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Die Abschottungspolitik der Europäischen Union führt immer wieder zu Eskalationen an den Außengrenzen der Staatengemeinschaft. Zuletzt hat sich die Lage an der polnisch-belarussischen Grenze zugespitzt, weil eine wachsende Zahl Geflüchteter versucht, über diese Route in die EU zu gelangen. Als Antwort entsandte die polnische Regierung tausende Soldaten an die Grenze und richtete eine Sperrzone ein, in die weder internationale Beobachter noch Ärzte und Journalisten gelassen werden. Helfer dringen dennoch unter Inkaufnahme persönlicher Risiken zu den Geflüchteten vor. Sie berichten von unhaltbaren Zuständen. Die Aktion Mauerfall jetzt! – bestehend aus der Seebrücke DeutschlandLeaveNoOneBehind und dem Verein Wir packen’s an aus dem brandenburgischen Bad Freienwalde – brachte vor kurzem mit einem Bus Sachspenden an die Grenze. Unter den Aktivisten war auch Tareq Alaows, aktiv bei Seebrücke und dem Flüchtlingsrat Berlin. Im Interview mit dem Lower Class Magazine berichtet er von der Aktion und der Lage an der Grenze. 

Ihr wolltet den Geflüchteten an der polnisch-belarussischen Grenze Hilfsgüter bringen. Wie ist es gelaufen?

Leider sind wir nicht bis zur Grenze durchgekommen. Direkt an der Sperrzone wurde der Bus gestoppt. Plötzlich war überall Polizei, uns wurde erklärt, dass wir umkehren müssten. Die Situation war so eskalierend, dass wir das wir das Gefühl hatten, man würde uns in Gewahrsam nehmen, wenn wir noch geblieben wären. Schweren Herzens haben wir uns zur Umkehr entschlossen, da eine Konfrontation hier keinen Sinn gemacht hätte. Die Hilfsgüter, die wir dabei hatten, haben wir an humanitäre Organisationen übergeben, die eine Möglichkeit haben, sie Geflüchteten zukommen zu lassen. 

Erklärtes Ziel eurer Aktion war neben dem Transport von Sachspenden, geflüchtete Menschen auf der Rückfahrt mit nach Deutschland zu nehmen. 

Ja. Wir hatten beim Bundesinnenministerium um eine Erlaubnis gefragt, dass wir Geflüchtete im Bus mit nach Deutschland zurücknehmen können. Es lagen bereits Zusagen von drei deutschen Kommunen vor, die Menschen aufzunehmen. Aber wie nicht anders zu erwarten war, hat das BMI (Bundesministerium des Inneren, Anm.) auf unser Hilfsangebot nicht reagiert. 

Habt Ihr denn bei eurer Aktion Geflüchtete treffen können?

Vor Ort ging das leider nicht. Aber ich bin über die sozialen Medien im Kontakt mit vielen geflüchteten Menschen in der Grenzregion. Weil ich eine relativ große Reichweite in den entsprechenden Communities habe und selbst arabisch spreche, schreiben sie mich dort an. Ich komme ja aus Syrien und bin vor sechs Jahren selbst geflüchtet und dann nach Deutschland gekommen, habe hier deutsch gelernt. 

War hörst du über die Lage vor Ort? Es heißt die Versorung sei miserabel, die Menschen der Kälte und Witterung seit Tagen und Wochen fast schutzlos ausgeliefert. Ein Video des belarussischen Fernsehens zeigte Menschen, die um Lagerfeuer kauern. 

Von der belarussischen Seite gibt es überhaupt keine Versorgung. Die Menschen haben faktisch nur die Sachen, die sie mit sich tragen. Wer also eine Decke mitgebracht hat, der hat eine. Wer keine dabei hatte, hat eben keine. Sie versuchen, sich an Lagerfeuern ein wenig zu wärmen. Auch zu Essen und zu Trinken haben die Menschen zu wenig. Viele sind schon länger dort. Sie kommen weder über die von Grenzpolizisten und Soldaten gesicherte polnische Grenze, noch kommen sie zurück nach Belarus. Die Grenzer auf belarussischer Seite lassen sie nicht durch, um zum Beispiel etwas zum Essen oder zu Trinken zu beschaffen. 

Das heißt, die Menschen sind im Grunde eingesperrt in den Wäldern.

Sie stecken fest im Niemandsland zwischen den beiden Staaten, kommen nicht vor und nicht zurück. 

Bis vor kurzem war von zehn bestätigten Todesfällen die Rede, Menschen, die erfroren oder an Dehydrierung gestorben sind. Jetzt kam noch ein Fall hinzu.

Ja, es ist schrecklich. Ein 14 Jahre alter Junge wurde heute morgen tot aufgefunden, offensichtlich ist er erforen. Viele Berichte, die ich von Geflüchteten aus der Region empfange, sprechen von viel mehr Toten als den jetzt elf bestätigten. Die Dunkelziffer ist hoch. Viele Geflüchtete, die durchgekommen sind und hier in Deutschland ankommen, berichten, dass sie in den Wäldern Leichen gesehen haben. 

Wie viele Geflüchtete halten sich denn nach deinen Kenntnissen in der Grenzregion auf?

Laut den Zahlen, die ich bekomme, sind es 4000 bis 5000 Personen. Aber es könnten auch noch mehr sein. 

Es heißt, die polnischen Grenzpolizisten und Soldaten würden äußerst brutal gegen die Menschen vorgehen. Die Männer, die es geschafft hätten und hier ankommen, hätten fast alle Hämatome oder andere Verletzungen. Entspricht das deinen Erkenntnissen?

Das kann ich bestätigen, auch auf Grundlage der Berichte meiner Kollegen aus der Flüchtlingsberatung in Berlin. Es liegen viele Berichte von Gewaltspuren an den Körpern der Menschen vor, meist erwachsene Männer. Es wird von hunderten rechtswidrigen Pushbacks berichtet, die mit Gewalt verbunden sind. Von denen, die hier sind, sind die wenigsten gleich beim ersten Mal durchgekommen. Als wir vor Ort waren, bekam ein Aktivist einen Anruf von einer achtköpfigen Familie mit schwerkranker Tochter. Die hatte drei oder vier Mal versucht, über die Grenze zu kommen. Es wurde berichtet von Gewaltspuren bei diesen Menschen, das Kind wurde nicht medizinisch versorgt. Wir wissen nicht, wie es ihnen jetzt geht und wo sie sind. 

Hierzulande hat die Entwicklung eine üble Kampagne in den Leitmedien und viel Hetze in den sozialen Medien ausgelöst. Bild, Welt, die FAZ und viele andere Medien haben kritiklos das Narrativ übernommen, es handele sich um einen „hybriden Krieg“ des belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko, die Geflüchteten würden „als Waffen benutzt“. Was sagst du dazu?

Diese Berichterstattung und die Debatte führen zu einer Enthumanisierung. Wir haben es mit Menschen zu tun, die in Not sind. Sie kommen zu einem großen Teil aus Syrien, Irak und Afghanistan. Das sind Länder die instabil sind, in denen es Kriege gibt oder gab. Die Not dieser Menschen wird von Lukaschenko missbraucht, keine Frage. Aber die politische Antwort der EU kann nicht sein, dass neue Zäune und Mauern errichtet werden, sondern die müssen abgebaut werden. Ich begreife nicht, woher diese Angst vor den geflüchteten Menschen kommt. Wir machen uns doch erpressbar, wenn wir mit Panik reagieren. Die Gesamtzahl der Menschen an der Grenze liegt, wie gesagt, bei etwa 5000 Personen. Wenn die alle aufgenommen und in ganz Europa verteilt werden, dann machen sie einen Anteil von 0,01 Prozent der europäischen Bevölkerung aus. 

Rechte Politiker und Medien wie die Bild-Zeitung arbeiten mit dem Framing, 2015 dürfe sich nicht wiederholen.

Den Satz kann ich aus meiner persönlichen Erfahrung heraus nur bekräftigen – allerdings ganz anders, als etwa die CDU oder die AfD es meinen. Ich gehöre zu den Menschen, die damals nach Deutschland gekommen sind und weiß, wovon ich rede. 2015 bedeutet soviel Leid, bedeutet brutale Reaktionen gegen geflüchtete Menschen, 2015 steht für viele, die ertrunken sind. Und das ist es, was sich auf keinen Fall wiederholen darf. Darum müssen wir sichere Fluchtwege schaffen, dass Menschen Asyl außerhalb von Europa beantragen können und sich nicht auf solche lebensgefährlichen Routen begeben müssen. 

Die EU scheint das Elend der Menschen an der Grenze nicht zu interessieren. Offenbar geht es nur darum, die Abschottung um jeden Preis aufrecht zu erhalten. Ist es nicht absurd, wenn EU-Kommisionspräsidentin Ursula von der Leyen, Lukaschenko Zynismus vorwirft?

Natürlich. Die EU macht ja selbst zynische Deals mit Diktatoren, nur um Geflüchtete von Europa fernzuhalten. Zum Beispiel der sogenannte Flüchtlingsdeal mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Oder der Deal mit der so genannten libyschen Küstenwache, das sind paramilitärische Gruppen, die von der EU finanziert werden, um Geflüchtete aufzuhalten. Das Muster ist immer dasselbe, man will null Asylbewerber in Europa. Aber das funktioniert einfach nicht, weil die Menschen aus Ländern kommen, in denen sie keinerlei Perspektive haben. Selbst wenn die Hoffnung für sie, ein sicheres Leben in Europa zu führen, noch so gering ist, ist das noch eine Hoffnung – in ihrer Heimat haben sie gar keine Hoffnung mehr. 

#Titelbild: Srishti Pandya on unsplash

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Kann sich noch jemand an den Türknauf des Todes erinnern? Am 29. Juni 2017 wurde der Kiez- und Nachbarschaftsladen Friedel54 geräumt. Die Polizei behauptete während der Räumung auf twitter, die Besetzer*innen des Ladens hätten einen Türknauf unter Strom gesetzt: „Lebensgefahr für unsere Kolleg. Dieser Handknauf in der #Friedel54 wurde unter !Strom! gesetzt. Zum Glück haben wir das vorher geprüft.“ Dass das natürlich frei erfundener Quatsch war, war egal. Ist die Sache erst Mal in der Welt, gerade von einer privilegierten Quelle, wie der Polizei, wurde das Gerücht in die Welt gesetzt und verbreitete sich wie ein Lauffeuer.

Die Liste an absurden Falschbehauptungen der Polizei ist lang, gerade wenn es um vermeintliche „linke Gewalttäter“ geht. In Säure getunktes Konfetti, Clowns, die Säure mit Wasserpistolen versprühen, Molotov-Cocktail-Würfe im Schanzenviertel während der G20-Proteste usw. usf. Dennoch gilt die Polizei, wie gesagt, als privilegierte Quelle, das heißt, Quellen, von denen Journalist*innen annehmen können sollen, dass ihre Angaben der Wahrheit entsprechen. Polizeibehörden, Staatsanwaltschaft und auch Nachrichtenagenturen gehören dazu.

