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Gut eine Woche ist der Riot in der Nacht vom 20. auf den 21. Juni in Stuttgart her. LCM konnte mit Leuten sprechen, die Samstagnacht vor Ort waren. Wir sprachen darüber, was sie dort erlebt haben, wie die Polizei im Stuttgarter Zentrum agiert und was die Ursachen für die Riots sein könnten.

Du warst eine Woche vor der Krawallnacht am Eckensee. Kannst du beschreiben, was da los war? Was da für Leute waren und was sie dort gemacht haben?

Es waren richtig viele Leute um den Eckensee im Park, überwiegend Jugendliche, in größeren Gruppen mit 5-20 Personen. Die haben dort gechillt, getrunken und Musik gehört. Es waren eher Jugendliche, die nicht unbedingt das haben Geld haben, jeden Abend in eine Shishabar zu gehen, wo ein Cocktail um 7-10 Euro kostet.

Wie ist die Polizeipräsenz am Eckensee generell? Gibt es oft Kontrollen?

Ja, die Bullen kontrollieren regelmäßig Leute. Sie habe auch kleine Kessel gemacht, Leute an die Wand gestellt und gefilzt. Natürlich kann es auch sein, dass Deutsche kontrolliert wurden und so viele Kontrollen habe ich auch nicht gesehen, aber die Beispiele, die ich gesehen habe, waren alles MigrantInnen. Am Wochenende, an dem auch die Black Lives Matter Proteste waren, war die Polizeipräsenz enorm. Die Cops waren sicher mit über 20 Wannen da. Sie hatte sich aber wieder zurückgezogen, als sie gemerkt haben, dass es da eine Dynamik gegen sie gibt.

Es gab ja auch schon eine Woche vor den Riots Situationen, wo sich Leute bei Kontrollen solidarisiert haben. Zum Beispiel haben die Bullen Jugendliche auf der Treppe neben dem Königsbau vertrieben und es wurden Flaschen geworfen. Und etwas später gab es eine ähnliche Situation bei der Theodor-Heuss-Straße. Da hat angeblich jemand behauptet, dass einer abgestochen wurde und dann kamen Bullen und haben einen Schwarzen sehr brutal festgenommen. Leute, die dort waren haben dann angefangen, ‚ACAB‘ zu rufen und es sind Flasche geflogen. Die Lage hat sich dann aber wieder entspannt und ist nicht weiter hochgekocht.

Du warst ja auch an dem Samstag vor Ort, an dem die Lage dann eskalierte. Wie hast du die Leute und die Stimmung wahrgenommen?

Als ich ankam waren schon hunderte von Leuten auf dem Schlossplatz versammelt. Einige waren betrunken und die Stimmung war aufgeheizt. Die Cops waren auch schon da, in voller Montur mit Schutzschildern usw. Sie haben eine Riesenkette vor der Köningsstraße gemacht und es flogen immer wieder Sachen auf die. Mir wurde bei der Ankunft direkt klar, um was es geht. Die Leute haben Parolen gerufen wie ‚No Justice, No Peace‘ und ‚ACAB‘. Die Stimmung wurde immer emotionaler und auch kämpferischer. Man hat gemerkt, dass alle Wut auf die Polizei haben. Und die kommt natürlich nicht von irgendwo her.

Nachdem man da eine Weile stand, Parolen gerufen hat und Flaschen auf die Cops geflogen sind, wurde es plötzlich hektisch. Alle Leute sind losgerannt, weil die Bullen von oben kamen. Das war der Punkt, an dem ich eigentlich dachte, jetzt gehen die Leute nach Hause. Aber die Leute sind nicht gegangen. Mit einem Bauzaun wurde versucht, den Bullen den Weg zu versperren, man hat weiter Flaschen geworfen. Die Leute waren voll entschlossen, sich zu wehren, sich die Stadt zu erkämpfen.

Wie nimmst die mediale Darstellung der Ereignisse wahr?

Die Politik gesteht sich ihre eigenen Fehler nicht ein. Sie haben jetzt gesehen, dass ihre repressive Politik zu so was führen kann, aber das können sie natürlich nicht sagen, weil das eine Bankrotterklärung wäre. Sie versuchen den Unruhen nun die politische Dimension zu nehmen und behaupten, es waren Leute, die Bock auf Randale hatten. Das hat vielleicht mitgeschwungen, aber das ist nicht die Ursache, die liegt viel tiefer. Man hat das auch schon bei G20 gesehen, da wurde auch gesagt, das sind RandaliererInnen, obwohl es konkret politisch war. Sobald Proteste die Autorität des Staates in Frage stellen und in einem Rahmen stattfinden, der auch nur im Ansatz eine Bedrohung darstellen könnte, werden sie entpolitisiert. Woran man das gerade gut erkennen kann, ist das vor allem der geplünderte 1€-Laden als Symbol für die Krawalle dargestellt wird und deshalb kann es ja nicht politisch sein. Was völlig außer Acht gelassen wird, ist, dass auch Banken angegriffen wurden oder „Das Gerber“ (Einkaufszentrum in Stuttgart, Anm. d. Red.), was für Aufwertung steht. Ich glaube das wurde bewusst weniger in den Zeitungen erwähnt, da sonst fast jeder Laden benannt wurde. Natürlichen waren das keine geplanten Aktionen aus einem politischen Bewusstsein heraus. Wenn solche Dynamiken entstehen und sich Wut unkontrolliert auf der Straße entlädt, dann erwischt es auch Ziele, die nicht unbedingt sinnvoll sind anzugreifen.

Nach der der Ereignissen begann gleich am nächsten Tag die Suche nach der Ursachen für die Riots. Über Alkohol und „das sind alles Kriminelle“ gehen die Analysen kaum. Was sind aus deiner Sicht Faktoren, die zu dieser Situation geführt haben?

Erstmal kann man sagen, dass die Jugendlichen so etwas nicht gemacht hätten, wenn sie mit den Verhältnissen, in denen sie leben, zufrieden wären. Corona hat sicher auch was damit zu tun. Die Leute hatte mehrere Monate wenig bis keine sozialen Kontakte. In der Corona-Phase gab es außerdem eine sehr starke Bullenpräsenz in der Stadt. Immer wieder wurden unverhältnismäßige Bußgelder verteilt und die Cops haben sich bei jeder Verhaltensweise eingemischt. Man konnte nicht selbstbestimmt draußen sein und das erzeugt natürlich Unmut gegenüber der Polizei.

Das andere sind die Ereignisse in den USA, die für die MigratInnen und Schwarze hier ein Bewusstsein geschaffen haben. Für sie war es Alltag, nichts besonders, andauernd von den Cops kontrolliert zu werden, weil sie angeblich kriminell aussehen. Jetzt hinterfragen sie das Vorgehen der Cops und wissen, dass sie das nicht verdient haben und das sie nicht schlechter sind, nur weil sie eine andere Hautfarbe haben. Sie haben gesehen, das man sich gemeinsam dagegen wehren kann und das nicht nur mit Worten.

Und unabhängig von der rassistischen Polizei wurden die Leute auch auf allgemeine Benachteiligung sensibilisiert. Sei es bei der Wohnungs- oder Jobsuche. Leute mit ausländischem Namen oder Aussehen haben es immer schwerer. Die Cops stehen als Repräsentant für diese Benachteiligung. Das erzeugt zusätzlich berechtigte Wut. Ich glaube die Jugendlichen dachten sich dann einfach, es reicht, wir lassen uns nicht mehr alles gefallen.

#Titelbild: Jens Volle, Ein bei den Riots entglastes Polizeiauto wird der Presse präsentiert.

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Die 2019 gegründete Kampagne Death in Custody (Tod in Gewahrsam) recherchiert und arbeitet zu in Gewahrsam um‘s Leben gekommenen POC und Schwarzen. Das LCM sprach mit Niko von der Kampagne über Ihre Rechercheergebnisse, strukturellen Rassismus und wie man gegen rassistische Polizeigewalt vorgehen kann.

LCM: Ihr habt ja mit eurer Kampagne vor kurzem eure Rechercheergebnisse veröffentlicht. Kannst du diese kurz zusammenfassen?

Niko: Seit 1990 sind mindestens 159 POC und Schwarze in Gewahrsam umgekommen. Angesichts der Öffentlichkeit, die rassistische Polizeigewalt gerade hat, wolten wir unsere Ergebnisse so schnell wie möglich veröffentlichen. Wir haben bis jetzt nur Namen und Todesdaten veröffentlicht, unsere Daten sind aber noch umfangreicher was Einzelfälle betrifft, mit den Todesumständen und beispielsweise dem gerichtlichen Nachspiel.

Die Kampagne kam durch Todesfälle in den letzten Jahren auf, wie Amad Ahmad in Kleve, der in der Zelle verbrannt ist, oder Rooble Warsame der in Schweinfurt in Gewahrsam starb – angeblich durch Suizid. Bei der Recherche haben wir gemerkt, dass es Sinn macht den Begriff von Gewahrsam zu erweitern. Unsere Definition ist, dass Menschen durch Polizei oder andere staatliche Institutionen in eine Situation gebracht werden, aus der sie aus eigener Kraft nicht mehr rauskommen. Das kann eben auch sein, dass die Polizei Schusswaffen einsetzen, und die Person nicht mehr aus dem Schussfeld rauskommt, oder dass die Polizei Leute hetzt, die dann einen „Unfall“ haben und dabei ums Leben kommen. Oder auch Todesfälle in Gewahrsam, die als Suizid gelabelt werden. Aus zwei Gründen: Im Knast kann es keinen Freitod geben, weil in dieser Situation Leute so zermürbt werden, dass man nicht mehr von einer Freiwilligkeit sprechen kann. Außerdem kann man den Behördenangeben einfach nicht trauen. Wenn behauptet wird es sei Suizid, wird das nicht wirklich überprüft. Wie beim Fall von Oury Jalloh, wo ganz klar ist, dass das kein Suizid war, dieser aber die ganze Zeit als solcher bezeichnet wurde.

Was waren denn eure Probleme bei der Recherche? Weil von offiziellen Stellen werden solche Fälle ja nicht systematisch erfasst.

Eben! Es gibt keine systematische Erfassung. Man muss davon ausgehen, dass die Dunkelziffer noch viel höher ist, als diese 159, die wir jetzt gerade haben. Wir rufen auch dazu auf, dass Leute uns Fälle, die wir nicht kennen zuschicken. Es werden auf jeden Fall noch einige Fälle dazu kommen.

