Hannah Hollemans Buch über die „Dust Bowl“, eine der größten Umweltkatastrophen der jüngeren Geschichte, beginnt mit einer Erinnerung: Alles sei schlimmer und schlimmer geworden, bezeugt Melt White, einer der Überlebenden. Der Staub verdunkelte den Tag, alles wurde schwarz. Die Sandstürme zerstörten die Lungen der Kinder. Eine Hölle auf Erden, „viele Menschen starben“ und „einige dachten, es sei ein Eingriff Gottes, eine Strafe.“ Etwa 7500 Menschen starben, Hunderttausende flohen. Die in den 1930er-Jahren unter dem Namen „Dust Bowl“, auf Deutsch etwa Staubschüssel, Verödung und Austrocknung der Great Plains in den USA und Kanada wurde zu einem Synonym für eine Umweltkatastrophe schlechthin. John Steinbeck schrieb über ihre Auswirkungen Romane, Woodie Guthrie besang sie.
Die historische „Dust Bowl“ ist einige Jahrzehnte vorbei. Aber der Fall bleibt exemplarisch, nicht nur, weil „Dustbowlifizierung“, also die menschengemachte Verödung von Böden und ganzen Regionen, nicht aufgehört hat, ein Problem zu sein. Die historische „Dust Bowl“ zeigt ein paar Aspekte ganz deutlich: Eingebettet war sie in eine Phase des (weißen) Siedlerkolonialismus, ihr ging die Vertreibung der indigenen Bevölkerung vorher. Die Ursache der Katastrophe liegt in einer Wirtschaftsweise, die so schnell wie möglich so viel wie möglich aus der Erde rausholen will. Cash, Cash, Cash – nach uns kommt die Sintflut.
Und, so Hannah Holleman, in den Jahrzehnten vor der Katastrophe häuften sich sowohl Warnungen vor der Bodenerosion wie es zugleich „zureichendes Wissen und technisches Know-How gab, um die wachsende Krise anzugehen“. Trotzdem passierte sie. Mehr noch: Seit damals hat sich an den verheerenden Auswirkungen kapitalistischer Agrikultur nichts geändert. Man verließ nie jenen Weg, der da heißt: Business as usual.
I
Die Nacht vom 2. auf den 3. September 1984, Slums in der indischen Provinzhauptstadt Bhopal. Familien sitzen in ihren selbstgebauten Hütten, diejenigen, die man später „Überlebende“ nennen wird. Ihre Zeugnisse wird die Autorin Suuroopa Mukherjee viel später zusammentragen. „Was verbrennst du, dass es mir die Kehle zuschnürt“, wird sich eine Überlebende an die Frage eines Mannes erinnern. „Mir ist plötzlich sehr heiß geworden“, wird sich ein Rikscha-Fahrer erinnern. Und dass er dann nachhause ging, sich hinlegte, um 2:30 aufwachte, als Rauch unter seiner Tür hindurch in den Raum kroch. „Da fing das Husten an“.
Konservativen Schätzungen zufolge starben in dieser Nacht und in darauffolgenden Tagen in Bhopal etwa 8000 Menschen bei einem „Unfall“ in einer riesigen Chemiefabrik des US-Konzerns Union Carbide Corporation (UCC). 40 Tonnen giftiges Gas traten aus, Hunderttausende leiden unter Spätfolgen der Verseuchung – noch Generationen später. Bis heute ist der Ort kontaminiert und niemand fühlt sich verantwortlich, die Verschmutzungen zu beseitigen. Die Ursachen auch hier, in den Worten von Greenpeace: „Die Hauptursache für das Desaster lag in der Unternehmenspolitik begründet, ohne Rücksicht auf die Menschen Profit zu machen.“ Die Katastrophe war keine der Technik. Sondern des Geschäftsmodells.
Union Carbide Corporation gehörte dann zu Dow Chemical, also jenem Konzern, der Agent Orange für den Vietnamkrieg herstellte – mit unaussprechlichen Folgen für Mensch und Natur in dem vom Imperialismus angegriffenen Land. Dow Chemical – nunmehr nach einer Fusion 2017 als DowDupont – hat heute natürlich ein „Sustainability“ – Department und man kann sich auf der Homepage des Chemieriesen neben grünen Bildchen von Bäumen durchlesen, wie der Konzern führend in Nachhaltigkeit werden will und wie gut er jetzt schon der Welt hilft.
Das Greenwashing-Gesabbel hat das Milliardenunternehmen natürlich nicht davon abgehalten, weiter die Umwelt zu zerstören, wofür Dow dann auch auf Nummer 1 der aktuellen Toxic-100-Liste der größten Luftverpester rangiert.
Auch nach Bhopal hieß es also: Business as usual.