Die Wirkmacht dieser Priviligierung zeigt sich aber auch über das Verbreiten von Falschmeldungen hinaus. Vergangenen Sonntag gab es in Berlin-Schöneberg ein Straßenfest von demlinken Hausprojekt Rote Insel. Dort kam es nach übereinstimmenden Berichten, sowohl von der Polizei, als auch von Augenzeug*innen zu einer Festnahme. Ab hier unterscheiden sich die Darstellungen aber gewaltig. Die Polizei (und die bürgerliche Presse) berichten von Angriffen auf Polizeibeamt*innen, die Springerpostille BZ schreibt ein Mob habe die Polizei durch die Straßen gejagt.

Ein Augenzeuge, mit dem das lowerclassmagazine sprach und der anonym bleiben will, schilderte die Situation anders: „Eigentlich war das ganze Fest ziemlich entspannt, […] bis dann die Polizei einen Typen festgenommen hat. Das war ganz schön brutal, die saßen zu dritt auf ihm drauf. Das war dann eigentlich auch noch kein Drama, die Leute standen halt drumherum und haben gepöbelt.“

„Dann kam ein ziemlicher großer Bulle und und hat links und rechts Faustschläge ausgeteilt. Das war dann die Situation, wo es eskaliert ist. Danach waren die Leute halt sauer, auch weil die anderen Bullen auch angefangen haben Schläge zu verteilen und zu pfeffern.“

Dieses Statement deckt sich weitestgehend mit einem vom Jugendclub Potse veröffentlichten Tweet: „Gegen 17 Uhr rannte ein Trupp Polizisten auf den Spielplatz in der Mansteinstr. auf welchen zu dem Zeitpunkt Kinder gespielt haben und nahmen eine Person brutal fest. Das Gesicht der Person wurde in den Sand gedrückt, nachdem ihm ins Gesicht geschlagen wurde. Menschen die sich über die massive Gewalt beschwert haben wurden von der Polizei mit Schlägen und Tritten traktiert. Dabei nahm die Polizei eine weitere Person fest. Als die Polizei die Menschen in den Mannschaftswagen gebracht hat, wurden sie von einer empörten Menge aus der Straße gedrängt. Beide der festgenommen Personen wurden in der Wanne mehr mehrfach von verschiedenen Polizisten misshandelt. So wurde der Kopf einer der Personen mehrfach gegen die Scheibe geschlagen, die andere Person lag auf dem Boden des Wagens und ihr wurde auf den Kopf getreten.“

Auch dass der Festgenommene im Polizeiwagen misshandelt wurde, konnte bestätigt werden. Ein dem lowerclassmagazine zugesandtes Video zeigt eindeutig, wie der Kopf der gefesselten Person mehrfach gegen das Fenster geschlagen wird:

https://twitter.com/LowerClassMag/status/1424768987699814404

Jetzt kann man sagen, dass das was bisher in der bürgerlichen Presse veröffentlicht wurde, und weitestgehend ein Nachplappern der Polizeimeldung, bzw. dem Stuss der Polizei“gewerkschaft“ GdP, besteht, keine Falschmeldung wie die eingangs beschriebenen ist. Schließlich wurde die Polizei offensichtlich angeschrien und verfolgt, schließlich wurde ja – beide Seiten kommen zu Wort – der Tweet der Potse zitiert. Aber wenn Statements, wie das vom Jugendclub Potse zitiert werden, passiert dies unter der Prämisse, dass erst einmal die Behauptungen der Polizei widerlegt werden müssen.

Ohne Einordnung und Ergänzung durch Infos, wie dem uns zugespielte Video oder die Nachfrage bei Leuten vor Ort, Pressemitteilungen von linken Kollektiven, wie der Roten Insel usw., wird dann im Endeffekt wegen der „Privilegierung“ der Polizei als Quelle am Ende die halbe Wahrheit und zwar die der Polizei verbreitet. Denn diese hat darüber hinaus wegen Ihrer zunehmend professionellen Pressearbeit und dem traditionell guten Draht zu bürgerlicher Presse wie Tagesspiegel, rbb, dpa oder reaktionären Hetzern wie der BZ (die alle Artikel zum Vorfall am Sonntag veröffentlichten) sowieso einen Vorsprung in Reichweite, Schnelligkeit und Kontakten, den auch social media nicht ausgleichen können. So wird am Ende immer Polizeigewalt legitimiert, weil die Logik der Polizei immer mehr Gewicht bekommt, als die Erfahrungen und Einschätzungen von Menschen, die Polizeigewalt erfahren oder sie beobachten und sich immer erst durch das Dickicht an gesponnenen Halbwahrheiten durchschlagen müssen, bevor sie gesehen oder gehört werden.

Deswegen dokumentieren wir unten stehend die Pressemitteilung der Roten Insel zu den Geschehnissen am Sonntag, wer wissen will, was die Polizei zu der ganzen Sache sagt, kann die bürgerliche Presse lesen. Der Tweet zum Türknauf des Todes übrigens wurde erst gelöscht, als zwei Kollektivmitglieder des Friedel54 Kollektivs dagegen klagten.

# Titelbild: Polizist schlägt gefesselten Festgenommenen, Quelle: privat

Pressemitteilung: Brutaler Polizei-Übergriff bei linkem Straßenfest

Am 08. August 2021 kam es in der Nähe des „Rote Insel“-Festes unter dem Motto “Kiezkultur von unten” zu Angriffen der Berliner Polizei. Gegen 17 Uhr verfolgten mehrere Polizeikräfte eine Person, die sich in der Nähe der Kundgebung aufhielt und warfen diese auf einem Spielplatz in der Mansteinstraße brutal zu Boden. Dabei drückten sie deren Gesicht in den Sand und knieten mit mehreren Beamten auf dem Kopf und dem oberen Halsbereich. Zudem schlugen sie auf die wehrlose Person ein. Kinder, die kurz zuvor noch dort gespielt hatten, rannten verängstigt mit ihren Eltern vom Spielplatz. Laut eines der festnehmenden Beamten erfolgte die Maßnahme wegen eines vermeintlich geklebten Stickers auf einem Straßenschild. Schnell solidarisierten sich zahlreiche Menschen mit der am Boden liegenden Person. Es kam zu verbalen Auseinandersetzungen, die von den Polizeikräften mit Schlägen, Tritten und Pfefferspray beantwortet wurden. Auf diese Weise trugen die Beamt:innen massiv zur Eskalation der Situation bei. Besonders der laut Presseberichten später verletzte Beamte schlug laut Augenzeug:innenberichten zuvor willkürlich auf Personen mit der Faust ein. Auf jetzt veröffentlichten Videos ist zu sehen, wie eine der festgenommenen Personen im Polizeifahrzeug vom Beamten mit der Nummer 11331 mehrfach ohne Grund mit dem Kopf gegen Seitenscheibe und Sitz geschlagen wird. Eine andere festgenommene Person berichtet laut Jugendzentrum Potse von Tritten gegen ihren Kopf im Einsatzfahrzeug. Während die festnehmenden Kräfte kurzzeitig den Bereich verließen, verblieben andere Beamte ohne Probleme auf dem Straßenfest. Nach dem Zwischenfall wurde die bis dahin ebenfalls ruhige Kundgebung ohne weitere Vorkommnisse fortgeführt. Im späteren Verlauf wurde eine dritte Person festgenommen und von der Polizei kriminalisiert.

Zu der Eskalation der Polizeigewalt sagt Anna Schönberg, Sprecherin des Organisationskreises des “Rote Insel”-Fests: „Es ist entsetzlich mit welcher Gewalt die Berliner Polizei selbst auf einem Kinderspielplatz gegen Personen wegen einer vermeintlichen Ordnungswidrigkeit vorgeht. Das widerspricht jeglicher Verhältismäßigkeit. Und jetzt wird versucht, die Tatsachen zu verdrehen. Berlin hat kein Problem mit Gewalt gegen die Polizei, sondern ein Polizeiproblem. Jeder Angriff am Sonntag ging von den Polizeikräften aus, die danach noch wehrlose Gefangene vermutlich aus Rache misshandelten. Es scheint inzwischen eine regelrechte Taktik zu sein, linke Veranstaltungen unter fadenscheinigen Gründen zu zerschlagen und deren Teilnehmende zu drangsalieren. Die gleiche 11. Hundertschaft hat schon am 05. Juni friedliche Menschen bei den Protesten gegen den AfD-Landesparteitag ins Krankenhaus geprügelt.“

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Es ist der 28. April 2021, erster Tag des Nationalstreikes in Kolumbien. In Medellín liegt der 17 jähriger Jugendliche Marcelo Agredo auf der Straße. Aus einem Loch in seinem Kopf fließt das Blut, genau dort wo ihn die Kugel aus dem Lauf der Pistole eines Polizisten getroffen hat. Er ist tot.

Das Video dazu ging auf Social Media viral, genau wie unzählige andere in denen staatliche Sicherheitskräfte auf Demonstrant:innen schossen.

Wie weit kann man ein Volk terrorisieren, bis es zurückschlägt? Der kolumbianische Narco-Staat befindet sich seit ungefähr einer Woche im Krieg mit dem streikenden Volk. Auslöser für den Konflikt war ein Nationalstreik gegen bevorstehende Steuer-Reformen, doch die Bilder der farbenfrohen und solidarischen Massenproteste werden überschattet von der Reaktion der kolumbianischen Oligarchie. Kolumbien ist ein Land, in dem eine winzige korrupte Elite ihre Interessen um jeden Preis durchsetzt, sei es mit Gewalt. Die derzeit andauernden Proteste sind die größten, militantesten und radikalsten seit Jahren. Gibt es die Chance auf eine Renaissance?

Generalstreik in Kolumbien gegen neoliberale Reformen

Das nationale Streikkomitee (Comité Nacional de Paro, CNP) rief zu erneuten Protesten gegen neoliberale Wirtschaftsreformen der ultrarechten Regierung von Präsident Iván Duque auf. Der 28. April war der Startschuss für eine Landesweite Mobilisierung unter dem Motto “Für Leben, Frieden, Demokratie und gegen das neue Schwindelpaket Duques und die Steuerreform”.

In circa 600 Städten und Gemeinden hat es Kundgebungen, Hafen- und Straßenblockaden und riesige Demonstrationen gegeben. Getragen werden die Proteste von allen Gesellschaftsgruppen, besonders ist aber die militante Präsenz der Jugend erkennbar. Auch Indigene Organisationen mobilisieren tausende Menschen. Die ultrarechte Regierung versucht den Volksaufstand mit paranoiden Theorien zu erklären: Verantwortlich sein angeblich die kommunistischen Guerillas FARC-EP und ELN. Am 5. Mai „verwechselte“ der Kriegsverbrecher und ex-Präsident Álavro Uribe die Flagge der indigenen Organisation Minga mit der der ELN Guerilla auf Twitter. Nach ein paar Minuten war der Tweet wieder gelöscht.

Anstatt mit den Demonstrierenden in den Dialog zu treten, eröffnete der Staat das Feuer. Seit dem 28. April tötete der Staat 35 Menschen innerhalb von 4 Tagen. Zusätzlich gibt es Opfer von Vergewaltigung und massiver Polizeigewalt. Fast 100 Menschen werden derzeit vermisst.