Die Recherche war generell nicht immer einfach. Es gibt generell wenig Informationen und zum anderen wird auch selten erfasst, ob die Person POC oder Schwarz war. Zum Teil konnten wir das indirekt rausfinden, in einem Fall z.B. über einen Polizisten, der zitiert wird und eine rassistische Aussage macht. Es gibt auf jeden Fall Unschärfe.

Es fällt auch auf, dass es bestimmte Jahre gibt, in denen unglaublich viele Fälle dokumentiert sind, z.B. 1994/1995 oder 2019. 2003 haben wir hingegen keinen einzigen Fall. Das ist relativ unwahrscheinlich und weist darauf hin, dass die Datenlage mittelmäßig ist. Die Recherche ist der Versuch zumindest herauszufinden, wie groß das Problem eigentlich sein könnte. Und es ist deutlich größer, als es in der breiten Öffentlichkeit wahrgenommen wird und erst recht als es von den Behörden beschrieben wird.

Wieso geht Ihr davon aus, dass POC und Schwarze stärker von Tod in Gewahrsam betroffen sind?

Eine Schwierigkeit ist, dass es ja keine Zahlen gibt, wie groß der Bevölkerungsanteil von POC und Schwarzenin Deutschland ist. Einen statistischen Vergleich anzustellen, wie die Betroffenheit von Schwarzen und POC, die in Gewahrsam ums Leben gekommen sind, versus weiße, können wir gar nicht machen

Viele Todesfälle entstehen aber aus Situationen, die für Schwarze und POC deutlich häufiger auftreten. Das sind dann beispielsweise sogenannte „anlasslose Kontrollen“, bei denen offensichtlich Schwarze und POC mehr und ständig kontrolliert werden. Diese Situationen eskalieren dann manchmal bis zum Tod. Dann sind es noch Situationen wie Abschiebehaft. Das ist ja eine Situation in die Deutsche gar nicht kommen können. Deswegen müssen wir davon ausgehen, dass die Gruppe stärker betroffen ist.

Dass es in der Polizei in Deutschland Rassismus geben könnte, wird ja gerade von Polizeifunktionären und Politikern aller Parteien vehement geleugnet.

Das zu leugnen ist offensichtlich totaler Quatsch. Was wir mit dieser Recherche zusammengestellt haben, sind ja nur die Todesfälle. Und das ist ja nur das extremste Ergebnis, das durch Polizeigewalt entstehen kann. Aber auch die nicht-tödliche rassistische Polizeigewalt ist leider alltäglich. Alle möglichen Stellen wie Reach-out oder KOP können das aus ihrer Arbeit bestätigen. Gerade zu Corona-Zeiten ist das wesentich mehr geworden. Wir denken, dass das daran liegt, dass die Polizei auf der Straße weniger gesehen wird und sie deswegen machen was sie wollen. Es ist aber in jedem Fall offensichtlich, dass Rassimus in der Polizei ein Problem ist. Man muss zwar nicht unbedingt davon ausgehen, dass alle Polizisten Nazis sind, auch wenn es Fälle gibt, wo das offensichtlich der Fall ist. Es sind aber eher Alltagsrassismus und Klischees, wie „Drogendealer haben diese und jene Hautfarbe“, die zeigen, dass das alltäglich in der Polizei ist.

Was auch ganz interessant ist, ist dass das neue Antidiskriminierungsgesetz in Berlin von der Polizei sehr kritisch kommentiert wurde. Das ist ziemlich entlarvend, weil sie ja im Prinzip sagen, dass sie mit diesem Gesetz ihrer Arbeit nicht mehr nachgehen könnten. Und eigentlich sagen sie damit ja selbst, dass sie rassistisch vorgehen und nicht mehr arbeiten könnten, wenn sie es nicht mehr dürften. Letztendlich ist es doch so, dass wenn man sich ein bisschen damit beschäftigt, es total offensichtlich ist, dass es Rassismus in der Polizei gibt. Ich hoffe, dass durch die Debatte die Polizei und auch Politiker*innen es sich weniger leisten können, das komplett zu leugnen. Weil so wie es jetzt gerade ist, wird einfach gesagt, „Rassismus in der Polizei gibt es nicht, darf es nicht geben“. Und Fälle die aus rassistischen Situationen entstehen, müssen im Nachhinein dann anders legitimiert werden. Dadurch gibt es eben das Problem, dass Betroffene von Polizeigewalt – auch tödlicher – im Nachhinein kriminalisiert werden. Dass sie, wenn sie überleben, sofort Anzeigen bekommen, und wenn sie nicht überleben im Nachhinein konstruiert wird sie seien gefährlich.

Wie im Fall von Hussam Fadl.

Ja genau, der Fall von Hussam Fadl 2016 in Moabit. Da wurde von Polizeiseite behauptet, er habe ein Messer gehabt. Von den Augenzeugen hat aber niemand ein Messer gesehen. Irgendwann tauchte dann ein Messer auf, auf dem aber nicht mal DNA-Spuren, geschweigen denn Fingerabdrücke von Hussam Fadl gefunden. Dieses Vorgehen ist Folge von dieser Herangehensweise, dass es keinen Rassismus gebe. Und wenn es keine Rassismus gibt, dann müssen eben andere Vorgehensweisen herangezogen werden. Die Täter*innen kommen dann in den meisten Fällen ungestraft davon.

Abseits von der Sichtbarmachung, was erhofft Ihr euch von der Veröffentlichung von der Recherche?

Ein großes Ziel ist, dass bisherige Fälle aufgeklärt werden. Wir wollen auch die Betroffenen- und Angehörigeninitiativen und anderen Gruppen die zu dem Thema arbeiten vernetzen, damit ein Wissensaustausch stattfinden kann. Und dass so vielleicht sogar selber Ermittlungen angestellt werden können und damit Fälle anders bewertet werden. Das hat ja im Fall der Oury-Jalloh-initiative ziemlich erfolgreich geklappt.

Unser Forderung ist natürlich, dass es mit diesen Toden und Morden aufhören muss. Deswegen fordern wir auch die Einrichtung von effektiven und unabhängigen Beschwerde- und Ermittlungsstellen. Es gibt da kleiner Pilotprojekte in Deutschland, in Hamburg und NRW und in anderen Orten. Die Projekte die es gibt, können aber in keinem Maße arbeiten, dass das effektiv wäre. Zum einen sind sie nicht ausreichend unabhängig von Justiz- und Polizeibehörden, sie haben nicht die ausreichende Ausstattung mit Befugnissen und Personal, dass sie ermitteln können. Die Polizei muss einfach kontrolliert werden, weil bisher kontrolliert sie sich selbst. Polizisten ermitteln gegen Polizisten in Fällen von Polizeigewalt und da kommt seltenst was bei raus.

Wie kann man verhindern, dass so eine Stelle nicht nur ein Feigenblatt wird?

Ja, das ist eine unserer Befürchtungen. Eine ineffektiv aufgebaute Stelle kann eine negative Auswirkung haben. Weil dann wird halt gesagt „Wir haben hier doch diese unabhängige Beschwerdestelle, was wollt ihr denn?“ Damit wird jeglicher Kritik der Wind aus den Segeln genommen.

Ich denke da müsste es eine viel klareren Bezug zur und eine Rechenschaft vor der Zivilgesellschaft geben. In den USA gibt es ein paar ganz spannende Projekte wo independent police monitoring betrieben wird. In New Orleans z.B. hat diese Ombudsperson relativ viele Befugnisse, kann in die Daten der Polizei Einsicht nehmen und diese dann auch Organisationen zur Verfügugn stellen. Und dort hat die Zahl polizeilicher Todesschüsse stark abgenommen.

Eure Forderungen richten sich ja vor allem an den Staat.

Wir wollen auf jeden Fall, dass die Gesellschaft auch involviert ist, insbesondere rufen wir zu Solidarität mit Betroffenen von Polizeigewalt auf, um dieses Narrativ zu brechen. Und wir wollen, dass die Verantworlichen zur Rechenschaft gebracht werden.

Es gibt aber ja auch wesentlich radikalere Ansätze, wie die der Black Panthers, die selber auf Streife gegangen sind und die Polizei kontrolliert haben. Denkst du dass so etwas in Deutschland möglich oder nötig ist?

Prinzipiell ist es immer wichtig der Polizei und den Behörden auf die Finger zu schauen bei dem was sie machen. Wenn das nicht passiert, hat das zur Folge, dass sie noch mehr Mist bauen. Wie eben der Anstieg von racial profiling in Corona-Zeiten. Die Polizei selbst zu kontrollieren macht natürlich total Sinn, weil die Kontrolle durch andere staatliche Instanzen nie ausreichend ist. Eine permanente Wachsamkeit der Zivilgesellschaft ist total wichtig!

# Titelbild: miss_millions, CC BY 2.0, Gefängniszellen in Alcatraz (Symbolbild)

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Das Bild sorgte im Herbst 2019 für weltweite Empörung. Zwei berittene Polizisten führen einen festgenommenen Afroamerikaner im texanischen Galveston mit einem Strick ab. Der Mann geht zwischen den Pferden, ihm sind die Hände auf dem Rücken zusammengebunden, offensichtlich mit dem Strick, dessen anderes Ende einer der Polizisten auf seinem Pferd in der Hand hält. In seiner abgrundtiefen Unmenschlichkeit und Brutalität schockiert dieses Foto und erinnert an die Zeit der Sklaverei in den USA. Der Vorfall ist Teil der langen Liste von öffentliche gewordenen Fälle rassistischer Polizeigewalt, die in den vergangenen Wochen auch in der hierzulande zu einem Aufschrei geführt haben.

An dieses Bild aus Texas musste ich denken, als ich heute ein Foto beim Online-Auftritt der Bild-Zeitung sah. „Nacht der Schande in Stuttgart – Randalierer auf dem Weg zum Haftrichter – Horst Seehofer fordert harte Strafen“, heißen die Überschriften. Auf dem Bild darunter ist eine Szene zu sehen, die mich kaum weniger schockiert hat als das Foto aus Galveston und durchaus an dieses erinnert. Einer von sieben nach den Ausschreitungen in Stuttgart am Wochenende Festgenommenen werde zum Haftrichter geführt, heißt es dazu im Text.

