben- und Schwulenbewegung war. Denn hier waren es proletarische Schwarze und Latinx Queers – mitunter viele Sexarbeiter*innen –, die sich gegen die rassistische, homo- und transfeindliche Politik der Stadt New York aktiv zur Wehr setzen.

Bis Redaktionsschluss gab es keine Stellungnahme des Radical Queer March Berlin zu den Geschehnissen am Samstag. In den Sozialen Medien regnet es jedoch nur so von Rechtfertigungen, die es leider auch in linke Medien schaffen, wie ein tatsachenverdrehender Artikel im neuen deutschland zeigt.

Wir müssen uns organisieren!

Insgesamt war der Queers for Palestine Block spontan und kurzfristig ins Leben gerufen worden. Folglich war dieser recht unorganisiert. Die Menschenmasse war recht lose, und unkontrolliert. Es gab auch keine klaren Ansagen. Der antikoloniale Block hat es jedoch immer wieder geschafft, sich zu sammeln. Improvisierte Parolen wurden genauso gerufen wie alt-bekannte aus der antipatriarchalen, antikapitalistischen und Palästina-solidarischen Bewegung. Trotz aller Hindernisse entstand so ein Gefühl des starken kollektiven Zusammenhaltes. Der Queers for Palestine Block wurde außerdem immer größer, da auch Teilnehmende des Radical Queer March sich ihm anschlossen.

Das anarchistisch-feministische Hausprojekt Liebig34 zeigte sich solidarisch und sagte die After-Demo-Party des Radical Queer March kurzerhand ab, da sie die Zusammenarbeit mit der Polizei und schon gar nicht diese für die Durchsetzung der eigenen politischen Ziele zu nutzen tolerierten. Auf Twitter schrieben sie: „Keine Bullen bei Pride! Wir denken nicht, dass es Zeit für eine Party ist, nach dem, was heute in #radicalqueermarch passiert ist. Also sagen wir die Party bei #Liebig34 ab.“

Ein voller Erfolg: Doch wie geht es weiter?

Trotz der unsicheren Situation, und der möglichen Gewaltaussetzung in dieser Demo, versammelten sich viele mutige Menschen, die ihre gelebten Realitäten von Rassismus und kolonialer Unterdrückung und Ausbeutung nicht länger von weißen linken, selbsternannten Radikalen bestimmen lassen und zum Schweigen gebracht werden wollten. Das wahre Gesicht der heuchlerischen weißen, mal sich „antinational,“ mal „antideutsch“ nennenden Linken ist an diesem Tag deutlich zum Vorschein gekommen.

Letzten Samstag konnte jedoch auch gezeigt werden, dass palästinensische, jüdische, pro-palästinensische und solidarische Stimmen mit antikolonialen Kämpfen nicht länger zum Schweigen gebracht und ausgeschlossen werden können. Auch und vor allem nicht in queeren und feministischen Räumen. Die Organisator*innen des Queers for Palestine Block sind überwiegend queere Frauen*, die sich aktiv für ein freies Palästina einsetzen und in verschiedenen politischen Gruppen arbeiten. Weitere Aktionen sind in den kommenden Wochen und Monaten geplant. Nach der Demonstration wurde in einer großen Feedback-Runde Ideen gesammelt, wie eine Demonstration kontrollierter und organisierter verlaufen müsste, wie man sich besser vernetzen kann und welche konkreten Methoden, Strategien zur Mobilisierung genutzt werden können.

Für weitere Vernetzungen, Aktionen und Informationen kann man sich mit den Organisator*innen über die Facebook-Seite Palästina spricht Palestine speaks oder auch mit Berlin Against Pinkwashing in Verbindung setzen.

Der Radical Queer March war nicht radikal. Deutsche Linke haben versucht marginalisierte und antikoloniale Stimmen zu ächten, zu verbannen, zu kriminalisieren, zum Schweigen zu bringen und sind letzten Endes daran gescheitert. Radikal bedeutet nun mal die Probleme an der Wurzel packen, und zwar feministisch, antikolonial, antiimperialistisch und antirassistisch. Alles andere ist Heuchelei.

# Titelbild: Queers for Palestine beim Radical Queer March Berlin am 26. Juli 2019, http://bds-kampagne.de/wp-content/uploads/2019/07/Radical-Queers-March-2019-mit-Pal%C3%A4stinenserinnen-und-Fahne.jpg

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Am 14. Juni 2019 fand in der Schweiz ein landesweiter Frauen*streik statt. Zwischen 200.000 und einer halben Million Menschen wurden auf die Straße mobilisiert. Insbesondere in Zürich, wo laut offiziellen Angaben 160.000 Menschen demonstrierten, fand die größte Demonstration in der jüngeren Schweizer Geschichte statt. Noch nie haben linke Kräfte etwas ähnlich Großes erlebt. Ein Monat nach dem Streik, sprach unsere Autorin mit einer Aktivistin vom Revolutionärem Aufbau Zürich (Aufbau). Unsere Interviewpartnerin ist seit 30 Jahren politisch aktiv und fast genauso lang im Aufbau organisiert. Der Aufbau hat den Frauen*streik von Beginn an, seit Oktober 2018, in Zürich mitorganisiert. Das Interview gibt einen ersten, eher deskriptiven Einblick in die Dynamik und den Ablauf dieser großen Kampagne. Eine vertiefte Analyse und strategische Einordnung der Erfahrungen ist in Arbeit.