Trotz der massiven Gewalt kapitulierten die Massen nicht und die Reformen mussten zurückgenommen werden – so zumindest die Ankündigung des Staates. Dieser Erfolg gehört den Kolumbianer:innen, doch er ist ein kleiner Sieg in einem Jahrelangen blutigen Klassenkampf. Das Volk hat noch viele Rechnungen mit dem Staat offen. Deutlich bei den Statistiken der Polizeigewalt wird die Kontaktlosigkeit der Oligarchie mit der rebellierenden Arbeiter*innenklasse. Der Frieden auf den Straßen Kolumbiens ist grade keine Perspektive. Der Kampf geht weiter.

Klassenkampf in Kolumbien hat eine lange Geschichte, die nicht mit dem Nationalstreik anfing und mit ihm auch nicht enden wird. Die Regierung tut alles, was der US-Imperialismus ihr befielt und bekämpft jeden, der sich dieser Sache in den Weg stellt. Seit über 50 Jahren ist der Staat im Krieg mit der aufständischen marxistischen Guerilla FARC-EP und ELN. Es gibt ein Sprichwort in Kolumbien: Es sei ungefährlicher in die Berge zu gehen (sich der Guerilla anzuschließen), als eine Gewerkschaft zu gründen. Laut offiziellen Zahlen sind 96.000 Zivilist:innen in den letzten sechs Jahrzehnten durch die rechtsextremen Paramilitärs getötet worden.

 „Die Polizei greift unsere Leute an. OMG ich habe Angst.“

In den letzten Tagen konnte ich mein Handy nicht mehr aus der Hand legen. Ich war im ständigen Kontakt mit Freund:innen in Kolumbien. In einer Nacht bekam ich eine Nachricht aufs Handy. Ein Freund aus der Hauptstadt Bogota schrieb mir: “Die Polizei greift unsere Leute an. OMG ich habe Angst. Mein Freund, hier in Kolumbien töten die Cops die Menschen. OMG, sie schießen gegen das Volk. Der Präsident befahl gegen alle streikenden Menschen zu schießen.” Ich fragte ihn, ob er Schießereien miterlebt hat. “Ja, in meiner Stadt. Sie schossen aus einem Auto als sie durch die Menschenmassen fuhren.” Dann in der nächsten Nacht wieder: „Die Situation ist jetzt so viel schlimmer. Die Cops töten unsere Leute, OMG Ich habe so viele Videos gesehen. In Cali, Valle del Cauca sind Sie jetzt ohne Strom und es wird das Militär eingesetzt, welches scharf schießt.“

In dem paranoiden Blutrausch der kolumbianischen Cops wurden selbst eine UNO Beobachtungsmission am 3. Mai unter Beschuss genommen. Einzelne Polizisten und Armeesoldaten kündigten auf Social Media an, dass sie nicht auf die Proteste schießen werden. Ihre Beiträge gehen allerdings in der Flut von unzähligen Videos unter, welche den Terror dokumentieren. Cops die von fahrenden Motorrädern in Menschenmengen schießen, Cops die auf sich nicht mehr bewegende Körper einschlagen, ja teilweise sind ganze Straßenabschnitte ein Blutbad.

Bilder aus den Großstädten können an einen Bürgerkrieg erinnern. In den Straßen hängt der Nebel von Tränengas.  Militär und Polizeihubschrauber kreisen 24/7 über den Barrios. Regelmäßig sind Schüsse zu hören. Ausgebrannte Busse als Barrikaden. Ausgeräumte Banken und geplünderte Geldautomaten. Viele trauen sich seit Tagen nicht mehr auf die Straße. Der reguläre Alltag ist derzeit unmöglich. Trotz alledem gehen Hunderttausende auf die Straße zum Protestieren. Viele haben nichts mehr zu verlieren, 42 % der Kolumbianer:innen leben in Armut.

„Gebt ihr uns kein Brot, geben wir euch kein Frieden!“

Am Anfang des Textes steht die Frage „Wie weit kann man ein Volk terrorisieren, bis es zurückschlägt?“. Neben den unzähligen Bildern der Gewalt des Staates gibt es auch heldenhafte Szenen, die mit den Handykameras hinter den Barrikaden aufgenommen wurden.

 Zu sehen sind meist Jugendliche, die bis ans Äußerste ihrer Grenzen gehen und selbst vor Schüssen nicht Halt machen. Videos aus der Sicht der Primera Linea, wie sie in Formation auf Polizeieinheiten stürmen.  Es kursieren auch bereits mehrere Videos wie Demonstrant:innen die staatlichen Sicherheitskräfte mit Handfeuerwaffen unter Beschuss nehmen. Am 6. Mai durchbrachen Demonstrant:innen die Absperrungen zum Nationalkapitol. Nur durch Sondereinheiten der Polizei konnte der Sitz des Kongresses verteidigt werden. Im Land herrscht eine große Wut, manche würden dies als revolutionäre Stimmung beschreiben, so etwa die kolumbianische marxistische Guerilla:

„Die Tage der Straflosigkeit der Determinanten des staatlichen Völkermords sind gezählt. Duque und Uribe, Zapateiro und Vargas, müssen sich für diese Toten verantworten. Wir rufen alle bolivarischen und patriotischen Militärs auf, die Offiziere, Unteroffiziere und Soldaten der Luftwaffe, der Armee und der Marine, um den Nationalstreik zu unterstützen“, heißt es in einem Comunique der aufständischen FARC-EP Zweites Marquetalia. Ein weiteres Comunique einer FARC-EP Front in der ländlichen Region Cauca erklärt, wie sie mit den Menschen auf der Straße Seite an Seite stehen werden.

Ich bat noch eine weitere Genossin, die jede Nacht auf den Straßen Kolumbiens ist, um letzte Worte für diesen Artikel. Sie schrieb mir: “Meine Erfahrung aus dem Protest ist ein Gemisch der Gefühle von Nostalgie, Adrenalin, bis zu Wut und Hoffnung. Denn dieser ganze Kampf gemeinsam mit meinen Freund:innen, die hier zu meiner Familie geworden sind, wird in einem besseren Land gipfeln. Es ist genau diese Empathie, mit der ich hoffe, zusammen mit allen anderen einen Weg zu schaffen, wo nie wieder einem Menschen mit Gleichgültigkeit begegnet werden wird… ¡Mi nación es mi gente! (Meine Nation ist mein Volk!)”

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Vier Wochen lang belagerten die Cops die Felder und den Wald um das Dorf Dannenrod, bis sie die Schneise für die zukünftige Autobahn A49 gerodet hatten. Bisweilen schaffte es die hessische Polizei dabei, mehrere Aktivist_innen pro Woche mit teilweise schweren Verletzungen ins Krankenhaus zu befördern. Drum herum: Viele leichte Verletzungen, unnötige Schmerzgriffe, Tasereinsätze in mehr als 20 Meter Höhe, unzählige Angriffe auf die Pressefreiheit, willkürliche Festnahme einer Sanitäterin inklusive Brechen ihres Armes – das wäre unter anderen Umständen übrigens ein Kriegsverbrechen – durch die Beamt_innen, eine kirchliche Beobachterin wird ohne ersichtlichen Anlass von einer BFE angegriffen, ständig werden Bäume nur wenige Meter neben besetzten Traversen gefällt und so die Besetzenden in Lebensgefahr gebracht. Bei Protestaktionen werden Teilnehmende und Journalist_innen von Einsatzkräften massiv beleidigt, auch lachend geschlagen und zu Boden geworfen. Einem Menschen auf einem Tripod wird “Wenn du fällst, bist du selber Schuld!”, zugerufen, während das Kletter-SEK sich am Sicherungsseil zu schaffen macht. Ein paar Tage zuvor spielten bereits einige BFEler mit einer Säge an einer anderen nur wenige Meter entfernten Tripodsicherung herum. Die Liste ließe sich noch eine ganze Weile fortsetzen, und neben den Vorgängen im Wald selbst dürfen auch die Folterbedingungen, unter denen Unterstützende in der Untersuchungshaft festgehalten wurden und werden, nicht unerwähnt bleiben.

Exakt das, was von den hochmilitarisierten Riotcops dieses Staates zu erwarten ist? Ja klar, auch. Aber bei aller Desillusioniertheit über das alltägliche Verhalten der Staatsgewalt sollte nicht ausgeblendet werden, dass so etwas nicht nur passiert, weil die Funktion “Polizist_in” logischerweise von Waffengewalt nicht abgeneigten Menschen ausgeführt wird, sondern es sich insbesondere im Rahmen einer solchen Großprotestaktion um eine bewusste Brutalitätsstrategie handelt.

Die Verstöße der Polizist_innen gegen Versammlungs- und Presserechte sowie simpelste Grundlagen zwischenmenschlicher Ethik wurden vielfach dokumentiert und veröffentlicht. Dass die Einsatzleitung nicht davon weiß, welche ihrer Einheiten wann wo wie eskaliert hat, kann getrost ausgeschlossen werden. Des Weiteren fanden in den Wochen der Räumung mehrmals deutlich beobachtbare Wechsel des Aggressionslevels der eingesetzten Beamt_innen statt. So agierten sie beispielsweise in den ersten Tagen oder auch der ersten Dezemberwoche der Räumungs- und Rodungsarbeiten – also in Zeiträumen mit viel Aufmerksamkeit durch Tagespresse und sonstige Öffentlichkeit – spürbar vorsichtiger, kommunikativer und weit weniger eskalativ als in der Zeit zwischen diesen Punkten, vor allem in der Hauptphase des Einsatzes Ende November.

Da passierte dann der überwiegende Teil der oben beschriebenen Polizeibrutalität. Auch kamen dort vermehrt die für ihr besonders gewalttätiges Verhalten bekannten BFEs 38, 58 und 68 zum Einsatz und machten ihrem Ruf alle Ehre. Dem bekannten Demospruch entsprechend zogen sie wie gut ausgestattete Hooligans durch den Wald, zerschlugen auf dem Boden zurückgelassene Strukturen von Sitzmöglichkeit bis Pizzaofen, lauerten in der Nacht umherlaufenden Personen auf und pfeffersprayten aus etwas kindergartenhafter Bosheit heraus das Klopapier. Gegen Ende der Räumung sieht man diese Einheiten kaum noch, und auch sonst schlagen die Cops einen weit weniger aggressiven Ton gegenüber Aktivist_innen und Unterstützenden an. Offensichtlich war es also möglich, das Verhalten der Polizeitruppen zu regulieren, und folglich muss die wochenlange Inkaufnahme von teils Menschenleben gefährdenden Grausamkeiten durch die Einsatzkräfte als strategisches Mittel der Einsatzplanung gelesen werden.

Ziel von solchen durch nichts zu rechtfertigenden Brutalitätsaktionen ist es, Menschen durch Angst mundtot zu machen; das zeigt ein Blick auf die Geschichte jeder beliebigen linken Bewegung. Für eine solche Strategie findet die Polizei hier im Wald das perfekte Kampffeld, denn er stellt einen von der Öffentlichkeit praktisch komplett abgeschirmten Raum dar. Zu groß ist das Konfliktgebiet, zu langsam der Informationsfluss, um auch mit doppelt und dreifach so viel Presse jeden Vorfall adäquat dokumentieren zu können.