Zu sehen sind ein Mann und ein Frau in zivil, möglicherweise Polizei- oder Justizbeamten, und in ihrer Mitte ein festgenommener junger Mann – barfuß, in Fußfesseln, die Hände mit Kabelbindern fixiert, mit Mundschutz und einer Haube auf dem Kopf, den er gesenkt hält! Die Haube soll offenbar der Sicherung von Spuren im Haar dienen. Und dass er barfuß ist, so spekuliert die Bild-Zeitung, liege wohl daran, dass die Polizei die Schuhe der „mutmaßlichen Chaoten“ beschlagnahmt habe.

Diese Szene und dieses Foto sind unfassbar widerlich und abstoßend! Und ein Dokument einer unfassbaren Demütigung und Bloßstellung. Zu Recht fragte ein User auf Twitter: „Ist das Stuttgart oder Guantanamo?“ Ein junger Mensch, der sich möglicherweise – noch gilt doch wohl die Unschuldsvermutung – an Plünderungen beteiligt oder einen Stein auf Polizisten geworfen hat, wird abgeführt und wie eine Trophäe zur Schau gestellt. Allein, dass jetzt Leute dem Haftrichter vorgeführt werden, ist vollkommen maßlos und nichts rechtfertigt die Veröffentlichung eines solchen Bildes.

Ganz offensichtlich hat keiner versucht, das Fotografieren dieser Szene zu unterbinden. Warum auch? Polizei und Justiz müssen ja liefern. Bundesinnenminister Horst Seehofer und Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl haben die „ganze Härte des Gesetzes“ gegen die „Randalierer“ von Stuttgart gefordert. Der ganze Law-and-order-Mob in Politik, Medien, Polizeigewerkschaften und Bevölkerung will Blut sehen.

Nicht weniger grotesk und beängstigend als die ekelhafte Vorführung junger Verdächtiger nach vergleichsweise harmlosen Krawallen ist die Inszenierung, die von der Behörden heute beim Besuch von Seehofer, Strobl, Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann und Stuttgarts Oberbürgermeister Fritz Kuhn am „Tatort“ aufgeführt wurde. Die Polizei positionierte für die in Kompaniestärke anwesenden Fotografen und Kameraleute ein bei dem Riot beschädigtes Polizeifahrzeug als Kulisse – damit Seehofer betroffen in das mit Glassplittern übersäte Innere des Fahrzeugs schauen und anschließend eine „rasche und harte Verurteilung“ der Täter fordern und von einem „Alarmsignal für den Rechsstaat“ schwadronieren konnte.

Damit hat der CSU-Mann recht – allerdings sind nicht die Krawalle das Alarmsignal, sondern diese sich anschließende Inszenierung von Ministerbesuch und Festnahmen an diesem Montag. Sie demonstriert vor allem, wie weit dieser Staat bereits eine Beute von Polizei und Diensten ist, wie die im Internet und in den Medien marodierenden rechten Hetzer die Politik vor sich hertreiben und den Diskurs bestimmen. Die Inszenierung ist nichts anderes als die Antwort auf die Kritik, die im Zuge der „Black Live Matters“-Demonstrationen an der Polizei auch hierzulande hochkochte – eine klare Ansage, wer in diesem Land am längeren Hebel sitzt. Und eine Nebelkerze, um nicht über Polizeigewalt, Rassismus und Straflosigkeit in der Polizei reden zu müssen.Der Polizeistaat kommt nicht heute und nicht morgen, er scheint schon da zu sein.

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Seit #Blacklivesmatter Millionen Menschen weltweit auf die Straßen mobilisiert, versprechen diverse Regierungen die ein oder andere „Verbesserung“ und Reform. Doch reicht das? Oder sind Rassismus und Polizeigewalt nur zu überwinden, wenn man gegen den Kapitalismus insgesamt angeht? Wir veröffentlichen einen Gastbeitrag des Musikers Disarstar.

Am 25. Mai 2020 wurde George Floyd im US-Bundesstaat Minnesota von Polizisten gemeinschaftlich ermordet. Der Mord wurde gefilmt und das Video ist viral gegangen. Als Reaktion auf die Tat entstand eine globale Bewegung gegen Rassismus und Polizeigewalt. Demonstrationen fanden und finden in allen US-Bundesstaaten, sowie in 18 weiteren Ländern statt.

Ich habe mich bis auf einen Storypost bislang nicht zu alledem geäußert und das ist vor allem dem Umstand geschuldet, dass mich die momentane globale Situation total trifft und überfordert. Klar, die Welt ist kompliziert, das ist nichts Neues. Nur habe ich das Gefühl, dass sie in Zeiten von Corona, (gefährlichen) Spinnern wie Attila Hildmann und einem gefilmten Polizeimord, der Proteste von globalem Ausmaß verursacht, von Tag zu Tag unübersichtlicher wird und auch ich will von diesem ganzen Wahnsinn manchmal nichts wissen. Doch Bertolt Brecht hatte Recht als er sagte: „Was sind das für Zeiten, wo ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist, weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!“

Und darum ist es mir wichtig auch nochmal ein paar Worte zu verlieren. Zum einen weil ich – so sehr ich mich auch über die Proteste und die Tatsache, dass sich so viele positionieren freue – Sorge habe, dass das alles schnell in Vergessenheit geraten wird und die Dinge im Anschluss weiter den gewohnten Gang gehen; zum anderen, weil ich befürchte, dass der Kampf gegen Rassismus ein oberflächlicher bleibt.

Denn den kapitalistischen bürgerlichen Staat der liberalen „Demokratie“, seine Strukturen und die Polizei als eine seiner Institutionen abfeiern, aber gleichzeitig Rassismus bekämpfen wollen wird perspektivisch höchstens temporär Erfolge hervorbringen. Um dem Rassismus zu bekämpfen und hoffentlich eines Tages zu überwinden, müssen wir das System, die Strukturen angreifen (und überwinden), die ihn produzieren und reproduzieren. Schon Malcolm X wusste: „Es gibt keinen Kapitalismus ohne Rassismus.“

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Der Tod von George Floyd hat eine Bewegung und eine mit ihr verbundene Diskussion über Rassismus hervorgerufen bzw. flächendeckend neu entflammt. Rassistische Polizeigewalt ist für Nicht-Weiße in den USA alltäglich. Diesmal wurde ein Fall auf Video festgehalten, ging zuerst durch die sozialen und dann durch die „offiziellen“ Medien. Ein Mord vor laufender Kamera weckt mehr Empathie als eine Statistik über Tote durch Polizeigewalt.

Hinzu kommt, dass die USA von der Coronakrise schwer getroffen sind. Darunter leidet vor allem die schwarze Bevölkerung. Im Südstaat Louisiana bilden Schwarze 33 Prozent der Bevölkerung, aber 70 Prozent der Corona bedingten Todesfälle. In Illinois, wo der Bevölkerungsanteil von Afroamerikanern 14 Prozent beträgt, sind 42 Prozent der Toten Schwarze. Ähnlich sind die Werte für Inhaftierte und auch Statistiken über die Verteilung von Vermögen passen dazu. Auch wenn die Sklaverei seit Jahrhunderten offiziell vorbei ist, bleibt die ökonomische Unterdrückung der schwarzen Bevölkerung real. Sie wohnt überproportional in Elendsvierteln, verdient deutlich weniger und landet um ein vielfaches häufiger im Gefängnis. Auch wenn Schwarze vereinzelt, vor allem durch die Musikindustrie oder Popkultur (auch in Form von Sport) gesellschaftlich aufsteigen können, ändert sich an der Lage des Großteils nichts.

Einzelne Schwarze werden Führungspositionen dieses Systems integriert und dennoch bleibt für die Mehrheit alles gleich. Der Kapitalismus ist eben sehr flexibel und kann sich durch Integration Einzelner anpassen. Das hat Obama extrem verdeutlicht. Teile der antirassistischen Bewegung wurden ins Establishment aufgenommen und verändert hat sich quasi nichts. Was bringen Schwarze Polizisten oder Bürgermeister, wenn die Unterdrückung bleibt?

Zudem ist es ein Trugschluss zu glauben, dass das Problem des Rassismus ein US-Amerikanisches wäre. Auch hier in Deutschland sterben Menschen durch rassistische Polizeigewalt. Oury Jalloh ist in der Zelle eines Dessauer Polizeireviers verbrannt. Im Sommer 2018 verbrannte der 26-jährige syrische Kurde Amad Ahmad in seiner Zelle in Kleve. Er war angeblich mit einem gesuchten Malier verwechselt worden, obwohl beide lediglich ihr Geburtsdatum gemeinsam hatten. Sieben Wochen vor seinem Tod informierte die Staatsanwaltschaft die Polizei über den Irrtum, Ahmad blieb trotzdem in Haft. Zu den Toten in Haft muss auch Yaya Jabbi gerechnet werden. Der 21-Jährige aus Gambia nahm sich im Februar 2016 in einer Hamburger Haftanstalt das Leben. Er war mit weniger als zwei Gramm Marihuana erwischt worden, einer geringen Menge, auf die normalerweise keine Strafe folgt. Jabbi kam dennoch ins Gefängnis. Das sind nur einige Beispiele. Von 2000 Anzeigen gegen Polizisten pro Jahr kommen 2-3% zur Anklage. Die NSU-Akten bleiben unter Verschluss.

Der Rassismus geht bei der Betrachtung der Menschen davon aus, dass sich die Menschheit in verschiedene „Rassen“, welche alle über ihre eigenen genetischen wie historisch gewachsenen Merkmale verfügen, unterteilen lässt. Bei den angeblich historisch gewachsenen Merkmalen sind besonders nationale, religiöse und kulturelle Herkunft von entscheidender Bedeutung. Diese Einteilung der Menschen durch den Rassismus führt dann zu einer Bewertung der verschiedenen „Rassen“ und schafft so die Grundlage für die Herabwürdigung anderer, während die eigene Identität als Zugehöriger zu einer bestimmten „Rasse“ gestärkt wird. Für den Kapitalismus ist dieser Umstand äußerst nützlich. Der Rassismus als eine Form der Konkurrenz innerhalb der Arbeiterklasse vergrößert dessen Spaltung.