Für den Hintergrund: Der internationale Frauenkampftag wird seit über 100 Jahren weltweit immer am 8. März begangen. Warum ist es in der Schweiz der 14. Juni?
In Zürich führen wir seit gut 30 Jahren am internationalen Frauenkampftag eine unbewilligte revolutionäre Frauendemonstration durch, dieses Jahr mit ca. 3000 Frauen. Wir hatten also zusätzlich den Frauen*streik. Der 14. Juni ist das historische Datum des Frauenstreiks 1991, als völlig überraschend eine halbe Million Frauen schweizweit auf der Straße waren. Ausgelöst hatten ihn Uhrenarbeiterinnen. Insofern ist das Datum im kollektiven Gedächtnis verankert

Ab wann wurde in der Schweiz für einen Frauenstreik am 14. Juni 2019 mobilisiert und wie fand dies statt?
Die Initiative wurde im Sommer 2018 in der französischen Schweiz von der Gewerkschaftslinken ergriffen. Die einberufenen Sitzungen – offene Plena – wuchsen sprunghaft, bald gab es in allen französischsprachigen Kantonen Streikkollektive. In der Deutschschweiz wurde das kopiert. In Zürich war das monatliche Vernetzungstreffen der zentrale Ort, wo Gruppierungen und Einzelpersonen zusammen kamen. Die Plena waren sehr wichtig, sie hielten das Thema am Leben, als sich noch nicht alle dafür interessierten. Aus ihnen heraus wurde Öffentlichkeitsarbeit geleistet, Texte verfasst, wir haben dem Tag einen Rahmen gegeben, in welchem die Aktivist*innen ihre Aktionen durchziehen konnten.

Die große Beteiligung verdankt der 14. Juni aber natürlich der Tatsache, dass überall über den Frauenstreik diskutiert wurde; bei geschlossenen Sitzungen zwischen Arbeitskolleg*innen oder Schüler*innen und Studierenden wie auch in den öffentlichen Verkehrsmitteln. Je näher der Tag selber kam, desto dezentraler wurde im eigenen Nahbereich organisiert. Der Streik-Vorschlag wurde gehört, nicht unbedingt befolgt, aber thematisiert, z.B. sahen sich fast alle Bosse genötigt, Stellungsnahmen verlauten zu lassen. Wir denken, dass diese Vorfeld-Phase die eigentliche Qualität des Frauen*streiks ausmacht.

In Zürich organisierten zunächst Einzelpersonen, Gruppen und Zusammenhänge mehrheitlich aus der außerparlamentarischen Linken die Vernetzungstreffen – bei den ersten Treffen kannten sich die meisten Anwesenden untereinander. Die Gewerkschaften haben schnell pragmatisch entschieden, diese Arbeit dem Bündnis zu überlassen und selber auf Betriebsebene zu arbeiten. Sie waren inhaltlich äußerst zurückhaltend und haben sich nur an der praktischen Arbeit beteiligt. Es gab auch eine überregionale Vernetzung, es wurde jedoch lokal gearbeitet und überregional nur informiert.

Du bist Mitglied einer revolutionären Organisation. Wie sah eure Arbeit im Bezug auf den 14. Juni in der Schweiz aus? Welche Schwerpunkte haben sich für euch ergeben? Auf was habt ihr euch am meisten konzentriert?
Positiv gesagt, hatten wir einen sehr mobilisierten Rahmen, in dem viel möglich war. Negativ gesagt, war es schwierig, alles zu leisten. Wir hätten den Anspruch, wo wir leben und arbeiten zu organisieren, ebenso im Rahmen der revolutionären Kräfte und auf Ebene des Vernetzungstreffens. Außerdem war die Kadenz 8. März, 1. Mai, 14. Juni unangenehm eng und natürlich kann eine kommunistische Organisation nicht jedes andere Thema einfach fallen lassen, weil ein Frauen*streik kommt. Insofern ist unvermeidlich, dass Anspruch und Wirklichkeit auseinander klaffen.

Wir haben die Arbeit generell auf zwei Ebenen entwickelt. Sozusagen auf der klassisch politischen Ebene im Bereich des Frauenkampfs zusammen mit anderen revolutionären Kräften und dann auch auf der betrieblichen Ebene im eher gewerkschaftlichen Bereich. Wir können in beiden Bereichen auf eine lange Kontinuität entsprechender Strukturen innerhalb der Organisation zurückgreifen. In den Wochen vor dem Frauen*streik und dann schließlich am Tag selber ist es uns gut gelungen, eine revolutionäre Präsenz zu haben, die nicht ignoriert werden konnte. Insbesondere durch die Blockade des Verkehrsknotenpunktes „Central“ zusammen mit den Student*innen. Bei der Demo selbst waren dann natürlich so viele, dass alles unterging.

Unsere Arbeit auf der betrieblichen Ebene fand nicht öffentlich statt,
sondern in der Unterstützung von Basisorganisationen und in der Organisierung am eigenen Arbeitsplatz. Wir haben dabei schon früh betont, dass die Kapazitäten auf die Bereiche konzentriert werden sollten, bei denen schon Selbstorganisierungsprozesse vorhanden sind.
Auch die konkrete Organisierungsarbeit vor Ort sollte schnell beginnen.

Am Streik nahmen vor allem KiTas, Horte, Kindergärten, Schulen
und die Gastrobranche teil. Zu Streiks als konfrontativer Arbeitsniederlegung ist es aber praktisch nicht gekommen. Die Bosse haben in vielen Fällen den Konflikt gescheut und Betriebe früher schließen lassen. Die Spitäler wurden im Raum Zürich von der Verband des Personals öffentlicher Dienste, der VPOD, praktisch alleine gelassen. Es konnten dort aber kleinere selbstorganisierte Aktionen von Angestellten durchgeführt werden. Unter anderem wurden zeitgleich an vier Spitälern riesige Transparente gehängt. Besonders zu erwähnen ist die gelungene Organisierung und aktive Solidarität von KiTa-Eltern, um Druck auf die KiTas aufzubauen.