Die Cops wissen um solche öffentlichkeitsfernen Räume und setzen sie als strategisches Mittel ein, um mit möglichst weitreichender Willkür agieren zu können. Das trifft auf den Wald genauso zu wie auf den Bus, der regelmäßig Aktivist_innen zu Mahnwachen und Demonstrationen fuhr. Letzterer konnte keine Tour machen, ohne begründungslos aus dem Verkehr gezogen zu werden. Aber in einem Bus gibt es halt keine neugierigen Zuschauenden, die die Polizei bei ihrem Verhalten kontrollieren könnten – und im Wald auch nicht. Dort schufen sie sich diese Situation, indem sie die Presse von den Orten des Geschehens so weit weghielten, dass Beobachtung der Ereignisse im Detail unmöglich war. Zeitweise war es praktisch unmöglich, sich ohne polizeiliche Pressebegleitung durch den Wald zu bewegen – betreutes Berichten sozusagen.

Und so konstruierten sich die Cops Räume, in denen sie unbeobachtet und konsequenzbefreit Protestierende als “Stück Scheiße” bezeichnen konnten, während sie deren Leben durch mindestens bewusst fahrlässiges Verhalten gefährdeten. Solche verbale, physische und psychische Brutalität ist die Produktion einer Botschaft an die Menschen im Wald, ihre potentiellen Unterstützer_innen und allzu kritische Beobachter_innen/Journalist_innen: Die Cops können euch antun, was sie wollen; niemand wird sie aufhalten oder auch nur sehen; und auch ihr seid mögliches Ziel für die nächste Ladung Pfefferspray, den nächsten Schlagstockhieb oder die nächste Entführung in die GeSa. Am Ende bleiben die verstreuten Berichte der Betroffenen, vereinzelte Pressebilder und das diffuse Wissen aller, sich durch die von jedweder Negativkonsequenz für ihr Handeln befreiten Einsatzkräfte in dauerhafter, latenter Gefahr für Leben und Freiheit zu befinden.

Natürlich steht solches Verhalten im kompletten Bruch zum von der Propagandaabteilung der Polizei verbreiteten Erzählung eines besonnen, rücksichtsvoll, transparent-kommunikativ ausgeführten Einsatzes. Während sie in Pressekonferenzen innerhalb der Besetzung zum running-gag gewordene Sprüche wie “Sicherheit vor Schnelligkeit” vom Stapel ließen, gaben sich ihre Truppen an der tatsächlichen Frontlinie betont menschenverachtend und aggressiv. Wichtiger: Diese Strategie der eskalativen Grausamkeit folgte auf eine ausnehmend friedliche, kommunikative und für die Polizei ungefährliche Besetzung. Das grundlegende Kampfmittel der Aktivist_innen war das Besetzen von Bäumen und verschiedener Strukturen, die zwar mit einigem Aufwand, aber eben ohne Gefährdung für die ausführenden Cops geräumt werden mussten, bevor die Rodung fortgesetzt werden konnte. Jedes relevante Seil war markiert, und auch der dümmlichsten BFE dürfte klar sein, dass Leute, die in ihrem Baumhaus sitzend ohne Fluchtmöglichkeit auf die Räumung warten, aller Wahrscheinlichkeit nach keine Gehwegplatten herunterwerfen werden. Die Cops hätten ohne Probleme so agieren können, wie sie es so gerne über ihren Twitter-Account behaupten, und hätten ihr Einsatzziel dennoch erreicht. Sieht man sich aber ihr tatsächliches Verhalten an, sollte man meinen, tagtäglich würden Polizist_innen von Scharfschützenfeuer niedergestreckt, Wasserwerfer von panzerbrechender Munition zerlegt und ihr Logistikzentrum mit Raketen beschossen. Kurzer Realitätsabgleich: Die einzigen ernstzunehmenden Verletzungen gab es auf aktivistischer Seite und es war die Staatsgewalt, die nachts durch den Wald rannte und Jagd auf Menschen machte. Diese Dissonanz zwischen den tatsächlichen Einsatzbedingungen und dem Verhalten der Einsatzkräfte bestätigt die These von oben: Die Eskalationsstrategie ist bewusst; the cruelty is the point.

Diese unberechenbare Brutalität gegen die Menschen im Wald spiegelte auch das Vorgehen bei der Rodung der geplanten Autobahnschneise insgesamt: Auf der einen Seite wurden Aktivist_innen mit körperlicher und physischer Gewalt sowie hanebüchenen Straftatvorwürfen ausgebrannt, auf der anderen Seite wurde in den ersten Wochen des Einsatzes oft an drei Fronten gleichzeitig agiert, um Widerstand durch Überlastung zu unterbinden. Und bedauerlicherweise muss eingestanden werden, dass diese Strategie aufging: Schneller, als die meisten gedacht hätten, fraßen sich die Maschinen von Norden und Süden durch den Dannenröder Wald, zerrissen Baumhaus um Baumhaus und zerstörten in einigen Wochen, was in mehr als einem Jahr aufgebaut wurde. Was bleibt, ist ein riesiger Erfahrungsschatz, den vor allem ein großer Teil der Fridays-for-Future-Aktivist_innengeneration in dieser Schlacht um den Dannenröder Forst sammeln konnte. Und es wurde gezeigt, dass weder die eingespielten noch die neuen Aktivist_innen sich von der Kälte des Winters und einer Polizeiarmee, die bereitwillig ihre Leben bedroht, vom Kämpfen gegen die Klimakatastrophe und für eine lebenswerte Zukunft abbringen lassen werden. Man darf davon ausgehen, dass sie angemessene Antworten auf die alltäglichen Grausamkeiten der Staatsgewalt finden werden.

# Titelbild: Channoh Peepovicz, Wasserwerfereinsatz hinter Stacheldraht im Danni

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In Frankreich werden die Diskussion um das autoritäre neue „Sicherheitsgesetz“ immer heftiger. Dieses soll verbieten, Filmaufnahmen von Polizist:innen zu veröffentlichen, was einen enormen Angriff auf die Pressefreiheit darstellt. Spätestens seit den Protesten der Gilets Jaunes, sorgen Bilder heftiger Polizeigewalt auf Demonstrationen oder gegen Schwarze und People of Colour für Empörung. Dass Polizeigewalt aufgedeckt wird, ist eher eine Seltenheit. Noch seltener ist, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Durch den Korpsgeist innerhalb der Polizei und die Rückendeckung in der Politik, wird es nahezu unmöglich gemacht auf rechtlicher Ebene dagegen vorzugehen. Wir kennen dieses Phänomen nur allzu gut aus der BRD. Die Liste der „Einzelfälle“ ist lang – sehr lang. Nachfolgend zwei aktuelle Beispiele, die die Menschenfeindlichkeit und den tief verankerten Rassismus in der französischen Polizei verdeutlichen.

Vorfall I: 21. November 2020

Der 41-jährige Michel Zacler steht vor seinem Musikstudio. Er sieht eine Polizeistreife und da er keine obligatorische Atemschutzmaske trägt, entschließt er sich, zurück ins Studio zu gehen. Das Studio befindet sich in dem bourgeoisen 17. Arrondissement von Paris. Dass ein Schwarzer aus dem 92. Arrondissement (Bagneux), also aus den Pariser Banlieus, sich in diesem schicken Viertel von Paris aufhält, ist einigen Polizisten wohl schon zu viel. Die Message ist klar: DU gehörst hier nicht her!

Drei Polizisten, einer davon in zivil, folgen ihm ins Studio, packen ihn und versuchen ihn aus dem Laden zu ziehen. Er fragt die Polizisten, warum sie ihn festnehmen wollen und da beschimpft ihn einer der Polizisten als „sale nègre“ (Übersetzung: Drecks-N***er). Diese Beleidigung wird er einige Male hören, wie Michel sagt. Die Polizisten schlagen ihn mit dem Schlagstock und versuchen ihn auf den Boden zu ringen. Michel wehrt sich mit all seiner Kraft und ruft nach Hilfe. Das was in seinem Kopf in diesem Moment vorging schildert er so: „Ich darf nicht auf den Boden. Ich muss mit allen Mitteln verhindern auf den Boden gebracht zu werden, denn sonst stehe ich nie wieder auf.“

Michel öffnet die Tür zu den Kellerräumen des Studios und schreit weiter nach Hilfe. Dort sind weitere Menschen, die von dem, was oben vor sich geht, nichts mitbekommen haben. Darauf helfen die teils erst Jugendlichen Michel aus den Händen der Polizisten zu befreien. Die Polizisten werden aus dem Studio gedrängt, schmeißen danach jedoch eine Tränengasgranate in das Lokal und so schaffen sie es dann doch noch, Michel aus dem Laden zu bringen. Auf der Straße wird er dann weiter verprügelt. Nachdem ihn die Polizisten festgenommen haben, greifen sie sich die im Lokal Verbliebenen, die dann auch noch vor der Tür verprügelt werden.

Einer der Polizisten schreit „Kamera“, da die Szene von den Balkonen gefilmt wurde. Daraufhin wurden die Schläge sofort eingestellt. Was die Polizisten zu diesem Moment nicht wussten, ist, dass in dem Lokal eine Überwachungskamera die ganze Szene mitgefilmt hatte. Dieses Video veröffentlichte das Onlinemagazin Loopsider auf seiner Plattform. Michel wurde festgenommen und verbrachte u.A. wegen des Vorwurfs der Körperverletzung 48 Stunden auf der Polizeiwache. Alle anderen aus dem Studio wurden nach einer Personalienfeststellung freigelassen.

Vorfall II: 30. April 2019

Etwas über eine Woche nach dem brutalen Übergriff von Pariser Polizisten an den 41-jährigen Michel Z. und schon die nächste Enthüllung von Polizeigewalt durch eine Videoaufnahme. Das Video, datiert auf den 30. April 2019, wurde letzten Sonntag von Mediapart veröffentlicht.

Sechs Jugendliche im Alter von 16 bis 22 Jahren fahren in der Nacht vom 30. April 2019 mit dem Auto nach Hause. An einer roten Ampel werden sie dann von drei Fahrzeugen umzingelt. Acht Männer in Zivil, einige von Ihnen bewaffnet, steigen aus. Da die Jugendlichen glauben, dass es sich um einen Raub handelt, fährt der Fahrer zurück, doch sein Auto wird von einem der Fahrzeuge an der Rückseite angehalten. Einer der Männer gibt zwei Schüsse auf das Auto ab, wovon eine der Kugeln durch die Seitenscheibe nur einige Zentimeter neben dem Gesicht des Fahrers Paul vorbeischießt. Er sagte Mediapart, dass „die Kugel in der Karosserie ein paar Zentimeter neben meinem Kopf stecken blieb“ und dass er „dachte, ich würde sterben“.

Also nochmal von vorne. Drei Polizeiwagen in zivil, umzingeln das Fahrzeug ihres „Tatverdächtigen“ ohne eines der vorgeschriebenen Erkennungszeichen, wie Blaulicht oder Armbinden und schießen ohne Vorankündigung auf die Jugendlichen. Der Hintergrund des Einsatzes war ein Handtaschendiebstahl, der ohne Überzeugungsarbeit der selbigen Polizisten von der Betroffenen erst gar nicht zur Anzeige gebracht worden wäre. Die einzigen Informationen, die die Polizisten hatten, war ein Nummernschild wie sie sagen und dass einer der beiden Tatverdächtigen „afrikanischen Typs“ sei, so der major Patrick O.. Dass sich die Szene, wie im Fall Michel Z., in einem wohlhabenden Viertel von Paris abspielt, ist bestimmt kein Zufall. Das 16. Arrondissement zählt zu den teuersten und wohlhabendsten Residenzvierteln ganz Frankreichs. Auch hier will die Exekutive klar machen, wer in welchem Viertel willkommen ist und wer sich dort nicht aufhalten darf.