Verwertbare Menschen werden im Ausland abgeworben, dadurch werden die jeweiligen Herkunftsländer indirekt in Unterentwicklung gehalten, auf der anderen Seite wird dann in Deutschland nicht mehr ausreichend in Bildung investiert, weil sich das Kapital sein Menschenbedarf wo anders beschafft. MigrantInnen dienen auf verschiedenste Weise so als Sündenböcke für gesellschaftliche Probleme. Der Zorn der Arbeiterklasse kanalisiert sich so von der herrschenden Klasse auf eine rassistisch definierte Minderheit. Rassismus spaltet also Menschen, die eigentlich die gleichen Bedürfnisse und Interessen haben, in verschiedene, sich feindlich gesinnte Lager. Natürlich versuchen Menschen, sich aus dem vom Imperialismus geschaffenem Elend der „Dritten Welt“ zu retten und machen sich auf den Weg in die westlichen Metropolen. Falls sie es bis hierhin schaffen, werden sie in Lager gesperrt und durch den institutionellen Rassismus terrorisiert.

Geflüchtete werden in eine Situation gedrängt, in der ihnen weder die Almosen des Staates reichen noch legale Zuverdienstmöglichkeiten bleiben. Praktisch in die Kriminalität gezwungen, werden sie so zu Sündenböcken für alle möglichen Probleme der Mehrheitsgesellschaft. Medial aufgeheizt können Neofaschist*innen ihre Taten mit der Stimmung in der Bevölkerung legitimieren. Dadurch glauben sie, dass sie im Interesse „ihres“ Volkes handeln. Diese Grundstimmung wurde vom Rassismus der Mitte, auch durch etablierte Parteien, geschaffen und institutionalisiert. Somit nähren sie den Boden, auf dem die Faschist*innen und Rechtspopulist*innen gedeihen können. Rassismus ist schon lange kein Randphänomen und somit wird der Kampf dagegen auch immer elementarer, denn nur, wenn jede Form der Diskriminierung und Kategorisierung der Menschen in Wertigkeit überwunden wird, ist eine Welt frei von Ausbeutung und Unterdrückung möglich. Aktive Solidarität mit den Betroffenen und das Benennen der Verhältnisse, die den Nährboden für Rassismus schaffen und derer, die von ihm profitieren, sind daher notwendig.

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Immer wenn man sich abfällig über die Polizei äußert heißt es, man würde von den Handlungen einiger weniger Cops auf alle schließen. Das ist falsch. Ich glaube nicht, dass alle Polizist*innen wegen der Handlungen einiger weniger schlecht sind. Ich weiß, dass alle Bullen schlecht sind, weil alle Bullen als Grundvoraussetzung für ihre Arbeit schwören, alle geltenden Gesetze durchzusetzen, einschließlich der Gesetze, die ganz offensichtlich ungerecht und/oder grausam sind. Nicht der*die Polizist*in ist der bestimmende Faktor in der Gleichung, sondern die Aufgabe, die ein jede*r Polizist*in geschworen hat, zu erfüllen. Es ist moralisch vollkommen inakzeptabel, als selbstverständlich hinzunehmen, dass Polizist*innen beim Ausüben ihrer Arbeit Moral und Vernunft ausschalten, um den Willen einiger (in Form von geltendem Recht) gegen alle in der Nachbarschaft durchzusetzen.

Alle Polizist*innen in diesem System sind schlecht, aber nicht wegen der Handlungen einiger weniger. Es gibt gute Leute. Und es gibt Polizis*innten, die sonst gute Leute sind, aber sie sind keine „guten“ Polizist*innen. Die gibt es hier nicht. Die Disbalance zwischen geltendem Recht und Gerechtigkeit liegt alltäglich auf der Hand. Die Aufgabe der Polizei ist es, mit Gewalt durchzusetzen, dass die gegenwärtigen Verhältnisse fortbestehen. Verhältnisse die (insbesondere global betrachtet) für einige wenige nützlich sind, die große Masse der Bevölkerung jedoch an der dauerhaften Befriedigung ihrer Bedürfnisse hindern. Die Aufgabe der Polizei ist es, den Armen zu bestrafen, der sich durch Diebstahl das Nötige beschafft, das er durch Kauf nicht erwerben kann. Ihre Aufgabe ist es, Arbeiter*innen auf die Straße zu jagen, der die von ihren Vermieter*innen (Erpresser*innen) geforderten Summen nicht mehr aufbringen kann. Ihre Aufgabe ist es, den Obdachlosen zu vertreiben und zu bestrafen, der in eine leerstehende Spekulationswohnung einbricht, um sich zu wärmen. Ihre Aufgabe ist es, jene Flüchtlingsfamilie zum Flughafen zu prügeln und in Elend und Tod zu deportieren, die die politischen Vertreter der Bourgeoisie als volkswirtschaftlich überflüssig eingeschätzt haben.

Die Aufgabe der Polizei ist es, den den Rotstift ansetzenden Manager*innen vor der Wut der von ihm entlassenen Arbeiter*innen zu schützen. Ihre Aufgabe ist es, demonstrierende Linke zu drangsalieren und einzuschüchtern, die für die Überwindung dieses per se schlechten, per se ungerechten, per se grausamen Systems werben. Ihre Aufgabe ist der notfalls gewaltsame Schutz eines Systems, in dem eine parasitäre Minderheit über die von ihr ausgebeutete arbeitende Mehrheit herrscht. Die Bullen sind Leibgarde der Bonzen, nicht in dem Sinne, dass sie die Interessen des konkreten Kapitalisten A oder B vertreten, sondern indem sie die universelle Gültigkeit der Regeln erzwingen, unter denen Kapitalist*in A und B reich sein und die Arbeiter*in X und Y auf dem Arbeitsamt und in der Gosse landen müssen. Und ja, die Polizei rettet Kätzchen von Bäumen.

Der aktuelle Diskurs ist immens wichtig. Er darf nicht oberflächlich sein. Er muss die Strukturen angreifen. Unser Widerspruch und Widerstand darf nicht gelegentlich bleiben. Er muss permanent werden.

# Titelbild: https://twitter.com/Nabalzbhf_anon/status/1268867188074729473/photo/1

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Frankreichs Polizei setzt bei der Druchsetzung der Ausgangssperren wegen Corona ihr brutales Vorgehen fort, das schon bei der Niederschlagund der Gelbwestenproteste zu sehen war. Gerade jetzt zeigt sich, dass vor allem die Bewohner*innen der Banlieus, der Vorstädte, von Polizeigewalt getroffen sind. Für größere Riots hat zuletzt ein Vorfall Mitte April gesorgt.

Die Stimmung war in den Pariser Vorstädten schon in den Wochen vorher angespannt. Am Abend des 18. April jedoch springt ein Funken über. Was an jenem Abend in Villeneuve-la-Garenne wirklich passiert, davon gibt es mehrere Versionen. Die der Zeugen, die den Vorgang gesehen haben, lautet so: Ein schwarzer Wagen fährt durch die fast leeren Straßen. Ein unbehelmter Motorradfahrer mit dem Namen Mouldi C. will auf der Nebenspur an dem Auto vorbeifahren, als dieses an einer roten Ampel steht. Doch in dem Moment, wo er das Auto passiert, wird eine Autotür vor ihm geöffnet, sodass er mit hoher Geschwindigkeit in die Tür rast. Der Motorradfahrer wird schwer verletzt ins Krankenhaus eingeliefert. Er wird voraussichtlich drei Monate lang arbeitsunfähig sein.

Augenzeug*innen sind sich sicher, dass die Insassen des Wagens vorsätzlich gehandelt haben. Dass die Autotür also mit Absicht genau dann geöffnet wurde, als der Fahrer so nah dran war, dass ein Aufprall nicht mehr zu verhindern war. Das ungemütliche Detail dabei: Das Auto ist ein Zivilwagen der Polizei. Und die Polizist*innen darin befinden sich im Dienst.

Ein Video kurz nach dem Vorfall zeigt Mouldi C. am Boden, die Polizisten leisten erste Hilfe. Rundherum stehen Männer, die den Vorfall beobachtet haben und die Polizei beschimpfen. „Er fährt vorbei und ihr macht einfach die Tür auf? Was soll das?“, sagt ein Passant wutentbrannt. Fälschlicherweise überschreibt der Nutzer das Video auf Twitter mit dem Hinweis, die Polizei habe dem Motorradfahrer das Bein amputiert. Tatsächlich versorgen sie den Schwerverletzten mit einem Druckverband, wie man bei genauem Hinschauen im Video auch sieht. Doch die Falschinformation ist vermutlich bei einigen hängen geblieben. Das Video wurde in wenigen Tagen fünf Millionen Mal geklickt.

Einen Tag später brennen in Villeneuve-la-Garenne Mülltonnen und andere Gegenstände, die wie Barrikaden quer über die Straßen gelegt werden. Anwohner*innen schießen mit Feuerwerkskörpern auf Polizeiautos und Polizeitruppen. Es gibt mehrere Festnahmen. Zeitgleich brechen auch in anderen sogenannten „Problemvierteln“ rund um Paris aber auch in Toulouse und Straßburg Unruhen aus. In der Nacht vom 21. April wird auch eine Grundschule in Villeneuve-la-Garenne in Brand gesetzt. Es gibt zahlreiche Festnahmen. Drei Journalist*innen, die über die Vorfälle berichten, werden von Polizeibeamten mit Blendgranaten bedroht. „Geht zurück oder wir werfen euch eine Granate rüber“, hört man eine Polizistin in einem Video rufen.

Die Polizei erzählt den Vorfall mit Mouldi C. anders. Man sei dem Motorradfahrer zuerst entgegen gefahren und habe ihn wegen fehlenden Helms und zu hoher Geschwindigkeit kontrollieren wollen. Der Polizeikommissar sei demnach schon ausgestiegen, bevor Mouldi C. in der Nähe war. Mouldi C. sei auf den schon ausgestiegenen Kommissar zugefahren, als habe er ihn überfahren wollen. Allerdings widerspricht diese Darstellung späteren Aussagen der Polizei gegenüber der Presse, die den Zeugenaussagen näher kommt. In dieser anderen Version sitzt der Kommissar noch im Auto als Mouldi C. gegen die geöffnete Tür fährt. Das scheint für ein kurzfristiges Öffnen der Tür zu sprechen. Fakt ist, der Motorradfahrer konnte von dem schwarzen Auto gar nicht wissen, dass es ein Polizeiauto war, von dem eine Kontrolle ausgehen würde.