Wie war die Zusammenarbeit mit Reformistinnen und Liberalen? Wie haben die Gewerkschaftsbürokratien reagiert?
Die Vernetzungstreffen waren für bürgerliche Frauen nicht einladend, sie waren in Zürich klar von linken Kräften dominiert, auch seitens der vielen unorganisierten Frauen, war der Konsens radikaler, als zu erwarten gewesen wäre. Mit Liberalen hat es entsprechend keine Zusammenarbeit gegeben. Mit Reformist*innen war sie überraschend problemlos. Die Gewerkschaften haben den Frauenstreik als Kampagne beschlossen und waren von Anfang an dabei, sie haben sich aber auf sich selber konzentriert. Medial ist das schwer erkennbar, das liegt aber an den Medien, die ihnen unhinterfragt die Hegemonie zusprechen.

Generell kann gesagt werden, dass es eine sehr harmonische, enthusiastische Kampagne war, in welcher alles begrüßt wurde, was lief, große wie kleine Aktivitäten, militante wie parlamentarische. Die Zusammenarbeit hat also sehr den Charakter einer Aktionseinheit bekommen, die politische Differenzen stark in den Hintergrund rückte und sich auf die Umsetzbarkeit des Streiks konzentrierte. Die Kehrseite davon ist natürlich, dass durch das Ausbleiben jeglicher Kritik die inhaltliche Auseinandersetzung einfach vermieden wurde. Den in der Kampagne und den organisierenden Kräften schon angelegte Bruch mit neoliberaler Vereinnahmung und die Verknüpfung von Frauenkampf und Klassenkampf hätten wir in gewissen Momenten noch stärker akzentuieren können. Wenn zum Beispiel der sozialdemokratische Bundesrat Alain Berset, der seit Jahren die Erhöhung des Frauenrentenalters vorantreibt, auf den Frauen*streik-Zug aufspringt, hätte die reformistische Politik stärker entlarvt werden können. Oder als die Grüne Polizeivorsteherin die 8. März-Demo angreifen ließ, hätte die Bewegung die Integration reformistischer Kräfte in den Repressionsapparat stärker für einen Bruch mit dem Reformismus nutzen können. Als die Gewerkschaft VPOD plötzlich schweizweit propagiert hat, streiken sei legal, wenn es legitim sei, hätten wir den Finger drauf drücken müssen und die jahrzehntelange sozialpartnerschaftliche Gewerkschaftspolitik des tariflichen Arbeitsfriedens thematisieren können.

Es bleibt offen, wie viel mehr an politischer Positionierung diese Aktionseinheit also vertragen hätte. Es geht hierbei vor allem auch um eine Dynamik der Zusammenarbeit. In praktischen Fragen, war der Konsens durchaus militant und geeint. Der präventiv beschlossene Konsens war: Keine Distanzierung! Wenn wir das einfordern, müssen wir uns halt auch daran halten. Und inhaltliche Debatten hätten zu szenigen unfruchtbaren Schließungsmechanismen führen können. Es gibt leider auch eine linke, unproduktive Debattenkulturen, die es proletarischen Frauen unattraktiv macht mitzuarbeiten. Diese Dynamik wollten wir verhindern und die Stärke auf die Solidarität und Vielfalt in der Praxis legen. Aber natürlich hätte das auch anders kommen können, wenn Reformistinnen einen Hegemonialanspruch entwickelt hätten.

Erzähl uns vom 14. Juni selber: Wie sah der Frauen*streik 2019 in der Schweiz aus?
Ich kann nur für Zürich sprechen. Hier waren den ganzen Tag hindurch unzählige Aktivitäten angekündigt, diese sind nach wie vor online nachzulesen und bilden den Tag gut ab. Kleinere und größere Gruppierungen haben sich selbst organisiert und ihr Ding durchgezogen.
Wir revolutionären Kräfte haben mit den Student*innen zusammengearbeitet und am Mittag den Verkehrsknotenpunkt „Central“ unterhalb der Uni lahm gelegt. Ziel war es, den städtischen öffentlichen und kommerziellen Verkehr an einer neuralgischen Stelle zum erliegen zu bringen und den öffentlichen Raum militant zu besetzen. Das hat Freude gemacht, weil es gut organisiert war und funktioniert hat.

Offenere Mobilisierungen kamen jeweils von politischen Aktivist*innen und einem Teil der Gewerkschaften. Als Ausgangspunkt diente der Helvetiaplatz, auf dem auch die große Bühne stand. Und die Akzeptanz militanter Aktionen war groß.

Der zweite Teil des Tages war dann die Großdemo um 17 Uhr. Sie war bekanntlich unfassbar groß, die größte Demo, die Zürich in den letzten Jahrzehnten erlebt hat. Auch wenn du weißt, dass genau genommen sehr viele Menschen dabei sind, mit denen du wohl gar keine politische Gemeinsamkeit hast, war es natürlich überwältigend, einen solchen Mobilisierungserfolg zu erleben.