Gegen die Polizisten wurde zwar bereits im Mai 2019 eine Untersuchung eingeleitet, die übrigens noch im Gange ist, doch die Polizeipräfektur ist sich der Unschuld der Polizisten wohl sicher und teilte Mediapart mit, dass „die Staatsanwaltschaft zu dem Schluss kam, dass es sich um Notwehr handelte“.

Paul kam nicht so einfach davon. Zwar wurde seine Anzeige wegen Diebstahl relativ schnell eingestellt, er verbrachte jedoch sechs Monate in Haft wegen “vorsätzlicher Gewalt gegen eine Amtsperson“. Er wurde erst am 4. November mit einer Entschädigung von 1.000 Euro freigelassen.

“Ich wurde strafrechtlich verfolgt und erst im November letzten Jahres freigelassen”, sagte Paul, gegenüber den Online-Medien. „Der Polizist, der auf mich geschossen hat, läuft jedoch weiterhin mit seiner Waffe herum. Ich habe eine Beschwerde eingereicht, aber die Untersuchung dauert noch an”, während das Video nach mehrfachen Anfragen erst im Juni 2020 an den Anwalt des 22-Jährigen weitergeleitet wurde.

Auch die psyschischen Folgen für Paul sind drastisch. Er musste u.A. sein Studium wegen “impulsiver Explosionen”, “Weinkrämpfen” und “den Gedanken, dass er hätte sterben können” unterbrechen, sagte der psychiatrische Experte während der Untersuchung.

Das Sicherheitsgesetz

Somit zeigt sich wieder wie der Staatsapparat mit solchen Vorfällen umgeht. Man gewährt Polizist:innen vollkommene Narrenfreiheit, beschützt sie vor jeglichen kritischen Stimmen und denunziert die Betroffenen als „Kriminelle“, vor denen man sich „schützen“ müsse. Die rassistische Ideologie ist in den Polizeibehörden so tief verankert, dass die Polizisten wahrscheinlich selbst glauben, das „richtige“ und „gute“ zu tun.

Der Fall von Michel Zacler, die brutale Rämung eines Camps von Geflüchteten im Zentrum von Paris und der Vorfall der sechs Jugendlichen kommt für die Regierung reichlich ungelegen. Sie versucht gerade mit einem neuen Gesetz, dem „allgemeinen Sicherheitsgesetz“, Videoaufnahmen von Polizist:innen zu kriminalisieren. Denn zahllose Videos von brutaler Polizeigewalt haben in letzter Zeit das Image der Polizei näher an die tatsächliche Praxis dieser gerückt. Es ist offensichtlich, dass das neue Gesetz vor allem dazu dienen soll, dass die sowieso schon kaum zur Rechenschaft gezogenen Polizist:innen ihre Schmutzarbeit für den Staat ohne jegliche Kontrolle der Öffentlichkeit machen können sollen.

Nicht nur wegen dieser aktuellen Fälle gingen am Samstag, den 28. November in ganz Frankreich – trotz grassierender Corona-Pandemie – mehrere Hunderttausende auf die Straße um gegen das Gesetz zu demonstrieren. Am 30. November musste die Regierung dann doch etwas zurückrudern und sprach davon, den umstrittenen Artikel 24 des Gesetzentwurfes noch einmal umzuschreiben. Das es sich hier nicht um eine Streichung des Artikels geht, machte der Vorsitzende der Partei Macrons La République en Marche, Christophe Castaner, bei einer Pressekonferenz gestern klar – “Es handelt sich weder um eine Rücknahme noch um eine Aussetzung, sondern um eine völlige Neufassung des Textes”.

Auch schon in den Jahren zuvor haben die Regierungen versucht die Proteste durch solche Mittel zu befrieden, so z.B. bei dem Widerstand gegen die Arbeitsrechtsreform (loi El Khomri) im Jahr 2016 oder bei den „gilets jaunes“ (Gelbwesten) seit Ende 2018. Die Widerstandskultur der letzten Jahre in Frankreich hat jedoch gezeigt, dass ein Großteil der Bevölkerung sich nicht mit den heuchlerischen Versprechen der Regierenden abspeisen lässt. So können wir davon ausgehen, dass die Proteste auch nach dieser Ankündigung fortgesetzt werden.

# Titelbild: gemeinfrei, Demo in Rouen am 21. November 2020, “Wer beschützt uns vor der Polizei?”

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Der Prozess ist zwar bereits einen Monat her, aber die Aufmerksamkeit, die ihm gebührt, wurde ihm nicht zuteil. Am 10. Oktober wurde der Polizist Tony A. vor dem Berliner Amtsgericht zu einem Jahr Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt. Angeklagt war der Hobby-Bodybuilder und Hundenarr wegen drei Körperverletzungen im Amt, gerichtet jeweils gegen Gefangene seiner Einsatzhundertschaft. In zwei Fällen wurde er verurteilt, in einem erging ein Freispruch – da der Geschädigte mittlerweile verstorben war.

Das Kuriosum: Eine Kollegin hielt sich an geltende Gesetze und zeigte Tony A. an.

Die Übergriffe des A. ereigneten sich in Gefangenentransportern. Unter den Opfern: Ein kurdischer Jugendlicher, der im Dezember 2018 an einer Demonstration gegen das Verbot der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) teilgenommen hatte. Schon in Gewahrsam drangsalierte der Beamte A. den Inhaftierten mit Faustschlägen. Seine Kollegin Lisa G. beobachtete den Vorfall – und es war nicht das erste Mal.

Bereits zuvor hatte sie Tony A. dabei erwischt, wie er zuschlug. Der Prügel-Cop habe zwar dafür gesorgt, dass er alleine und relativ unbeobachtet mit seinen Opfern im Polizeiwagen schalten und walten konnte, aber G. sah genauer hin. Sie wies ihn zurecht. Er habe daraufhin zu ihr nur gesagt: „Wenn das nächste Mal sowas ist, dann guckst du nach vorne ausm Fenster, das geht dich nichts an“, erinnert sich Lukas Theune, Anwalt des kurdischen Geschädigten, im Gespräch mit lower class magazine an die Aussage.

Der Fall landet nach wiederholtem Zuschlagen durch A. bei dessen Vorgesetzten. A. ist schon ein Jahr vor dem Prozess außer Dienst, krankgeschrieben. Durch die Einheit A.s geht ein Riss, dokumentiert der Prozess. Einige der vorgeladenen Beamten decken das Verhalten, wollen nichts bemerkt haben. Andere räumen ein, es sei zumindest unprofessionell gewesen, dass er sich alleine mit Gefangenen im Transporter aufhielt.

Das Erstaunliche an dem Fall ist nun nicht, dass ein Polizist Gefangene misshandelt. Wer öfter mit den Hooligans in Uniform zu tun hatte, weiß, dass es sich um keinen Einzelfall handelt. Viele der Übergriffe werden nicht angezeigt, weil klar ist, dass es im Regelfall aussichtslos ist, gegen den Korpsgeist und das Schweigekartell der Kameraden in Uniform juristisch anzukommen. Und die Fälle, die zur Anzeige kommen, haben eine überaus geringe Chance auf Erfolg. Eine Studie der Ruhr-Universität Bochum unter Leitung des Kriminologen Tobias Singelstein kam 2019 auf etwa 12 000 Fälle von Polizeigewalt jährlich. Von den Staatsanwaltschaften bearbeitet wurden in den Jahren zuvor etwa 2000 Fälle jährlich, zu einem Gerichtsverfahren kam es in weniger als zwei Prozent, zu einer Verurteilung in weniger als einem Prozent der Fälle.

Der Grund: Beamte belasten einander so gut wie nie, Staatsanwälte pflegen ein Nahverhältnis zur Polizei, Polizisten gelten als besonders glaubwürdig vor Gericht.

Dass eine Beamtin nun einen Kollegen zur Rechenschaft zieht und Anzeige stellt, ist insofern ein Novum. „Das ist sehr besonders. Das haben auch alle gesagt, das kommt so gut wie nie vor. Mir ist es auch noch nicht untergekommen. Insbesondere in so einer Hundertschaft und wegen Körperverletzung im Amt“, wundert sich auch Rechtsanwalt Theune.

Die Beamte Lisa G. wirkt in dieser Geschichte wie eine Heldin. Allerdings tat sie nur, was rechtlich selbst in diesem Staat geboten war: Die Unterlassung der Anzeige wäre Strafvereitelung im Amt gewesen. Dennoch ist die Anzeige zweifellos couragiert: Man kann sich vorstellen, wie eine Kollegenschaft, die nie dergleichen tut und es zum überwiegenden Teil als Verrat wahrnimmt, Straftaten von Kameraden anzuzeigen, darauf reagiert. Und man kann sich, legt man die Zahl von 12 000 derartigen Übergriffen zugrunde, vorstellen, wie viele Beamte lieber wegschauen oder mitmachen.

# Titelbild: pixabay

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Bullenschau in Berlin. Es war eine große Parade am Freitag in Friedrichshain. Die deutsche Polizei durfte endlich mal wieder vorführen, was sie für angriffslustige Jungbullen und fabelhafte Gerätschaften im Stall hat. „Die Polizei ist drin!“ jubelte Bild am Freitagvormittag, als die mit Schützenpanzer angerückten Cops den Eingang zur Liebig 34 aufgebrochen hatten. Und mit dem Drecksblatt aus dem Hause Springer freute sich das gesamte reaktionäre Gesindel des Landes. Frei nach der Devise: Heute haben wir es den „linken Zecken“ mal wieder so richtig gezeigt – das Hausprojekt Liebig 34 platt gemacht, ein „Symbol der linken Szene“, wie auch die Lohnschreiber der Konzernmedien zu wissen meinten.

Die Räumung des linken Hausprojekts am 9. Oktober war ein Festtag für alle Law-and-Order-Fans des Landes, soviel steht fest. Was haben sie in den vergangenen Wochen und Monaten nicht alles erleiden müssen. In den Medien ging es ständig nur um Polizeigewalt, Racial Profiling, „Black Lives Matter“ und rechte Netzwerke bei Polizei und Bundeswehr. Da musste gar ein CDU-Innenminister sich zerknirscht geben, weil zwei Dutzend Polizeibeamte in seinem Dienstbereich sich in Chats an Hitler-Bildern und Hakenkreuzen ergötzten. Dabei war das doch alles nur Spaß, da ist man doch nicht gleich ein Nazi, oder wie?