Villeneuve-la-Garenne liegt im Norden von Paris. Die Städte in dieser Gegend in und rund um das Département Seine-Saint-Denis sind dicht besiedelt, haben wenig Infrastruktur und sind hauptsächlich von Menschen mit geringem Einkommen und oftmals mit Migrationshintergrund bewohnt. Französische Medien berichten von hungernden Familien. Die Lebensbedingungen und der Alltagsrassismus treffen die Bewohner*innen schon vor der Coronakrise hart. Nun kämpfen diese Städte im Norden von Paris außerdem mit einer besonders hohen Sterberate bei Corona-Erkrankten. Und das, obwohl die Bevölkerung hier vergleichsweise jung ist. Nicht nur gibt es in der Region weniger Intensivbetten als etwa in der nahe angrenzenden Hauptstadt. Auch arbeiten viele Menschen in plötzlich als systemrelevant entdeckten und weiterhin unterbezahlten Berufen und sind somit verstärkt der Ansteckung ausgesetzt.

Die Ausgangssperre – man darf nur noch mit einem Passierschein zur Arbeit oder zum Einkaufen gehen – erschwert die Lage zusätzlich. Nicht nur, weil so viele Menschen hier auf engem Raum unter prekären Bedingungen leben. Viele berichten von Racial Profiling durch die Polizei und dokumentieren gewalttätige Maßnahmen auf sozialen Medien.

Da ist etwa der 21-jährige Amazon-Paketlieferant aus der Pariser Vorstadt Ulis, der sich auf dem Weg zur Arbeit befindet. Er wird vor seinem Wohngebäude von Polizisten ohne ersichtlichen Grund verprügelt. Während einer Kontrolle der Ausgangssperre kommt auch ein 33-jähriger in Südfrankreich zu Tode, wahrscheinlich an den Folgen von Polizeigewalt. Gegen die beteiligten Beamten wird wegen fahrlässiger Tötung ermittelt. Beide Männer haben arabische Namen, wie auch der Motorradfahrer aus Villeneuve-la-Garenne. Weiterhin im Norden von Paris, töten Polizisten einen 25-jährigen Afghanen mit drei Kopfschüssen und zwei weiteren Schüssen in den Oberkörper, weil er sie mit einem Messer bedroht haben soll. Linke Plattformen berichten von drei weiteren Todesfällen, die dokumentiert sind und welchen die Flucht vor einer Polizeikontrolle voraus ging. Bei einer Auseinandersetzung zwischen Polizist*innen und Anwohner*innen in der Pariser Vorstadt Chanteloup-les-Vignes wird auch eine 5-jährige von einem Gummigeschoss getroffen und muss im Krankenhaus ins künstliche Koma versetzt werden. Alle Vorfälle haben sich innerhalb kürzester Zeit allein im April ereignet,viele davon in Verbindung mit Ausgangssperren.

Die Wut in den Banlieues brodelt schon lange und kann durch die genannten Entwicklungen nur weiter angefacht worden sein. Im öffentlichen Diskurs werden die betroffenen Viertel zum Teil verächtlich behandelt. Die rechtsextreme Marine Le Pen von der RN-Partei forderte laut afp etwa die „Neutralisierung des Gesindels“ in Villeneuve-la-Garenne.

Nach drei Nächten der Ausschreitungen vor allem in Villeneuve-la-Garenne folgten zwei etwas ruhigere Nächte. In mehreren französischen Städten fliegen mittlerweile Drohnen, die die Menschen auf der Straße über Lautsprecher auffordern, nach Hause zu gehen. Während die Aufstände in den Banlieues abgeebbt sind, geht es mit der Polizeigewalt allerdings weiter. Immer wieder erscheinen Videos von prügelnden Polizeikräften. Eines entsteht kurz nachdem ein Mann auf der Flucht vor der Polizei nachts in den Fluss springt. Ein Passant nimmt auf, wie die Polizei sich in übelsten rassistischen Ausdrücken über den Flüchtigen lustig macht. Eine junge Frau, die auf einem Transparent ein Wortspiel zwischen „Macron“ und „Coronavirus“ machte („Stop le Macronavirus“) landete in U-Haft. Die nächsten Ausschreitungen kommen bestimmt.

# Text: Lea Fauth

# Titelbild: Symbolbild, Polizisten setzen sich 2015 Gasmasken auf, pixabay

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Unsere Genossin Narges Nassimi ist gestern in München erst Zeugin einer aggressiven Polizeikontrolle eines migrantischen Mannes gewesen und dann selber Ziel von Polizeigewalt geworden. Die Polizisten nahmen ihre Daten auf und werfen ihr nun „rassistische Beleidigung” und „Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte” vor.

Was ist passiert?

Narges kam gestern um kurz nach 16 Uhr von ihrem Arbeitsplatz in der Münchner Innenstadt. Drei weiße Polizisten und eine weiße Polizistin waren dabei, einen jungen migrantischen Mann an seinem Fahrzeug zu kontrollieren. „Der Mann suchte im Auto nach etwas. Er war ganz jung und in Panik”, erzählt Narges. Eine Szene, wie wir sie täglich aus deutschen Großstädten kennen. „Verdachtsunabhängige Kontrollen” im Straßenverkehr treffen meist Braune und Schwarze Autofahrer. Narges näherte sich der Szene und fragte im Vorbeigehen: „Warum kontrollieren Sie eigentlich immer nur uns Kanaken?” Zwei Beamte drehten sich sofort zu ihr um und sagten, dies sei eine rassistische Beleidigung gegen den Mann. Narges konnte ihren Ohren nicht trauen. Sofort forderten sie sie auf, sich auszuweisen. Narges verweigerte dies und erklärte, dass es völliger Unsinn sei, ihr jetzt Rassismus vorzuwerfen, wo sie doch gerade bei dieser rassistischen Polizeikontrolle interveniert habe. Die Beamten meinten, dass den Mann auch indirekt („uns Kanaken”) „Kanake” zu nennen, rassistisch sei. Narges sprach die Beamten daraufhin auf einen kürzlich in der Süddeutschen Zeitung erschienenen Artikel an, nachdem 67 bayerische Polizisten aktuell suspendiert seien. Es geht um Drogenbesitz, Kinderpornografie und Zugehörigkeit zu sogenannten Reichsbürgern. Das war den Beamten dann zu viel. Brutal warfen sie Narges zu Boden und schleiften sie von der einen Straßenseite bis zur Polizeiwanne. Sie verdrehten ihr minutenlang durch brachiale Gewalt die Hände und die Polizistin durchsuchte ihren Rucksack. Zwei deutsche Kolleg_innen aus ihrem Betrieb beobachteten die Szene reglos. Nur eine nicht-weiße Kollegin setzte sich für Narges ein und protestierte gegen die Polizeigewalt. Die Beamten nahmen ihre Personaldaten auf und teilten ihr mit, dass sie wegen „rassistischer Beleidigung” und „Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte” angezeigt würde. Als sich die Beamten von ihr abwandten fragten sie die beiden weiß-deutschen Zeuge_innen, ob sie ihre Personalien als Zeug_innen aufnehmen könnten, damit sie bezeugen, dass sie freundlich waren und keine Gewalt angewandt hätten. Beide bejahten. „Freundlich? Ernsthaft? Muss unbedingt jemanden ermordet werden, dann bedeutet es erst Gewalt für euch?” erwiderte Narges. Die beiden antworteten „Die Polizisten müssen ihre Pflicht erledigen und manchmal müssen sie auch so reagieren”. Von Solidarität unter Arbeiter_innen eines Betriebes war keine Spur.

Rassismus und Kapitalismus

Rassismus ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen, welcher in seiner jetzigen Form der kapitalistischen Produktionsweise und ihrer bürgerlichen Demokratie entspringt. Die kapitalistische Gesellschaft lädt so ihre eigenen Widersprüche auf die migrantischen bzw. (je nach konkretem historischen Verhältnis) nicht-weißen Teile der Arbeiterklasse ab, die, durch den niedrigeren Wert ihrer Arbeitskraft, in direkter Konkurrenz mit „deutscher” Arbeit tritt und so als Sündenbock für die Konkurrenzsituation um vermeintlich knappe Resourcen verantwortlich gemacht wird. Der Rassismus unterbindet so unter anderem die Solidarität und das gemeinsame Kämpfen innerhalb der Arbeiterklasse gegen die herrschende Klasse der Kapitalisten, und dient der gewaltvollen körperlichen Kontrolle der migrantischen bzw. nicht-weißen Teile der Arbeiterklasse, welche sich sowohl durch Gesetze als auch durch alltäglichen, interpersonellen Rassismus ausdrückt.

Rassistische Polizeigewalt

Dass Rassismus also strukturell auch in deutschen Polizeibehörden tief verankert ist, liegt auf der Hand. Aber auch individuelle Menschen mit rassistischer Weltanschauung, also der Idee von „arischer” Vorherrschaft und der „Überlegenheit der arischen Rasse,” sowie Alltags-Rassisten werden in Deutschland Polizeibeamte. Immer wieder werden rassistische und rechte Polizeinetzwerke aufgedeckt, wie z.B. 2012, als zwei damals noch aktive schwäbische Polizisten der Mitgliedschaft im Ku-Klux-Klan überführt wurden, dessen Prinzipien der „Überlegenheit der weißen Rasse” Hand in Hand mit der systematischen Auslöschung von Schwarzen geht. Im gleichen Artikel wird beleuchtet, wie Verfassungsschützer den rassistischen Geheimbund in Baden-Württemberg gedeckt haben sollen. Zudem war einer der beschuldigten Beamten Chef der von der NSU erschossenen Polizistin Kiesewetter.

Auch wenn bürgerliche Medien kaum davon berichten, sterben in Deutschland regelmäßig meist migrantische Menschen durch Polizeigewalt oder in Gewahrsam. Die Todesfälle der letzten Zeit – Hussam Fadl, Amad Ahmad, Matiullah Jabarkhil, Rooble Warsame, William Tonou-Mbobda, Aman Alizada – weisen indes auf Morde durch von Rassismus durchzogene staatliche Institutionen hin. Sollte ein Fall doch mehr Aufmerksamkeit erregen, geben die staatlichen Behörden ihr Äußerstes, um die Verstrickung der Polizei oder anderer staatlicher Behörden unter den Teppich zu kehren. Zu einer juristischen Aufarbeitung kommt es fast nie, die Angehörigen sind oft gezwungen, ein Klageerzwingungsverfahren einzuleiten, damit es überhaupt zu einer Anklage durch die Staatsanwaltschaft kommt. Die Täter:innen können einfach weitermachen wie zuvor und werden nicht zur Verantwortung gezogen. An den Haaren herbeigezogene Schutzbehauptungen von Notwehr werden selbst dann noch geglaubt, wenn ihnen die gesamte Beweislage widerspricht.