Kritik gab es unter anderem wegen der fehlenden Agitation unter migrantischen Frauen, und vor allem migrantischen Arbeiterinnen in der Schweiz (siehe Artikel von Çagdas Akkaya und Meral Çinar in der Analyse & Kritik 650). Wie seht ihr das Thema Rassismus in der Schweizer Frauenbewegung und welche Schlüsse zieht ihr für eure Arbeit?
Rassismus ist in der Schweiz ein großes Problem und ein Thema, mit welchem wir auf jeder Ebene konfrontiert sind. Doch ist die Kritik falsch formuliert und voluntaristisch. Der darin enthaltene Anspruch unterstellt, wir könnten Flugblätter verteilen und so „die Migrant*innen“ ansprechen. Sie entspricht auch nicht dem, was diese Bewegung war. Agitation gab es durchaus und der Anlass war inkludierend so weit es uns möglich war, z.B. wurde enorm viel Übersetzungsarbeit geleistet. Aber für Streik braucht es viel mehr als nur Agitation. Es haben sich vor allem soziokulturelle Schichten des Proletariats mobilisiert, klassenanalytisch also genau jene, die eine Arbeitslogik der Sorge-Arbeit verkörpern, was ja zur inhaltlichen Ausrichtung des Streiks passt. Das Ausbleiben des ebenfalls stark feminisierten und zusätzlich stark migrantischen Verkaufssektors war auffällig. Aber jede Person mit organisatorischer oder etwas gewerkschaftlicher Erfahrung weiß doch, dass gerade dieser Sektor generell schwer zu organisieren ist. Wir machen es uns wirklich zu einfach, wenn wir denken, Verkäuferinnen streiken nicht, weil Linke sie nicht antirassistisch anrufen.

Die Stärke des Streiks bestand gerade darin, dass sich Frauen selber organisierten. Die Kritik hält deshalb auch jenen Kampf von Migrant*innen klein, den es eben auch gegeben hat. Der wohl konfrontativste Streik des Tages fand in einer Reinigungsfirma statt, nur proletarische Migrant*innen mit einem Gewerkschaftssekretär. Das war ja das Überraschende am Streik, dass er sich verselbstständigt hat. Viele haben die Gelegenheit genutzt und gekämpft, das gilt es hoch zu halten und zu würdigen. Die Kritik läuft generell Gefahr, proletarische Menschen zu Objekten zu degradieren, die hilflos auf unsere rettenden Flugblätter warten. Wir versuchen uns an Orten zu bewegen, wo wir uns auskennen, in denen wir glaubwürdig auftreten können, ohne anmassend zu sein.

Wir sind nicht so viele, dass wir von einer Verankerung im Proletariat sprechen könnten. Im Verkauf oder in der Reinigung müssten wir von außen intervenieren, was wir nur mit Vorsicht machen. So haben wir z.B. am 14. unter dem Motto „Pause für die arbeitenden Verkäuferinnen“ einen Supermarkt zehn Minuten lang lahm gelegt und Gutscheine für ein Getränk an der Solibar des Frauen*streik Kollektivs auf dem zentralen Helvetiaplatz verteilt. Den Verkäuferinnen war es äußerst unangenehm, so im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen, aber sie haben sich außer Sichtweite des Chefs über die Geste gefreut. Ich habe früher viele Jahre in dieser Supermarkt-Kette gearbeitet, sonst hätte ich das nicht gemacht, solche Aktionen erfordern Feingefühl und Kenntnisse, ansonsten sind sie wohlmeinend, im schlechtesten Fall aber kontraproduktiv.

Wird es 2020 wieder einen Frauenstreik geben?
Es gibt Stimmen, die das wünschen, die Vernetzungstreffen gehen auch weiter, aber es ist zu früh, ernsthaft darüber zu sprechen. Wir nehmen nicht an, dass die gleiche Mobilisierung einfach so nochmals erfolgreich sein kann. Es müsste von sehr vielen Basisarbeit geleistet werden. Wie gesagt, wir waren mit einer schwungvollen Selbstorganisierung konfrontiert. Diese nun zu organisieren, wäre anspruchsvolle Kleinarbeit, die Strukturen, die das leisten könnten, gibt es noch nicht.

# Interview: Eleonora Roldán Mendívil
# Titelbild: Blockade und Besetzung des Verkehrsknotenpunktes „Central“ , Revolutionärer Aufbau Zürich

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Kommentar

„Niemand muss Bulle sein“ heißt es in einer Textzeile der Punkband Feine Sahne Fischfilet. Viel präsenter sind in letzter Zeit aber die Fragen „Wer ist eigentlich Bulle?“ und „Wer darf eigentlich Bulle sein?“. Anscheinend ist die deutsche Polizei nämlich massiv von Faschisten durchsetzt. Preppernetzwerke die vermutlich von SEK-Beamten mit Munition versorgt werden, LKA-Mitarbeiter, die Drohbriefe an Linke schicken oder Cops aus Hessen, die als „NSU 2.0“ einer Anwältin und ihrer Familie drohen oder zumindest die persönlichen Informationen weitergegeben haben bestimmen die Diskussion.

Dass Schlagstock schwingen, Knöllchen und Pfefferspray verteilen und – jetzt ganz neu – mit Elektroschockern spielen Tätigkeiten sind, die tendenziell eher autoritäre Charaktere anziehen ist nichts Neues. In den letzten drei Wochen gab es allerdings über das „Wer haut mir da gerade eifgentlich den Schädel ein?“ Gerichtsentscheidungen, die die Perspektive der Justiz auf die Ordnungshüter*innen in den Fokus rückt.

Zum einen ist da ein ehemaliger Kriminalkommissaranwärter der entlassen wurde, weil er 2018 ein Video bei Youtube eingestellt hat, in dem er eine „Betrugsmasche“ nachstellt. Die Pressemitteilung des Amtsgerichts beschreibt das Video folgendermaßen: „Darin führt er an der Kasse eines Cafés ein fingiertes Telefonat mit dem angeblichen Geschäftsführer und gibt unter dem Vorwand einer Absprache Bestellungen auf, ohne diese zu bezahlen.“ Dieses Fehlverhalten war für das Verwaltungsgericht so schlimm, dass es schwerwiegende Zweifel an seiner Eignung für den Polizeidienst gebe, weswegen seine Klage gegen die Entlassung abgeschmettert wurde. Weiter heißt es „Aufgabe der Polizei sei es, Straftaten zu verhindern und aufzuklären, nicht aber für vermeintliche Betrugsmaschen – selbst in Form eines Sketches – zu werben“. Somit ist der Ex-Cop nun seit dem 11. Juni arbeitslos.