Aber ganz im Ernst. Ein Einsatz wie der am Freitag an der Liebigstraße muss für die Polizei wie Ostern, Weihnachten und Schützenfest an einem Tag gewesen sein, Balsam für die von „rot-grün-versifften“ Medien zuletzt gerissen Wunden. Endlich konnten sie es denen heimzahlen, die sie vor allem und zuerst dafür verantwortlich machen, dass sie an den Pranger gestellt werden: die Linken oder „Linksextremisten“, wie es im Amtsdeutsch heißt. Endlich durften sie wieder mal nach Herzenslust und straflos zuschlagen. Und das auch noch mit Rückendeckung eines „rot-rot-grünen“ Senats! Besser geht es doch nicht.

Auch der Berliner Landesverband der Gewerkschaft der Polizei (GdP) hatte offenbar das Gefühl, dass der Tag der Räumung für die Polizei eine Art Volksfest ist. Bereits am Donnerstag verbreitete die Organisation bei Twitter den folgenden Tweet: „Morgen steht ein Einsatz an – Wir lassen Euch nicht allein und haben da mal was vorbereitet: Currywurststand in der Friesenstraße.“ Und darunter stand noch: „Du räumst die Liebig34 – wir sorgen für die Energie“. Ein ebenso unpassender wie grotesker Spruch, der irgendwie nach „Mars macht mobil bei Arbeit, Sport und Spiel“ klang. Bei der GdP scheint man den Einsatz eher lustig gefunden zu haben, so wie Kirmes mit Scheibenschießen und „Hau den Lukas!“.

Natürlich ließ man es sich nicht nehmen, am Freitag Fotos vom Grillstand an der Friesenstraße bei Twitter zu posten. Und teilte der interessierten Öffentlichkeit noch mit, dass auch GdP-Landeschef Norbert Cioma vorbeischaute, um Würstchen für „die Kollegen“ zu wenden. Selbiger Cioma hatte am Vortag beim RBB-Fernsehen übrigens das Versagen der Polizei bei der Aufklärung rechter Anschläge in Neukölln klein geredet. Und wiederum zwei Tage davor hatte er eine merkwürdige Einstellung zur Durchsetzung geltenden Rechts erkennen lassen. Zur vom Senat wegen der Coronalage beschlossenen Sperrstunde erklärte Cioma dem Tagesspiegel, die Polizei reiße momentan „eine Überstunde nach der anderen ab“. Da würde man Verstöße gegen die Sperrstunde „eigentlich nur bei Einrichtungen rund um die Liebig 34 kontrollieren können.“

Von der GdP kamen also die Grillwürstchen zur Räumung. Kaffee und Kekse lieferte dagegen die AfD und zwar in Gestalt ihres Bundestagsabgeordneten Johannes Huber. Der postete am Freitagmorgen Fotos, die ihn an der U-Bahnhaltestelle Frankfurter Tor zeigen. Text dazu: „Die GdP Hauptstadt liefert die Currywurst und ich bringe den mutigen Einsatzkräften Kaffee und Gebäck. Ich wünsche einen erfolgreichen Einsatz und dass alle gesund nach Hause kommen.“ GdP und AfD Hand in Hand als Caterer der Polizei beim Abräumen eines linken Projekts – wundert sich da jemand? Ganz zu Recht wiederholten diverse User in den „sozialen Netzwerken“ die Forderung, die GdP endlich aus dem DGB zu werfen. Wird Zeit.

Was Aktionen und Äußerungen zum Thema Liebig 34 angeht, ließ sich all das nur noch von einem toppen: vom grünen Ultra Cem „Halt die Fresse, wir sind in Deutschland!“ Özdemir. Der griff bei Twitter eine Äußerung einer Bewohnerin der Liebig 34 auf einer Pressekonferenz auf. Laut Spiegel hatte sie gesagt, man kämpfe für das Projekt „mit allen Mitteln, mit allen Kräften“ und sehe sich „in Konflikt und Konfrontation mit diesem kapitalistischen Staat und seinen Repressionsorganen“. Eine Selbstverständlichkeit, sollte man meinen. Aber Özdemir fiel dazu folgender Satz ein: „Als gegen Sexismus, Faschismus & Nationalismus kämpfendes migrantisches Arbeiterkind sage ich: wer so redet & handelt steht auf der anderen Seite!“

Was lehrt uns das? Man kann ein migrantisches Arbeiterkind sein und glauben, gegen Faschismus und Nationalismus zu kämpfen – der Oberleutnant d. R. Cem Özdemir bleibt dabei doch am Ende ein Reaktionär, Kriegstreiber und glühender Fan von Militärinterventionen und Sanktionen, der dieses marode System, in dem er sich ganz prima eingerichtet hat, mit „allen Mitteln und Kräften“ verteidigt.

# Titelbild: ©PM Cheung, Bullen und ein Ball am Morgen der Räumung

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Manchmal nimmt man sich einen Apfel aus der Obstschale und denkt: Na, der hat zwar drei, vier braune Stellen, aber essen kann man ihn schon noch. Wenn man dann reinbeißt, stellt man fest, dass das Fruchtfleisch fast durchweg braun und der Apfel mithin ungenießbar ist. Dieses Bild verdeutlicht vielleicht ganz gut, wie es sich mit der Polizei in diesem Land verhält. Auch wenn die Meldungen über rechte Polizisten nicht abreißen, werden diese Fälle gemessen an der Gesamtzahl von Polizeibeamten zwar noch eher als vereinzelte „braune Stellen“ wahrgenommen. Aber immer mehr drängt sich doch die Frage auf: Ist der „Apfel“, sprich: die Polizei, nicht von innen heraus schon längst braun, verfault, also von rechtem Gedankengut infiziert?

Es ist weniger die reine Zahl von Fällen, in denen rechte Polizeibeamte geoutet werden oder sich selbst outen, die dafür spricht, sondern mehr noch die Dimension der Skandale. Mitte September etwa flogen in Nordrhein-Westfalen rechte Chatgruppen von mindestens 30 Beamten auf. Sie hatten über WhatsApp Hakenkreuze und Bilder von Adolf Hitler getauscht, sich an der fiktiven Darstellung der Ermordung eines Flüchtlings in einer Gaskammer ergötzt. Beteiligt war eine komplette Dienstgruppe der Polizei in Mülheim an der Ruhr, die zum Polizeipräsidium Essen gehört. Dieses Präsidium scheint so etwas wie ein Epizentrum für die Ausbreitung rechten Gedankenguts in Polizeikreisen zu sein, wie sich inzwischen zeigte.

Nur wenige Tage nachdem der Skandal um die rechten Chatgruppen hochgekocht war, berichtete das Springerblatt Welt über ein vom Essener Polizeipräsidium herausgegebenes internes Papier zum Thema „Arabische Familienclans“. Wer dieses rassistische Machwerk, das man als zumindest protofaschistisch, wenn nicht im Kern schon faschistisch bezeichnen muss, gelesen hat, wird sich nicht mehr darüber wundern, dass im Bereich dieses Präsidiums rechte Chatgruppen gedeihen. Sogar die sonst der Polizei eher nahe stehende Welt konnte da offenbar nicht mehr mitgehen, bezeichnete die Schrift als „eine Mischung aus „Der Pate“ und „Expeditionen ins Tierreich“.

Angesichts der kritischen Berichte der Welt und dann auch weiterer Medien hat das Polizeipräsidium Essen, das von dem SPD-Mann Frank Richter geführt wird, die Broschüre inzwischen online gestellt, versehen mit einem Statement, so dass sich jede/r ein eigenes Bild machen kann. Weder aus dem Statement noch aus der Tatsache der Veröffentlichung der Broschüre lässt sich herauslesen, dass es bei den Verantwortlichen auch nur ansatzweise so etwas wie ein Problembewusstsein gibt. Im Gegenteil: Man klopft sich für das Machwerk auch noch auf die Schulter!

Es handle sich um eine „interne Kurzinformation für Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte“, heißt es da. Um „Hintergrundwissen zu erlangen und erfolgversprechende Arbeitsansätze bei der Bekämpfung“ sei es vor allem bei „neuen Kriminalitätsphänomenen“ durchaus „üblich, Fakten und Strukturen, beispielsweise in Form einer Broschüre oder auch Flyern zusammenzutragen, um die Handlungskompetenz operativ tätiger Polizeibeamter zu erhöhen“. Das Polizeipräsidium Essen habe sich als „eine der ersten Behörden im Land NRW der intensiven Bekämpfung krimineller Familienangehöriger von Clanfamilien“ angenommen. Ausführlich werden im Statement die Verdienste und Erfahrungen der Autorin der Broschüre herausgestrichen.

Bei dieser Autorin handelt es sich um Dorothee Dienstbühl, Professorin an der Fachhochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung (FHöV) NRW, und zwar an der Außenstelle Mülheim an der Ruhr, also just dort, wo die rechten Chatgruppen von Polizisten aufgeflogen sind. Gibt es da vielleicht einen genius loci, ein unguter Geist des Ortes? Dienstbühl ist jedenfalls schon mehrfach auffällig geworden, etwa im Juli, als sie im Mitgliedermagazin der Gewerkschaft der Polizei (GdP) in der Titelgeschichte unter der Überschrift „Linksextremismus: Die Erben der RAF – Verstörende Menschenbilder“ gegen Links austeilte. In einem Rundumschlag denunzierte sie radikale Linke sämtlich als unpolitische Kriminelle, „entlaufene Wohlstandskinder“, bemühte sämtliche Klischees, die über „Linksextremisten“ im Umlauf sind.

Diesem Stil des Zitierens von Klischees und der pauschalen Denunziation ganzer Bevölkerungsgruppen bleibt die Polizeiprofessorin auch in der Broschüre über „arabische Clans“ treu. Eine Schrift, die auf jedem Büchertisch der AfD gut aufgehoben und sicher auch als Beilage zu einem der Bestseller von Thilo Sarrazin geeignet wäre. Schon Überschrift und Foto auf der Vorderseite der Broschüre lassen den Inhalt erahnen. Unter der Überschrift „Arabische Familienclans. Historie. Analyse. Ansätze zur Bekämpfung.“ ist das Foto einer Shisha-Bar zu sehen, schön kitschig, wie sich Otto Normalverbraucher so eine Lokalität vorstellt. Im Zentrum des Fotos ist eine Polizistin zu sehen, flankiert durch einen Kollegen. Sie kontrolliert drei Gäste, die vor ihr auf Sofas sitzen.

Das Bild passt tatsächlich zum Inhalt. Dienstbühl rührt ein abstoßendes Gemisch von Klischees und Ressentiments an, das – gewollt oder ungewollt – all den Hetzern im Netz und anderswo, die in „arabischen Clans“ und einer „Islamisierung des Abendlandes“ die größte Gefahr sehen, Stichworte liefert. Sie beschreibt die „Familienclans“ als rückständige, in jahrhundertealten Wertevorstellungen gefangene Strukturen, die mit der von Dienstbühl apostrophierten modernen Demokratie westlicher Prägung in diesem Land auf Kriegsfuß stehen. Die „Clans“ werden in der Schrift durchweg als Feind präsentiert, die mit allen Mitteln zu bekämpfen seien.