II
Noch jüngeren Datums ist ein anderes, ebenfalls global rezipiertes Mega-Event der Umweltzerstörung: Die Ölpest im mexikanischen Golf von 2010. Die meisten werden sich an die schockierenden Bilder der brennenden Plattform und der mit Öl überzogenen Pelikane erinnern; und an die Schlagzeilen, die von der größten Katastrophe dieser Art sprachen. Auch hier weiß man: Die Arbeiter*innen der „Deepwater Horizon“ wussten, dass mit der Ölplattform etwas nicht stimmt. Was tat die Betreiberfirma? Man ließ einfach die Alarme und Sicherheitsmechanismen abstellen, damit es auf dem Weg in den Abgrund nicht piepst oder blinkt.
Die Folgen der Katastrophe für die Region sind bis heute dramatisch. Und was passierte? Die Muttergesellschaft der Betreiberfirma, Britisch Petroleum (BP), musste Schadenersatz zahlen, entließ den zuständigen CEO Anthony Bryan Hayward – mit 1,5 Millionen Dollar Abfindung und 17 Millionen Dollar Pension. Die Beseitigung der Schäden erfolgte, wie man es von einer Firma wie BP erwarten würde. Rund 1 Million Liter einer Chemikalie – Corexit 9500 – wurde auf das Öl gesprüht, um es unter die Meeresoberfläche zu drücken. Im Aufsichtsrat der Firma, die Corexit herstellt, sitzt auch BP selbst. Corexit ist selbst giftig, in Großbritannien ist es verboten. Anwohner*innen, interviewt in dem Film „Die Grüne Lüge“ von Werner Boote und Kathrin Hartmann, beschreiben die „Reinigung“ von BP als beinahe schädlicher als die Ölkatastrophe selbst.
BP sieht das anders. Man klopfte sich auf die Schulter, weil man so selbstlos und schnell reagiert hatte. Und wie jeder andere Multi dieser Größe, setzt man auf gelegentliches „Greenwashing“, betont die eigenen Leistungen bei der Förderung „alternativer Energien“ und beteuert, Schritt für Schritt weg vom Öl zu wollen. Auch BP veröffentlicht brav seine „Sustainability“-Reports mit irgendwelchem Blabla. Und auch BP ist auf der Toxic-100-Liste, auf Platz 14.
So dramatisch Deep-Water-Horizon war, und so viele sich auch den Kinofilm dazu reingezogen haben: Für BP war danach Business as usual.
III
In ihrem Buch über die „Dust Bowl“ schreibt Hannah Holleman, sichtlich verwundert: „Sieht man sich die Grauen und die menschliche Tragödie der 1930er-Dust-Bowl an, möchte man meinen, unsere Gesellschaft würde alle ihre Kräfte zusammennehmen, um zu verhindern, dass eine solche ökologische und soziale Verheerung sich wiederholt. Und doch wiederholen wir nicht nur die Fehler der Vergangenheit in viel größerem Rahmen, sondern diejenigen, die mit der Macht und dem Kapital ausgestattet sind, um es zu können, verfeinern die Methoden ökologischer Zerstörung und sozialer Verelendung weit über die Vorstellungskraft von Dust-Bowl-Überlebenden wie Melt White hinaus.“
Warum eigentlich? Warum wiederholen sich Generation um Generation vorhersehbare ökologische und soziale Desaster? Und was könnten wir tun, damit das nicht mehr passiert? Eines der fundamentalen Probleme in der Ökologiebewegung ist, dass uns jeden Tag, in Schule, Universitäten, Medien, Filmen, Büchern, durch Expert*innen und Politiker*innen die Umkehrung einer einfachen Wahrheit eingeredet wird. Das Unmögliche – nämlich die Folgen des Kapitalismus mit kapitalistischen Mitteln zu beseitigen – wird als einzig „realistische“ Möglichkeit präsentiert. Und das einzig für das Überleben der Menschheit Realistische – nämlich die Überwindung des Kapitalismus – wird im besten Fall als jugendliche Spinnerei, im schlimmsten Fall als Weg in die Katastrophe diffamiert.
Es sind die Auswirkungen dieses ideologischen Angriffs, der dann dazu führt, dass auch engagierte Aktivist*innen dem Irrtum erliegen, Antikapitalismus sei nicht notwendig, um die Welt zu retten. Als Jakob Augstein kürzlich die prominente Fridays-For-Future-Sprecherin Luisa Neubauer fragte, wie sie´s mit dem Kapitalismus hält, antwortete sie: „Ideologische Kämpfe entzweien uns und führen zu einer Starre. Ich fände es nice, würden wir mal besprechen, was in den nächsten drei Jahren passieren sollte.“ Ihre These ist: Man kann die drohende Menschheitskatastrophe abwenden, wenn man technisch und durch Gesetzesnovellen eingreift. Und das könne man unter den jetzigen Macht- und Produktionsverhältnissen machen. Wenn man dann auch noch gegen den Kapitalismus sein will, okay, aber das eine und das andere hat für sie offenbar nichts miteinander zu tun.