Zum anderen ist da der Fall von drei Polizeianwärtern, die ein Basketballspiel in Berlin besuchten. „Schräg gegenüber von unseren Plätzen fielen meiner Kollegin und mir sieben Männer auf, die kurz nach Spielbeginn einen schwarzen Spieler der gegnerischen Mannschaft mit Affengeräuschen beleidigten“ so erzählt der Sozialarbeiter Sören S. der taz von deren Verhalten. Die drei angehenden Cops haben mitgemacht. Alltagsrassimus könnte man meinen, spezieller Charakter in der Behörde eben. In einer auf den Vorfall folgenden Gerichtsverhandlung kam dann heraus, dass die drei nicht nur rassistische Beleidigung, sondern auch „Sieg Heil“ gebrüllt hätten. Am 16. Mai wurden die drei Cops in Ausbildung zu jeweils 40 Tagessätzen verurteilt. Ihren Job durften sie behalten. Einer von ihnen wurde inzwischen zum Polizeimeister auf Probe befördert.

Und dann wird ein Schuh draus. Wer auch nur so tut, als würde er ein Eigentumsdelikt begehen, hat bei den Cops nichts zu suchen. Wer „Sieg Heil“ ruft und nicht-weiße Menschen rassistisch beleidigt offensichtlich schon. Angesichts solcher Entscheidungen wird auch deutlich, dass Drohbriefe, Alltagsrassismus, und Hitlerverehrung ganz offensichtlich keine „unglücklichen Einzelfälle“ sind, wie sonst so gerne betont wird. Die Aufgabe der Polizei ist die Sicherung der bestehenden Eigentumsverhältnisse und solange sie diese Aufgabe erfüllt, sind Staat und Justiz gerne bereit, rassistisches und faschistisches Verhalten in Kauf zu nehmen. „NSU 2.0“, Preppernetzwerke und Konsorten sind da nur die logische Konsequenz. Hauptsache sie bezahlen ihren Kaffee.

Foto: Vanis/CC-BY-SA 3.0

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Unsere Autorin Eleonora Roldán Mendívil ist in Südamerika unterwegs, beobachtet die gesellschaftlichen Verhältnisse und spricht mit Menschen im Alltag über die ökonomischen und sozialen Probleme der Region, sowie über ihre verschiedenen Formen, Widerstand zu leisten. In den kommenden Wochen berichtet sie regelmäßig im Lower Class Magazine über ihre Eindrücke. Los geht’s in der peruanischen Küstenstadt Trujillo.

Ich reise mit einem Genossen von Lima über Chimbote an der Küste bis ins acht Autostunden nördlich von der Hauptstadt Lima gelegene nach Trujillo. Als wir am Busterminal ankommen hören wir in den Nachrichten, dass am Vortag drei Menschen in der Stadt ermordet wurden. Die Stadt in der 800.000 Einwohner*innen leben ist nicht nur für seine eine antiken archäologischen Stätten bekannt: Huaca del Sol y de la Luna sind zwei Lehmpyramiden der Moche-Kultur, welche von ca. 300 bis 800 nach westlicher Zeitrechnung (n.Chr.) erbaut und als religiöse sowie administrative Zentren genutzt wurden. Trujillo ist auch die Hauptstadt der Bandenkriminalität und damit verbundener Morde. Der Staadtteil El Porvenir weist die meisten Morde des Landes pro Einwohner*in auf; knapp 20 auf 100.000 Einwohner*innen. Ein Cousin holt uns ab. Das erste was er uns zeigt ist seine Waffe. Er ist Serenazgo, also für die Seguridad Cuidadana, die Sicherheit der Bürger*innen zuständig. Das ist sein Job. Ich dachte die Serenazgos seien zivile Kräfte, die von den Bezirken eher als eine Art Ordnungsamt eingesetzt werden und frage nach. „Nein, die Waffe ist privat“ erklärt mir der Cousin, „aber ich trage sie auch während der Arbeit. Es ist einfach zu gefährlich“.

Peru ist ein abhängiges Land. Nach der offiziellen Unabhängigkeit von der Spanischen Krone 1821 genossen nur knapp drei Prozent der Bevölkerung demokratische Rechte in der neuen Republik: besitzende Männer über 21 Jahren, allesamt Nachfahren von Spanier*innen. Seitdem haben sich die verschiedensten imperialistischen Kräfte um die Ressourcen in dem Andenland gestritten. Vor allem Gold und Silber, aber auch weitere Metalle, sowie Rohöl und das Coca-Blatt, aus welchem Kokain gewonnen wird, bestimmen den Handel der heutigen peruanischen Nationalbourgeoisie. Multinationale Konzerne schaffen sich lokale Lakaien um zu Spottpreisen das Land seiner Reichtümer legal oder weniger legal zu rauben. Die historisch korrupten Gewerkschaftsführungen machen den Aufbau von unabhängiger Klassenmacht fast unmöglich.

Auch Trujillo ist in dieses ökonomische Spiel verwickelt. Die Ware – ob Gold, Rohöl oder Kokain – kommt aus den Anden und dem Regenwaldgebiet oft hier an und wird im nahe gelegenen Chimbote auf riesige Container-Frachter verladen, um über den Hafen in die Welt verschifft zu werden. In den letzten Jahrzehnten haben sich unter anderem durch eine erhöhte Produktivität auch Mafien gebildet, die durch Schmiergelder an Politiker*innen und an die Polizei ihre Geschäfte sichern. Die Bandenkriminalität ist ein Nebenprodukt einer auf Export von Rohstoffen orientierten, abhängigen, kapitalistischen Wirtschaft.