Zwischentöne und Differenzierungen oder gar so etwas wie eine soziologische Analyse zugrunde liegender Phänomene sind bei einer solchen Einstellung natürlich nicht zu erwarten. Dienstbühl geht es durchaus darum, „die Clans zu verstehen und zu begreifen, wie sie strukturiert sind“, aber eben doch nur um zu ermitteln, „was ihnen schadet“, wo die „Schwachstellen“ sind. Merke: „Vorläufige Festnahmen und Gerichtsprozesse haben sich häufig als wenig schädlich für das Familiengefüge erwiesen.“

Es handle sich um eine „notwendige Kollektivbetrachtung, die sich auf Mitglieder von Familienclans mit krimineller Neigung bezieht“, heißt es in der Broschüre weiter. Großzügig wird konstatiert, es seien „natürlich“ keineswegs alle „Mitglieder, die einem Clan zuzuordnen sind“, kriminell. Auf eine „stetige Abgrenzung zwischen Clanmitgliedern, die kriminell in Erscheinung getreten und solchen, die es nicht sind,“ müsse aber verzichtet werden. Zum einen, „weil grundlegende Denkmuster „häufig auch bei Familienmitgliedern verankert sind, die nicht kriminell auffällig sind“, zum anderen weil „auch bei Kenntnis über Kriminalität einzelner Familienmitglieder der Rest schweigt“. Hier wird also nach der Devise verfahren: Die haben doch alle Dreck am Stecken! Eine mehr als merkwürdige Rechtsauffassung für eine Polizeibehörde.

Über die „Lebenswelt arabischer Familienclans“ ist in der Broschüre zum Beispiel Folgendes zu lesen. Der Mann sei „der Stammhalter und Entscheidungsträger“. Er sei „zuständig für die Beschaffung von Geld und Ressourcen für die Familie, sowie die Vertretung nach außen“ und das „Bewahren der Familienehre“. Die Frau ist dagegen „Hüterin der Familie“, ihre Rolle beziehe sich „auf ihre Gebärfunktion zur Gewährleistung des Clanerhalts und die Erziehung der Nachkommen im Sinne der Tradition“. Und: „Je mehr Kinder eine Frau für den Clan gebärt, desto besser.“

Überhaupt das Ehrverständnis. Das sei in „stammesgeprägten Familien“ ein ganz anderes als in westlichen Vorstellungen. In westlichen Demokratien werde die Ehre „auf das eigene Verhalten bezogen“, weiß Dienstbühl. Nach dem „Verständnis im islamischen Kulturkreis“ werde der Mensch „und vor allem der Mann mit Ehre geboren“. Diese Ehre müsse er verteidigen, denn sie könne durch das Verhalten anderer Person verletzt werden. Die Schwelle für eine Ehrverletzung liege recht niedrig und begründe Misstrauen und einen hohen Kontrollbedarf untereinander.

„Kurdische Familienclans“ nimmt sich die Autorin noch einmal gesondert vor. Sie seien „patriarchalisch und darwinistisch geprägt und sie haben Jahrhunderte Jahre alte Stammesstrukturen und Regelwerke kultiviert“, erfahren die LeserInnen. Macht werde dort vor allem „durch Luxus demonstriert. Dieser sei „zum Teil allerdings Show“. Da würde mit Leihwagen oder „aufbereiteten Unfallautos geprotzt oder mit aufwendigen Brautkleidern, die tatsächlich aus minderwertigem Material gefertigt seien. „Betrug und Hochstapelei ist innerhalb der Clans und sogar den einzelnen Familien untereinander verbreitet“, heißt es wörtlich. Mit derartigen Sätzen wäre Dienstbühl auf jeder Versammlung von AfD-Mitgliedern oder bei den Demonstrationen von Pegida eine umjubelte Rednerin.

Das ist bis dahin alles schon widerlich genug, aber die rechte Polizeipopulistin setzt noch einen drauf. Sie erstellt allen Ernstes Tabellen unter den Überschriften: „Wovor haben sie Angst?“, „Was schwächt sie?“ und „Wo sind sie zu treffen?“. Da ist dann zu lesen, dass man in „kurdischen Clans“ nicht nur Angst vor Ehrverlust und Verlust von Geld hat, sondern auch vor einer Unterordnung unter „Ehrlose“ und eine „Aversion vor regulärer Arbeit“. Zu treffen seien Clanmitglieder, indem etwa „vorhandenes Misstrauen in die eigene Community“ geschwächt werde, durch „Schwächung der Männlichkeit“ oder indem man ihnen Geld und Luxusartikel nehme.

Der Skandal lässt sich aber immer noch toppen – und zwar mit Empfehlungen für den Einsatz, die auch in der Berichterstattung der Medien skandalisiert worden sind. Dienstbühl empfiehlt allen Ernstes den Einsatz von Hundestaffeln bei sämtlichen Maßnahmen von Polizei und Zoll gegen „Clans“. Beamte hätten immer wieder die Erfahrung gemacht, „dass aggressive Clanmitglieder ängstlich auf Hunde reagieren“. Die Angst vor Hunden habe ihren Ursprung im sunnitischen Islam, „in welchem diese als minderwertig und insbesondere ihr Speichel oder nasses Fell als unrein gelten“. Aber die Autorin hat noch einen Tipp in petto. Der Einsatz weiblicher Beamte habe „bei Clanmitgliedern ebenfalls eine Wirkung“. Denn „deren Rollenvorstellungen besagen, dass sich Frauen den Männern fügen müssen“. Insbesondere junge Polizistinnen stünden dem „gelebten Weltbild der Clans diametral entgegen“. Daraus folgt: „Treten Polizistinnen entsprechend aggressiv auf, setzen sich durch und dominieren den Mann (z.B. in der Festnahme), kann dies dessen Ehre verletzen.“
Man sieht sie förmlich vor sich: die junge blonde Polizistin mit dem deutschen Schäferhund an der Kette, die das „arabische Clanmitglied“ dominiert. Spätestens an dieser Stelle wird der Rassismus der Broschüre unerträglich.

Wie kann man ein derartiges Machwerk gut heißen in einem Jahr, in dem ein rechter Terrorist in Hanau Menschen erschossen hat, weil die Shisha-Bar für ihn der typische Ort war, an dem sich „kriminelle Ausländer“ aufhalten?! Wie ist es möglich, dass eine Dozentin, die in der Schulung von Polizeibeamten eine erhebliche Rolle spielt, solche Theorien ungestraft äußern und in einer offiziellen Schrift verbreiten darf?! Es sind offenbar doch mehr als nur ein paar braune Stellen am „Apfel“. Das Innere scheint schon ganz schön braun zu sein.

#Titelbild: RubyImages/APN
Hanau-Gedenkdemo in Berlin unter dem Motto “Kein Vergessen”, 19.08.2020

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Anfang vergangener Woche machten auf Instagram Bilder eines jungen Mannes mit mehreren Kopfverletzungen die Runde. Zwei Brüder, Jecki und King_S, waren in der Nacht vom 16. auf den 17. August von Berliner Beamten festgenommen worden. Sie erheben schwere Vorwürfe gegen die Polizei, von Schlägen, Beschimpfungen und Misshandlungen ist die Rede.

Eine Pressemeldung der Berliner Polizei zu dem Vorgang gibt es nicht, eine schriftliche Anfrage von lower class magazine blieb bislang unbeantwortet. Wir haben uns mit den beiden jungen Männern getroffen und mit ihnen über den Vorfall gesprochen.

Ihr habt auf Instagram eure Begegnung mit der Berliner Polizei vom vorvergangenen Wochenende öffentlich gemacht. Was ist an diesem Abend geschehen?

Jecki: Wir waren zu zweit mit zwei Freundinnen im Mauerpark, haben Musik gehört und gechillt. Es war schon etwas später, ein bisschen dunkel und schon menschenleerer. Da kam so ein Typ vorbei, der Glasflaschen gesammelt hat. Der wollte eine halbvolle Flasche von uns nehmen, wir haben gesagt, er soll die nicht mitnehmen. Dann gab es eine verbale Auseinandersetzung, der Typ hat angefangen, uns zu beleidigen und so. Aber dann ist er zunächst wieder gegangen.

Nach zwanzig Minuten kam er wieder, aber nicht allein. Ein Kumpel von ihn, eine Frau waren dabei und sie hatten jetzt zwei Kampfhunde. Dann haben sie meine Bruder angegriffen und es kam zu einer Auseiandersetzung.

Gab es während des Angriffs rassistische Bemerkungen?

Jecki: Ja, die haben ihn auch N**** genannt und so.

King_S: Er hat seinen Hund auf mich gehetzt. Ich habe davon auch Bissverletzungen.

Was ist dann passiert?

Jecki: Wir sind dann weggegangen, zur Tram an der Bernauer. Wir sind losgefahren, ein paar Stationen später kam dann aber die Polizei rein. Einer der Beamten hat gesagt, wir sollen mitkommen. Ich habe gefragt, warum. Er hat nichts dazu gesagt, sondern mich nur aufgefordert, aufzustehen und mich umzudrehen. Ich habe wieder gefragt, warum. Auch da hat er nicht geantwortet, sondern direkt versucht, mich mit Gewalt festzunehmen. Dann hat er meinen Bruder am Nacken gepackt. Sie waren sehr grob zu ihm, sodass auch drei, vier Passantinnen sich beschwert haben und gefragt haben, warum die so mit ihm umgehen. Er hat nur gesagt, das gehe sie nichts an.

King_S: Dann hat er mich aus der Bahn rausgeholt. Und als ich draußen war, hat er mir ins Ohr gesagt: „Du Wichser, du wirst sehen, was ich mit Dir mache.“ Meine Handschellen waren sehr fest, man sieht ja immer noch die Narben. Ich sagte: Können Sie bitte meine Handschellen lockern? Aber ich wurde nur beschimpft, als Arschloch, als Affe. Und ich wurde bedroht. Er hat mich dann hinter das Auto mitgenommen, sein Bein war vor meinem und er hat zwischen den Handschellen nach oben gerissen. Er hat mich so auf den Boden geworfen und auf dem Boden war eine Bordsteinkante, da bin ich dann mit dem Kopf dagegen. Ich habe nur noch Blut gesehen und gesagt: Mein Kopf blutet. Und er antwortete nur: Halt deine Fresse, Halt dein Maul.

Du warst zu diesem Zeitpunkt auch schon festgenommen, Jecki?

Jecki: Ich war da noch in der Tram. Sie haben ihn zuerst rausgezogen. Und als sie mich rausgezogen haben, habe ich nur gesehen, wie er bewusstlos auf dem Boden lag.

King_S: Als ich da lag knieten sich ein Polizist auf meine Beine, einer auf meinen Nacken. Und ich habe dann irgendwann keine Luft mehr gekriegt. Auch als ich schon am Boden lag und blutete, haben sie nicht aufgehört, mich zu schlagen. Ich hatte ja viel Blut verloren und wurde einfach bewusstlos. Dann kam irgendwann ein Krankenwagen, ich kann mich noch erinnern, dass ich kurz aufgewacht wird und eine Krankenschwester meinen Kopf gestützt hat. Ich wurde dann ins Krankenhaus gebracht. Ich habe immer gefragt, wo sie meinen Bruder hinbringen, aber es hat niemand geantwortet.

Bei Dir ging es dann in die Gefangenensammelstelle?