Erklärungs- und Relativierungsversuche

Die aufgedeckte rassistische Polizeigewalt wird regelmäßig damit relativiert, dass rassistische Polizist_innen Einzelfälle seien und behördenintern verfolgt würden. Es wird angeführt, die Polizei sei nicht rassistischer als andere Berufsgruppen oder die Gesamtgesellschaft. Sie sei daher nicht besser und nicht schlechter als die Gesellschaft selbst. Einige gehen sogar so weit, den Rassismus in der Polizei als Konstrukt der Medien darzustellen, die dazu diene, die Polizei als Ganzes zu diffamieren. Die Thesen sind jedoch schnell widerlegt. Entgegen der Vorstellung von Einzeltäter_innen spricht selbst ein liberaler Kriminologe wie Tobias Singelstein von einem strukturellen Problem. Die Behauptung, die Polizei sei lediglich ein Spiegelbild der Gesellschaft, vor dem Hintergrund ihrer Entstehungsgeschichte, ist schlichtweg falsch und wird durch Skandale von rechten Netzwerken in der Polizei der letzten Jahre immer wieder entkräftet. Erklärungs- und Relativierungsversuche, um die Polizei als Behörde nicht grundlegend in Frage zu stellen, sondern sie als reformierbares Organ der bürgerlichen Demokratie zu verkaufen, sind nichts weiter als institutionelle Selbstentlastung und Täter_innenschutz.

8. Mai – Tag des Zorns

Heute am 8. Mai, dem Tag der Befreiung vom Faschismus, versuchen migrantische Aktivist_innen deutschlandweit unter der Kampagne „Tag des Zorns”, als Tag gegen Rassismus und rechte Hetze und Gewalt zu etablieren. Gerade jetzt zu Zeiten migrantischer Selbstorganisierung – von den Lagern bis zu den Universitäten – ist es besonders wichtig, auf die strukturellen Dimensionen von Racial Profiling und rassistischer Polizeigewalt mit vertieften Analysen zu weisen. Das, was Narges erlebt hat, ist kein Einzelfall. Polizei und Verfassungsschutz sind bekanntlich nicht nur durchsetzt von Rassismus auf institutioneller Ebene, sondern es befinden sich auch organisierte faschistische Netzwerke innerhalb der Polizei, Armee, im Verfassungsschutz und dem Rest des tiefen Staates.

Deswegen müssen wir heute Antworten suchen auf die Zerstreutheit und den Defätismus der deutschen Linken und uns wieder organisieren: in unseren Betrieben, an unseren Ausbildungsorten und unter Nachbar_innen. Wir können nicht zulassen, dass uns rassistische Gewalt als Klasse spaltet und den dahinter liegenden Konflikt als „ein weiteres Machtverhältnis” abtun. Kapitalismus ist kein Nebenprodukt, neben einem rassistischen System. Es ist die kapitalistische Produktionsweise und die sie schützende bürgerlichen Demokratien, die diese Form der Spaltung unserer Klasse in deutsche und migrantische Arbeitskraft, in Weiße und Nicht-Weiße, erst durch spezifische Gesetze institutionalisiert und somit rassistische Überausbeutung und rassistische Gewalt legitimiert. Und es ist diese Produktionsweise, die es umzustürzen gilt.

Nehmt teil an den heutigen #Migrantifa Aktionen und zeigt: Wenn sie eine_n angreifen, dann greifen sie uns alle an!

# Von Lea Dalmazia, Debora Darabi, Ramsis Kilani, Nadia Rohi und Eleonora Roldán Mendívil

Die Autor_innen sind aktiv in antiimperialistischen, klassenkämpferischen Kreisen in NRW, München und Berlin.

# Titelbild: pixabay

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Auch wenn im Moment die mediale Berichterstattung vom Corona-Virus geprägt ist, reicht es aus, sich ein paar Wochen in die Vergangenheit zurückzuversetzen, um die Nachrichten wieder vor Augen zu haben: Menschen werden mit Tränengas, Blendgranaten, Gummigeschossen, dann aber auch mit scharfer Munition, be- und erschossen. Ein Grundrecht wird für einen Monat mir nichts, dir nichts ausgesetzt. Rechtsbrüche bleiben ohne Konsequenzen. Berichte von geheimen Lagern. Prozesse ohne rechtsstaatliche Grundlagen. Grenzbullen drängen Boote ab und schießen zumindest in deren Richtung. Migrant*innen, Journalist*innen und NGO´s werden von Rechtsextremen angegriffen. Um nur eine Auswahl der Ereignisse zu nennen, die sich an der europäischen Außengrenz in Griechenland abspielen.

Auch wenn man von der europäischen Politik nicht viel erwarten kann, könnte man doch vermuten, dass zumindest versucht wird, das Gesicht zu wahren, Menscherechte hochgehalten und liberale Fassade besungen wird. Doch nicht mal dem ist so. Von seiten der EU gab ‘s Zuspruch für die Reaktion Griechenlands und Kohle obendrauf. Dazu natürlich noch das üblich rassistische Schwadronieren über Grenzen, die ja unbedingt gegen – ja was eigentlich?! – verteidigt werden müssen. Von der Union der Kapitalisten kann man leider nicht viel mehr erwarten, die Politik der Abschottung hat System, wird – wie mit dem EU-Türkei-Deal – in Abkommen gegossen und von der Grenzschutzagentur Frontex umgesetzt. Es bleibt aber die Frage, wieso es keinen Widerspruch gab der laut genug war? Auslöser hätte es genug gegeben.

Die Chronologie der Schande

Wo noch und vor allem im Spätsommer und Herbst 2015 viele Menschen über Griechenland und die östlichen Fluchtrouten nach Deutschland flüchten konnten, wurde dies letztendlich spätestens quasi komplett mit dem “EU/Türkei-Flüchtlingsabkommen” unmöglich gemacht. Politiker*innen hoben die vermeintliche nötige und “humanitäre Dimension” des Deals hervor, die rassistische Ideologie der Ausgrenzung dahinter zu kaschieren.

Somit war diese Fluchtroute vorerst dicht und die Zahl flüchtender Menschen sank kontinuierlich, jedoch logischerweise nicht deren Schutzbedürftigkeit und Leid. Nur fand all das nicht mehr direkt vor der eigenen Haustür statt – so konnte man sich wieder weniger anstrengenden Themen, anstatt der eigenen Verantwortung im Umgang mit Flüchtenden, widmen.

Die Menschen, denen bereits die Flucht gelang oder trotz all der Hindernisse den Weg nach Griechenland schafften, wurden dann sich selbst, in völlig überfüllten Lagern und unter katastrophalen humanitären Bedingungen, überlassen – humanity by “your” EU. Bereits vor der einseitigen Grenzöffnung der Türkei, stiegen die Zahlen der in Griechenland ankommenden Flüchtenden wieder an, was die Zustände in den Lagern natürlich verschlimmerte. Anfang des Jahres 2020 waren es im Lager bei Moria auf Lesbos über 20.000 Flüchtende, dabei ist es nur für 3.000 ausgelegt. NGO´s wie ProAsyl machten immer wieder auf die Zustände aufmerksam, ab und zu gab es Berichte. Teile der Insass*innen demonstrieren Anfang Februar für die schneller Bearbeitung ihrer Anträge, wurden dann jedoch von Sondereinheiten der Bullen mit Tränengas angegriffen. Bis dahin keine nennenswerte Reaktion von Seiten der EU-Mitglieder und Politiker*innen.

Als dann die Türkei Anfang März die Grenze zu Griechenland für Flüchtende öffnete, wurde auf diese mit Repression anstatt Unterstützung reagiert. Es kam zu den besagten Angriffen auf die Menschen. Denjenigen, die es trotzdem unbeschadet über die Grenze schafften, wurde kurzerhand die Stellung eines Asylantrags verweigert . Dazu kamen die Gerichtsurteile, bei denen Menschen zu absurd hohen Strafen verurteilt wurden, weil sie zum Spielball von europäisch-türkischer Politik gemacht wurden. Die europäische Solidarität zeigt sich dann darin, dass auf hilflose Menschen mit mehr Frontex-Mitarbeiter*innen an der griechischen Grenze reagiert wird.

Die Situation spitzte sich anschließen immer mehr zu. Es kam zu Übergriffen von Rechtsextremen auf Flüchtende, Journalist*innen und NGO`s auf der Insel Lesbos, was zur Folge hatte, dass immer mehr NGO`s ihre Helfer*innen abziehen mussten und sich die humanitäre Situation noch zuspitzte. Auch aus anderen europäischen Ländern reisten Faschos an, welche dann immerhin von einigen solidarischen Menschen “empfangen” wurden.

So berichtet auch das Bündnis Seebrücke: “Viele NGOs mussten sich in der Folge von tätlichen Angriffen und Bedrohungen zurückziehen, und die aktuell geschlossenen Grenzen, sowie eingeschränkten Bewegungsfreiheiten durch den Corona-Virus tragen leider auch nicht zu einer Verbesserung der Situation bei.”

Selbstverständlich wurde die Situation durch die globale Corona-Pandemie nicht besser. Im Gegenteil, gerade in den Lagern wird sich das Virus wesentlich schneller und tödlicher ausbreiten als anderswo. Auf Hilfe aus der Politik und eine schnelle Evakuierung brauchen die Menschen nicht zu hoffen, stattdessen bleiben sie sich selbst überlassen. Zu der in Moria grassierenden Krätze, müssen sich jetzt Insass*innen selbst Atemschutzmasken nähen, damit die Ausbreitung des Corona-Virus zumindest etwas verlangsamt werden kann.

Auch das Bündnis Seebrücke kommt zum selbigen Schluss: “In den vergangenen Wochen hat sich die Situation erheblich verschärft. Zuerst durch die einseitige Grenzöffnung der Türkei Anfang März und zuletzt durch die globale Corona-Krise, welche eine enorme Bedrohung für die Menschen in den Lagern auf den griechischen Inseln darstellt”.