In den folgenden Tagen streifen wir durch die Stadt und klappern die touristischen Höhepunkte ab. Der meiste Tourismus ist einheimisch. Hin und wieder treffen wir eine Reisegruppe von Französ*innen oder Deutschen im Rentenalter. Ein paar mochileros, junge Rucksack-Tourist*innen treffen wir auch. Vor allem in Huanchaco sind diese zu Hauf unterwegs. Der Strand ist eines der Hauptziele für Surfbegeisterte, die nach Peru reisen. Wir hören Englisch, Französisch, Deutsch und Spanisch aus Spanien und Argentinien. Auch die Konsumangebote sind internationaler, als im Rest der Stadt: Es gibt Surfunterricht und sogar Yogastunden auf Englisch.

Uns erstaunt die Anzahl an Venezolaner*innen, vor allem im Einzelhandel und Gastronomie-Bereich. Aber auch auf der Straße des Stadtzentrums. Sie verkaufen Bonbons, Kaffee und Kuchen. An einem Abend bleiben wir länger neben einem jungen venezolanischem Cello-Spieler stehen und hören seinen Interpretationen verschiedenster Pop-Lieder zu. Ihm sind die Venezolaner*innen peinlich, die auf der Straße betteln oder Scheine hoher Geldsummen von Bolivares, der venezolanischen Währung, verkaufen, welche durch die extrem hohe Inflation nun nur noch als Kuriosität Wert haben. „Ich möchte nach Deutschland“ erklärt er uns, und will gleich wissen ob es leicht sei sich eine weiße, deutsche Freundin zu besorgen. Die koloniale Mentalität ist in ganz Lateinamerika tief verwurzelt. Alle Menschen die so aussehen wie man selbst oder gar dunkler sind, gelten als weniger attraktiv. Mejorar la raza, die Rasse verbessern, ist ein Konzept, welches seit der Kolonialzeit überlebt. Mit dem Beginn der Kolonisierung im 16. Jahrhundert, wurden von den Spaniern Rassetabellen geschaffen, welche je nach Grad des mestizaje, der Vermischung, einer Person eine bestimmte Stellung in der kolonialen Hierarchie zuordnete. Je weißer man war, desto bessere Chancen auf eine gute Anstellung und damit auf weniger Ausbeutung hatte man. Deswegen war die Devise möglichst so zu Heiraten, dass die eigenen Kinder weißer wurden. Diese Denkart zeigt sich heute noch immer auf Werbetafeln und in der Kulturindustrie, die neuen postkolonialen Schönheitsideale kommen aus den USA. . Von Plakaten und in Fernsehspots lächeln weiße Models und die Telenovela-Schauspieler*innen sind mehrheitlich weiß. Selbst die Puppen, mit denen die Kinder spielen sind weiß und blauäugig. Und alle Friseur-Läden werben mit riesigen Bildern verschiedenster Haarschnitte an weißen, blonden oder braunhaarigen Menschen. In einem Land mit mehrheitlich Braunen Menschen mit indigenen Vorfahren, sind solche Schönheitsbilder mehr als skurril.

An einem anderen Abend sehen wir eine Menschenmenge an einem Platz im Zentrum von Trujillo. Als wir uns nähern hören wir Hip-Hop Beats. Es findet gerade ein Rap-Battle statt. Ca. 60 Jugendliche haben sich versammelt. Der jüngste Rapper ist vielleicht 13 Jahre alt. Es treten immer vier gegeneinander an und freestylen in kurzen Sequenzen nacheinander. Es geht um ihr barrio, ihre Nachbarschaft, um Gewalt, Waffen und darum wer der beste Freestyler ist. Einer der jugendlichen Rapper disst seinen Vorgänger indem er ihm aufzeigt, dass sein Rassismus hohl ist, und dass es hier nicht um Diskriminierung sondern um den besten Rapper geht. „Montags, Mittwochs und Donnerstag rappen wir in einem Sozialem Zentrum, Samstags machen wir hier die battles“ erzählt uns Crónica. Er ist 17 Jahre alt und hat gerade das letzte Battle gewonnen. „Diese Rap Battles sind eine Bewegung, die schon seit vielen Jahren existiert. Es ist eine massive Bewegung. Beim Freestylen improvisieren wir. Manchmal wird ein Thema vorgegeben, manchmal entwickelt es sich von selbst. Mich interessieren am meisten kulturelle Themen“. Wir fragen ihn nach den Problemen in Trujillo, welche vor allem Jugendliche betreffen. „Eines der Hauptprobleme sind die Drogen. Viele junge Leute sind drogenabhängig. Andere entscheiden sich für Rap und versuchen hierüber ihre Probleme zu verarbeiten. Bei uns skaten und breakdancen junge Leute auch. Dies hilft, damit Jugendliche nicht in die Bandenkriminalität abrutschen“.

# Eleonora Roldán Mendívil
# Titelbild: CHIMI FOTOS/CC BY-NC-SA 2.0

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Wie sich die Bilder gleichen. Im Dezember 2001 standen schon einmal Menschen vor dem Eingang des Hamburger Universitätsklinikums Eppendorf (UKE), bei einer Mahnwache, vereint in Trauer und in Wut. Am Sonntag gab es wieder eine Mahnwache vor dem UKE, am selben Ort aus demselben traurigen Anlass: Ein Afrikaner ist erneut durch offenbar rassistisch motivierte Gewalt zu Tode gebracht worden.