IV
Aber das Gegenteil ist der Fall. Unrealistisch sind nicht die Rufe nach der Überwindung des Kapitalismus. Unrealistisch ist es, zu glauben, die Katastrophe ließe sich abwenden, wenn wir auf „Einsicht“ politischer Entscheidungsträger*innen und „Verantwortung“ von Konzernen setzen. Der Kapitalismus kennt keine „Beschränkung“ oder „Zähmung“, die ihn davon abhalten würde, zum Zwecke der Akkumulation von Kapital Mensch und Natur zu vernutzen. Wird ein Bereich dieser schrankenlosen Anhäufung unattraktiver – aus welchen Gründen auch immer – wandert Kapital zwar in einen anderen, aber nur, weil diese Wanderungsbewegung „grün“ angemalt wird, ändert sich nichts am Wesen des Mensch-Natur-Verhältnisses im Kapitalismus. Und das hat sich seit seiner Durchsetzung nicht verändert. Wie Karl Marx schrieb, entwickelt die kapitalistische Produktion zwar Technik und Kombination des Produktionsprozesses, aber nur „indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.“
Anders gesagt: Hätte Joe Kaeser anstatt die Siemens-Beteiligung an der Kohle-Mine in Adani durchzuziehen stattdessen in eine Lithium-Mine für Elektroautobatterien im chilenischen Antofagasta investiert, wären wir der „Weltrettung“ auch keinen Schritt näher gekommen. Konzerne haben ein Ziel: Profit. Und sie haben in den vergangenen Jahrzehnten und manche in Jahrhunderten Methoden und Techniken entwickelt, um den zu erzielen. Verschließt sich ihnen ein Geschäftsfeld, ziehen sie in ein anderes. Drückt man ihnen Emissionspapiere auf, bereichern sie sich eben am Emissionshandel.
Ihren Zweck, Profit zu machen, bemänteln Konzerne immer schon mit den hübschesten Phrasen. War es in Zeiten einer kämpferischen Arbeiter*innenbewegung en vogue zu betonen, wie fair man seine Untergebenen behandelt und wie viele Arbeitsplätze man schafft, so passt zu klima- und umweltbewegteren Zeiten eben ein anderer Diskurs: Nachhaltigkeit, „Grüne“ Technologien, Umweltfreundlichkeit in der entsprechenden Ästhetik.
V
Der Kapitalismus ist letztlich mehr als eine bestimmte Weise zu wirtschaften. Der kurdische Revolutionär Abdullah Öcalan beschreibt ihn als das jüngste Entwicklungsstadium eines ganzen Zivilisationsstrangs, der auf der endlosen Anhäufung von Mehrprodukt/Mehrwert sowie der Konzentration gesellschaftlicher Macht beruht. Seine Überwindung ist ein universeller Prozess, der alle gesellschaftlichen Bereiche einschließt: Von patriarchalem Verhalten über das vorherrschende szientistische Wissenschaftsparadigma bis zu den defizitären Formen bürgerlicher „Demokratie“, vom Privateigentum an den Produktionsmitteln über den Finanzsektor bis zur Staatlichkeit und ihrem Grenzregime.
Das ist eine Mammutaufgabe und deshalb schüchtert es ein. Man glaubt, es wäre einfacher und sicherer, erst mal ne Nummer kleiner aufzutischen. Häufig tendiert man dazu, wenn man eines der Probleme identifiziert hat, das der Kapitalismus aufwirft, zu sagen: Lösen wir erst mal das. Alles auf einmal ist ja unrealistisch. Aktuell hieße das dann: Sorgen wir erstmal für die Reduktion von Treibhausgasen, den Rest können wir auch danach machen, denn hier drängt es. Eine solche Herangehensweise tut so, als würde sie „realistisch“ sein, weil sie einen überschaubaren Themenbereich angeht.
Aber wenn man den tausendmal gesagten Satz, dass es „system change“ braucht, um im „climate change“ nicht abzusaufen, ernst nimmt, dann ist das kleinteilige Flicken mit der vom Kapitalismus gezimmerten Nadel genauer betrachtet eben doch unrealistischer. Am Versuch der Überwindung des Kapitalismus kann man scheitern; am Versuch der Fortsetzung des Kapitalismus wird man definitiv scheitern.
# Titelbild: Szene aus der “Dust Bowl”, wikipedia