Dass die Situation sich ändert, wird nur durch Widerstand aus der Bevölkerung erzwungen werden können. Ohne diesen werden die Auflistungen der Ereignisse weiterhin mit “Fortsetzung folgt…” abgeschlossen werden müssen.

Auch wenn es auf den ersten Blick nach einer Kontinuität der Ereignisse aussieht, welche schlimm genug wäre, so stimmt das nicht ganz. Was zugenommen hat, ist die Offenheit, mit der die Flüchtenden entmenschlicht und anschließend bekämpft werden. Scheinbar haben die politischen Entwicklungen in den letzten Jahren dafür gesorgt, dass die Entscheidungsträger*innen sich einer Mehrheit sicher sein können, wenn sie so wie geschehen verfahren. Die Vorfälle einzeln betrachtet, stehen schlicht für die konsequente Fortsetzung europäischer Grenzpolitik, das zynische Wegschauen angesichts der Katastrophe in Europa ist eine menschliche Bankrotterklärung. Und das ändert sich nicht durch die medienwirksam inszenierte Aufnahme von 50 minderjährigen Geflüchteten in Deutschland, die mehr schlecht als recht die menschenverachtende europäische Politik zu kaschieren versucht.

Distel im Beton

Doch es gibt auch viele Menschen, die nicht nur wegschauen, sondern sich aktiv dagegen einsetzten. Wie das Bündnis Seebrücke berichtet, brachten die Geschehnisse Anfang März einen “enormen medialen Fokus auf das Thema Migration”, welchen sie nutzten, um die “menschenunwürdigen Bedingungen in griechischen Lagern wie Moria” zu thematisieren. Außerdem fordern sie aktuell mit ihrer Kampagne #LeaveNoOneBehind, dass die Lager sofort evakuiert werden müssen.

Gerade Anfang März brachte das Thema viele Menschen auf die Straße, was zeigt, “dass einer breiten Zivilgesellschaft nicht egal ist, was mit ihren Mitmenschen passiert. Gerade dann wenn Menschenrechte eingeschränkt werden, wie durch die Aussetzung des Asylverfahrens, stehen Menschen auf und sagen: ‘Das ist nicht mein Europa’.” Zudem wurden auf den Demonstration “aktuelle Berichte aus Lesbos vorgetragen, welche uns nicht selten von Helfer*innen persönlich erreichten. Die Proteste wurden also vor Ort durchaus wahrgenommen”.

Durch das Corona-Virus verändern sich natürlich auch die Aktionsformen um politischen Druck auszuüben. Das Bündnis Seebrücke hat deswegen bereits zu Banneraktionen und Fensterdemos aufgerufen und wirbt weiterhin dafür, die Petition #LeaveNoOneBehind zur gleichnamigen Kampagne zu unterschreiben. Abschließend fordern sie: “Für die Evakuierung der geflüchteten Menschen auf den griechischen Inseln gilt, dass wir keine Zeit verlieren dürfen. Hier ist sehr schnelles Handeln geboten. Wir müssen jetzt unbedingt politischen Druck ausüben, um eine humanitäre Katastrophe zu verhindern.”

Am Ende bleibt trotzdem festzuhalten, dass der Widerstand zu gering ist. Es gibt neben dem Bündnis Seebrücke weitere Initiativen, die sich gegen den aktuellen Umgang mit Flüchtenden wehren. Diese allein können allerdings wenig ausrichten, wenn dazu die Massen fehlen. Auch wenn gerade Anfang März durch die mediale Präsenz das Thema in der Öffentlichkeit stattfand und die Demonstrationen gut besucht waren, so waren es trotzdem zu wenige, um den politischen Vorgängen etwas entgegensetzen zu können.

Die Flüchtenden sind noch an den Grenzen und in den Lagern. Die Zustände werden weiterhin durch die Corona-Pandemie schlimmer. Auch wenn das Geschriebene schon oft gelesen wurde, scheint es leider bitter nötig zu sein, die Situation weiter zu thematisieren. Ändern wird sich nur etwas, wenn genug politischer Druck erzeugt wird. Das Bedarf zwar im Moment anderer Aktionsformen, ist aber möglich. Ein erster Schritt ist es, zu benennen, welche Verbrechen durch die EU an den europäischen Grenzen verübt werden und somit einem kollektiven Wegschauen entgegenzutreten.

Text: Tim Hoffmann

Titelbild: Christian Mang; 2016 Idomeni

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Man könnte eine launige Glosse darüber schreiben, dass die Bundespolizei jetzt auch noch Geld dafür haben will, wenn sie jemanden schikaniert. Aber bei genauem Hinsehen ist das Thema viel zu ernst, um darüber zu schmunzeln. Die vom Bundesministerium für Inneres im September so gut wie unbemerkt von der Öffentlichkeit eingeführte Gebührenverordnung für „individuell zurechenbare öffentliche Leistungen“ ist ein weiterer Schritt hin zum Polizeistaat. Natürlich soll der Eindruck vermittelt werde, es handle sich dabei um eine rein verwaltungstechnische Maßnahme – aber in einer Zeit, in der in Bund und Ländern überall die Sicherheitsbehörden mehr Durchgriffsrechte erhalten und Polizei und Justiz an der Repressionsschraube drehen, ist das eine gefährliche Verharmlosung.

Welche Gebühren sind nun eingeführt worden und was ist mit „individuell zurechenbaren Leistungen“ gemeint? Die Formulierung klingt wohl nicht zufällig ähnlich schwammig wie bestimmte Begriffe, mit denen die Behörden zuletzt ihre Definitionsmacht erweitert haben, zum Beispiel die viel diskutierte Figur des „Gefährders“. Zur Kasse sollen Personen gebeten werden, die vorsätzlich oder fahrlässig eine „Gefahrenlage“ schaffen. Natürlich bestimmt die Bundespolizei vor Ort, wann eine Gefahrenlage eintritt. Die taz hat die neuen Gebühren Anfang Februar in einem Beitrag recht anschaulich erklärt. Und zwar mit dem Beispiel eines Fußballfans, der auf einem Bahnhof einen Bengalo gezündet hat und deshalb von der dort zuständigen Bundespolizei eingesackt, auf die Wache mitgenommen und erkennungsdienstlich behandelt wird.

Der Fan müsse sich auf eine Anzeige wegen Verstoßes gegen das Sprengstoffgesetz einstellen, heißt es in dem Artikel. Aber davor gebe es noch „eine Strafe vor der Strafe“. Nach der neuen Verordnung muss der Fan in diesem Beispiel nämlich folgende Gebühren für die nicht bestellte „Dienstleistung“ bezahlen: Identitätsfeststellung: 53,75 Euro, Anordnung zur Gewahrsamnahme 74,15 Euro, eine Viertelstunde Fahrt auf die Wache 15,69 Euro, erkennungsdienstliche Behandlung mit Fotos und Fingerabdrücken 59,50 Euro und für jede Viertelstunde in Gewahrsam 6,51 Euro. Für einen „stinknormalen Polizeieinsatz“ müsse man also eine hohe dreistellige Summe auf den Tisch legen, noch bevor der Rechtsstaat über Schuld und Unschuld befunden und die eigentliche Strafe verhängt hat.

Das Prinzip ist schon bisher nicht ganz unbekannt im Bereich der Landespolizeibehörden. Wer zum Beispiel als Betrunkene*r aufgegriffen wird, muss bereits jetzt für den Polizeieinsatz und die Unterbringung in der Ausnüchterungszelle zahlen. In Berlin, so erläuterte die taz, kostet der Gewahrsam für „hilflose, nicht vorläufig festgenommene Personen“, also Betrunkene oder Berauschte, 208,89 Euro zuzüglich der Fahrt auf die Wache. Nachts werde es noch teurer.

Die Logik dieser neuen Verordnung ist bestechend einfach: Fußballhooligans und Betrunkene haben es ja nicht anders verdient. Was fällt den Leuten auch ein kriminell zu werden? Abgesehen davon, dass diese Vorverlagerung von Strafe in einen vorjuristischen Raum eine offensichtliche Aushölung des sonst gern bemühten Rechtsstaats ist, ist sie auch eine politische Repressionsverschärfung. Diese wird mit hundertprozentiger Sicherheit auch bald politisch Aktive treffen. So ist in der Verordnung eine mündliche Platzverweisung in Verbindung mit Identitätsfeststellung mit 44,65 Euro gelistet, eine schriftliche Platzverweisung mit 88,85 beim ersten Mal und 52 Euro bei Wiederholung. Für eine gut verdienende Person aus der Mittelschcht ist das nicht viel Geld, aber zu denen zählen viele Linke nicht. Mit Verwaltungs-, Gerichtskosten und ähnlichem ist schon manche*r in die Pleite getrieben und zum Schweigen gebracht worden. Es handelt sich bei der neuen Gebührenverordnung also eindeutig um ein Disziplinierungsinstrument, das abschreckend wirkt und mit dem die Versammlungsfreiheit im Ergebnis weiter eingeschränkt wird.

Und noch eines: Das Ministerium für Inneres wird bekanntlich vom früher CSU-Chef Horst Seehofer geführt, also dem Kader einer Partei, die sich derzeit mit Macht gegen ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen stemmt. Dass dort gerast, gedrängelt und genötigt wird, bis der Arzt kommt, dass die Autobahnen im Grunde rechtsfreie Räume sind, interessiert die Herrschaften nicht. Aber wehe du zündest ein Bengalo. Dass die ultrarechte Deutsche Polizeigewerkschaft im März 2019 jubelte, als ein Entwurf der Gebührenverordnung vorlag, liegt auf der Hand. „Endlich werden damit zukünftig zum Beispiel polizeiliche Maßnahmen gegen Verhaltens- oder Zustandsverantwortliche gebührenpflichtig“, freute sich Heiko Teggatz, erster stellvertretender Bundesvorsitzender der DPolG. Unter den „Leistungen“, die künftig kostenpflichtig seien, führte die Gewerkschaft übrigens auch den Einsatz von Wasserwerfern und die „Anwendung unmittelbaren Zwangs“ an. Gut, dass diese Verordnung beim G-20-Gipfel in Hamburg im Juli 2017 noch nicht galt. Das wäre für viele, die in den Genuss der “Dienstleistung” Wasserwerfereinsatz gekommen sind sonst sehr teuer geworden.