Zumindest in der linken Szene ist das Geschehen von 2001 nicht vergessen. Die Mahnwache galt damals dem Nigerianer Achidi John, der am 12. Dezember im Alter von 19 Jahren gestorben war. An den Folgen der Verletzungen, die ihm vier Tage zuvor im Institut für Rechtsmedizin des UKE von zwei Polizisten beigebracht worden waren. Sie hatten den als Dealer verdächtigten Mann am Boden auf brutale Weise fixiert, damit eine Ärztin ihm mit einem Schlauch das Brechmittel Ipecacuanha einflößen konnte.

William Tonou-Mbobda

Am Sonntag galt die Mahnwache dem 34-jährigen Kameruner William Tonou-Mbobda, der am Freitag auf einer Intensivstation des UKE gestorben ist. Die Umstände seines Todes weisen erschreckende Parallelen zum Fall Achidi John auf. Tonou-Mbobda war am Ostersonntag vor der Tür der psychiatrischen Tagesklinik des UKE von drei Security-Mitarbeitern gegen seinen Willen fixiert worden. Dabei wurde er offensichtlich auf brutale Weise traktiert.

Die taz Hamburg machte den Skandal am Donnerstag, als Tonou-Mboda noch im Koma lag, publik. Der Autor des Beitrags hatte mit Augenzeugen des Vorfalls, ebenfalls Patienten des UKE, gesprochen. Nach deren Schilderungen gingen die Sicherheitsleute „äußerst brutal“ vor. William Tonou-Mbobda, der lediglich eine Zigarette rauchen wollte, sei zur Einnahme eines Medikaments aufgefordert worden. Als er dies verweigerte, hätten ihn zwei Sicherheitsleute auf dem Boden fixiert, während der Dritte den Kameruner immer wieder mit dem Knie im Rücken und in der Nierengegend traktiert habe.

Weil Tonou-Mbobda bewusstlos wurde, seien Pfleger und Ärzte gerufen worden, die den Mann nach minutenlangen Wiederbelebungsversuchen auf die Intensivstation gebracht hätten. Die taz zitierte einen UKE-Mitarbeiter, der anonym bleiben wollte. Dieser gab an, dass die Sicherheitsleute bei der Firma „Klinik Logistik & Engineering“ (KLE) arbeiten, einer Tochtergesellschaft des UKE. Einige KLE-Mitarbeiter hätten schwarze Menschen regelmäßig rassistisch beleidigt. „Ich bin mir sicher, wenn es kein Schwarzer gewesen wäre, wären sie nicht so hart ran gegangen“, wird der Informant zitiert.

Der Fall wirft viele Fragen auf. Nach Angaben der taz war der Kameruner freiwillig im UKE und im offenen Bereich der Psychiatrie. Wenn das richtig ist, stellt sich die Frage, warum er überhaupt fixiert worden ist. Einen Hinweis liefert die ebenso dürre wie empathielose Mitteilung, die das UKE auf seiner Homepage veröffentlichte. Da heißt es, bei der Unterbringung eines hilfsbedürftigen Patienten in der Psychiatrie sei es zu einem „medizinischen Zwischenfall“ gekommen. Der Patient habe sich der Anordnung widersetzt und sei fixiert worden „als er aus bisher ungeklärten Umständen zusätzliche medizinische Hilfe benötigte“.

Wie die taz berichtet, habe die diensthabende Ärztin auf Grund der Verschlechterung des Zustands von Tonou-Mboda einen vorläufigen Unterbringungsbeschluss beantragt, der von einem Gericht gewährt werden muss. Die Fixierung und Zwangsmaßnahmen seien durchgeführt worden, noch bevor dieser vorlag. Aber selbst wenn er vorgelegen hätte, hätte der Beschluss nur die „körperlichen Zwangsmittel“ juristisch gerechtfertigt. Auf keinen Fall aber die Brutalität, mit der die Security-Leute, die nach Information der taz suspendiert wurden, zu Werke gingen.

Ob Rassismus für diese brutale Tat der einzige Auslöser war, lässt sich wie immer in solchen Fällen, nicht wirklich belegen. Dass er eine Rolle gespielt hat, ist aber nicht von der Hand zu weisen. Hinzu kommt, dass in Psychatrien sowieso tausende Menschen Willkür und Gewalt ausgeliefert sind. Sie werden ihrer Würde beraubt und sind für das Personal oft nur noch Objekte, Verrückte, die man behandeln darf wie das Letzte. Vermengt mit dem Hass und der Diskriminierung, die schwarze Menschen in Deutschland erfahren müssen, ergibt das eine tödliche Mischung, die die Brutalität, mit der William Tonou-Mboda behandelt wurde noch weiter potenziert hat. Rassismus ist dabei der Tropfen Gift, der wie so oft tödlich für nicht-weiße Menschen ist, die in sowieso schon gewaltsamen Orten sind. Sei es eine Polizeiwache, ein Gefängnis oder eben ein Psychatrie.

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Selten sieht man in Mainstream-US-Serienproduktionen eine Besetzung von rein nicht-weißen Hauptdarsteller*innen. Die Netflix-Serie „On my Block“ überrascht jedoch nicht nur mit einer Crew von vier nicht-weißen Hauptcharakteren und realistischen Einblicken in ihr Leben im Block, sondern auch mit Einfühlvermögen, Tiefe und Witz. Anders als in gängigen Comedy-Sitcoms geht es nicht primär darum unpolitisch abzuschalten, sondern im Gegenteil darum hinzusehen und zu verstehen, wie jungen Frauen und Männern aus „Problembezirken“ in den USA ein Rauskommen aus dem Ghetto systematisch verunmöglicht wird.