Jecki: Mich haben sie in einen nahegelegnen Polizeiabschnitt gefahren. Von dort dann zu einem anderen Abschnitt. Dann wurde ich wieder entlassen. Ich habe die auch gefragt, was sie mit meinem Bruder gemacht haben. Einer hat mich angeguckt und meinte, er wäre gestolpert und dumm hingefallen. Er hatte ein Lächeln im Gesicht, als er das sagte. Ich habe die ganze Zeit Fragen gestellt, warum, wieso, dies und das, weil die uns keinen Grund genannt haben, warum sie uns festnehmen. Aber auch das Fragen hat denen anscheinend nicht gepasst, der eine hat mich dann als Arschloch bezeichnet. Und es gab immer wieder Übergriffe. Etwa bei der Fahrt von der Tramstation zum Abschnitt habe ich mit den Handschellen das Fenster ein wenig runtergemacht, weil mir warm war. Dann hat einer von denen die Handschellen verdreht, dass sie noch enger werden. Als wir auf dem Abschnitt waren, habe ich schon beim ersten Schritt aus dem Auto ein Knie abbekommen. Da waren fünf, sechs Beamte um mich rum. Ich hab ein paar Tritte bekommen und sie meinten, ich solle mein Maul halten, wenn ich auf dem Abschnitt bin und dass ich mich benehmen soll.

Hat man euch irgendeine Anzeige vorgelegt? Irgendeinen Grund, warum sie euch mitgenommen haben?

Jecki: Sie haben uns angezeigt wegen Widerstand und weil wir sie angeblich beleidigt hätten.

Das bezieht sich aber ja, wenn überhaupt, auf die Zeit nach der Verhaftung. Das Delikt, wegen dem man euch überhaupt erst mitgenommen hat, hat man euch nicht mitgeteilt?

Jecki: Nein. Wir haben vermutet, dass sie wegen dieser Auseinandersetzung davor gekommen sind. Aber gesagt haben sie uns nichts, also wissen wir es eigentlich auch nicht.

Du hast ja ein Attest vom Arzt bekommen, was für Verletzungen hast du davongetragen?

King_S: Vor allem die Wunden am Kopf. Zwei der Platzwunden mussten genäht werden. Aber ich hatte auch noch eine verletzte Schulter von der Festnahme. Und Bisswunden von dem Hund, aber das war ja vor der Festnahme.

Hattet ihr ähnlich schlechte Erfahrungen mit der Polizei schon zuvor?

King_S: Für mich ist es das erste Mal, dass ich so von Polizisten geschlagen wurde. Aber jetzt, da das passiert ist, will ich es auch öffentlich machen. Das kann ja jedem jederzeit passieren.

Jecki: Bei mir genauso. Derartige Gewalt von Beamten habe ich bisher noch nie erlebt, das war das erste Mal.

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Am 30.06.1994 wurde kurdische Aktivist Halim Dener im Alter von 16 Jahren von einem deutschen Polizisten beim Plakatieren ermordet. Knapp 26 Jahre nach seinem Tod gibt die Kampagne Halim Dener ein Buch über ihn heraus. Wir veröffentlichen vorab die Einleitung zu Halim Dener – Gefoltert. Geflüchtet. Verboten. Erschossen. Die Vorstellung des Buches findet am Freitag, 24.Juli 2020 um 16 Uhr auf den Halim-Dener-Platz (30451 Hannover) statt.

Der Name Halim Dener ist heute für viele kurdische Aktivist*innen, aber auch viele deutsche Linke kein unbekannter. Mit dem Schicksal des geflohenen kurdischen Jugendlichen, der in Deutschland Schutz suchte, und stattdessen am 30.06.1994 den Tod durch die Kugel aus der Waffe eines deutschen Polizisten fand, verbinden sich verschiedene politische Entwicklungslinien und Konflikte. Dazu gehört zuvorderst der Konflikt zwischen der kurdischen Freiheitsbewegung und einem faschistisch agierenden türkischen Staatsapparat, der in seinem Krieg gegen Kurdistan und in der Repression kurdischer Aktivist*innen seit Jahrzehnten durch die deutschen Behörden und deutsche Waffen unterstützt wird. Dazu gehört aber auch die Geschichte von Flucht nach Deutschland, in diesem Fall eines unbegleiteten Minderjährigen, der sich allein von Kurdistan bis nach Hannover durchschlug, nachdem türkisches Militär seinen Heimatort angegriffen und ihn und ihm Nahestehende gefoltert hatte. Halims Geschichte endet mit dem Schuss eines deutschen Polizisten, der ihn in den Rücken trifft und wenig später zu seinem Tod führt. Er wurde so zu einem von vielen Opfern rassistischer Polizeigewalt – einem von vielen Todesfällen, die von der deutschen Justiz nie befriedigend aufgeklärt wurden. Halim Dener wurde nur 16 Jahre alt. Er wurde nicht vergessen.

Knapp 20 Jahre nach seinem Tod, im Jahr 2013, gründete sich eine Kampagne mit dem Ziel, in der Stadt Hannover endlich eine angemessene Aufklärung und Erinnerung an den Todesfall und seine Ursachen einzufordern. Diverse Organisationen aus Hannover und darüber hinaus schlossen sich zusammen, um das Gedenken an Halim Dener in die Öffentlichkeit zu tragen. Doch es ging immer um mehr als die Trauer. Es ging auch darum, die politischen Linien und Kämpfe, die sich mit Halims Schicksal verbinden, offensiv zum Thema zu machen und den politischen Status Quo, der sich auch 20 Jahre nach Halims Tod in vielen Punkten nicht verändert hat, anzugreifen. Die Waffenlieferungen an die Türkei, der Umgang mit Geflüchteten, Repression gegen die kurdische Freiheitsbewegung, der PKK-Verbot, rassistische Gewalt und Behördenwillkür – noch immer deutsche Zustände.

Im Jahr 2019, nach dem 25. Jahrestag von Halim Deners Tod, ist es für uns als Kampagne Zeit innezuhalten. 5 Jahre lang haben wir informiert, debattiert, demonstriert und gekämpft. Wir haben auf verschiedenen Ebenen und verschiedenen Wegen versucht, Einfluss auf die Stadt Hannover und die Stadtöffentlichkeit zu nehmen, und sind für die Veränderung der beschriebenen Zustände mit aller Vehemenz und anhaltendem Engagement eingetreten. Längst nicht alle Ziele, die sich mit unserem Kampf verbanden, haben wir erreicht. Auch deswegen scheint es uns an der Zeit, gemeinsam nachzudenken. Diese Broschüre ist ein Ergebnis dieses gemeinsamen Prozesses. Sie dient als Selbstverständigung, weil wir Revue passieren lassen, was seit Halims Tod geschehen ist und uns vor Augen führen, in welchem Zusammenhang sein persönliches Schicksal steht. Und weil wir zurückblicken auf fünf Jahre Kampagnenarbeit, deren Erfolge und Rückschläge. Diese Broschüre entstand aber nicht nur für uns, sie richtet sich auch nach außen. Sie dient – wie auch die anderen Aktivitäten der Kampagne – dazu, Halims Geschichte weiter bekannt zu machen, in dem wir sie erstmals umfassend publizistisch aufarbeiten. Nicht zuletzt dokumentieren und reflektieren wir hier auch unseren politischen Kampf mit dem Ziel, all denjenigen, die ähnliche Gedanken und Motive haben, mahnendes Beispiel und inspirierendes Vorbild zugleich zu sein. Viele Erfahrungen müssen im politischen Aktivismus immer wieder von neuen gemacht werden, und trotzdem können wir voneinander und von unseren vergangenen Kämpfen lernen – das ist unsere Überzeugung.

Aufbau

Diese Broschüre besteht aus zwei Teilen, von denen der erste sich mit der Geschichte Halim Deners und seines Todes, sowie den Verhältnissen und Ereignissen in den 1990er Jahren beschäftigt. Die hier versammelten Beiträge befassen sich mit der historischen und aktuellen Situation in Kurdistan, die Grund für Halims Flucht im Jahr 1994 waren. Ein zweiter Beitrag beleuchtet die Situation von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, zu denen auch Halim einst gehörte. Neben den Gefahren auf der Flucht selbst geht es auch um die Rahmenbedingungen in Deutschland und deren Verschlechterung in den letzten Jahren. Über die Repression der kurdischen Bewegung in Deutschland, namentlich das erlassene PKK-Verbot, informiert ein weiterer Artikel. Die überregionalen politischen Proteste, die der Tod Halims bereits 1994 auslöste, und die ersten Initiativen für ein Gedenken und Erinnern, die lang vor der Kampagne Halim Dener entstanden, werden in einem eigenen Beitrag beleuchtet. Den Abschluss des ersten Teils bilden zwei Prozessberichte zum Gerichtsprozess gegen den Polizeibeamten, der Halim 1994 erschoss. In diesen historischen Dokumenten beschreiben Rolf Gössner, der als Anwalt der Nebenklage Halims Familie vertrat, sowie eine anonyme Beobachterin den teils absurd anmutenden Prozessverlauf und ihre Eindrücke vom Geschehen rund um das Verfahren.

Der zweite Teil der Broschüre widmet sich den Aktivitäten und Ereignissen rund um die Kampagne Halim Dener seit 2013. Der erste Beitrag präsentiert Überlegungen zu einer Erinnerungskultur rund um das Schicksal Halim Deners, wobei sowohl kritische Bestandsaufnahme als auch politische Vision Platz finden. Zur Einschätzung der Medienberichterstattung zum Fall Halim Dener findet sich als zweiter Beitrag ein Interview mit dem Sozialwissenschaftler Christian …, der sich in einer Abschlussarbeit mit der Erinnerungskultur zu Halim Dener beschäftigte. Es folgt ein Interview mit einem Aktivsten der Kampagne Halim Dener, in dem die Erfahrungen in der Zusammenarbeit zwischen kurdischer Freiheitsbewegung und deutscher Linker geht, die während der Arbeit in der Kampagne gesammelt wurden. Diese Zusammenarbeit wurde von den deutschen Behörden offenbar äußerst skeptisch beäugt, in einem eigenen Beitrag informieren wir über die diversen Repressionsversuche gegen die Kampagne (und ihr Scheitern). Einen eigenen Beitrag widmen wir ebenfalls einer der einflussreichsten – wenn auch letztlich bisher erfolglosen – politischen Initiativen der Kampagne, dem Kampf um die Benennung eines Platzes in Hannover nach Halim Dener. Den Abschluss dieses Bandes bildet ein Text über die Entstehung und Aktivitäten der Kampagne von 2014 bis 2019, den wir mit einer vorläufigen Bilanz und einem Ausblick beenden.

Dank

Unser Dank gilt allen Gruppen und Aktivst*innen, die Teil der Kampagne Halim Dener waren oder diese in den letzten Jahren unterstützt haben.

Für die Mitarbeit und Unterstützung dieser Broschüre möchten wir uns insbesondere bedanken bei der Roten Hilfe für die umfassende finanzielle und logistische Hilfe, bei Jochen Steiding für ein hervorragendes Layout, sowie bei Rolf Gössner, dem Flüchtlingsrat Niedersachsen, Christian Hinrichs und Wolfgang Struwe für die hier veröffentlichten Textbeiträge.

# Halim Dener – Gefoltert. Geflüchtet. Verboten. Erschossen | Verlag gegen den Strom, München | 226 Seiten | 10 €

# Titelbild: Kampagne Halim Dener

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