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Ecka Lux ist bei den Gegenprotesten zum G7 im französischen Baskenland. Über die militärische Atmosphäre in Biarritz und Umgebung, massive Polizeipräsenz, Kontrollen, Sperrgebiete und damit schon fast entstandene Perspektivlosigkeit des Widerstands.

Macron ruft zum G7 Gipfel nach Biarritz und ein Touristenparadies wird zur Festung. 13200 französische Bullen, Militär, Sicherheitskräfte jeder Couleur und Spezialeinheiten der verschiedenen Staats- und Regierungschefs machen diese wunderschöne Atlantikregion zum Albtraum jeden Widerstands. Insgesamt sollen 25000 Einsatzkräfte vor Ort sein, sogar Fahrzeuge der Berliner Polizei wurden gesichtet.

Eingeteilt in zwei Sperrzonen, wird die kleine Stadt an der Küste, die selbst nur 25000 Einwohner*innen hat, zur NoGo-Area. Die äußere blaue Zone ist unter strenger Kontrolle noch von Anwohner*innen und Presse passierbar, während die innere rote Zone nur mit Begleitung betreten werden darf. Die Auflagen sind so streng, dass man unter Umständen in den Genuss kommen kann, zu beobachten, wie Bullen Bullen kontrollieren.

Die gesamte Region ist ein Spießrutenlauf. An fast jedem Kreisverkehr stehen Bullen, überall gibt es Kontrollen und der regionale Nahverkehr ist größtenteils ausgesetzt. Weil das Protestcamp zwangsläufig außerhalb liegt und die Anbindung sowieso kaum gegeben ist, wird so die Mobilität der protestierenden Menschen vor Ort fast unmöglich gemacht. Die einzelnen Punkte, an denen Aktionen geplant sind, liegen teilweise 40 km auseinander, aber auch wenn das nicht der Fall ist, kommt mensch kaum von einem Ort zum Anderen, ohne mehrmals kontrolliert oder festgesetzt zu werden.

An der zentralen Großdemo in Hendaye nahmen laut Veranstalter*innen bis zu 15.000 Menschen teil

Generell wurde die Situation im Vorfeld schon als chancenlos und sehr riskant eingeschätzt. Die Beteiligung an den Aktionen hält sich in Grenzen, viele sind gar nicht erst angereist. Da Uneinigkeit über den Aktionskonsens herrscht, kam es dazu, dass auf der zentralen Großdemonstration am Samstag in Hendaye ca. 15000 Menschen friedlich und bunt demonstrierten, während im 40 km entfernten Bayonne am Abend mehrere hundert Menschen, teils militant, gegen das dortige Demonstrationsverbot vorgingen. Die Presse wurde hier massiv kontrolliert und teils dazu gezwungen ohne Schutzausrüstung zu arbeiten. Immer wieder kam es zu massiven Verletzungen der Demonstrations- und Pressefreiheit. Anstatt das Demonstrationsrecht zu schützen, wurde mit dem Schutz der polizeilichen Maßnahmen argumentiert.

In Bayonne protestierten dagegen am Samstagabend einige hundert Menschen teils militant gegen die Demonstrationsverbote.

Im Vorfeld des Gipfels kam es zwar am Freitag, vom Camp ausgehend, zu einzelnen militanten Aktionen und Blockaden, die Racheaktion der Bullen folgte aber promt. Nachdem ein Motoradcop angegriffen und ein Zivilfahrzeug demoliert wurde, versuchten die Einsatzkräfte das Camp zu stürmen, wobei es leider auf Seite der Campbewohner*innen zu Verletzten kam. Wenigstens stießen die Einsatzkräfte aber auf massiven Widerstand und mussten sich hinter das Tor auf die Hauptstraße zurückziehen. Eher planlos schafften sie es noch Barrikademülltonen zu klauen, doch erneut in das Camp vorrücken konnten sie nicht.

Für Sonntag waren eigentlich Blockaden an sieben Orten rund um Biarritz geplant, welche aber aufgrund der drohenden massiven Polizeigewalt abgesagt worden sind. Aus dem selben Grund fand auch eine Menschenkette, die als Ersatzaktion gedacht war, nicht statt. Es herrscht allgemeine Ahnungslosigkeit und immer wieder kommen unterschiedliche Infos darüber, wo und was noch passieren soll. Offensichtlich hat die Repression hier gut funktioniert. Man muss Respekt vor denen haben, die es trotz alledem immer wieder probieren, Widerstand zu leisten.

Währenddessen verbringen die Reichen und Privilegierten eine vermeintlich sichere Zeit auf den Straßen der blauen Zone. Mit täglich spielender Bigband und Happening vor teuren Restaurants, feiert hier die obere Klasse und ihre Entourage ihre Hochkultur. Durch Grenzkontrollen, Straßensperren und Schnellfeuerwaffen von der Bevölkerung abgeschirmt, mutet diese Situation wahrlich dystopisch an. Wenn auch viele Menschen in ihrem Alltag gern ihre Augen davor verschließen, hier springt einem die Absurdität des Systems mit seinen Kontrasten direkt ins Gesicht.

# Autor Ecka Lux, verfasste den Artikel am 25.08.19

# Fotos: Willi Effenberger

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Kommentar

Es gibt wieder mal einen tragischen Einzelfall, in dem Polizisten sich nicht anders zu helfen wussten, als den „finalen Rettungsschuss“, wie der tödliche Knarrengebrauch im Behördensprech euphemistische genannt wird, abzugeben. Ein bisher namenloser junger Mann wurde am vergangenen Samstag von der Polizei im niedersächsischen Stade erschossen. Das Opfer, ein 20-jähriger Afghane, der in einer Unterkunft für Geflüchtete untergebracht war, soll die Polizisten angeblich mit einer Eisenstange angegriffen haben, woraufhin mehrjährige Ausbildung nur einen Schluss ließ: Abknallen. Mit Sicherheit wird festgestellt werden, dass es sich um Notwehr gehandelt hat.

Notwehr, wie im Fall von Adel B., der Mitte Juni nach offizieller Darstellung auch von Polizisten in Notwehr erschossen wurde. B. Hatte vorher per Telefon angekündigt, sich umbringen zu wollen. Die Cops verfolgten den mit einem Messer hantierenden Mann bis nach Hause, wo er – so hieß es – auf auf die Polizisten losgestürmt sei. Die Beamten beteuerten, sich nicht anders zu helfen gewusst zu haben und erschossen ihn. Erst als Wochen später ein von der Polizei ursprünglich beschlagnahmtes (und dabei praktischerweise vom Handy gelöschtes – die Cloud hat es gerettet) Video auf sozialen Netzwerke auftauchte, auf dem zu sehen ist, dass Adel B. in den Hauseingang seiner Wohnung geht und dann im Haus erschossen wird, wurde selbst der bürgerlichen Presse klar klar: Es war eben keine Notwehr.

Wie im Fall von Fall von Hussam Fadl. Fadl wurde am 16. September 2016 in einer Unterkunft für Geflüchtete in Berlin-Tempelhof von einem Polizisten erschossen. Nachdem Fadls Tochter sexuell belästigt worden war, kam es zu einem Polizeieinsatz, bei dem der Tatverdächtige festgenommen wurde. Fadl soll dann mit einem Messer bewaffnet auf die Polizisten zugestürmt sein und wurde dann in “Notwehr/Nothilfe” abgeknallt, so der offizielle Tathergang. Das Ermittlungsverfahren gegen die beteiligten Polizisten wurde im September 2017 eingestellt.

Bis auf den Polizisten, der den Schuss abgegeben hatte, hatte allerdings von Anfang an niemand, nicht einmal die anderen beteiligten Polizisten, ein Messer gesehen. Und Fadl wurde von hinten erschossen. Und auf dem Messer, dass Fadl angeblich in der Hand hielt, und das sichergestellt wurde, wurden keine Fingerabdrücke von Fadl gefunden. Trotzdem mussten die Angehörigen erst ein Klageerzwingungsverfahren einleiten, damit die Staatsanwaltschaft Anklage erhebt. Mittlerweile hat sie die Ermittlungen wieder aufgenommen, die Erfahrung aus zahllosen anderen Fällen tödlicher Polizeigewalt lassen aber wenig Hoffnung auf irgendeine Form von Gerechtigkeit aufkommen.

Polizisten, die morden, haben von der Klassenjustiz nichts zu befürchten. Sie können ballern wie sie wollen, Leute in Arrestzellen in Brand stecken, psychisch Kranke erschießen – juristisch gesehen alles egal. Das sie das machen können liegt in der Logik des Systems, staatliche Gewalt muss immer legitim erscheinen. Jegliches Infragestellen staatlichen Handelns stellt ein Infragestellen staatlicher Gewalt an sich dar.

# Titelbild: Dennis Skley CC BY-ND 2.0

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Die 2019 gegründete Kampagne Death in Custody (Tod in Gewahrsam) recherchiert und arbeitet zu in Gewahrsam um‘s Leben gekommenen POC […]

Das Bild sorgte im Herbst 2019 für weltweite Empörung. Zwei berittene Polizisten führen einen festgenommenen Afroamerikaner im texanischen Galveston mit […]

Seit #Blacklivesmatter Millionen Menschen weltweit auf die Straßen mobilisiert, versprechen diverse Regierungen die ein oder andere „Verbesserung“ und Reform. Doch […]

Frankreichs Polizei setzt bei der Druchsetzung der Ausgangssperren wegen Corona ihr brutales Vorgehen fort, das schon bei der Niederschlagund der […]

Unsere Genossin Narges Nassimi ist gestern in München erst Zeugin einer aggressiven Polizeikontrolle eines migrantischen Mannes gewesen und dann selber […]

Auch wenn im Moment die mediale Berichterstattung vom Corona-Virus geprägt ist, reicht es aus, sich ein paar Wochen in die […]

Man könnte eine launige Glosse darüber schreiben, dass die Bundespolizei jetzt auch noch Geld dafür haben will, wenn sie jemanden […]

Ecka Lux ist bei den Gegenprotesten zum G7 im französischen Baskenland. Über die militärische Atmosphäre in Biarritz und Umgebung, massive […]

Kommentar Es gibt wieder mal einen tragischen Einzelfall, in dem Polizisten sich nicht anders zu helfen wussten, als den „finalen […]