Erstausgestrahlt im März 2018, werden in jeweils 10 halbstündigen Episoden über zwei Staffeln die Freund/innen Monse (Sierra Capri), Cesar (Diego Tinoco), Jamal (Brett Gray) und Ruby (Jason Genao) in ihrem Alltag in einem Los Angeler Bezirk begleitet, welcher von Gang-Gewalt und Armut gezeichnet ist. Alle vier sind seit frühster Kindheit befreundet und kommen am Anfang der ersten Staffel in die High School, sind also 14 Jahre alt. Sie träumen davon endlich auch auf Partys mit dem Schwarm rumzuknutschen, cool und anerkannt zu sein und nach der High School auf‘s College gehen zu können. Letzteres ist für die meisten Jugendlichen aus ihrer Nachbarschaft ein kaum realisierbares Vorhaben.

Monse, eine aufgeweckte Afro-Latina ist die Anführerin der Gruppe, die sich um den Zusammenhalt der Jungs kümmert. Sie wächst bei ihrem alleinerziehenden Vater auf, der als Lastwagenfahrer oft unterwegs ist. Der junge Schwarze Jamal steht ständig unter Strom und hat Angst zu Sterben; vor allem will er nicht in das Footballteam gehen und täuscht seinen football-verliebten Eltern ständig irgendwelche Verletzungen vor, um nicht spielen zu müssen. Er ist die treue Seele der Crew und kann unmöglich Geheimnisse für sich bewahren. Ruby ist das Genie der Gruppe, kommt aus einer mexikanischen Familie und kämpft um sein neues Zimmer; sein älterer Bruder ist gerade ausgezogen und er soll sich das Zimmer mit seiner abuelita, seiner Großmutter teilen. Wortgewandt schafft er es immer wieder seine Freund/innen zum Staunen zu bringen, jedoch macht ihn das bei anderen nicht besonders beliebt. Cesar kommt aus einer Santos-Familie. Die Santos, eine der zwei rivalisierenden Gangs im Bezirk, sind mehrheitlich Braune Latinos. Ihre Rivalen, die Prophets mehrheitlich Schwarze US-Amerikaner/innen. Spooky (Julio Macias), der Boss der Santos und ältere Bruder von Cesar ist gerade aus dem Knast gekommen. Das Vorhaben von Cesar durch die Abwesenheit seines Bruders möglichst unbemerkt die High School durchziehen zu können und dann aufs College zu gehen, zerbricht schnell. „Dieses Leben ist mein Schicksal. Mein Familien-Wappen ist ein Gang Symbol und es wird immer ein Gang Symbol bleiben. Es ist zu spät“ resigniert Cesar in einer Szene wo Monse und er auf ihrem Bett sitzen. „Nein ist es nicht“ erwidert sie und schmiedet mit Ruby und Jamal einen Plan. Die erste Herausforderung der Freund/innen kreist darum wie sie Cesar, der über den Sommer in die Santos aufgenommen wurde, wieder aus der Gang holen können.

Zu Halloween geht die Crew in einen reichen Bezirk und crasht eine Party. Dort sind unter anderem reiche weiße Jungs als „Latino-Gangster“ verkleidet, in weiter Kleidung, karierten Hemden und Bandanas um den Kopf. Sie imitieren den „Latino-Sprech“ und performen eine übertriebene Gang-Art. Die Freund/innen werden daran erinnert, dass sie für die weißen Mittelschichtskinder nur ein rassistisches Stereotyp sind.

Ergänzt wird die Gruppe durch Jasmine (Jessica Marie Garcia) und Olivia (Ronni Hawk). Jasmine ist eine schlagfertige und aufdringliche Mitschülerin, die trotz Zurückweisung den Kontakt zu den vier nicht aufgibt; Olivia eine junge Latina deren Eltern gerade deportiert wurden, und bei Rubys Familie aufgenommen wird. Die Beziehungen der Freund/innen zueinander und zu ihren Familien bilden das Zentrum der Serie.

Durch die zwei Staffeln lernt man alle einzelnen Charaktere mehr und mehr kennen und auch sie zu verstehen: Warum Spooky in der Gang ist, warum Jasmine so aufdringlich ist oder warum Monse ohne ihre Mutter aufwächst. Selten schaffen es Produktionen so nah an die Lebensrealität von proletarischen Jugendlichen aus mehrheitlich nicht-weißen Bezirken in den USA heranzukommen. Ihre Wünsche und Träume einzufangen, ihre Liebe für ihre Gemeinschaft und ihrer Familie, sowie ihre Angst davor, auf der Straße niedergeschossen zu werden. „On my Block“ zeigt dabei auf einzigartige Weise wie Latinxs und Schwarze als Gemeinschaft zusammen kommen, als Eltern und Großeltern und als Schulfreund*innen. Die Serie zeigt feinfühlig auf, wie Unterstützungssysteme in armen Bezirken funktionieren – ob finanziell oder emotional – und schafft es, trotz zahlreicher lustiger Momente, die Alltäglichkeit der Gewalt in proletarischem Gemeinschaften widerzuspiegeln. Dabei werden die Beziehungen zwischen den jungen Männern besonders beleuchtet, und anders als erwartet, wird Männlichkeit sehr komplex und emotional verhandelt. Schwarze Männer, die als Alleinerziehende ihre Kinder groß ziehen. Braune und Schwarze Männer, die sich stützen, füreinander da sind, zusammen weinen und sich halten. Der herausragende Soundtrack aus einer Mischung von Hip-Hop, Trap, Salsa, Cumbia, RnB und Indy-Pop schafft es zusätzlich eine intensive Atmosphäre zu schaffen.

Die beste Serie seit Langem.

# Titelbild: Netflix

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